Читать книгу Wissen, Bildung und Schule neu denken - Udo F. Schmälzle - Страница 7

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1. Einführung

War Franziskus ein „Bücherstürmer”?

Die Biographen des hl. Franz von Assisi (1182-1226) lassen keinen Zweifel: Das Streben von Brüdern nach Wissen und Bildung und der Besitz von Büchern haben ihn wenig interessiert. Brüder, die Bücher haben wollten, waren ihm verdächtig und erhielten meistens eine kräftige Abfuhr. „‚Viele‘, sprach er, ‚macht Wissen ungelehrig“‘ (2C 194,2; FQ 404). Beim Mattenkapitel 1218, an dem sich eine große Zahl von Brüdern, auch auf Betreiben des mächtigen Kardinals Hugolin, an der Regel des hl. Benedikt orientieren wollte, kontert er mit einer nicht zu überbietenden Schärfe: „Durch eure Wissenschaft und Weisheit aber wird euch Gott zuschanden machen!“ (Per 18,6, FQ 1106). Was ist das für ein „Wissen“, vor dem Franziskus warnt? Welche „Wissenschaft“ macht „ungelehrig“? Wir treffen auf seltsame Widersprüche. Franziskus ermahnt die Brüder, jedes Fitzelchen Papier zu retten, auf dem auch nur ein Wort aus dem Munde Jesu zu lesen war. Auf der anderen Seite versperrt er mit dem Bücherverbot den Analphabeten unter den Brüdern den Zugang zur eigenständigen Urteilsbildung mit der Bibel. „Den anderen [Laien], die des Lesens unkundig sind, soll es nicht gestattet sein, ein Buch zu haben“ (NbR 3,9; FQ 72). Lediglich die Bücher zum Beten des Stundengebetes wollte er unter seinen Brüdern wissen. Dem hl. Antonius von Padua erlaubte er zwar, Brüdern die heilige Theologie vorzutragen, ermahnte ihn jedoch ausdrücklich, „durch dieses Studium [nicht] den Geist des Gebetes und der Hingabe auszulöschen“ (Ant 2; FQ 108).

Warum solche Abgrenzungen?

Wenn Franziskus bestimmte Formen der Wissenschaft und Bildung von seinen Brüdern fernhalten wollte, hat dies vermutlich mehrere Gründe.

Immer wieder warnt er vor der „Weisheit dieser Welt“, vor „jeglichem Stolz und eitlem Ruhm“, einer Grundhaltung, die alles Können und Wissen sich selber zuschreiben will und damit blind wird für die Erkenntnis, dass wir alles Wissen und Können Gott verdanken. Dazu kommt, dass die „Weisheit dieser Welt“ dazu verführt, nur „Worte zu machen, weniger aber zum Wirken“ (NbR, 17,9–11; FQ 83).

Mit seinen klaren Anweisungen in der Regel wollte er ferner verhüten, dass sich seine Brüder den „Minores“, den Ungebildeten, Analphabeten und Armen, entfremden und unfähig werden, als Arme unter den Armen zu leben. Deshalb seine Hermeneutik des Verdachts gegen die geltende Bildungs- und Wissenschaftspraxis seiner Zeit, die er sicher in seiner Jugend selbst erlebt hatte. Franziskus war jedoch kein Bücherstürmer! Ihm ging es um ein anderes und neues Bildungsverständnis, um eine neue Sinn- und Zielbestimmung für die Ausbildung seiner Brüder. Er verlangte von seinen Brüdern, dass sie die Lebensform der Menschen in Armut und Bildungsferne teilen, um dann an der Seite der Armen Gott zu finden und mit ihnen Kirche und Gesellschaft neu zu gestalten. Er wollte Arme und Analphabeten seiner Zeit jedoch an Bildung und Kultur teilhaben lassen, deshalb dichtete er nicht in Latein, der Sprache der Literaten, sondern in der Sprache der Illiteraten, des einfachen Volkes. „Il cantico del sol“, der Sonnengesang, gilt unter Romanisten als das älteste altitalienische Sprachdokument.

Franziskus ist also kein kleingeistiger und naiver Analphabet! Er kannte die Bibel, schuf mit dem Sonnengesang Weltliteratur, entwickelte für seine Brüder ein völlig neues Regelwerk, ermahnte in Briefen alle „Lenker der Völker“ und „Kleriker“ und scherte sich nicht um die Meinung von Papst und Bischöfen, wenn er sich nur auf sein Gewissen, die Bibel und die Offenbarungen „seines allerhöchsten Herrn“ berufen konnte! Wissen, das ihm und den Brüdern half, die Bibel besser zu verstehen, war ihm heilig. Für Helmut Feld wurde der Orden der Franziskaner bereits hundert Jahre nach Franziskus zur „Domäne der exegetischen Wissenschaft“.1 Nicht erst Martin Luther hat aus der Unmittelbarkeit seiner Gotteserfahrung gelebt und sich auf sein Gewissen berufen. Dass wir es bei Franziskus mit einem höchst gebildeten Menschen zu tun haben, der sicher mehrere Sprachen beherrschte, messerscharf denken und urteilen konnte und über ein Höchstmaß an Empathie und Einfühlungsvermögen verfügte, zeigt sich in seinem Umgang mit den Gelehrten und Mächtigen seiner Zeit, aber noch mehr in seinen Verhaltenskonzepten, die wir aus den Berichten und Erzählungen zu seinem Leben, Denken und Handeln erschließen können. Weshalb kommt es dann zu diesen heute unverständlichen Attacken gegen Bücher, Studium, Wissenschaft und Bildung?

Was steht hinter seiner „Hermeneutik des Verdachts”?

Eins ist ganz sicher: Franziskus grenzt sich klar und unmissverständlich von dem ab, was die Menschen seiner Zeit als, Wissen“ suchten und wofür sie in Kirche und Welt dieses „Wissen“ einsetzten. Damit opponiert er gegen die damalige Wissenschaftspraxis und tut alles, um seine Brüder von diesen Strukturen fernzuhalten. Diese Abgrenzung ist wissenssoziologisch für das Verständnis seines Denkens und Handelns von größter Bedeutung. Er steigt aus den Formen aus, wie Menschen damals zu Wissen und Erkenntnis und damit auch zu Macht und Geltung kommen konnten. Jahrhunderte später stellt Michel Foucault fest, „dass sich Macht immer an Wissen und Wissen immer an Macht anschließt. Es genügt nicht zu sagen, dass die Macht dieser oder jener Entdeckung, dieser oder jener Wissensform bedarf. Vielmehr bringt die Ausübung von Macht Wissensgegenstände hervor, sie sammelt und verwertet Informationen.“2 Franziskus hat in seiner Zeit und auf seine Weise auch Macht ausgeübt. Was sind nun die „Wissensgegenstände“, die für ihn verbindlich sind und auf die er in seinen Briefen an die „Lenker der Völker“, die „Gläubigen“ und die „Kustoden“ Bezug nimmt?

Hat Franziskus Jahrhunderte vor Lyotard und Foucault bereits diesen verhängnisvollen Interessenmix von Wissen und Macht erkannt und durchschaut und bereits für seine Zeit nach Alternativen gesucht? Wenn ja – und vieles spricht dafür –, dann ist zu klären, wann und wo er diese Alternativen anspricht und wie er sie begründet. Damit stellt sich definitiv die Frage, wie Franziskus sich selbst in den damaligen Wissens- und Gesellschaftsstrukturen verstand und wie er sich mit seiner Bruderschaft in diesen Strukturen neu positionieren wollte. Es geht um alternative Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, um die Schaffung einer neuen Ordnung und eines neuen Zugangs, um sich selbst, die Menschen, die Welt und die Kirche zu verstehen. Mit der Abgrenzung von den scheinbar objektiv gültigen und das Leben der Menschen bestimmenden Weltsichten, Menschenbildern und Ordnungen macht sich Franziskus an die Arbeit, die Wirklichkeit neu zu denken und zu konstruieren. Wenn sich ein Mensch oder eine Gruppe in dieser Weise abgrenzt, wenn er aussteigt und sich gegenüber den geltenden kulturellen Standards seiner Zeit neu zu positionieren versucht, kann er nach Bourdieu3 gar nicht anders, als neue Haltungen – er spricht dabei von einem „Habitus“ – zu entwickeln, die ihm helfen, mit der Welt und den Menschen zurechtzukommen. In der Sozialforschung sprechen wir in diesem Zusammenhang von Transformationsprozessen. Genau darum geht es in den weiteren Ausführungen. Es wird interessant, diesen Prozess bei Franziskus weiterzuverfolgen.

Die Tatsache, dass uns Franziskus eine wunderbar ausformulierte Begründung zum Leben in Armut, aber kein Bildungskonzept hinterlassen hat, erlaubt aus wissenssoziologischer Perspektive nicht, die Frage nach Zielen und Inhalten einer franziskanischen Pädagogik ad acta zu legen. Wenn wir uns die Wirkung seines Denkens und Handelns auf Menschen bis heute vergegenwärtigen, dann zwingt uns diese Lücke, in seinen Schriften und in all den Erzählungen und Berichten über sein Leben uns auf die Spurensuche zu begeben und aufmerksam die Berichte zu Einstellungen und Verhaltensweisen aufzugreifen, in denen er „pädagogisch“ tätig wurde und bis heute die Menschen zur Nachfolge motiviert. Es ist doch erstaunlich, wie viele Schulen, Kindertagesstätten und Bildungseinrichtungen sich mit Franziskus beschäftigen und ihre Häuser nach ihm benennen. Was fasziniert die Menschen in diesen Einrichtungen an Franziskus?

Zugänge zu einer franziskanischen Pädagogik

Während die Armutsfrage als entscheidende Leitkategorie die Franziskusforschung durch all die Jahrhunderte bestimmte, blieben Aspekte franziskanischer Bildung und Erziehung eher ein Randthema. Es entsteht sehr schnell der Verdacht, dass Bildungseinrichtungen und Schulen nichts mit den ursprünglichen Intentionen des Gründers zu tun haben und ein Beispiel dafür sind, wie sich der Orden für die Rekrutierungsinteressen der Kirche instrumentalisieren ließ.

Könnte es sein, dass die seit Sabatier dominierende Hermeneutik zur franziskanischen Bewegung als „Verfallsgeschichte“ nicht doch eine Engführung darstellt? Franziskus wird heroisiert und zum Advokaten gegen eine korrupte und machtbesessene Kurie hochstilisiert, der es am Ende aber doch gelingt, die franziskanische Reformbewegung für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.

Wenn wir wissenssoziologisch Bourdieu folgen, der klar feststellt, dass jemand, der in dieser Radikalität wie Franziskus aus einem Gesellschaftssystem mit seiner Wissenskultur aussteigt, geradezu gezwungen ist, sich neu zu erfinden, um in Welt und Kirche überhaupt wieder zurechtzukommen, wie hat sich Franziskus dann diesen Herausforderungen gestellt? Welche Lösungen haben die folgenden Generationen gefunden? Bevor wir von einer „Verfallsgeschichte“ sprechen, lohnt es sich, im Leben dieses großartigen Menschen auf Spurensuche zu gehen, um herauszufinden, zu welchen Lösungen er bereits in seinem Leben gekommen ist.

Dabei richtet sich unser Blick zunächst einmal auf die religiöse Entwicklung von Franziskus. Auf welche Traditionen und Wissensbestände hat er zurückgegriffen, kurzum: was hat ihn „gebildet“ und sein Denken geprägt? Wer waren seine „Vorbilder“, an denen er sich orientierte oder von denen er sich abgrenzte? Wer war der geheime „Erzieher“, der hinter dem Leben und Werk von Franziskus steht? Wie hat er den Weg zu den Armen gefunden? Wozu wollte er seine Brüder „erziehen“? Das sind spezifisch pädagogische Fragen, auf die man in seinen Schriften und Biographien eine Antwort finden kann. Lassen sich aus solchen Erkenntnissen Prinzipien ableiten, die es uns erlauben, von einer eigenen franziskanisch ausgerichteten Pädagogik zu sprechen, die vielleicht genauso viel Sprengstoff und Konfliktpotential enthält wie sein Armutsverständnis? Was ist aus seinen pädagogischen Prinzipien in der weiteren Organisationsentwicklung des Ordens geworden?

Jedenfalls lohnt es sich, Franziskus und die Geschichte der Ordensgemeinschaften, die sich auf seine Regel berufen, einmal aus dieser Perspektive zu betrachten, gerade weil Franz von Assisi in den vergangenen acht Jahrhunderten dieser sogenannten „Verfallsgeschichte“ Generationen von Frauen und Männern in- und außerhalb des Ordens mit seinen Ideen prägte und ihr Leben formte. Wir finden in seinen Schriften sicher keine explizite franziskanische Bildungstheorie, genauso wenig, wie wir in der Bibel auf eine ausformulierte Theorie zur christlichen Katechetik und Religionspädagogik treffen. Trotzdem beschäftigen sich seit Augustinus Generationen von Theologinnen und Theologen mit Fragen einer christlichen Erziehung. Was für die Bibel zutrifft, gilt auch für Franz von Assisi. Wenn wir jedoch nach den impliziten Prinzipien in seinen Haltungen, Handlungen und Entscheidungen suchen, dann eröffnet sich ein weites Feld von pädagogisch höchst relevanten Fragen: Auf welcher Wissensgrundlage fällt Franz von Assisi seine mutigen und autonomen Entscheidungen? Wie geht er vor und was bestimmt sein Denken, wenn er eine neue Regel für das Zusammenleben seiner Brüder entwirft? Wann und wie fällt er Entscheidungen, mit denen er tief in das Leben und die Entwicklung seiner Brüder eingreift?

Es gibt also durchaus Gründe und Anlässe, um im Lebensstil, in der Regel und konkreten Begebenheiten der ersten Brüder nach pädagogischen Leitideen zu fragen. Nur handelt es sich dabei um eine Theorie zweiten Grades. Für die Pädagogik gilt dabei, was Anton Rotzetter bereits zum gesellschaftskritischen Engagement des Ordens festgestellt hat: „Der Lebensstil einer Gemeinschaft hat schon eine gesellschaftliche Wirksamkeit, bevor er sich reflektiert zur Welt in Beziehung setzt und verbalisiert“. Wir „dürfen also sagen, dass sich die franziskanische Bewegung in ihrer Gesellschaftskritik vorwiegend vital und in nur geringem Maße verbal ausdrückt.“ Das gilt noch mehr für die Pädagogik. Rotzetter geht in der Frage nach der Effizienz franziskanischer Spiritualität noch einen Schritt weiter: „Ist der gelebte Lebensstil der Franziskaner das getreue Abbild… der gerade aktuellen oder, was noch schlimmer wäre, der bereits vergangenen gesellschaftlichen Verhältnisse? Oder bemüht man sich, vom Evangelium her die bestehenden Vorstellungen vom menschlichen Zusammenleben in immer menschlichere und bürgerlichere Formen zu transzendieren?“4

Damit soll keineswegs die Bildungs- und Wissenschaftsskepsis des Franziskus aus dem Blick verloren werden. An seinen Zitaten ist nichts herumzudeuteln. Es ist aber bemerkenswert, dass bereits wenige Jahre nach seinem Tod mit der Aufnahme des ersten amtierenden Professors aus der damaligen Zeit, des englischen Bruders Alexander von Hales, das theologische Denken und die Spiritualität des Ordensgründers in die Universität von Paris einzog und die Brüder in der Stadt eine eigene Hochschule gründeten, in der die Ideen von Franziskus weitergetragen wurden.

Wie ist es zu erklären, dass Wissenschaftler wie Bonaventura, Johannes Duns Scotus, Wilhelm von Ockham, Roger Bacon sich später berufen fühlten, auf der Grundlage franziskanischer Spiritualität alle wichtigen Themen der Theologie, z.B. das Schöpfungsverständnis, Fragen der Christologie und Anthropologie, ganz neu zu durchdenken und sich von den Positionen des Aquinaten abzugrenzen? Umberto Eco trifft den Nagel auf den Kopf, wenn er bei den Franziskanern vermutet, dass sie ihr Wissen eher bei „den Armen, Entrechteten, Idioten und Illiteraten“ suchen, die „oft mit dem Munde unseres Herrn sprechen… Der große Bonaventura sagt, die Gelehrten müssten die Wahrheit, die in den Aktionen der einfachen Leute steckt, zur begrifflichen Klarheit bringen“5. Umberto Eco ist einer der wenigen, der klar erkannt hat, dass es Franziskus letztlich um einen neuen Zugang zur Wirklichkeit und zu den sozialen Lebensverhältnissen der Menschen ging, die in Armut lebten und von der offiziellen Wissenschaft mit ihrem Leben auch nicht wahrgenommen wurden. Hat Franziskus eine Haltung gegenüber dem Wissens- und Bildungssystem seiner Zeit eingenommen, die erst viel später von Brüdern reflektiert und wissenschaftlich und theoretisch weiterentwickelt wurde?

Um auf diese Fragen eine Antwort zu finden, beschäftigen wir uns zunächst einmal mit dem Leben von Franziskus. Liegt der Schlüssel zum Verständnis seiner oft kontroversen Positionen in seiner Biografie? Was hat ihn geprägt? In einem weiteren Schritt ist dann zu klären, wie er selbst im Umgang mit seinen Brüdern pädagogische Akzente gesetzt und Entscheidungen gefällt hat.

Wissen, Bildung und Schule neu denken

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