Читать книгу Die ersten 100 Jahre des Christentums 30-130 n. Chr. - Udo Schnelle - Страница 9
Оглавление4. Die neue Bewegung der Christusgläubigen
Jesus von Nazareth wurde wahrscheinlich am Freitag, dem 14. Nisan (= 7. April) des Jahres 30 in Jerusalem von den Römern als Aufrührer gekreuzigt (s.o. 2.2). Was sich dann später zum Christentum als einer eigenständigen Religion entwickelte, begann als eine innerjüdische Erneuerungsbewegung. Die Jünger und Jüngerinnen des jüdischen Heilers und Predigers Jesus von Nazareth wurden nicht wie die Anhänger anderer messianischer Propheten nach der Kreuzigung ihres Anführers verfolgt oder getötet. Nach einer kurzen Phase der Zerstreuung und Desorientierung bildeten sie – zunächst vorwiegend in Jerusalem – die Gemeinschaft der Christusgläubigen, d.h. der an Jesus von Nazareth als Messias Israels Glaubenden. Damit waren sie zunächst eine kleine und unscheinbare Gruppe innerhalb des Judentums neben anderen. Sie standen auf dem Boden des jüdischen Glaubens, entwickelten aber zugleich – wie andere jüdische Gruppen auch – eine eigene Erzähl-, Zeichen- und Ritualwelt und wurden relativ schnell in Konflikte mit den herrschenden jüdischen Gruppen hineingezogen.
Vier verschiedene Quellen geben direkt oder indirekt Auskunft über die Osterereignisse und die sich anschließende Bildung einer ersten Gemeinde in Jerusalem: die synoptischen Evangelien (Mk/Mt/Lk), die Apostelgeschichte, die authentischen Paulusbriefe (1Thess/1.2Kor/Gal/Röm/Phil/Phlm) und das Johannesevangelium.
Hans von Campenhausen, Der Ablauf der Osterereignisse und das leere Grab, SHAW.PH 1952, Heidelberg 41977. – Hans Grass, Ostergeschehen und Osterberichte, Göttingen 21961. – Karl Martin Fischer, Das Ostergeschehen, Göttingen 21980. – Paul Hoffmann (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988. – Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, Göttingen 1994. – Ingolf U. Dalferth, Der auferweckte Gekreuzigte, Tübingen 1994. – Nicholas Thomas Wright, The Resurrection of the Son of God, Minneapolis 2003 (dt.: Die Auferstehung des Sohnes Gottes, Marburg 2014). – Jürgen Becker, Die Auferstehung Jesu Christi nach dem Neuen Testament, Tübingen 2007.
Die Geschehnisse unmittelbar nach der Kreuzigung und dem Tod Jesu liegen im Dunkeln. Wahrscheinlich ergriffen viele Jesus-Nachfolger nach der Verhaftung Jesu die Flucht, um so einem möglichen Zugriff der Römer zu entgehen (vgl. Mk 14,50: „Und sie verließen ihn und flohen alle“; vgl. ferner Mk 14,27.28). Sie verließen Jerusalem und kehrten spätestens nach der Kreuzigung Jesu nach Galiläa zurück, wie es die Erscheinungsansagen in Mk 14,28; 16,7 voraussetzen1.
Eine Lokaltradition zum Begräbnis Jesu
Sowohl die synoptischen Evangelien (vgl. Mk 15,42–47; Mt 27,57–61; Lk 23,50–56) als auch das Johannesevangelium (vgl. Joh 19,38–42) stimmen darin überein, dass Josef von Arimathäa den Leichnam Jesu von Pilatus erbat und ihn bestattete2. Die Überlieferung, wonach Josef von Arimathäa Jesus in ein leeres Felsengrab gelegt habe (vgl. Mk 15,46), könnte späterer Interpretation entstammen, denn nun erhält der soeben als Verbrecher hingerichtete Jesus von Nazareth ein Ehrenbegräbnis. Zudem: Woher verfügte Josef von Arimathäa so schnell über ein mühselig aus dem Felsen auszuhauendes Grab?3 Es könnte sich aber auch um eine alte Jerusalemer Lokaltradition handeln, die von einem begüterten Sympythisanten Jesu berichtet, der seine eingene Grabanlage für das Begräbnis Jesu zur Verfügung stellt. Wurde Jesus in einem Privatgrab oder in einem anonymen Massengrab beigesetzt? Gekreuzigte wurden entweder gar nicht bestattet4, in einem anonymen Massengrab beigesetzt oder aber von Verwandten bestattet5. Durch den Fund einer Grabanlage im Nordosten Jerusalems ist jedoch die Bestattung eines Gekreuzigten in einem Privatgrab bezeugt6. Wahrscheinlich veranlasste die Nähe des Sabbat Pilatus, den Leichnam Jesu für eine Bestattung freizugeben, um so nicht weitere Unruhen zu provozieren. Der heimliche Sympathisant Josef von Arimathäa übernahm den Leichnam Jesu und bestattete ihn. Für eine Bestattung Jesu in einem Einzelgrab spricht die Überlegung, dass Josef von Arimathäa sich kaum nachdrücklich um den Leichnam Jesu bemüht hätte, um ihn dann in ein öffentliches Massengrab zu werfen, was die Römer wahrscheinlich ohnehin getan hätten. Wahrscheinlich setzte er Jesus in einem Einzelgrab bei, über dessen Charakter nichts bekannt ist. Wo der Leichnam Jesu beerdigt wurde, lässt sich ebenfalls nicht mehr sicher sagen. Der Ort des Grabes dürfte der Jerusalemer Gemeinde bekannt gewesen sein, denn es wird in Mk 15,47 („Aber Maria von Magdala und Maria, die Mutter des Joses sahen, wo er hingelegt wurde“) ausdrücklich betont, dass Anhängerinnen Jesu das Begräbnis beobachtet hätten7. Zudem wussten die Bewohner Jerusalems um die üblichen Begräbnisstätten. Da Jesu Auftreten, sein Prozess und die Kreuzigung großes Aufsehen in Jerusalem erregt hatten, dürfte das Begräbnis kaum völlig anonym vonstattengegangen sein.
Erfahrungen des Auferstandenen
Auferstehung von den Toten
Die Erfahrungen von Jüngerinnen und Jüngern, dass der gekreuzigte Jesus von Nazareth nicht im Tod verblieben ist, sondern von Gott auferweckt wurde, bestimmten das weitere Geschehen. Die zentrale theologische Einsicht lautete: Jesus Christus hat sein Leben ‚für uns‘ gegeben, um es von Gott neu zu erhalten. Im Horizont der Auferstehung erfolgte faktisch eine Neucodierung des Kreuzes, das nun nicht mehr Ort der Gottesferne (vgl. Dtn 21,22f), sondern Ort der Liebe Gottes ist. Als der älteste Kern der Auferstehungsbotschaft8 müssen Aussagen wie Röm 10,9 gelten: „Gott hat Jesus von den Toten auferweckt“ (vgl. 1 Kor 15,15; 2 Kor 4,14; Gal 1,1; Röm 4,24; 8,11a). Charakteristisch ist die streng theologische Struktur, Gott ist das an Jesus handelnde Objekt. In zahlreichen zwei- und mehrgliedrigen Formeln wird die Auferstehung/Auferweckung Jesu erwähnt, wobei Jesus bzw. Christus das jeweilige Subjekt ist: „… Jesus ist gestorben und auferstanden …“ (1 Thess 4,14; vgl. 2 Kor 5,15; Röm 4,25). Die Auferstehung wird zum Gottesprädikat, der Gott der Auferstehung ist der, „der die Toten lebendig macht und das Nicht-Seiende ins Sein ruft“ (Röm 4,17b; vgl. 8,11). Gott identifiziert sich so sehr mit dem gekreuzigten Jesus von Nazareth, dass seine in der Auferstehung sich offenbarende Lebensmacht weiterhin wirkt: „Denn dazu ist Christus gestorben und wieder zum Leben gekommen, damit er Herr werde über die Toten wie über die Lebenden“ (Röm 14,9).
Speziell Paulus lässt an der Bedeutung der Auferstehung als Fundament des neuen Glaubens keinen Zweifel: „Wenn aber Christus nicht auferstanden ist, dann ist auch unsere Verkündigung leer, und auch euer Glaube ist leer“ (1Kor 15,14), und: „Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist euer Glaube nichtig, so seid ihr noch in euren Sünden … so sind wir die elendsten unter allen Menschen“ (1Kor 15,17.19b).
Die Erscheinungen als Initialzündung
Die Wirklichkeit der Auferstehung erschloss sich für die Christusgläubigen durch die Erscheinungen des Gekreuzigten als Auferstandenen. Dieses Geschehen war offenbar die Initialzündung für die grundlegende Erkenntnis der ersten Christusgläubigen: Der schmachvoll am Kreuz gestorbene Jesus von Nazareth ist kein Verbrecher, sondern er ist auferweckt worden von den Toten und gehört bleibend auf die Seite Gottes. Aus der hervorragenden Qualität Jesu vor Ostern wurde so Jesu unüberbietbare Qualität nach Ostern. Ausgangspunkt der Erscheinungsüberlieferungen9 ist die Protepiphanie Jesu vor Petrus (vgl. 1Kor 15,5a: „und dass er Kephas erschien“; Lk 24,34: „Der Herr ist wahrhaft auferstanden und Simon erschienen“)10, denn sie begründete die hervorgehobene Stellung des Petrus im frühen Christentum11. Das Johannesevangelium geht von einer Ersterscheinung vor Maria Magdalena aus (Joh 20,11–18), erst danach erscheint Jesus den Jüngern (Joh 20,19–23).
Sowohl Lk 24,34 als auch Joh 20,11–18 verweisen auf Jerusalem als Ort der Erscheinungen (Joh 21,1–14 spielt allerdings in Galiläa). Bei Markus werden Erscheinungen Jesu in Galiläa angekündigt (Mk 14,28; 16,7: „Geht aber hin und sagt seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; dort werdet ihr ihn sehen, wie er euch gesagt hat“), ohne erzählt zu werden. Bei Matthäus werden die markinischen Ankündigungen von Erscheinungen in Galiläa übernommen (Mt 26,32; 28,7), dann erscheint Jesus zunächst Maria Magdalena und der anderen Maria in Jerusalem (vgl. Mt 28,9.10), dann den Jüngern in Galiläa ((Mt 28,16–20). Lukas konzentriert die Erscheinungen exklusiv auf Jerusalem, zunächst vor den Emmausjüngern (Lk 24,13–35), dann vor allen Jüngern (Lk 24,36–49). Die Berichte lassen noch erkennen, dass Jesus wahrscheinlich zunächst Petrus und Maria Magdalena12 bzw. mehreren Frauen erschien. Offensichtlich verfolgen die Erscheinungsberichte keine apologetische Tendenz13, denn obwohl Frauen nach jüdischem Recht nicht voll zeugnisfähig waren, spielen sie in fast allen Erscheinungsberichten der Evangelien eine wichtige Rolle. Von zahlreichen Einzel- und Gruppenerscheinungen berichtet 1Kor 15,3–8. Neben Petrus (V. 5a) erschien der Auferstandene den Zwölfen (V. 5b), mehr als 500 Brüdern (V. 6), Jakobus (V. 7a), allen Aposteln (V. 7b) und schließlich Paulus (V. 8). Paulus widerfuhr eine Erscheinung bei Damaskus; über die Orte der anderen Erscheinungen wird nichts gesagt, denkbar ist für die ‚Zwölf‘ und die ‚500 Brüder‘ Galiläa, für die weiteren Erscheinungen vor Jakobus und ‚vor allen Brüdern‘ kommt vor allem Jerusalem infrage. 1Kor 15,3–5 ist die literarisch älteste Überlieferung, die alle Elemente des Osterglaubens enthält: Jesu Tod, sein Begräbnis, seine Auferweckung und die Erscheinung des Auferstandenen („Dass Christus für unsere Sünden gestorben ist, den Schriften entsprechend, und dass er begraben wurde und dass er auferweckt ist am dritten Tage, den Schriften entsprechend, und dass er Kephas erschien, dann den Zwölfen“). Der Apostel Paulus wurde ca. 32/33 n.Chr. berufen, er erhielt seine Unterweisung im christlichen Glauben in Antiochia, so dass dort die von ihm zitierte Tradition sicherlich noch vor 40 n.Chr. entstanden sein dürfte. Neben den genannten Einzelpersonen und Gruppen dürfte es noch weitere Erscheinungen gegeben haben, die sich literarisch nur indirekt niederschlugen. Infrage kommt vor allem Röm 16,7: „Grüßt Andronikus und Junia, meine Stammverwandten und Mitgefangenen, die unter den Aposteln berühmt sind und schon vor mir in Christus waren.“Die herausragende Stellung dieses Ehepaares könnte durch Erscheinungen begründet sein14. Deutlich ist in jedem Fall, dass mit Paulus um 32/33 n.Chr. die besondere Epoche von Erscheinungen des Gekreuzigten und Auferstandenen beendet war; datiert man Jesu Kreuzestod auf das Jahr 30, dann dauerte sie ca. 2 bis 3 Jahre.
Das leere Grab und die Erfolge der Verkündigung
Unmittelbar mit den Erscheinungsberichten verbunden sind Berichte über das leere Grab. Jüngerinnen Jesu gehen am ersten Tag der Woche frühmorgens zum Grab, finden den Stein weggerollt und das Grab leer (vgl. Mk 16,1–5; Joh 20,1.11–13; Mt 28,1–6; Lk 24,1–6). Die Frauen berichten daraufhin den Jüngern von diesem Geschehen (vgl. Mk 16,7; Joh 20,18; Mt 28, 8; Lk 24,9). Wie die Evangelien setzt auch Paulus das leere Grab voraus15. Er erwähnt es nicht ausdrücklich, aber die Logik des Begrabenseins und der Auferstehung Jesu in 1Kor 15,4 (und auch des Mitbegrabenwerdens in Röm 6,4) verweist auf das leere Grab, denn die jüdische Anthropologie geht von einer leiblichen Auferstehung aus16. Hinzu kommt ein grundsätzliches Argument: Die Auferstehungsbotschaft hätte in Jerusalem nicht so erfolgreich verkündigt werden können, wenn der Leichnam Jesu in einem Massengrab oder einem ungeöffneten Privatgrab verblieben wäre17. Es dürfte weder den Gegnern noch der Anhängerschaft entgangen sein, wo Jesus beigesetzt wurde18. Jesu Kreuzigung hatte ein großes Aufsehen erregt, und wenn kurze Zeit nach diesem Geschehen die Jünger mit der Botschaft in Jerusalem auftraten, Jesus sei von den Toten auferstanden, dann muss die Frage nach dem Grab von Anfang an eine zentrale Bedeutung gehabt haben (vgl. Mt 27,62–66). Der Erfolg der Osterbotschaft in Jerusalem ist ohne ein leeres Grab kaum denkbar, denn die Botschaft der Jünger wäre sofort widerlegbar gewesen, wenn das Grab nicht leer gewesen wäre. Der bereits erwähnte Fund eines Gekreuzigten im Nordosten des heutigen Jerusalem aus der Zeit Jesu zeigt, dass die Leiche eines Hingerichteten an seine Angehörigen oder andere Nahestehende ausgeliefert und von ihnen bestattet werden konnte. Das leere Grab allein bleibt allerdings zweideutig, seine Bedeutung erschließt sich erst von den Erscheinungen des Auferstandenen her. Historisch lassen sich die Erscheinungen und das ihnen vorausliegende Auferstehungsgeschehen nicht erweisen, zugleich aber auch nicht ausschließen. Historisch können wir nur ermitteln, dass Anhänger des jüdischen Wanderpredigers Jesus von Nazareth nach dessen Kreuzigung und Tod behauptet haben, er sei ihnen als Lebendiger erschienen.
Bewertungen des Realitätsgehaltes des Auferstehungsgeschehens bewegen sich bei Befürwortern und Bestreitern gleichermaßen auf der Ebene erkenntnistheoretischer Setzungen, lebensgeschichtlicher Erfahrungen und historischer Erwägungen. Der Wahrheitsgehalt des Geschehens lässt sich historisch nicht demonstrieren, aber auch nicht negieren! Sicher ist aber, dass die Osterereignisse einen kreativen Deutungsprozess auslösten: Es musste im Licht des Ostergeschehens neu bestimmt werden, wer dieser Jesus von Nazareth war und nun als Auferstandener ist. Die Verschränkung der neuen Erfahrungen mit neuen Deutungskategorien führte zur Bildung neuen Wissens: der Christologie.
4.2 Die Entstehung der Christologie
Wilhelm Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenaeus, Göttingen 61967. – Oscar Cullmann, Die Christologie des Neuen Testaments, Tübingen 51975. – Werner Kramer, Christos Kyrios Gottessohn, AThANT 44, Zürich 1963. – Ferdinand Hahn, Christologische Hoheitstitel. Ihre Geschichte im frühen Christentum, FRLANT 83, Göttingen 51995. – Klaus Wengst, Christologische Formeln und Lieder des Urchristentums, StNT 7, Gütersloh 21973. – Martin Hengel, Der Sohn Gottes, Tübingen 21977. – Gerhard Friedrich, Die Verkündigung des Todes Jesu im Neuen Testament, BThSt 6, Neukirchen 1982. – Gerhard Barth, Der Tod Jesu im Verständnis des Neuen Testaments, Neukirchen 1992. – Marinus de Jonge Christologie im Kontext, Neukirchen 1995. – James D. G. Dunn, Christology in the Making, Grand Rapids 21996. – Martin Karrer, Jesus Christus im Neuen Testament, GNT 11, Göttingen 1998. – Frank J. Matera, New Testament Christology, Louisville 1999. – Larry W. Hurtado, Lord Jesus Christ. Devotion to Jesus in Earliest Christianity, Grand Rapids 2003. – Jörg Frey/Jens Schröter (Hg.), Deutungen des Todes Jesu im Neuen Testament, WUNT 181, Tübingen 2005. – Kurt Erlemannn, Jesus der Christus, Neukirchen 2011.
Durch Kreuz, Auferstehung und Erscheinungen gewann Jesus von Nazareth eine neue Bedeutsamkeit, die zur Ausbildung einer vielfältigen Christologie führte. Dabei konnten die frühesten Gemeinden bereits an Jesu vorösterlichen Anspruch anknüpfen19.
Ostern als neue Basisgeschichte
Jesus von Nazareth wollte keine Kirche gründen, aber er scharte (wie Johannes d. T.) einen Jünger- und Jüngerinnenkreis um sich (Mk 1,16–20; Lk 8,1–3), setzte den Zwölferkreis ein (Mk 3,14; 6,7; 14,10; 1Kor 15,5) und trat mit dem Anspruch auf, das eschatologische Israel zu sammeln (vgl. Lk 22,28–30). Er band das Aufrichten der Königsherrschaft Gottes exklusiv an seine Person, so dass sein Tun als Anbruch der Gottesherrschaft erschien (vgl. Lk 11,20). Wenn er seine Person zum Kriterium des eschatologischen/endgültigen Gerichtes erhob (vgl. Lk 12,8f par), als Wundertäter auftrat (vgl. Mk 1,40–45; 7,31–37), wie Gott Sünden vergab (vgl. Mk 2,1–12) und sich über Mose stellte (vgl. Mt 5,21–48), dann musste er notwendigerweise in die Nähe Gottes gerückt und mit Gott zusammengedacht werden. Die singuläre Qualität des vorösterlichen Jesus20 ist ein wesentlicher Grund, warum nach Ostern eine explizite Christologie ausgebildet wurde. Jesus erhob bereits vorösterlich einen einzigartigen Anspruch, der durch die Auferstehung und die Erscheinungen nachösterlich verändert und zugleich noch verstärkt wurde. Angesichts von Kreuz und Auferstehung waren Sinnbildungsleistungen unabwendbar, denn ein Ereignis wie die Auferstehung des Jesus von Nazareth von den Toten fordert Erschließungsleistungen! Die ersten Christusgläubigen in Jerusalem standen ebenso wie alle späteren frühchristlichen Autoren vor der Aufgabe, das Einmalige und Außerordentliche von Kreuz und Auferstehung durch Erzählen in ein theologisches Sinngebäude zu überführen. Christologie ist die Art und Weise, wie das Wesen und die Bedeutung des Jesus von Nazareth als Messias für Israel und die Völker begrifflich und erzählerisch geformt und umgesetzt wird. Ostern bekam innerhalb dieses Prozesses den Status einer Basisgeschichte der neuen Bewegung21.
Wirkungsgeschichtliche Linien
Die Entstehung der frühen Christologie liegt aber nicht nur im personalen Anspruch Jesu und im Ostergeschehen begründet, sondern auch in Jesu Lehrinhalten: 1) Jesus band den Willen Gottes nicht an rituelle Vollzüge, sondern betonte die Ethik der Gottes- und Nächstenliebe. Von hieraus konnte im frühen Christentum eine Liebesethik entwickelt werden, die nicht unmittelbar mit der Tora verbunden war. Jesu Wirken wurde in seiner Gesamtheit als heilsame Regelung gestörter Beziehungen des Menschen zu Gott und der Menschen untereinander wahrgenommen und interpretiert. 2) Gottes grenzenlose Liebe eröffnet Perspektiven, die über die Erwählung Israels hinausgehen. Obwohl Jesus sich prinzipiell nur an Israel gesandt wusste, ermöglichten seine zeichenhaften Hinwendungen zu Heiden den frühen Christen, ihre Botschaft über Israel hinauszutragen. 3) Jesus erkannte dem Tempel offenbar nur eine geringe Bedeutung zu, so dass für die frühen Christen die lokale Gottesverehrung an einem einzigen Ort keine besondere Rolle spielte. Jesus interpretierte die Grundpfeiler des Judentums seiner Zeit offenbar in einer Weise, die für eine Transformation hin zum Universalismus offen war.
Geist und Gott
Neben den Erscheinungen des Auferstandenen ist das Wirken des Geistes die zweite Erfahrungsdimension, die auf die Ausbildung der frühen Christologie einwirkte. Während die Erscheinungen streng begrenzt waren, ist das Wirken des Geistes keinen Beschränkungen unterworfen. Religionsgeschichtlich gehören Gott und der Geist schon immer zusammen. Im griechisch-römischen Kulturraum vollzieht sich das Wirken der Gottheiten vor allem nach der Lehre der Stoiker in der Sphäre des Geistes22. Im antiken Judentum ist die Vorstellung von großer Bedeutung, dass in der Endzeit der Geist Gottes ausgegossen wird (vgl. Ez 36,25–29; Jes 32,15–18; Joel 3,1–5LXX; 1QS 4,18–23 u.ö.). Der Messias wurde als geistbegabte Gestalt vorgestellt und Tempel-/Einwohnungsmetaphorik verbanden sich mit dem Geist23. In legendarischer Ausschmückung, im Kern aber historisch sicherlich zuverlässig, beschreibt die Apostelgeschichte das Wirken des Geistes in den frühesten Gemeinden. Der Heilige Geist erscheint als die von Jesus versprochene „Kraft aus der Höhe“ (Lk 24,49; Apg 1,5.8), die den Jüngern zu Pfingsten (Apg 2,4) verliehen wird. Der Geist wird allen zuteil, die die Predigt der Apostel annehmen und sich taufen lassen (vgl. Apg 2,38). Der Empfang des Geistes ist auch an äußeren Phänomenen erkennbar (vgl. Gal 3,2; Apg 8,18), speziell an wunderbaren Heilungen (1Kor 12,9.28.30), ekstatischer Glossolalie (Apg 2,4.11; 4,31 u.ö.) und prophetischem Reden (vgl. 1Kor 12; 14; Apg 10; 19). Nach frühester Überlieferung war schon das Wirken Jesu seit der Taufe durch den Heiligen Geist geprägt (vgl. Mk 1,9–11; Apg 10,37). Es ist der Geist Gottes, der die Auferstehung Jesu bewirkt (Röm 1,3b–4a; Röm 6,4; 8,11; 1Petr 3,18; 1Tim 3,16), und nun die neue Seins- und Wirkweise des Auferstandenen bestimmt (2Kor 3,17: „Der Herr aber ist der Geist“; vgl. 1Kor 15,45). Die ältesten christlichen Aussagen über das Wirken des Geistes Gottes sprechen die Überzeugung aus, dass die jüdische Hoffnung auf das inspirierende und lebenspendende Pneuma für die Endzeit jetzt ihre Erfüllung gefunden hat. Im Wirken des Geistes Gottes erkannten die Christusgläubigen die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu Christi von den Toten.
Ihre Sprache findet die Christologie vor allem aus den Schriften Israels, wie 1Kor 15,3f bezeugt: „gemäß den Schriften“. Die Christusgläubigen lebten in und aus den Schriften Israels. Die Lektüre vollzog sich allerdings unter veränderten Verstehensbedingungen, denn nun lasen die Judenchristen ihre Schrift (vornehmlich in der Gestalt der Septuaginta) neu aus der Perspektive des Christusgeschehens. Die Relecture der Schriften vollzieht sich in einer zweifachen Bewegung: Die Schriften werden zum Bezugsrahmen der Christologie und die Christologie gibt den Schriften eine neue Bestimmtheit24.
Formen der Interpretation
Die christologische Relecture der Schrift führt im frühen Christentum zu verschiedenen Modellen, um die Kontinuität des Verheißungshandelns Gottes in der Geschichte aufzuzeigen. Durch Gottes Heilshandeln an Jesus von Nazareth in Kreuz und Auferstehung war für die ersten Christen deutlich, dass es einen Zusammenhang zwischen diesem Geschehen und dem Heilshandeln Gottes mit Israel geben muss. In den Figuren der Typologie (Vorabbildung; vgl. 1Kor 10,1–6), der Verheißung und der Erfüllung (vgl. Mt 2,17f u.ö.) sowie in den exegetischen Methoden der Allegorese (vgl. Gal 4,21–31) und des Midrasch (vgl. Apg 7; 2Kor 3), in Zitatkombinationen (vgl. Röm 9,25–29), Zitatvariationen (vgl. Röm 11,3) und Anspielungen sind Modelle zu sehen, um diese grundlegende Überzeugung auszudrücken. Einige Einzeltexte nehmen in der frühchristlichen AT-Rezeption eine besondere Stellung ein. Paulus setzt mit Gen 15,6 und Hab 2,4b faktisch alle anderen Texte des Alten Testaments außer Kraft. Bei der interpretierenden Aufnahme von Hab 2,4bLXX in Gal 3,11 und Röm 1,17 bindet der Apostel die Treue Gottes nicht an den aus der Tora lebenden Gerechten, sondern an den Glauben an Jesus Christus als Rechtfertigungsgeschehen. Der chronologische Abstand zwischen Gen 15,6 und Gen 17 hat bei Paulus theologische Qualität. Gilt die Beschneidung aus jüdischer Sicht als umfassender Treueerweis Abrahams gegenüber den Geboten Gottes, so trennt Paulus die Beschneidung von der Glaubensgerechtigkeit. Sie ging der Beschneidung voran, so dass die Beschneidung lediglich als eine nachträgliche Anerkennung und Bestätigung des neuen Status der Glaubenden verstanden werden kann.
Eine Schlüsselstellung nahm Ps 110,1LXX bei der Herausbildung der frühen Christologie ein25: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten, bis ich dir deine Feinde als Schemel unter deine Füße lege.“ Hier fanden die frühen Christen den maßgeblichen Schriftbeleg für Jesu himmlische Würde und Funktion: Er wurde zur Rechten Gottes erhöht, hat Anteil an der Macht und Herrlichkeit Gottes und übt von dort seine Herrschaft aus (vgl. 1Kor 15,25; Röm 8,34; Mk 12,36; 14,62; Mt 22,44; 26,64; Lk 20,42; 22,69; Apg 2,34; Kol 3,1; Eph 1,20; Hebr 1,3.13; 8,1; 10,12). In diesem Kontext übertrugen die ersten Christen schon sehr früh die für Gott geläufige Anrede ‚Herr‘ auf Jesus (vgl. die Aufnahme von Joel 3,5LXX in Röm 10,12f; ferner 1Kor 1,31; 2,16; 10,26; 2Kor 10,17) und brachten damit seine einzigartige Autorität in Abgrenzung zu anderen Ansprüchen zum Ausdruck26. Bei der Ausformung der Sohnes-Christologie (vgl. 1Thess 1,9f; Röm 1,3b–4a; Mk 1,11; 9,7) dürfte Ps 2,7 („Kundtun will ich den Beschluss des Herrn: er sprach zu mir: Mein Sohn bist du, heute habe ich dich gezeugt“; vgl. ferner 2Sam 7,11f.14) eine zentrale Bedeutung eingenommen haben.
Als intertextuelles Phänomen leistet die christologische Relecture der Schrift zweierlei: Sie stellt die atl. Referenztexte in einen neuen Sinnhorizont und legitimiert zugleich die eigene theologische Position der ntl. Autoren. Dabei bildet nicht das Eigengewicht der Schrift, sondern Gottes endzeitliches Heilshandeln in Jesus Christus die sachliche Mitte ihres Denkens. Zentrale Inhalte jüdischer Theologie (Tora, Erwählung) werden neu bedacht und der Schrifttext in einen produktiven intertextuellen Interpretationsprozess hineingenommen.
4.3 Der neue Diskursgründer und das neue Denken
Ausgehend von der Verkündigung und dem Wirken Jesu27 und neu inspiriert durch das Ostergeschehen bedachten die frühen Christen von Anfang an in vielfältiger Weise die anhaltende Bedeutsamkeit des Christusgeschehens. Sie mussten den Status Jesu Christi neu bestimmen, vor allem im Hinblick auf sein Verhältnis zu Gott. Dazu bedienten sie sich der Wissensvorräte der jüdischen und hellenistischen Tradition, nahmen umfassende Zuschreibungen vor und führten Jesus Christus als neuen Diskursgründer ein, von dem aus sie eine neue religiöse Welt konzipierten.
Gott ist einer, aber er ist nicht allein
Die Grundlage dieser neuen Welt bildeten jüdische Basissätze, die wichtige Verstehenskategorien lieferten: Gott ist einer, er ist der Schöpfer, der Herr und der Erhalter der Welt; er hat Israel aus den Völkern erwählt, ihm das Land und die Tora geschenkt und den Tempel in Jerusalem zu seinem Wohnort erkoren (s.o. 3.3.1/s.u. 5.3). Traditionen des antiken Judentums28 ermöglichten es auch, am Monotheismus festzuhalten, zugleich aber Jesus von Nazareth als („Messias“), („Herr“) und („Sohn Gottes“) zu bezeichnen. Nach jüdischer Vorstellung gibt es nur einen Gott, aber er ist nicht allein. Zahlreiche himmlische Mittlergestalten wie die Weisheit (vgl. Prov 2,1–6; 8,22–31; Sap 6,12–11,1), der Logos oder die Namen Gottes haben ihre Heimat in unmittelbarer Nähe zu Gott29. Biblische Patriarchen wie Henoch (vgl. Gen 5,18–24)30 oder Mose und Erzengel wie Michael31 umgeben Gott und wirken nun in seinem Auftrag. Als Teilhaber an der himmlischen Welt sind sie Gott untergeordnet, sie gefährden in keiner Form den Glauben an den einen Gott. Als geschaffene und untergebene Kräfte treten sie in keine Konkurrenz zu Gott, als göttliche Attribute beschreiben sie in der Sprache menschlicher Hierarchie die Aktivitäten Gottes für die Welt und in der Welt.
Auferstehung der Toten
Das Judentum bildet auch bei der Hoffnung auf die Auferstehung der Toten den religionsgeschichtlichen Rahmen und Hintergrund, hier bildete sich diese Vorstellung im Rahmen der Apokalyptik im 3./2. Jh. v.Chr. heraus32. Der einzig unbestrittene Auferstehungstext im AT ist Dan 12,2f: „Von denen, die im Land des Staubes schlafen, werden viele erwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zur Schmach, zu ewigem Abscheu. Die Verständigen werden strahlen, wie der Himmel strahlt; und die Männer, die viele zum rechten Tun geführt haben, werden immer und ewig wie die Sterne leuchten.“ Als zweiter zentraler Text ist Jes 26,19 zu nennen, ein redaktioneller Zusatz aus frühhellenistischer Zeit: „Deine Toten werden leben, die Leichen stehen wieder auf; wer in der Erde liegt, wird wachen und jubeln. Denn der Tau, den du sendest, ist ein Tau des Lichts; die Erde gibt die Toten heraus“ (vgl. auch Jes 25,6–8). Die in beiden Texten vorausgesetzte Auferstehungshoffnung hat eine Vorgeschichte im Alten Testament, zu verweisen ist auf Hos 6,1–3 und Ez 37,1–14. Im 2./1. Jh. v.Chr. bezeugen zahlreiche Texte die Auferstehungshoffnung: SapSal 3,1–8; äthHen 46,6; 48,9f; 51,1; 91,10; 93,3f; 104,2; PsSal 3,11–12; LAB 19,12f; 2Makk 7,9; TestBen 10,6–10. Von besonderer Bedeutung ist, dass es auch bei den Qumran-Essenern den Glauben an eine Auferweckung der Toten gegeben hat. In 4Q521 2 II, 12 wird von Gott lobpreisend gesagt: „… Dann wird er Erschlagene heilen, und Tote wird er lebendig machen; Armen wird er frohe Botschaft verkünden …33 Hinzu kommen die bereits erwähnten Geisterfahrungen und die Relecture der Schrift (s.o. 4.2), die ebenso wie zahlreiche weitere Motive vor allem aus der jüdischen Apokalyptik (Gericht/Erwartung des Endgeschehens/Erscheinen des Messias/Rettung der Glaubenden) den jüdischen Hintergrund zahlreicher christologischer Anschauungen der Frühzeit verdeutlichen.
Inkarnation als griechische Vorstellung
Von Anfang an stand im Zentrum des Glaubens der neuen Bewegung auch eine genuin griechisch-hellenistische Vorstellung: Gott ist in Jesus von Nazareth Mensch geworden. Die Inkarnation von Göttern bzw. gottähnlichen Wesen (und der Vergöttlichung eines Menschen) ist eine genuin griechische Anschauung (s.o. 3.2/3.2.1) und verweist auf kulturgeschichtliche Vorgaben, die bei der Ausbildung und der Rezeption der frühesten Christologie eine wichtige Rolle gespielt haben34. Die Vorstellung eines sowohl göttlichen als auch menschlichen Mittlerwesens wie Jesus Christus war gerade für Griechen und Römer auf ihrem eigenen kulturellen Hintergrund rezipierbar. Für Juden hingegen war der Gedanke unerträglich, dass Menschen wie der römische Kaiser Caligula sich anmaßten, als Götter zu gelten und verehrt zu werden35.
Das Kreuz als Anstoß
Neben der bleibenden Verankerung der Christusgläubigen in der jüdischen Tradition und der Aufnahme griechischer Vorstellungen bestimmt aber auch ein neues Denken die früheste Theologie, das mit jüdischen und auch griechischen Anschauungen nicht wirklich kompatibel war. Vor allem die Behauptung, ein Gekreuzigter sei der Messias, wurde im Kontext von Dtn 21,22f („… denn der am Holz Hängende ist von Gott verflucht …“) aus jüdischer Perspektive als Blasphemie empfunden (vgl. Gal 3,13) und von den Griechen als ‚dummes Zeug‘ beurteilt (1Kor 1,23: „Wir aber verkündigen Christus als Gekreuzigten, für Juden ein Anstoß, für Heiden eine Torheit“). Einen Gekreuzigten als Gottessohn zu verehren, erschien den Juden als theologischer Anstoß36 und der griechisch-römischen Welt als Verrücktheit37. Mit der zentralen Stellung eines Gekreuzigten in der frühchristlichen Sinnwelt wird jede geläufige kulturelle Plausibilität auf den Kopf gestellt, indem nun das Kreuz als zentrales Kennzeichen göttlicher Weisheit erscheint.
Jesus Christus als Gott
Hinzu kommen weitere gravierende Unterschiede38: 1) Die oben erwähnten personifizierten göttlichen Attribute in der jüdischen Überlieferung waren keine Gott gleichwertigen bzw. gottgleichen Personen mit eigenständigen Handlungsfeldern, die zudem kultisch verehrt wurden. Von Anfang an wurde aber Jesus in eine einzigartige Nähe zu Gott gerückt. Ihm wurde der Name Gottes verliehen (Phil 2,9f), er ist Gott gleich bzw. das Abbild Gottes (Phil 2,6; 2Kor 4,4) und Träger der Herrlichkeit Gottes (2Kor 4,6; Phil 3,21). In Röm 9,5 setzt der ehemalige Pharisäer Paulus den aus Israel stammenden mit Gott gleich („Von den Vätern, von denen Christus dem Fleisch nach abstammt, der Gott ist über allem; gelobt sei er in Ewigkeit“)39. Als präexistentes Wesen war er am göttlichen Schöpfungshandeln beteiligt (Phil 2,6; 1Kor 8,6), ihm gelten nun Wendungen und Zitate, die eigentlich auf Gott bezogen sind (vgl. 1Kor 1,31; 2,16; Röm 10,13). Sein Platz ist im Himmel (1Thess 1,10; 4,16; Phil 3,20) zur Rechten Gottes (Röm 8,34), von dort aus herrscht er über das All (1Kor 15,27; Phil 3,21) und über die himmlischen Mächte (Phil 2,10). Von Gott gesandt, wirkt er gegenwärtig in der Gemeinde (Gal 4,4f; Röm 8,3), er ist der göttliche Bevollmächtigte bei dem mit seiner Parusie einsetzenden eschatologischen Gericht (1Thess 1,10; 1Kor 16,22; 2Kor 5,10). Im Gottesdienst wurde er angerufen wie Gott (vgl. 1Kor 12,3; 16,22: ‚Maranatha‘ = „unser Herr, komm!“)40. Er ermöglichte den neuen Zugang zu Gott, der im geistgewirkten Gebetsruf (‚Abba‘ = „Vater“: Gal 4,6; Röm 8,15; Mk 14,36) im Gottesdienst bekannt wird. In der liturgischen Praxis galt: „Rühmet Gott und den Vater unseres Herrn Jesus Christus“ (Röm 15,6). Taufe, Herrenmahl und Akklamationen stehen in exklusiver Beziehung zum Namen Jesu; neben die theologische Reflexion trat somit die gottesdienstliche Anrufung und rituelle Verehrung Jesu als ein weiterer Haftpunkt für die Herausbildung, Entfaltung und Verbreitung früher christologischer Vorstellungen.
Der neue Diskursgründer
Am Anfang der neuen Bewegung stand ein überaus kreativer Prozess: Mit Jesus Christus führten die Christusgläubigen nicht weniger als einen neuen Diskursgründer in die bestehenden religiösen Welten ein und schrieben ihm eine uneingeschränkte soteriologische Kompetenz zu. Ihm wurden Attribute zugelegt, die im jüdischen Denken bis dahin exklusiv Gott vorbehalten waren. Damit wurde nicht nur Mose als jüdischer Diskursgründer relativiert, sondern indem Jesus Christus als Gekreuzigter und Auferstandener Gegenstand göttlicher Verehrung wurde, überschritten die Christusgläubigen die Grenzen jüdischen Denkens und etablierten in Lehre und Kult eine eigene, neue Diskurswelt41. Hinzu kommt als zweiter Aspekt: Die Menschwerdung Gottes und die Gottwerdung eines Menschen ist ein griechischer Gedanke, der sich in seiner Fremdheit und Anstößigkeit für jüdische Ohren nicht relativieren lässt. Aber auch gegenüber dem griechisch-römischen Denken setzte die früheste Christologie eigene Akzente, denn die Gottessohnschaft eines Gekreuzigten blieb auch hier ein fremdartiger und anstößiger Gedanke (vgl. 1Kor 1,23). Ebenso widersprach Jesu exklusive soteriologische Stellung griechisch-römischer Tradition, wo Gottheiten jeweils für einzelne Bereiche zuständig waren.
Mit dem neuen Diskursgründer Jesus Christus und den neuen Wissensformen der Christologie war im Keim bereits angelegt, was sich später herausbildete: das frühe Christentum als eigenständige Bewegung. Es gab keine Möglichkeit, den gekreuzigten Gottessohn bruchlos in eine bestehende religiöse Wissenswelt einzuführen; weder die jüdische noch die griechisch-römische Wissenstradition ließen dies zu. Das Christuszeugnis wurde vom Judentum gerade nicht als eine mögliche Form der Pluralisierung des Alten Testaments akzeptiert. Dies zeigt sich bereits kurz nach Ostern in Jerusalem; obwohl die Christusgläubigen sich als ein legitimer Teil Israels verstanden, wurden sie von Anfang an nie als ein solcher akzeptiert. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass bereits die Jerusalemer Gemeinde in tiefgreifende Konflikte mit dem offiziellen Judentum hineingezogen wurde.
1Die lukanische Darstellung, wonach sich die Jünger aus Angst vor den Juden in einem Haus versteckten (vgl. Lk 24,36–49) und in Jerusalem verblieben, dürfte sekundär sein; vgl. Ludger Schenke, Die Urgemeinde, 13f.
2Anders Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, 63f, der in der Überlieferung von Josef von Arimathäa bereits bei Markus eine christliche Legende sieht und Joh 19,31–37 für historisch ansieht (die Juden bitten um den Leichnam Jesu). Nach Joh 19,31 bitten die Juden zwar, Jesus die Beine zu brechen und ihn vom Kreuz abzunehmen, durchgeführt wird diese Abnahme aber nach V. 38 auch bei Johannes durch Josef von Arimathäa.
3Diese Frage beschäftigte schon die frühe Überlieferung, eine Antwort gibt Mt 27,60: Josef von Arimathäa bestattete Jesus in seinem eigenen, neuen Grab.
4Vgl. Tacitus, Annalen 6,29.
5Vgl. Philo, In Flaccum 83.
6Vgl. dazu Heinz Wolfgang Kuhn, Der Gekreuzigte von Givcat hat-Mivtar, in: Theologia Crucis – Signum Crucis (FS E. Dinkler), hg. v. Carl Andresen/Günter Klein, Tübingen 1979, 303–334.
7Anders Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, 67, der behauptet, die früheste Gemeinde habe nicht gewusst, wo Jesus beigesetzt wurde. Als Argument führt er an, dass sich keine Traditionen über das Grab Jesu entwickelt hätten.
8Zur Auferstehungsthematik vgl. auch: Fritz Viering (Hg.), Die Bedeutung der Auferstehungsbotschaft für den Glauben an Jesus Christus, Berlin 1967; Willi Marxsen, Die Auferstehung Jesu von Nazareth, Gütersloh 1968; Ulrich Wilckens, Auferstehung, Gütersloh 21977; Paul Hoffmann, Die historisch-kritische Osterdiskussion von H.S. Reimarus bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, in: ders. (Hg.), Zur neutestamentlichen Überlieferung von der Auferstehung Jesu, Darmstadt 1988, 15–67; Udo Schnelle, Paulus, 443–462.
9Zur Analyse der Texte vgl. Ulrich Wilckens, Auferstehung, 15–61.
10In Mk 16,7 verweist die Differenzierung zwischen Petrus und ‚den Jüngern‘ auf eine Ersterscheinung vor Petrus.
11Vgl. Hans von Campenhausen, Der Ablauf der Osterereignisse, 15.
12Vgl. hier Silke Petersen, Maria aus Magdala. Die Jüngerin, die Jesus liebte, BG 23, Leipzig 2011.
13Vgl. Hans von Campenhausen, Der Ablauf der Osterereignisse, 41.
14Zu Andronikus und Junia s.u. S. 120.
15Anders Rudolf Bultmann, Theologie, 48: „Legende sind die Geschichten vom leeren Grab, von denen Paulus noch nichts weiß.“
16Vgl. zuletzt die Argumentation bei Martin Hengel, Das Begräbnis Jesu bei Paulus und die leibliche Auferstehung aus dem Grabe, in: Friedrich Avemarie/Hermann Lichtenberger (Hg.), Auferstehung, WUNT 135, Tübingen 2001, (119–183) 139ff.
17Vgl. Paul Althaus, Die Wahrheit des christlichen Osterglaubens, Gütersloh 1940, 25: „In Jerusalem, am Orte der Hinrichtung und des Grabes Jesu, wird nicht lange nach seinem Tode verkündigt, er sei auferweckt. Dieser Tatbestand fordert, daß man im Kreise der ersten Gemeinde ein zuverlässiges Zeugnis dafür hatte, daß das Grab leer gefunden ist.“
18Anders Gerd Lüdemann, Die Auferstehung Jesu, 66, der ohne Begründung behauptet: „Da sich weder die Jünger noch die nächsten Familienangehörigen um Jesu Leichnam gekümmert haben, ist kaum denkbar, daß sie über den Verbleib des Leichnams informiert sein konnten, um später wenigstens seine Knochen zu bestatten.“
19Vgl. dazu Matthias Konradt, Stellt der Vollmachtsanspruch des historischen Jesus eine Gestalt ‚vorösterlicher Christologie‘ dar?, ZThK 107 (2010), 139–166.
20Eine Zusammenfassung des Wirkens und der Lehre Jesu findet sich in: Udo Schnelle, Theologie des Neuen Testaments, 47–144.
21Vgl. Reinhard von Bendemann, Die Auferstehung von den Toten als ‚basic story‘, GuL 15 (2000), 148–162.
22Vgl. dazu die Texte in: Neuer Wettstein I/2, 226–234.
23Vgl. dazu grundlegend Friedrich Wilhelm Horn, Das Angeld des Geistes, 61ff.
24Einen Überblick vermittelt Steve Moyise, The Old Testament in the New. An Introduction, London/New York 2001.
25Vgl. Martin Hengel, Psalm 110 und die Erhöhung des Auferstandenen zur Rechten Gottes, in: Anfänge der Christologie (FS F. Hahn), hg. v. Cilliers Breytenbach/Henning Paulsen, Göttingen 1991, 43–74. Zur Rezeption der Psalmen vgl. insgesamt Steve Moyise/Martten J. J. Menken (Hg.), The Psalms in the New Testament, London/New York 2004.
26Vgl. dazu Marinus de Jonge, Christologie im Kontext, 177f.
27Ulrich Luz, Das ‚Auseinandergehen der Wege‘ (s.u. 8.7), 62–64, betont zu Recht, dass bereits der irdische Jesus als Ausgangspunkt des Auseinandergehens von Judentum und Christentum angesehen werden kann, denn er hatte ein offenes Israel-Verständnis, lehrte und praktizierte eine radikale Liebe und relativierte den Tempel; insgesamt gilt: Jesus war „ein besonderer Jude“ (a.a.O., 63).
28Vgl. dazu Larry W. Hurtado, One God, One Lord, Edinburgh 21998, 17–92.
29Vgl. exemplarisch Sap 9,9–11; Philo, De Confusione Linguarum 146f.
30Als Text vgl. z.B. äthHen 61.
31Vgl. z.B. Dan 10,13–21; äthHen 20,5; 71,3; 90,21.
32Vgl. dazu Otto Schwankl, Die Sadduzäerfrage (Mk 12,18–27par), BBB 66, Bonn 1987, 173–274.
33Übersetzung nach Johannes Zimmermann, Messianische Texte aus Qumran, 345.
34Vgl. Dieter Zeller, New Testament Christology in its Hellenistic Reception, NTS 46 (2001), 312–333.
35Vgl. Philo, Legatio ad Gaium 118.
36Vgl. Heinz Wolfgang Kuhn, Jesus als Gekreuzigter in der frühchristlichen Verkündigung bis zur Mitte des 2. Jahrhundets, ZThK 72 (1975), (1–46) 36f.
37Welche Abscheu der Gedanke an das Kreuz hervorrief, zeigt Cicero, Pro C. Rabirio Postumo 5,16: „Wenn vollends der Tod angedroht wird, so wollen wir in Freiheit sterben, doch der Henker, die Verhüllung des Hauptes und die bloße Bezeichnung ‚Kreuz‘ sei nicht nur von Leib und Leben der römischen Bürger verbannt, sondern auch von ihren Gedanken, Augen und Ohren. Denn alle diese Dinge sind eines römischen Bürgers und freien Menschen unwürdig“; Plinius, Epistulae X 96,8: „verworrener wüster Aberglaube“.
38Vgl. Larry W. Hurtado, One God,, One Lord, 93–124.
39Es handelt sich hierbei um die grammatisch naheliegendste und inhaltlich schwierigste interpretation; vgl. Hans-Christian Kammler, Die Prädikation Jesu Christi als „Gott“ und die paulinische Christologie, ZNW 94 (2003), 164–180; zum Für und Wider vgl. Ulrich Wilckens, Der Brief an die Römer II, EKK VI/2, Neukirchen 1980, 189.
40Zur Bedeutung der gottesdienstlichen Praxis für die Herausbildung der frühen Christologie vgl. Wolfgang Schrage, Unterwegs zur Einheit und Einzigkeit Gottes, 158–167; Martin Hengel, Abba, Maranatha, Hosanna und die Anfänge der Christologie, in: Denkwürdiges Geheimnis (FS E. Jüngel), hg. v. Ingolf U. Dalferth/Johannes Fischer/Hans-Peter Großhans, Tübingen 2005, (144–183), 154: „Bereits in der aramäisch sprechenden Urgemeinde bringen die Akklamationen Abba und Maranatha elementare Gewissheiten zum Ausdruck.“
41Vgl. Ulrich Luz, Das ‚Auseinandergehen der Wege‘ (s.u. 8.7), 64: „Schon sehr bald nach Jesu Tod begannen sich die Wege zu trennen.“