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Оглавление2Der Aufbau: Geschichte und Sinn
G.STRECKER (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, Darmstadt 1975 (wichtige Aufsatzsammlung); L.GOPPELT, Theologie, 52–62; W.THÜSING, Die neutestamentlichen Theologien und Jesus Christus I, 21–53; H.HÜBNER, Biblische Theologie I, 13–36; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie I, 1–39; U.WILCKENS, Theologie I, 1–66; F.HAHN, Theologie I, 1–28; C.BREYTENBACH/J.FREY (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments, WUNT 205, Tübingen 2007; P.-G. KLUMBIES, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015.
Mit der Bestimmung der Aufgabe der Theologie des Neuen Testaments verbindet sich die Frage nach ihrer Durchführung: Welcher Ausgangspunkt wird gewählt? Vor allem: Ist die Verkündigung des historischen Jesus Voraussetzung oder Bestandteil einer Theologie des Neuen Testaments? Wie verhalten sich die theologische und die religionswissenschaftliche Sicht zueinander? Ist eine Beschränkung auf den Kanon möglich und sinnvoll? In welcher Weise wird die Frage nach Vielfalt und Einheit ntl. Theologie aufgenommen? Diese notwendigen Fragen zur internen Struktur einer Theologie des Neuen Testaments werden im Folgenden behandelt und münden in einen eigenen Ansatz: Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung.
Der Zugang zu einem Thema ist immer eine heuristische Setzung; jedem Anfang wohnt die Verheißung inne, den Weg zu definieren, der den Hörern und Lesern gewiesen wird. Dies gilt für die ntl. Schriften ebenso wie für Theologien des Neuen Testaments.
Das Modell der Diskontinuität
Rudolf Bultmann (1884–1976) beginnt seine Theologie mit einem Programmsatz: „Die Verkündigung Jesu gehört zu den Voraussetzungen der Theologie des NT und ist nicht ein Teil dieser selbst. Denn die Theologie des NT besteht in der Entfaltung der Gedanken, in denen der christliche Glaube sich seines Gegenstandes, seines Grundes und seiner Konsequenzen versichert.“1 Bultmann zieht damit die Konsequenz aus der Leben-Jesu-Forschung des 19.Jh., deren widersprüchliche Ergebnisse bereits von Martin Kähler (1835–1912) mit der Unterscheidung zwischen dem ‚sogenannten historischen Jesus und dem geschichtlichen, biblischen Christus‘ überwunden werden sollten. Kähler unterscheidet einerseits zwischen ‚Jesus‘ und ‚Christus‘, andererseits zwischen ‚historisch‘ und ‚geschichtlich‘. Unter ‚Jesus‘ versteht er den Mann aus Nazareth, unter ‚Christus‘ den von der Kirche verkündigten Heiland. Mit ‚historisch‘ bezeichnet er die reinen Fakten der Vergangenheit, mit ‚geschichtlich‘ das, was bleibende Bedeutung besitzt. Seine Grundthese lautet: Jesus Christus ist für uns nur so fassbar, wie ihn die Evangelien schildern; nicht hingegen so, wie ihn wissenschaftliche Rekonstruktionen darstellen. Kähler hält es historisch nicht für möglich und dogmatisch für verfehlt, den historischen Jesus zum Ausgangspunkt des Glaubens zu machen. „Der Glaube hängt gewiß nicht an einem christologischen Dogma. Allein ebenso wenig darf dann der Glaube abhängen von den unsicheren Feststellungen über ein angebliches zuverlässiges Jesusbild, das mit den Mitteln der spät entwickelten geschichtlichen Forschung herausgequält wird.“2 Bultmann konnte diese gleichermaßen exegetische, dogmatische und erkenntnistheoretische Position bestens mit dem historischen Skeptizismus der von ihm selbst wesentlich bestimmten formgeschichtlichen Forschung kombinieren. Wir haben keine Aufzeichnungen von Jesu Hand, vielmehr kennen wir ihn nur aus den Evangelien, die nicht Biographien, sondern Glaubenszeugnisse sind. Sie enthalten viel sekundäres, umgeformtes Gut, das zu einem erheblichen Teil erst nachösterlich in den Gemeinden entstanden ist. Es gilt radikal die Konsequenzen aus der Tatsache zu ziehen, dass wir Jesus nur in einem mythischen Gewande kennen; es ist nicht möglich, wirklich hinter das nachösterliche Kerygma zurückzukommen. „Denn freilich bin ich der Meinung, daß wir vom Leben und der Persönlichkeit Jesu so gut wie nichts mehr wissen können, da die christlichen Quellen sich dafür nicht interessiert haben, außerdem sehr fragmentarisch und von der Legende überwuchert sind, und da andere Quellen über Jesus nicht existieren.“3 Die Verkündigung Jesu ist somit eine der Voraussetzungen ntl. Theologie neben anderen. Weitere Faktoren können genauso wichtig sein, etwa die Ostererlebnisse der Jünger, der Messiasglaube des Judentums und die Mythen der heidnischen Umwelt.
Bultmann sieht wie Kähler in den Bemühungen um den historischen Jesus ein unlösbares und unfruchtbares Unternehmen; wie Kähler ist Bultmann der Meinung, dass der Glaube nicht auf unsicheren historischen Vermutungen gegründet werden darf. Deshalb muss sich die ntl. Theologie von der bereits bei Paulus und Johannes vorgenommenen Unterscheidung zwischen dem historischen Jesus und der nachösterlichen Christusverkündigung, dem Kerygma, leiten lassen4.
Das Modell der Kontinuität
Zwar ist es nicht möglich, im neuzeitlichen Sinn eine Biographie Jesu zu schreiben, dennoch gibt es zwingende Gründe, eine Theologie des Neuen Testaments mit einer Darstellung der Verkündigung des vorösterlichen Jesus von Nazareth beginnen zu lassen: 1) Zuallererst sind es die Quellen selbst, die eine Beschränkung auf die nachösterliche Verkündigung verbieten. Jeder Vers der Evangelien zeigt, dass ihre Autoren den Ursprung des Christentums nicht im Kerygma, sondern im Auftreten des Jesus von Nazareth sehen. Im Vergleich mit anderen Bewegungen ist der durchgehende Bezug auf die Person Jesu auffallend; in einem sehr hohen Maß dient die Jesusüberlieferung überhaupt nur dazu, die Person Jesu herauszustellen. Ebenso verweist die nachösterliche Christusverkündigung auf Schritt und Tritt über sich selbst zurück. Sie bezieht sich durchgängig auf ein historisches Ereignis und ist in ihrem Kern (1 Kor 15, 3b.4a: „gestorben … und begraben“) die Deutung eines historischen Geschehens.
2) Aus erzähltheoretischer Sicht ist eine Trennung zwischen dem historischen Jesus und dem Kerygma ebenfalls nicht durchführbar (s.o. 1.3). Auch R.Bultmann konnte eine Verbindung zwischen beidem nicht gänzlich leugnen, reduzierte aber die Bedeutsamkeit des Jesus von Nazareth für das Kerygma auf das ‚Daß‘ seines Gekommenseins5. Eine solche Minimierung auf einen völlig abstrakten Kern macht eine Rezeption unmöglich6. Das bloße ‚Daß‘ eines Gekommenseins ist in seiner Unanschaulichkeit weder vermittel- noch rezipierbar; es kann nicht erzählt, allenfalls konstatiert werden! Die Vielfalt nachösterlicher Jesus-Christus-Erzählungen lässt sich ohne eine Verbindung zum Reichtum der vorösterlichen Erzählwelt nicht erklären.
3) Schließlich lässt sich aus sinntheoretischer Sicht zeigen, dass eine Alternative ‚historischer Jesus – Kerygma‘ nicht möglich ist und deshalb aufgegeben werden sollte. Bereits die Verkündigung des Jesus von Nazareth kann in umfassender Weise als Sinnbildung verstanden werden. Jesus interpretierte das gegenwärtige Heils- und Gerichtshandeln Gottes neu und stellte es in eine einzigartige Verbindung zu seiner Person. Jesu Selbstverständnis kann nicht von dem Gebrauch oder Nicht-Gebrauch einzelner Titel abhängig gemacht werden, sondern sein Auftreten und sein Anspruch lassen in ihrer Gesamtheit nur den Schluss zu, das er selbst seiner Person eine einzigartige Würde im Endzeithandeln Gottes zuschrieb. Jesu Sinnbildung stellt den Ausgangspunkt und die Grundlage jener Sinnbildungen dar, die wahrscheinlich schon vor Ostern einsetzten und sich nach Ostern unter veränderten Verstehensbedingungen fortsetzten7. Einen historisch und theologisch tiefgreifenden Bruch zwischen einem angeblich unmessianischen Selbstverständnis Jesu und dem christologisch gefüllten Kerygma hat es nie gegeben!8
Dem Modell der Kontinuität sind mit unterschiedlicher Begründung vor allem J.Jeremias, L.Goppelt, W.Thüsing, P.Stuhlmacher, U.Wilckens und F.Hahn verpflichtet. Jeremias arbeitet mit dem Modell ‚Ruf Jesu – Antwort der Gemeinde‘; Goppelt wählt den Terminus des ntl. ‚Erfüllungsgeschehens‘ zu seinem hermeneutischen Ausgangspunkt; Thüsing entwickelt ein hochkomplexes System der ‚Rückfrage nach Jesus‘, das in der Theozentrik Jesu den Ausgangspunkt und den inneren Kern aller ntl. Theologie erblickt; Stuhlmacher arbeitet im Rahmen einer ‚Biblischen Theologie‘ die Traditions- und Bekenntniskontinuität zwischen dem Alten und dem Neuen Testament heraus; Wilckens sieht in der Wirklichkeit des einen Gottes die Einheit der (biblischen) Theologie und Hahn schließlich wählt den Offenbarungsbegriff zur Kennzeichnung der Kontinuität des Handelns Gottes (s.u. 2.3).
Ostern markiert weder den Anfang noch eine völlig neue Qualität von Sinnbildungen innerhalb der mit Jesus von Nazareth einsetzenden neuen Geschichte Gottes, denn Jesu einzigartiges Verhältnis zu Gott ist vor und nach Ostern gleichermaßen die Basis aller Aussagen (s.u. 4)9. Zweifellos ist eine Unterscheidung zwischen vor- und nachösterlich sachgemäß, wenn damit die unterschiedlichen Zeitebenen, Sachanforderungen und Theologiekonzepte zum Ausdruck gebracht werden sollen. Sie rechtfertigen jedoch nicht die Annahme einer grundlegenden Diskontinuität, denn das Wirken und die Wirkungen Jesu stehen am Anfang der Theologie des Neuen Testaments und sind zugleich ihr Kontinuum.
2.2Theologie und Religionswissenschaft
W.WREDE, Über Aufgabe und Methode der sogenannten Neutestamentlichen Theologie, in: G.Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2.1), 81–154; J.SCHRÖTER, Religionsgeschichte des Urchristentums statt Theologie des Neuen Testaments?, BThZ 16 (1999), 3–20; H.RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie? Eine religionswissenschaftliche Alternative, SBS 189, Stuttgart 2000; G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen (s.o. 1), 17–44; I.U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, ThLZ 126 (2001), 4–20; A.FELDTKELLER, Theologie und Religion, Leipzig 2002; R. V. BENDEMANN, „Theologie des Neuen Testaments“ oder „Religionsgeschichte des Frühchristentums“?, VuF 48 (2003), 3–28.
William Wrede (1859–1906) bestimmte in seiner Programmschrift von 1897 die Aufgabe des historisch orientierten Exegeten so: „Ein reines, uninteressiertes Erkenntnisinteresse, das jedes sich wirklich aufdrängende Ergebnis annimmt, muß ihn leiten.“10 Er darf sich weder am Kanonbegriff noch einer anderen dogmatischen Konstruktion orientieren. Gegenstand seiner Arbeit muss die gesamte frühchristliche Literatur sein, die als Zeugnis einer gelebten Religion zu lesen ist. Deshalb lautet der für die Sache passende Name: „urchristliche Religionsgeschichte bzw. Geschichte der urchristlichen Religion und Theologie.“11 In der gegenwärtigen Diskussion gewinnt die Position von Wrede im Kontext neuzeitlicher Theologiekritik, Toleranzbewusstseins und Methodenpluralismus wieder an Bedeutung12. H.Räisänen knüpft ausdrücklich an Wrede an und postuliert unter Aufgabe der Kanonsgrenzen eine religionswissenschaftliche Theologiegeschichte des Frühchristentums, die „nüchterne Informationen vom Charakter, Hintergrund, und der Entstehung der Frühgeschichte des Christentums“13 liefern soll. Es geht dabei um eine ausschließlich historische Arbeit, philosophisch-theologische Fragen werden ausdrücklich erst in einem zweiten Arbeitsgang erörtert. Als oberstes Ziel einer solchen Darstellung gilt die Fairness, sowohl gegenüber den ntl. Autoren als auch den konkurrierenden religiösen Systemen (Judentum, Stoizismus, Kulte der hellenistischen Welt, Mysterienreligionen). Bewusst soll nicht aus einer kirchlichen Innen-, sondern allein aus einer wissenschaftlichen Außenperspektive an das Frühchristentum herangetreten werden, um seine Denkwelt und seine Interessen zu erheben. Der Exeget darf den religiösen Standpunkt seines Gegenstandes gerade nicht übernehmen, denn sonst agiert er als Prediger und nicht als Wissenschaftler14. Auch G.Theißen orientiert sich ausdrücklich am Programm von W.Wrede, das sechs Vorzüge aufzuweisen hat15: 1) Die Distanzierung gegenüber dem normativen Anspruch religiöser Texte; 2) die Überschreitung der Kanonsgrenzen; 3) die Emanzipation von Kategorien wie ‚Orthodoxie‘ und ‚Häresie‘; 4) die Anerkennung der Pluralität und Widersprüchlichkeit theologischer Entwürfe im Urchristentum; 5) die Erklärung theologischer Gedanken aus ihrem realen Lebenskontext heraus; 6) die Offenheit gegenüber der Religionsgeschichte. Theißen vertritt ausdrücklich eine Außenperspektive, er will den Zugang zum Neuen Testament für säkularisierte Zeitgenossen offen halten. Deshalb schreibt er keine Theologie im konfessorischen Sinn, sondern eine Theorie der urchristlichen Religion, die auf allgemeinen religionswissenschaftlichen Kategorien beruht. Ausgangspunkt ist dabei die These: „Religion ist ein kulturelles Zeichensystem, das Lebensgewinn durch Entsprechung zu einer letzten Wirklichkeit verheißt.“16 Dieser semiotische Ansatz betrachtet Religion als ein kulturelles Zeichensystem, das sich in Mythos, Ritus und Ethos ausdrückt. Mythen erläutern in narrativer Form, was Welt und Leben grundlegend bestimmt (s.u. 4.6). Riten sind Verhaltensmuster, mit denen Menschen ihre alltäglichen Handlungen durchbrechen, um die im Mythos ausgesagte andere Wirklichkeit darzustellen. Zu jeder religiösen Zeichensprache gehört schließlich das Ethos; sowohl im Judentum als auch im Christentum organisiert sich das gesamte Verhalten durch seine Beziehung auf die Gebote Gottes. Auf dieser Grundlage zeichnet Theißen den Umformungsprozess des frühen Christentums von einer innerjüdischen hin zu einer eigenständigen Bewegung nach, der sich in Kontinuität und Diskontinuität zum jüdischen Zeichensystem vollzog.
Bietet eine religionswissenschaftliche Betrachtungsweise eine neutrale Außenperspektive, die unvoreingenommen und ohne ideologische Fesseln ihre Gegenstände analysiert? Diese Frage muss aus mehreren Gründen eindeutig negativ beantwortet werden: 1) Die geschichts- und identitätstheoretischen Überlegungen haben gezeigt, dass es nicht möglich ist, eine von der eigenen Lebensgeschichte abstrahierende, ‚neutrale‘ Position einzunehmen (s.o. 1.1). Das Wertfreiheits- und Neutralitätspostulat, das z.B. häufig von Religionswissenschaftlern gegen Theologen vorgebracht wird, ist ein ideologisches Instrument, um andere Positionen unter Verdacht zu stellen17. Es gibt kein positionelles Niemandsland; weder methodisch noch lebensgeschichtlich ist es möglich, die eigene Geschichte mit all ihren Wertungen auszublenden. 2) Ein zentrales Element der eigenen Lebensgeschichte ist die Frage nach und das Verhältnis zu Gott. Wer nicht an Gott glaubt, bringt diese Vorgabe notwendigerweise und selbstverständlich ebenso in seine Arbeit ein wie der, der an Gott glaubt. Die Forderung, die Welt aus der Welt ohne Gott zu erklären, ist keineswegs ein ‚Objektivitätskriterium‘, sondern ihrem Wesen nach ein lebensgeschichtlich bedingtes Wollen, ein Willensakt, eine Setzung18. Die Nicht-Existenz Gottes ist ebenso eine Vermutung wie seine Existenz! Das Wollen und die Setzungen anderer sind kein hinreichender Grund, dass der Theologe bei seiner theologischen und religionsgeschichtlichen Arbeit den Gottesgedanken ausblendet. Alle historische Arbeit ist unausweichlich in einen übergeordneten Gesamtzusammenhang eingefügt, so dass die Frage nach Objektivität und Parteilichkeit gerade nicht als Gegensatz aufgefasst werden muss. „Parteilichkeit und Objektivität verschränken sich … im Spannungsfeld von Theoriebildung und Quellenexegese. Das eine ohne das andere ist für die Forschung umsonst.“19 Um Geschichte schreiben zu können, bedarf der Theologe/Religionswissenschaftler einer Theorie der Geschichte, die lebensgeschichtlich erworbene religiöse, kulturelle und politische Wertungen weder ausschließen soll noch kann. 3) Religiöse Bewegungen und ihre Texte lassen sich nur adäquat erfassen, wenn man in ein Verhältnis zu ihnen tritt. Jeder Interpret steht in einem solchen Verhältnis, das gerade nicht mit der ideologischen Unterstellung von Innen- und Außenperspektive erfasst werden kann. Vielmehr verdankt es sich sowohl der jeweiligen Lebensgeschichte des Interpreten als auch den methodischen Vorentscheidungen und Fragestellungen, mit denen er an die Texte herantritt. Es geht nicht um Neutralität, die der eine beansprucht und der andere angeblich nicht erbringen kann, sondern allein um eine den Texten angemessene Fragestellung und Methodik. Wenn religiöse Texte die Wahrheitsfrage thematisieren, dann ist ein Ausweichen als Zeichen angeblicher Neutralität überhaupt nicht möglich, weil jeder Interpret immer schon in einem Verhältnis zu den Texten und den in ihnen ausgesprochenen Positionen steht. Hier vollzieht sich wiederum, was schon bei der religionsgeschichtlichen Schule (W. Wrede) als großes Defizit anzusehen ist: Die Aufdeckung und Beschreibung der Historizität/Kontextualität der Normative (speziell des Kanons) führt zu theologischen Werturteilen und Distanzierungen von Inhalten, die weder identitätstheoretisch noch historisch oder theologisch gedeckt sind. 4) Die Kanonbildung und die mit ihr verbundene Selektion gilt vielfach als Ausweis des ideologischen Charakters des frühen Christentums. Ein Kanon ist jedoch historisch und theologisch kein Willkürakt, sondern ein natürlicher Faktor innerhalb der Identitätsbildung und Selbstdefinition einer religiösen Bewegung und als kulturelles Phänomen keineswegs auf das frühe Christentum beschränkt20. Weil Schriftlichkeit die Voraussetzung für das Überdauern einer Bewegung ist, kann eine Kanonbildung nicht als repressiver Akt aufgefasst werden, sondern stellt einen völlig natürlichen Vorgang dar. Nicht äußere (kirchliche) Entscheidungen, sondern primär innere Impulse führten zur Kanonbildung21. Darüber hinaus verkennt die Forderung einer Aufhebung der Kanonsgrenzen die sinnstiftende und normierende Funktion eines Kanons als Erinnerungsraum, den die Mitglieder einer Gruppe immer wieder betreten können, um Vergewisserung und Orientierung zu erlangen. Die Festlegung auf einen Kanon als historische Gegebenheit und konstitutive Größe einer religiösen Bewegung bedeutet keineswegs, dass der Kanonbegriff zum Schlüssel einer ntl. Theologie wird oder außerkanonische Schriften und religionswissenschaftliche Fragestellungen ausgeblendet werden; sie sind aber nicht die primäre Bezugsgröße der Interpretation und bestimmen auch nicht ihren Umfang22.
Weil es keine Außen- und/oder Innenperspektive gibt und die Preisgabe des Gottesbegriffes nicht ein Gewinn an Neutralität oder Wissenschaftlichkeit, sondern nichts anderes als eine Setzung und/oder die Anpassung an die Ideologie anderer ist, muss, darf und braucht die theologische Betrachtungsweise nicht durch eine religionswissenschaftliche Fragestellung ersetzt zu werden. Theologie und Religionswissenschaft sind weder besser noch schlechter, neutraler oder ideologischer, sondern sie fragen und arbeiten anders. Diese Andersartigkeit liegt in ihrem Gegenstand begründet, denn die Religionswissenschaft handelt von den kulturellen Erscheinungsformen der Religionen, die christliche Theologie von dem Gott, der sich in der Geschichte Israels und in Jesus Christus offenbart hat23.
R.BULTMANN, Theologie, 585–599; H.SCHLIER, Über Sinn und Aufgabe einer neutestamentlichen Theologie, in: G.Strecker (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), 323–344; G.STRECKER, Das Problem der Theologie des Neuen Testaments, in: ders. (Hg.), Das Problem der Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), 1–31; U.LUZ, Einheit und Vielfalt neutestamentlicher Theologie, in: Die Mitte des Neuen Testaments (FS E.Schweizer), hg. v. U.Luz/H.Weder, Göttingen 1983, 142–161; P.STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 304–321; F.HAHN, Das Zeugnis des Neuen Testaments in seiner Vielfalt und Einheit, KuD 48 (2002), 240–260; TH. SÖDING, Einheit der Schrift? Zur Theologie des biblischen Kanons, QD 211, Freiburg 2005.
Zu den zentralen Problemen der Darstellung einer Theologie des Neuen Testaments zählt die Frage nach Vielfalt und Einheit. Unbestritten ist die historische und theologische Vielschichtigkeit der einzelnen ntl. Schriften. Die sich anschließende Sachfrage lautet: Gibt es eine darüber hinausgehende Einheit und wie lässt sie sich begründen/darstellen? Eine negative Antwort auf diese Frage gibt R.Bultmann; er votiert gegen eine ntl. ‚Dogmatik‘ und tritt für die Verschiedenheit der Entwürfe ein. „Es ist dadurch zum Ausdruck gebracht, daß es eine christliche Normaldogmatik nicht geben kann, daß es nämlich nicht möglich ist, die theologische Aufgabe definitiv zu lösen, – die Aufgabe, die darin besteht, das aus dem Glauben erwachsende Verständnis von Gott und damit von Mensch und Welt zu entwickeln. Denn diese Aufgabe gestattet nur immer wiederholte Lösungen oder Lösungsversuche in den jeweiligen geschichtlichen Situationen.“24 Die Gegenposition wird in vielfacher Form vertreten, wobei es zwei Grundmuster gibt: 1) Die Einheit des Neuen Testaments liegt in der Konzentration auf eine Person, einen Grundgedanken oder ein besonders eingängiges Argumentationsmuster. Von besonderer Bedeutung ist die Argumentation M.Luthers, der Jesus Christus als die ‚Mitte der Schrift‘ versteht: „Und daryn stymmen alle rechtschaffene heylige bucher uber eyns, das sie alle sampt Christum predigen und treyben, Auch ist das rechte prufesteyn alle bucher zu taddelln, wenn man sihet, ob sie Christum treyben, odder nit, Syntemal alle schrifft Christum zeyget Ro. 3 unnd Paulus nichts denn Christum wissen will. 1. Cor 2. Was Christum nicht leret, das ist nicht Apostolisch, wens gleich Petrus odder Paulus leret, Widerumb, was Christum predigt, das ist Apostolisch, wens gleych Judas, Annas, Pilatus und Herodes thett.“25 Von diesem Ansatz her gelangt Luther zu einer christologisch orientierten immanenten Bibelkritik, bei der besonders positiv das Johannesevangelium, die Paulusbriefe und der erste Petrusbrief gewürdigt werden, negativ hingegen der Jakobusbrief, aber auch der Hebräer- und Judasbrief sowie die Johannesoffenbarung. Der Ansatz Luthers wird in Variationen bis in die unmittelbare Gegenwart hinein vertreten26. E. Käsemann sieht in der Rechtfertigung des Gottlosen die Mitte der Schrift und aller christlichen Verkündigung. „Weil in ihr Jesu Botschaft und Werk als Botschaft und Werk des Gekreuzigten, seine Herrlichkeit und Herrschaft sich unverwechselbar von allen andern religiösen Aussagen abheben, muß sie als Kanon im Kanon betrachtet werden, ist sie das Kriterium der Prüfung der Geister auch gegenüber christlicher Predigt in Vergangenheit und Gegenwart schlechthin.“27 Im Rahmen einer Biblischen Theologie erblickt P.Stuhlmacher in der Versöhnungsvorstellung die Mitte der Schrift: „Das von Jesus gelebte, von Paulus exemplarisch verkündigte und von der johanneischen Schule durchgeistigte eine apostolische Evangelium von der Versöhnung (Versühnung) Gottes mit den Menschen durch seinen eingeborenen Sohn, den Christus Jesus, ist die Heilsbotschaft für die Welt schlechthin.“28 2) Die Frage nach Vielfalt und Einheit wird nicht durch Konzentration auf Schlüsselbegriffe reduziert, sondern als eigenständiger und notwendiger Bestandteil der Theologie des Neuen Testaments begriffen. Nach H.Schlier ist die Aufgabe der Theologie erst dann geleistet, „wenn es nun auch gelingt, die Einheit der verschiedenen ‚Theologien‘ sichtbar zu machen. Erst dann ist der Name und der in ihm waltende Begriff überhaupt sinnvoll. Diese Einheit, die eine letzte Widerspruchslosigkeit der verschiedenen theologischen Grundgedanken und Aussagen einschließt, ist, theologisch gesehen, eine Voraussetzung, die mit der Inspiration und Kanonizität des N.T. bzw. der Heiligen Schrift zusammenhängt.“29 Diese Anregungen aufnehmend, rückt F.Hahn die Einheit des Neuen Testaments in den Mittelpunkt seiner Theologie. Weil eine urchristliche Theologiegeschichte nur die Vielfalt ntl. Entwürfe aufzeigen kann, bedarf es im Rahmen eines thematischen Arbeitsganges des Aufweises der inneren Einheit des Neuen Testaments30. Auf der Basis des alt- und neutestamentlichen Kanons kommt als übergeordnete Leitkategorie dafür nur der Offenbarungsgedanke infrage. „Die Orientierung am Offenbarungsgedanken hat Konsequenzen für den Aufbau: Es ist einzusetzen mit dem Offenbarungshandeln Gottes im alten Bund, es folgt das Offenbarungsgeschehen in der Person Jesu Christi und dann die soteriologische, die ekklesiologische und die eschatologische Dimension des Offenbarungshandelns Gottes in Christus. Die neutestamentliche Ethik ist dabei im Zusammenhang mit der Ekklesiologie zu behandeln.“31
Gegen die Annahme einer ‚Mitte‘ des Neuen Testaments ist einzuwenden, dass es sich dabei um eine unhistorische Abstraktion handelt, die den einzelnen Entwürfen in keiner Weise gerecht wird. Die Rechtfertigungslehre des Galater- und Römerbriefes oder die Versöhnungsvorstellung erfassen noch nicht einmal das Ganze der paulinischen Theologie! Wird Jesus Christus selbst als die ‚Mitte‘ bestimmt, dann ist eine solche Konzentration auf der höchsten Ebene wenig sinnvoll, weil sie für alles zutrifft und sich damit selbst aufhebt. Eine Biblische Theologie ist nicht möglich, weil 1) das Alte Testament von Jesus Christus schweigt32, 2) die Auferstehung eines Gekreuzigten von den Toten als kontingentes Geschehen sich in keine antike Sinnbildung integrieren lässt (vgl. 1Kor 1, 23) und 3) das Alte Testament wohl der wichtigste, aber keinesfalls der einzige kulturelle/theologische Kontext ntl. Schriften ist33. Das Christuszeugnis kann als eine Form der Pluralisierung des Alten Testaments verstanden werden, dies gilt aber ebenso für die Samaritaner, Qumran oder das rabbinische Judentum. Es gibt weder eine historisch noch theologisch notwendige Bewegung vom Alten Testament hin zum Neuen Testament, sondern nur die nachträgliche Postulierung einer solchen Entwicklung.
Gilt die Einheit des Neuen Testaments als eine eigene vom Kanon geforderte Sachaufgabe, stellen sich theoretische und praktische Probleme: Wie verhält sich die Kanonbildung zum Selbstverständnis der einzelnen Schriften, die nun einer neuen, späteren und fremden Fragestellung unterworfen werden? In welchem Verhältnis steht die Darstellung von Vielfalt und Einheit: Ist die Einheit die Schnittmenge des Verschiedenen? Vollendet sich die Vielfalt in der Einheit? Ist die Einheit die Wiederholung der Vielfalt unter verändertem Vorzeichen34?
Kanonisierung als Zeugnis von Vielfalt und Begrenzung
Eine Beantwortung dieser Fragen muss davon ausgehen, dass der Aspekt der Vielfalt sich konsequent aus dem hier verfolgten methodischen Ansatz und dem historischen Befund ergibt: Weil alle ntl. Autoren als Erzähler und Interpreten ihre eigene Geschichte und die aktuelle Situation ihrer Gemeinde in ihre Jesus-Christus-Geschichte mit einbringen, somit ihre je eigene Sinnbildung vornehmen, gibt es ein deutliches Prae der Vielfalt und kann es die neutestamentliche Theologie im Singular gar nicht geben35. Jede ntl. Schrift ist eine eigenständige Sprach-, Interpretations- und damit Sinnwelt, die aus sich selbst heraus verstanden werden will. Vielfalt ist nicht identisch mit grenzen- und konturloser Pluralität, sondern bezieht sich streng auf das Zeugnis der ntl. Schriften. Vielfalt gibt es im Neuen Testament nur auf einer klaren Grundlage: Die Erfahrungen mit Gottes endzeitlichem Heilshandeln an Jesus Christus in Kreuz und Auferstehung. Diese Grundlage wird in den einzelnen Schriften notwendigerweise und unausweichlich in je eigener Weise bearbeitet, wobei nicht Gegensätzlichkeit, sondern Vielgestaltigkeit vorherrscht. Zudem fragt sich, ob der Begriff der Einheit überhaupt geeignet ist, die gestellte Sachfrage zu beantworten. Einheit ist ein statischer Totalitätsbegriff, der dazu neigt, einzuebnen und zu vereinheitlichen. Schließlich ist die Frage der Einheit den ntl. Autoren fremd, sie erscheint nicht in den Texten und die Geschichte des frühen Christentums ist alles andere als die Geschichte einer einheitlichen Bewegung!
Der Kanon bildet den Endpunkt eines langen Prozesses der Kanonisierung36; Kanonisierung wiederum ist ein natürliches und notwendiges Element von Identitätsbildung und -sicherung. Innerhalb jeder Entwicklung ist es notwendig, „die Regelungen eines bestimmten Bereiches der gesellschaftlichen Sinnproduktion durch Eingrenzung und Festlegung des Gebotenen“37 zu bestimmen. Die Kanonisierung spricht keineswegs gegen eine Betonung der Vielfalt, denn sie ist selbst ein Zeugnis sachgemäßer Vielfalt! Der Prozess der Kanonisierung verdeutlicht, dass das Ursprungsgeschehen die Vielfalt seiner Interpretationen zugleich ermöglicht und begrenzt. Gleichzeitig bleibt es aber dabei: Die für den Prozess der Kanonisierung zentrale Frage nach Vielfalt und ihrer Begrenzung ist nicht die Frage der einzelnen ntl. Schriften! Ein Kanon ist immer ein Ende, die Kanonisierung ein anhaltender Prozess, der mit den ntl. Schriften einsetzt, nicht aber identisch ist! Zudem begründen und repräsentieren die ntl. Schriften ihren Status aus sich selbst heraus und bedürfen dafür nicht einer späteren Kanonisierung; sie kamen in ihrer überwiegenden Zahl in den Kanon, weil sie diesen Status schon besaßen und nicht umgekehrt38. Schließlich: Eine Theologie des ntl. Kanons als eine notwendigerweise exegetische und kirchengeschichtliche Aufgabe ist etwas anderes als eine Theologie der ntl. Schriften/des Neuen Testaments. Die Anzahl und die Reihenfolge der Schriften im Kanon ist nicht das Werk der ntl. Autoren, sondern hier zeigt sich das Theologieverständnis anderer!39 Ihre Sicht setzte sich mit guten Gründen durch, sie ist aber nicht die Perspektive der einzelnen ntl. Schriften. Als Interpretationshorizont und Identitätsstifter kann der Kanon erst von dem Zeitpunkt an gelten, zu dem er in seinem Grundbestand existierte: um 180 n.Chr. Deshalb ist der Kanon gegenüber den einzelnen Schriften eine sekundäre Meta-Ebene, die weder den besonderen historischen Standort noch das spezifische theologische Profil einer ntl. Schrift wirklich erfassen kann und auch nicht die entscheidende Frage beantwortet, welchen Beitrag ein Autor für die frühchristliche Identitätsbildung liefert.
Als natürliches und historisch wie theologisch betrachtet überaus sachgemäßes Ergebnis eines jahrhundertlangen Formierungs- und Selektionsprozesses ist der ntl. Kanon eine geschichtliche Realität, die den Umfang des zu behandelnden Stoffes bestimmt.
2.4Neutestamentliche Theologie als Sinnbildung
Aus den vorangegangenen Überlegungen ergeben sich der methodische Ansatz und der Aufbau dieser Theologie des Neuen Testaments.
Der methodische Ansatz
Die Schriften des Neuen Testaments sind das Resultat einer umfassenden und vielschichtigen Sinnbildung. Weil religiöse Erfahrungen von Gruppen oder Einzelpersonen immer Sinnbildungsprozesse auslösen, die in Erzählungen und Rituale und damit auch in Textbildung überführt werden, um kommunizierbar zu sein, waren angesichts von Kreuz und Auferstehung Sinnbildungsleistungen unabwendbar. Ein Erschließungsereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen! Alle frühchristlichen Autoren standen vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen, womit sie auch eine bedeutsame Denkleistung vollbrachten. Indem sie die Geschichte des Jesus Christus in bestimmter Weise erzählen und deuten, nehmen sie Zuschreibungen und Statusbestimmungen vor, sie schreiben Geschichte und konstruieren eine eigene neue religiöse Welt40. Dabei vermeiden alle Autoren des Neuen Testaments die historisch wie sachlich unangemessene Alternative zwischen einer Faktengeschichte des irdischen Jesus und einer davon abgelösten abstrakten Kerygma-Christologie. Vielmehr kommt bei ihnen die Geschichte des irdischen Jesus aus der Perspektive der durch den Auferstandenen geschaffenen gegenwärtigen Heilswirklichkeit in den Blick.
Die neue religiöse Welt ist immer auch Ausdruck der spezifischen historischen und kulturellen Situation, in der die ntl. Autoren lebten und wirkten. Sie waren eingebunden in vielfältige kulturelle und politische Kontexte, die durch ihre Herkunft, ihr aktuelles Wirkungsfeld, ihre Rezipienten und die religiös-philosophischen Debatten der Zeit bestimmt waren. Religionen existieren ebenso wenig wie Kulturen je individuell für sich, vielmehr sind sie immer in Relationen eingebunden. Dies gilt umso mehr für eine neue Bewegung wie das frühe Christentum, das um seiner Anschlussfähigkeit willen bewusst Relationen aufbauen musste. Anschlussfähigkeit ergibt sich nicht von selbst, sondern muss bewusst hergestellt werden. Entscheidend ist dabei die Fähigkeit von Sinnbildungen und der Bildung neuer Identitäten. Die Herausbildung einer Identität vollzieht sich immer unter dem Einfluss eines kulturellen Umfeldes bzw. kultureller Umfelder. Dabei ist das ethnische Identitätsbewusstsein wesentlich durch objektivierbare Merkmale wie Sprache, Abstammung, Religion und daraus hervorgegangener Traditionen bestimmt. Traditionen wiederum sind Ausdruck einer kulturellen Formung durch Texte, Riten und Symbole41. Obwohl sich Identitätsbildung in der Regel innerhalb eines so geprägten Rahmens vollzieht, hat sie immer Prozesscharakter, ist fließend und an sich ändernde Situationen gebunden42. Wenn sich zudem Kulturräume überlagern, kann sich eine Identität nur erfolgreich ausbilden, wenn sie verschiedenartige Einflüsse aufzunehmen und zu integrieren vermag. Eindeutigkeit und Durchlässigkeit sind gleichermaßen Voraussetzungen für gelungene kulturelle Neuformungen. Anschlussfähigkeit ließ sich innerhalb der komplexen kulturellen Vielschichtigkeit des Imperium Romanum für die frühchristliche Mission nur erreichen, weil sie in der Lage war, verschiedene kulturelle Traditionen in sich aufzunehmen und schöpferisch weiterzuentwickeln: das Alte Testament, das hellenistische Judentum und die griechisch-römische Kultur. Schließlich vollziehen sich Sinnbildungen immer in (wechselnden) politischen Kontexten, die in den einzelnen ntl. Schriften in sehr unterschiedlicher Weise zum Thema gemacht werden. Speziell der Kaiserkult als politische Religion (s.u. 9.1) konnte nicht unthematisiert bleiben. Der Umgang mit ihm reicht von offener Konfrontation und Auseinandersetzung (Offb/1Petr), über symbolische Überbietungen und/oder deutliche Anspielungen (Paulus/Markus/Lukas/Johannes/Kol/Eph) bis hin zum Schweigen (Hebr/Jak/1.2Tim/Tit/2Petr/Jud).
Mit dem Einsatz bei den einzelnen ntl. Autoren/Schriften (ausgenommen natürlich die Verkündigung des Jesus von Nazareth) unterscheidet sich diese Theologie wesentlich von dem Entwurf R. Bultmanns. Seine Theologie des Neuen Testaments gleicht in ihrem Aufbau einem Bergmassiv mit zwei Gipfeln. Man hat zunächst einen ‚leichten‘ Anstieg, denn die Frage nach dem historischen Jesus wird ausgeblendet und das vor- bzw. außerpaulinische Christentum nur summarisch behandelt. Dann folgt ein sehr ‚steiler‘ Aufstieg: Der Paulus- und Johannes-Abschnitt in der Theologie des Neuen Testaments bilden ein je in sich geschlossenes Meisterstück. Paulus und Johannes sind die beiden einzigen ‚wirklichen‘ Theologen des Neuen Testaments, sie sind gewissermaßen die ‚Gipfel‘ theologischer Reflexion43. Johannes steht in sachlicher Nähe zu Paulus, beide befinden sich im Raum eines gnostisch gefärbten Hellenismus und gestalten ihre Christologie „nach dem Muster des gnostischen Erlösermythos“44. Nach diesen beiden Gipfeln folgt ein steiler Abstieg, denn die nachjohanneische Entwicklung und der Weg zur Alten Kirche werden wiederum nur sehr summarisch dargestellt. Faktisch führt die Konzentration auf Paulus und Johannes bei Bultmann zu einer Vernachlässigung bzw. einem Ausblenden wesentlicher theologischer Entwürfe im Neuen Testament (z.B. Synoptiker, Apostelgeschichte, Deuteropaulinen, Hebräerbrief, 1Petrusbrief, Jakobusbrief, Johannesoffenbarung).
Eine solche Reduzierung findet sich bei F. Hahn nicht, der in Band I seiner Theologie des Neuen Testaments umfassend die unterschiedlichen theologischen Entwürfe darstellt und als Theologiegeschichte des Urchristentums klassifiziert. Dies reicht aber seiner Meinung nach nicht aus, um von ‚Theologie‘ zu sprechen. Erst wenn die verschiedenen Entwürfe aufeinander bezogen werden und nach ihrer Einheit gefragt wird, kann von ‚Theologie‘ im eigentlichen Sinn die Rede sein. Dies soll der Offenbarungsgedanke als übergeordnete Leitkategorie leisten: „Zentrale Bedeutung hat im Neuen wie im Alten Testament das Offenbarungshandeln Gottes.“45 Mit dem Offenbarungskonzept verbinden sich aber weitreichende exegetische, theologische und erkenntnistheoretische Probleme. 1) Exegetische Probleme: Ein nur annähernd einheitliches Konzept von Offenbarung gibt es im Neuen Testament nicht; weder eine umfassende Darstellung der Kommunikationsformen zwischen Gott und Mensch, noch einen übergreifenden Begriff dafür46. Vielmehr findet sich in den unterschiedlichen Schriftengruppen eine ganze Reihe von Termini: ἀποϰαλύπτειν; ἀποϰάλυψις; φανηροῦν; δηλοῦν; ἐπιφαίνειν; ἐπιφάνεια; ὁρᾶν; γνωρίζειν; γινώσϰειν. Mit diesen Begriffen lassen sich verschiedene Offenbarungskonzepte verbinden: Vision, Audition, Epiphanie, Parusie, Gerichtshandeln, Eingebung, Träume, Gesichte, verbale Unterweisung, kosmische Umwälzungen. Dabei fällt auf, dass im Vergleich zu den Gesamtkonzeptionen der ntl. Autoren die Frage nach der Möglichkeit und den Modi der Offenbarung/Offenbarungen Gottes eher ein Nebenthema ist. Faktisch unterwirft F. Hahn das gesamte Neue Testament (und Alte Testament) einem Offenbarungsbegriff, der sich dort in dieser überhöhten, dogmatischen Form gar nicht findet! 2) Theologische Probleme: In welcher Form kann beim Alten Testament von einer dem Neuen Testament gleichwertigen Offenbarung gesprochen werden47? Die interpretatio christiana des AT nimmt faktisch eine radikale Reduzierung unter den Kategorien der Erwählung und Verheißung vor. Die Kriterien der Aufnahme bzw. Nichtaufnahme zentraler Aspekte des atl. Offenbarungshandelns sind völlig unklar. 3) Erkenntnistheoretische Probleme: Bei Hahn gewinnt der Offenbarungsbegriff gewissermaßen einen ontologischen Status. Dagegen ist einzuwenden: Wenn wir von Offenbarung reden, dann nehmen wir Zuschreibungen vor; wir sprechen nicht – gewissermaßen von uns selbst losgelöst – von höheren Wirklichkeiten, denen sich die Menschen zu unterwerfen hätten. Es geht also nicht einfach um Offenbarung ‚an sich‘, sondern um Konstruktionen von Offenbarung. Das Offenbarungskonzept verdankt sich zudem der Vorstellung des großen Absenders, ein Kaiser oder ein Gott tut seinen Willen kund. Heute gibt es die Metaphysik des großen Absenders nicht mehr, sondern es müssen Plausibilitäten hergestellt, Einsichten ermöglicht werden.
Die Sinnbildungen der ntl. Autoren weisen eine hohe Leistungsfähigkeit auf, denn sie konnten sich nicht nur innerhalb einer wahrhaft multi-religiösen Umwelt behaupten, sondern sie sind bis heute in einer weltgeschichtlich einmaligen Rezeptionsgeschichte gegenwärtig. Da in der Antike Religion und Philosophie nie getrennt waren, müssen die ntl. Schriften auch als denkerische Leistungen und Zeugnisse gelesen und ernst genommen werden. In ihnen werden zentrale Fragen gelingenden Lebens behandelt, d.h. das denkerische Profil der einzelnen Entwürfe muss im Vergleich mit zeitgenössischen religiös-philosophischen Entwürfen erhoben werden.
Die Orientierung an den ntl. Schriften/Autoren wirft die Frage auf, ob nicht von einer Theologie der ntl. Schriften gesprochen werden sollte. Einerseits ist die Ausrichtung an einzelnen Schriften/Autoren grundlegend, andererseits wird aber in einem entscheidenden Punkt davon abgewichen, indem die Verkündigung, das Wirken und das Geschick Jesu von Nazareth die Basis und den Ausgangspunkt der Darstellung bilden. Deshalb wird weiterhin von Theologie des Neuen Testaments gesprochen48, womit die aus den Schriften des Neuen Testaments erhebbaren theologischen Konzeptionen gemeint sind, die über die reine Anzahl der Schriften hinausgehen.
Der Aufbau
Werden die einzelnen ntl. Schriften als Ausdruck von anschlussfähigen Sinn- und Identitätsbildungsprozessen verstanden, dann kommt einer Theologie des Neuen Testaments die Aufgabe zu, die Konstruktion dieser Sinnwelten umfassend zu erheben und darzustellen. Ausgangspunkt muss dabei Jesus von Nazareth sein, der mit seinem Wirken und seiner Verkündigung selbst eine Sinnbildung vornahm, die vor und nach Ostern weitere Sinnbildungen hervorrief, und auf den sich alle ntl. Autoren grundlegend beziehen49. Den ersten Schwerpunkt bildet deshalb die Darstellung der Gedankenwelt Jesu; sie ist nach thematischen Fragestellungen gegliedert, die sich aus den Gewichtungen der Überlieferung ergeben. Es folgt eine primär chronologisch (und teilweise sachlich)50 angeordnete Entfaltung der Sinnwelten aller ntl. Schriften, von Paulus bis zur Offenbarung. Ziel ist es dabei, möglichst die gesamte Gedankenwelt der Autoren darzustellen. Dies soll durch Themenfelder erreicht werden, die 1) in allen Schriften zu finden sind, und die 2) die theologischen Strukturen in ihren Grundannahmen, ihrer Vielfalt und ihren gegenseitigen Vernetzungen erfassen können. Die Themenfelder sind:
1) Theologie: Welche Konsequenzen hat das Offenbarungsgeschehen in Jesus Christus für das Gottesbild? Wie ist der Gott zu denken, der in Jesus Christus seinen Willen in Kontinuität und Diskontinuität zum ersten Bund kundgetan hat?
2) Christologie: Das besondere Gottesbewusstsein des Jesus von Nazareth erforderte im Kontext seines vollmächtigen Auftretens, seiner Wundertaten und seines Geschicks in Jerusalem die Bestimmung seines Verhältnisses zu Gott, seines Wesens, seiner Funktionen und seiner Bedeutsamkeit innerhalb des mit ihm selbst einsetzenden endzeitlichen Prozesses.
3) Pneumatologie: Die neuen und nachhaltigen Geisterfahrungen der frühen Christen nötigten zu Reflexionen über die Anwesenheit und das Wirken des Göttlichen im Leben der Glaubenden.
4) Soteriologie: Von Anfang an wurde das Christusgeschehen als ein rettendes/erlösendes Ereignis verstanden; als Rettung vor dem Gericht, der Hölle/Unterwelt und dem immerwährenden Tod. Es musste im Kontext zahlreicher antiker Rettergestalten bestimmt werden, was wirklich rettet und wie sich die Rettung vollzieht.
5) Anthropologie: Damit verbindet sich die Frage nach dem Wesen und der Bestimmung des Menschen. Angesichts der Jesus-Christus-Geschichte stellte sich die Frage nach dem Menschen neu; der ‚neue Mensch‘ in Christus (2Kor 5, 17; Eph 2, 15) rückt in das Zentrum der Reflektion.
6) Ethik: Sinnbildungen sind immer mit Orientierungsleistungen verbunden, die in ethische Konzepte umgesetzt werden müssen. Nicht nur das Sein, sondern auch das Handeln hatte für die frühen Christen eine neue Gestalt gefunden. Sie standen vor der schwierigen Aufgabe, in Kontinuität zur jüdischen Ethik und im Kontext einer hoch reflektierten griechisch-römischen Ethik ein attraktives ethisches Programm zu entwickeln.
7) Ekklesiologie: Zu den prägenden Erfahrungen der Anfangszeit gehörte die neue Gemeinschaft im Glauben, die innerhalb der Ekklesiologie bedacht und in Formen/Strukturen überführt werden musste. Es galt, die Unmittelbarkeit des Geistes und die notwendigen Ordnungsstrukturen in der sich dehnenden Zeit in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen.
8) Eschatologie: Jede Religion/Philosophie muss als Sinnbildung einen Entwurf temporaler Ordnung entwickeln. Für die frühen Christen gilt dies in besonderer Weise, denn Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft mussten in ein neues Verhältnis gebracht werden, weil mit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten ein vergangenheitliches Geschehen die Zukunft bestimmt und deshalb auch die Gegenwart prägt. Das frühe Christentum ließ die Eschatologie gerade nicht im Vollzug der Weltgeschichte aufgehen, sondern erarbeitete Zeitkonzepte, die – getragen vom allumfassenden Gottesgedanken – vom Ende her den Sinn entwerfen.
In einem abschließenden 9. Themenfeld (Theologiegeschichtliche Stellung) wird versucht, eine Einordnung jeder ntl. Schrift innerhalb der frühchristlichen Sinnbildungsprozesse und der Geschichte des frühen Christentums vorzunehmen, indem vor allem ihr besonderes Profil herausgestellt wird.
Die schematische Grundstruktur ergibt sich somit aus dem Befund der Schriften und der historischen Entwicklung selbst51, zudem kommt ihr gleichermaßen eine strukturierende und erschließende Funktion zu. Sie ordnet den Stoff und die Fragestellungen und gewährleistet, dass nicht nur die gängigen theologischen/christologischen Themen der einzelnen Schriften dargestellt werden (z.B. ‚Messiasgeheimnis‘ bei Markus, Gesetz/Gerechtigkeit bei Matthäus, Rechtfertigungslehre bei Paulus, Ämter bei den Pastoralbriefen), sondern die gesamte Breite und der ganze Reichtum der einzelnen Entwürfe erfasst wird. Zugleich ist dieses Raster so flexibel, dass die Schwerpunkte und Besonderheiten einzelner Schriften herausgearbeitet werden können. Auch die Erzählstruktur von Schriften, ihre besonderen theologischen Weichenstellungen, ihre Stellung im Kontext anderer Entwürfe und ihre spezifischen identitäts- und einheitsbildenden Elemente lassen sich im Rahmen dieses Schemas angemessen integrieren. Der je besondere Charakter eines ntl. Textes bleibt so gewahrt, ohne das Besondere für das Ganze zu halten und umgekehrt.
Die Argumentationen in den Schriften des Neuen Testaments sind immer eingebettet in historische, theologie- und religionsgeschichtliche, kulturelle und politische Rahmenbedingungen. Deshalb ist es notwendig, die für das Verstehen der Texte unabdingbaren Kontexte darzustellen: die grundlegenden Weichenstellungen in der Geschichte des frühen Christentums, die kulturellen und denkerischen Herausforderungen, die politischen Wendepunkte und die unausweichlichen Konflikte. Dies sollen vier mit dem Stichwort Transformation versehene Abschnitte leisten, die jeweils vor der Behandlung der betreffenden Schriftengruppen die zentralen historischen/theologiegeschichtlichen Veränderungen gegenüber der bisherigen Situation darstellen.
1 R.BULTMANN, Theologie, 1f.
2 M.KÄHLER, Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus, München 31961 (= 1892), 49.
3 R.BULTMANN, Jesus, Hamburg 41970 (= 1926), 10. Es mag verwundern, dass Bultmann dennoch ein Jesus-Buch schreiben konnte. Sein Ausgangspunkt war: Was über den historischen Jesus ermittelt werden kann, ist für den Glauben nicht von Bedeutung, denn dieser Jesus von Nazareth war ein jüdischer Prophet. Ein Prophet, der mit seinen Forderungen und Anschauungen im Rahmen des Judentums steht. Deshalb gehört die Geschichte Jesu für Bultmann in die Geschichte des Judentums, nicht des Christentums; vgl. R.BULTMANN, Das Urchristentum, München 41976 (= 1949), wo die Verkündigung Jesu unter der Rubrik ‚Das Judentum‘ verhandelt wird.
4 Dem Ansatz Bultmanns fühlen sich in besonderer Weise verpflichtet H.CONZELMANN, Theologie, 1–8; G.STRECKER, Theologie, 1–9.
5 Vgl. R.BULTMANN, Theologie, 419, in Bezug auf das Johannesevangelium: „Johannes stellt also in seinem Evangelium nur das Daß der Offenbarung dar, ohne ihr Was zu veranschaulichen.“ Faktisch vertritt Bultmann damit eine Substitutionstheorie; vgl. DERS., Das Verhältnis der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: ders., Exegetica, hg. v. E.Dinkler, Tübingen 1967, (445–469) 468: „Wenn es nun so ist, daß das Kerygma Jesus als den Christus, als das eschatologische Ereignis verkündigt, wenn es beansprucht, daß in ihm Christus präsent ist, so hat es sich an die Stelle des historischen Jesus gesetzt; es vertritt ihn.“
6 Vgl. H. BLUMENBERG, Matthäuspassion, Frankfurt 41993, 221, der in Bezug auf das Kerygma formuliert: „Die Reduktion auf dessen harten unartikulierten Kern zerstört die Möglichkeit seiner Rezeption.“
7 Diese sinnbildende Dynamik des Anfangs spricht gegen die These von J.SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C.Breytenbach/J.Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), 155, ein Entwurf des Wirkens Jesu könne nicht die Grundlage für eine ntl. Theologie bilden, da Jesus innerhalb einer Theologie des Neuen Testaments nur aus der Perspektive der Glaubenszeugnisse von Bedeutung ist, jedoch nicht unabhängig davon.
8 Die These eines solchen Bruches ist das eigentliche Fundament der Thesen BULTMANNS; vgl. DERS., Theologie, 33: „Daß das Leben Jesu ein unmessianisches war, ist bald nicht mehr verständlich gewesen – wenigstens in den Kreisen des hellenistischen Christentums, in denen die Synopt. ihre Gestaltung gefunden haben.“ Der maßgebliche Vertreter eines unmesssianischen Lebens Jesu an der Wende vom 19. zum 20.Jh. war W.WREDE (vgl. DERS., Das Messiasgeheimnis [s.u. 8.2, 227 u.ö.]), der allerdings später seine Meinung zumindest partiell revidierte. In einem Brief an Adolf v. Harnack aus dem Jahr 1905 heisst es: „Ich bin geneigter als früher zu glauben, daß Jesus selbst sich zum Messias ausersehen betrachtet hat“ (Unveröffentlichte Briefe William Wredes zur Problematisierung des messianischen Selbstverständnisses Jesu, hg. v. H.Rollmann/W.Zager, ZNThG 8 (2001), (274–322) 317.
9 Treffend F.HAHN, Theologie I, 20: „Ausgangspunkt bei der Frage nach der Zusammengehörigkeit der vorösterlichen Tradition und des nachösterlichen Kerygmas muß sein, daß mit Jesu Wirken die Gottesherrschaft bereits anbricht. Daher geht es schon in vorösterlicher Zeit um die Gegenwart des Heils und dessen endgültige Zukunft.“
10 W.WREDE, Aufgabe und Methode, 84.
11 W.WREDE, a.a.O., 153f.
12 Vgl. dazu die Besprechung der Arbeiten von Räisänen und Theißen bei A.LINDEMANN, Zur Religion des Urchristentums, ThR 67 (2002), 238–261.
13 H.RÄISÄNEN, Neutestamentliche Theologie?, 75.
14 Vgl. H.RÄISÄNEN, a.a.O., 72ff.
15 Vgl. G.THEISSEN, Die Religion der ersten Christen,17–19.
16 G.THEISSEN, a.a.O., 19.
17 So z.B. K. RUDOLPH, Art. Religionswissenschaft und Theologie, HrwG 5, Stuttgart 2001, 195, wonach die Theologie eher konfessorisch, doktrinär und apologetisch ausgerichtet ist: „Der Religionswissenschaftler hat es dagegen nur mit der Wirklichkeit einer Religion und ihren vielfältigen Tatbeständen als Ausdruck menschlicher Erfahrung in Geschichte, Gesellschaft und Kultur zu tun. Er ist nicht an der Wahrheit als solcher interessiert, sondern an der Richtigkeit seiner Erfassung bzw. Darstellung nach den Regeln kultur- bzw. geisteswissenschaftlicher Methodologie“; ähnlich H. G. KIPPENBERG/K. V. STUCKRAD, Einführung in die Religionswissenschaft, München 2003, 14f.
18 Treffend A.SCHLATTER, Atheistische Methoden in der Theologie, in: ders., Die Bibel verstehen, hg. v. W.Neuer, Gießen 2002, (131–148) 137: „Jedes Denken hat ein Wollen in sich, so daß in unserer Wissenschaft erscheint, was ‚wir wollen‘. Damit sagt natürlich keiner von uns, dass wir uns ein souveränes Setzungsvermögen, das von jeder Begründung und Rechtfertigung befreit sei, zuschreiben.“
19 R.KOSELLECK, Standortbindung und Zeitlichkeit, in: Theorie der Geschichte I, hg. von R.Koselleck/W.J. Mommsen/J.Rüsen, München 1977, (17–46) 46.
20 Vgl. dazu die Überlegungen bei J.ASSMANN, Fünf Stufen auf dem Weg zum Kanon. Tradition und Schriftkultur im alten Israel und frühen Judentum, in: ders., Religion und kulturelles Gedächtnis, München 2000, 81–100.
21 Vgl. dazu U.SCHNELLE, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 82013, 426–442.
22 Eine Begrenzung des Stoffquantums müsste schon aus praktischen Gründen auch von denen vorgenommen werden, die eine Aufhebung der Kanonsgrenzen fordern. Die Kriterien dafür sind nicht leicht zu finden, denn religions- und kulturwissenschaftlich ist eine Begrenzung der Literatur auf den christlichen Bereich nicht zu begründen, es müssten der gesamte jüdische und griechisch-römische Bereich ebenfalls miteinbezogen werden. Deshalb muss jeder Autor/Leser/Exeget zwangsläufig für sich selbst Grenzen des Kanons ziehen. Auch der von PH. VIELHAUER, Geschichte der urchristlichen Literatur, Berlin 1975, 1–8, strikt durchgeführten formgeschichtlichen Selektion haftet etwas Gewaltsames an!
23 Vgl. I.U. DALFERTH, Theologie im Kontext der Religionswissenschaft, 14: „Für die Theologie markiert Gott daher nicht ein Thema neben anderen, sondern den Horizont, in dem alle Phänomene des Lebens zu verstehen sind, wenn sie theologisch verstanden werden sollen.“
24 R.BULTMANN, Theologie, 585. Allerdings vertritt Bultmann faktisch einen ‚Kanon im Kanon‘, indem er Paulus und Johannes massiv in das Zentrum seiner Theologie rückt.
25 WA DB 7, 384,25–32.
26 Einen forschungsgeschichtlichen Überblick bis in die 70er Jahre bietet W.SCHRAGE, Die Frage nach der Mitte und dem Kanon im Kanon des Neuen Testaments, in der neueren Diskussion, in: Rechtfertigung (FS E.Käsemann), hg. v. J.Friedrich u.a., Tübingen 1976, 415–442; die neuere Diskussion referieren und dokumentieren P.BALLA, Challenges to New Testament Theology, WUNT 2.95, Tübingen 1997; F.HAHN, Theologie II, 6–22; CHR.ROWLAND/C.M. TUCKETT (Hg.), The Nature of New Testament Theology, Oxford 2006.
27 E.KÄSEMANN, Zusammenfassung, in: ders. (Hg.), Das Neue Testament als Kanon, Göttingen 1970, (399–410) 405.
28 P.STUHLMACHER, Biblische Theologie II, 320.
29 H.SCHLIER, Sinn und Aufgabe, 338f. Die Einheit erblickt Schlier bereits in den alten Glaubensformeln; sie sollte anhand der großen Themen Gott, Gottes Herrschaft, Jesus Christus, Auferstehung, Geist, Kirche, Glaube entfaltet werden.
30 Vgl. auch U.WILCKENS, Theologie I, 53, der zwischen einem historischen und systematischen Teil des Gesamtwerkes unterscheidet und zum zweiten Teil feststellt: „Dort gilt es, in der Vielfalt verschiedenen Traditionsguts und teilweise einander widersprechender theologischer Konzeptionen die übereinstimmenden Grundmotive zu finden, die der Bewegung des Christentums in seiner geradezu eruptiven Anfangszeit ihre immense Überzeugungs- und Ausbreitungskraft gegeben haben.“
31 F.HAHN, Zeugnis, 253.
32 Dieses Schweigen im Sinne einer historisch oder theologisch verifizierbaren Ankündigung/Voraussage schließt natürlich nicht ein vielgestaltiges Reden im Rückblick aus, wie wir es im Neuen Testament finden. Auch der Versuch von M. WITTE, Jesus Christus im Spiegel des Alten Testaments, in: J. Schröter (Hg.), Jesus Christus, Tübingen 2014, (13–70) 22, eine „christo-transparente“ Auslegung des Alten Testaments vorzunehmen, „und dabei exemplarisch auf strukturelle Entsprechungen, konzeptionelle und motivische Parallelen sowie traditionsgeschichtliche Verbindungen in der Rede von Gott im Alten und im Neuen Testament hinzuweisen“ (a.a.O., 21f), ist in Wahrheit eine neutestamentliche und nicht eine alttestamentliche Perspektive. Eine Biblische Theologie ist und bleibt im strikten Sinn ein neutestamentliches Phänomen, das aufzeigt, wie und in welchem Umfang ntl. Autoren das Alte Testament bei ihrer Interpretation des Christusgeschehens heranzogen.
33 Eine Übersicht zum Für und Wider einer Biblischen Theologie bieten CHR.DOHMEN/TH. SÖDING (Hg.), Eine Bibel – zwei Testamente, Paderborn 1995.
34 Hierin sehe ich das Problem der Darstellung von F.HAHN, der Vielfalt und Einheit gleich umfänglich behandelt, wodurch es zwangsläufig zu erheblichen Überschneidungen und Wiederholungen unter veränderten Vorzeichen kommt; vgl. z.B. zum Thema ‚Gesetz bei Paulus‘ DERS., Theologie I, 232–242; Theologie II, 348–355. F. J. MATERA, New Testament Theology, 478f, stellt die vier großen Überlieferungsströme des Neuen Testaments (Synoptiker/Paulus/Johannes/weitere Stimmen) unter die Leitfrage ‚humanity in need of salvation’, um dann unter dem Oberbegriff ‚the bringer of salvation‘ die Frage nach der Einheit zu beantworten: „Three elements account for the diverse unity of New Testament theology: (1) an experience of salvation in Jesus Christ, (2) an underlying narrative that recounts the story of salvation, and (3) the diverse starting points that the New Testament writers employ to express the salvation God has effected in Christ. The first two elements account for the unity of New Testament theology, the last for the diverse ways in which the New Testament writers communicate their understanding of what God has accomplished in Christ.“
35 Anders F.HAHN, Theologie II, 2: „Die Darstellung der Vielfalt im Sinn einer Theologiegeschichte des Urchristentums ist ein notwendiges und unerläßliches Teilstück, ist für sich genommen jedoch nur ein Fragment. Erst in der Verbindung mit dem Bemühen, die verschiedenen theologischen Entwürfe des Urchristentums aufeinander zu beziehen und nach deren Einheit zu fragen, kann von einer ‚Theologie des Neuen Testaments‘ im strengen und eigentlichen Sinn gesprochen werden.“ Hahn nimmt mit dem Begriff der Einheit eine Abstraktion vor, die sich in den Texten so nicht findet und behauptet zugleich, damit den einzig möglichen Weg zu einer Theologie des Neuen Testaments im Singular beschreiten zu können.
36 Zum Werden des Kanons vgl. TH. ZAHN, Geschichte des Neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig/Erlangen 1888.1892; J.LEIPOLDT, Geschichte des neutestamentlichen Kanons I.II, Leipzig 1907.1908; H. V. CAMPENHAUSEN, Die Entstehung der christlichen Bibel, BHTh 39, Tübingen 1968; B.M. METZGER, Der Kanon des Neuen Testaments, Düsseldorf 1993.
37 TH. LUCKMANN, Kanon und Konversion, in: A./J.Assmann (Hg.), Kanon und Zensur, München 1987, (38–46) 38.
38 Bei den Paulusbriefen ist dies offenkundig, wie z.B. 1Thess 2, 13; 2Kor 10, 10; Gal 1, 8f und die Deuteropaulinen zeigen. Aber auch die Evangelien (vgl. Mk 1, 1; Mt 1, 1–17; Lk 1, 1–4; Joh 1, 1–18), die Apostelgeschichte, die Johannesapokalypse und alle großen Briefe legitimieren sich durch ihren Inhalt und Anspruch; anders J.SCHRÖTER, Die Bedeutung des Kanons für eine Theologie des Neuen Testaments, in: C.Breytenbach/J.Frey (Hg.), Aufgabe und Durchführung einer Theologie des Neuen Testaments (s.o. 2), (135–158) 137f, der strikt zwischen dem historischen und kanonischen Status unterscheidet und den letzteren für entscheidend hält.
39 Völlig anders J.SCHRÖTER, a.a.O., 154: „Die historische und theologische Bedeutung des Kanons ist vielmehr erst dann zur Geltung gebracht, wenn der Kanon als theologiegeschichtliches Dokument gewürdigt und die in ihm befindlichen Schriften auf dieser Grundlage in ihrem kanonischen Zusammenhang ausgelegt werden.“
40 Diese Einsicht ist fundamental, denn: „Das Entscheidende ist nicht, aus dem Zirkel heraus-, sondern in ihn nach der rechten Weise hineinzukommen“ (M.HEIDEGGER, Sein und Zeit, Tübingen 141977, 153).
41 Vgl. dazu H. WELZER, Das soziale Gedächtnis, in: ders. (Hg.), Das soziale Gedächtnis. Geschichte, Erinnerung, Tradierung, Hamburg 2001, 9–21.
42 Vgl. K.-H.KOHLE, Ethnizität und Tradition aus ethnologischer Sicht, in: A.Assmann/H.Friese (Hg.), Identitäten (s.o. 1.2), 269–287.
43 Dies wird auch in der Begrifflichkeit deutlich: Bultmann spricht von der ‚Verkündigung‘ Jesu, dem ‚Kerygma‘ der Urgemeinde und der hellenistischen Gemeinde, von ‚Theologie‘ aber nur bei Paulus und Johannes!
44 R. BULTMANN, Theologie, 358.
45 F. HAHN, Theologie II, 27.
46 Überblicke vermitteln: M. BOCKMÜHL, Art. Offenbarung IV: Neues Testament, RGG4 6, Tübingen 2003, 470–473; F. HAHN, Theologie II, 148–151; M. KARRER, Art. Offenbarung, Theologisches Begriffslexikon, Wuppertal 2005, 1409–1439.
47 F. HAHN, Theologie II, 109: „Die Offenbarungsgeschichte Gottes in Jesus Christus beruht auf einer weit zurückreichenden Erwählungs- und Verheißungsgeschichte.“
48 Faktisch war der Terminus Theologie des Neuen Testaments schon immer ein Sammelbegriff, unter dem sehr verschiedenartige Entwürfe subsumiert wurden. Zwei bereits erwähnte Beispiele, die sich leicht vermehren ließen: R.Bultmann bietet eine Kombination von Theologiegeschichte und Theologie, indem er thematische Überblicke voranstellt (Das Kerygma der Urgemeinde/Das Kerygma der hellenistischen Gemeinde vor und neben Paulus), um sich dann zwei Autoren/Schriftengruppen zuzuwenden (Paulus und Johannes), die gewissermaßen die Theologie des Neuen Testaments repräsentieren. Schließlich wird wiederum überblicksmäßig die Entwicklung zur Alten Kirche dargestellt. F.Hahn unterscheidet unter dem Obertitel ‚Theologie des Neuen Testaments‘ zwischen einer Theologiegeschichte des Urchristentums (Band I: Die Vielfalt des Neuen Testaments) und einer thematischen Darstellung (Bd. II: Die Einheit des Neuen Testaments), wobei im 1. Band Autoren/Schriftengruppen im Vordergrund stehen, im 2. Band Themen, die jedoch vornehmlich anhand prominenter Autoren/Schriften entfaltet werden.
49 Die grundlegende Sachentscheidung beim Aufbau einer Theologie des Neuen Testaments liegt darin, ob (in der Regel nach einleitenden Kapiteln) mit Jesus von Nazareth (so L.Goppelt, W.Thüsing, P.Stuhlmacher, U.Wilckens, F.Hahn) oder Paulus (so R.Bultmann, H.Conzelmann, G.Strecker, H.Hübner, J.Gnilka) eingesetzt wird.
50 So ist es z.B. sinnvoll, die spät entstandenen Pastoralbriefe innerhalb der Deuteropaulinen und damit vor den zeitlich früher anzusetzenden Kirchenbriefen 1Petrus, Jakobus und Hebräer zu behandeln.
51 Es handelt sich nicht um eine Gliederung nach ‚dogmatischen‘, sondern nach thematischen Topoi; um eine an den Inhalten der Texte orientierte didaktisch-methodische Entscheidung. Das Wort δόγμα heißt ‚Setzung/Satzung/Beschluss‘ und insofern ist jede Gliederung als formale und inhaltliche Setzung natürlich ‚dogmatisch‘. Das bedeutet aber nicht, dass damit die Topoi theologischer bzw. kirchlicher ‚Dogmatik‘ verbunden sind. Gegen O. WISCHMEYER, „Unsere Heimat ist im Himmel“. Die Grundlagen der Theologie des Paulus, Deutsches Pfarrerblatt (2010), (576–582) 577, die behauptet: „Udo Schnelle geht in seiner ‚Theologie des Neuen Testaments‘ für jeden einzelnen ntl. Schriftsteller strikt dogmatisch vor.“ Sind etwa Bultmanns Überhöhung von Paulus und Johannes oder Hahns Offenbarungsbegriff nicht ‚dogmatisch‘? Gliederungen sind immer heuristische Entscheidungen und danach zu beurteilen, inwiefern sie den Stoff erfassen und vermitteln können.