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2. ) Zweites Beispiel: Das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen

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Als zweites Prinzipienbeispiel im wettbewerbsrechtlichen Zusammenhang soll ein von Steindorff postuliertes Prinzip dienen, das er als ein (im GWB herrschendes) „Prinzip vollständiger Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen“ bezeichnet hat38. Auch dieses Prinzip kann an den systemtheoretischen Erkenntnissen von Canaris gemessen werden, wobei zwei Merkmale besonders deutlich hervortreten.

a) Zum einen zeigt sich das von Canaris so genannte (bereits zitierte) erste Charakteristikum eines Prinzips mit besonderer Deutlichkeit, das besagt, dass Prinzipien sich nicht nur untereinander widersprechen können, sondern, und darauf liegt hier das Schwergewicht, nicht ohne Ausnahme in ihrem Systembereich gelten39. Das scheint sich hier in Anbetracht der zahlreichen Ausnahmen, bei denen Wettbewerbsbeschränkungen vom GWB bewusst nicht erfasst werden, auf den ersten Blick in geradezu krasser Weise zu bestätigen. Man denke z.B. nur an die bloße Verbietbarkeit in § 18 GWB, an die Missbrauchsaufsicht gem. § 22 Abs. 4 und 5 GWB, die nur gegenüber den zuvor definierten marktbeherrschenden Unternehmen gilt, an die Toleranzklausel gem. § 24 Abs. 8 GWB als negative Untersagungsvoraussetzung des Zusammenschlussverbots gem. § 24 Abs. 1 und 2 GWB oder an die (im einzelnen oft umstrittenen) Ausnahmen vom Kartellverbot gem. §§ 2 ff. und 99 ff. GWB. Sofern es sich bei diesen zahlreichen Ausnahmen um jene, von Canaris definierten prinzipienimmanenten Ausnahmen handeln sollte, wäre das von Steindorff postulierte Prinzip durch diese regelbestätigenden Ausnahmen insofern bestätigt.

Auf den zweiten Blick stellt sich jedoch die Frage, ob die von Canaris dargelegten prinzipienimmanenten Ausnahmemöglichkeiten nicht nur solche sind, die deshalb — notwendigerweise — vorhanden sind und hingenommen werden müssen, weil sie sich entweder als unmittelbarer Ausdruck entgegenlaufender oder vorrangiger anderer Prinzipien darstellen, oder weil sie aufgrund einer Unmöglichkeit der Erfassung infolge faktischer, z.B. wirtschaftswissenschaftlich bedingter Zwänge40 gar nicht erfasst werden können und daher eine „naturgegebene“, sachlogische Grenzwertbetrachtung bedingen. Dann aber wäre das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen gerade nicht bestätigt, weil dann die erstgenannte Gruppe jener, vom Gesetzgeber eingefügten Ausnahmen in Wahrheit keine immanenten (und als solche dem Prinzip nicht widersprechenden) Ausnahmen wären, sondern im Gegenteil als „gewillkürte“, vom Gesetzgeber (zumeist aufgrund wirtschaftspolitischer Erwägungen) so gewollte Ausnahmen dem Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen gerade klar entgegenstehen würden.

In der Tat kann es sich bei jener ersten Gruppe von Ausnahmen, die ohne wissenschaftlich exakt definierbare Sachzwänge lediglich vom Gesetzgeber aus unterschiedlichen politischen und Interessenerwägungen heraus als nützlich empfunden und so gewollt sind („gewillkürte“ Ausnahmen) nicht um wesensimmanente Prinzipienausnahmen handeln. Sie sind zuweilen gar von sachfremden Zufälligkeiten abhängig41 und erscheinen grundsätzlich jederzeit durch die berühmten drei berichtigenden Worte des Gesetzgebers korrigierbar und reversibel42. Aus der Existenz und der Art (z.B. speziell die Höhe des Umsatzes als Aufgreifkriterium, § 23 Abs. 1 S. 1 GWB) dieser zahlreichen „gewillkürten“ Ausnahmen folgt daher, dass der Gesetzgeber aus unterschiedlichen Gründen keineswegs sämtliche vorstellbaren Wettbewerbsbeschränkungen unterbinden wollte43 und will (z.B. arg e § 24 Abs. 8 GWB) und daher von dem Grundsatz einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen — auch im Rahmen seiner Möglichkeiten — selbst nicht ausgeht. Das Prinzip einer vollständigen Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen erscheint daher zu weit gefasst. Doch soll damit ein hier möglicherweise zugrundeliegendes Prinzip nicht generell bestritten werden. Es müsste wohl nur einschränkender formuliert werden und könnte etwa, um dem nicht nur immanent, sondern auch willensabhängig begründeten Regel-Ausnahmeverhältnis Rechnung zu tragen, als „Prinzip einer möglichst weitgehenden Erfassung von Wettbewerbsbeschränkungen“ bezeichnet werden. Denn es kann sich hier aus mehreren Gründen allenfalls um eine Grenzwertbetrachtung handeln.

b) Zum zweiten wird an dem von Steindorff formulierten Prinzip das prinzipienimmanente Merkmal der Evidenz44, d.h. die Evidenz der Existenz und inneren Richtigkeit des behaupteten Prinzips, sehr deutlich. Denn dass ein „Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen“ schon vom Namen und seiner unmittelbaren Zielsetzung her von dem Prinzip einer (möglichst) weitgehenden Erfassung aller Wettbewerbsbeschränkungen ausgehen wird, erscheint schon auf den ersten Blick evident zutreffend. Eine solche, hier besonders ausgeprägte Evidenz bedeutet jedoch keine triviale Selbstverständlichkeit, sondern ergibt sich, wie anschließend wegen der allgemeinen Bedeutung für den hier zu führenden Nachweis gesondert ausgeführt werden soll, als notwendiges Wesensmerkmal eines Prinzips aus dessen „Natur der Sache“45

Das Prinzip des Vorrangs der Wettbewerbsermöglichung

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