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Erster Band
Drittes Kapitel
Fünfzehn Jahre später

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Die Kirche von Long Beckley – eines bedeutenden landwirtschaftlichen Dorfes in einer der Binnengrafschaften Englands – besitzt, obschon sie sich weder durch ihre Größe, noch durch ihre Bauart, noch durch ihr Alter auszeichnet, nichtsdestoweniger einen Vorzug, welchen die kaufmännischen Despoten von London ihrer stattlichen St. Pauls-Kathedrale barbarischerweise versagt haben. Sie steht nämlich auf einem großen freien Platz und man kann sie daher rings herum von jedem Punkte aus mit Bequemlichkeit überschauen.

Dieser große freie Raum um die Kirche herum ist von drei verschiedenen Richtungen her zugänglich. Es führt eine Straße geradeaus nach dem Haupteingange. Zweitens gibt es einen breiten Kiesweg, der an dem Tore des Pfarrhauses anfängt, quer über den Kirchhof führt und gebührendermaßen bis an den Eingang der Sakristei reicht. Drittens führt ein Fußweg über die Felder, mittelst dessen der Gutsherr und die feineren Leute, die in seiner erhabenen Nachbarschaft wohnen, überhaupt die Seitentür der Kirche erreichen können, so oft ihre angeborene Demut, von günstiger Witterung unterstützt, sie geneigt macht, die Heiligung des Sabbaths unter ihren Dienstleuten dadurch zu ermutigen, daß sie gleich der geringeren Klasse von Andächtigen auf ihren eigenen Füßen zur Kirche gehen.

Um halb acht Uhr an einem gewissen schönen Sommermorgen des Jahres achtzehnhundertvierundvierzig würde ein fremder Beobachter, wenn er zufällig in einem unbemerkten Winkel des Kirchhofs gestanden und mit scharfen Augen um sich geblickt hätte, wahrscheinlich Augenzeuge von Vorgängen gewesen sein, die ihn zu dem Glauben verleitet haben würden, daß in Long Beckley eine Verschwörung im Werke sei, deren Sammelpunkt die Kirche wäre und deren Haupträdelsführer aus den angesehensten Einwohnern bestünden.

Gesetzt, er hätte, als die Uhr die halbe Stunde schlug, nach dem Pfarrhause geblickt, so würde er gesehen haben, wie der Pfarrer oder Vikar von Long Beckley, der ehrwürdige Doktor Chennery, argwöhnisch sein Haus durch die Hintertür verließ, sich wie mit bösem Gewissen umsah, als er sich dem nach der Sakristei führenden Kieswege näherte, geheimnisvoll außen vor der Tür stehen blieb und unruhig die nach dem Dorfe führende Straße hinabschaute.

Angenommen, unser fremder Beobachter hätte sich versteckt gehalten und gleich dem Pfarrer die Straße hinabgeschaut, so hätte er sodann den Küster, einen würdevollen Mann mit einem strengen gelben Gesicht – er war ein protestantischer Loyola seinem Ansehen und ein fleißiger Schuhmacher seinem Handwerke nach – mit einem Blick unaussprechlichen Geheimnisses in seinem Gesicht und einem dicken Schlüsselbund in der Hand sich nähern gesehen haben.

Er würde ferner gesehen haben, wie der Küster sich gegen den Pfarrer mit einem grimmigen Lächeln geheimen Einverständnisses verneigte, gerade so wie Guy Fawkes sich wahrscheinlich gegen Catesby verneigte, als diese beiden bedeutenden Schießpulvereigentümer zusammenkamen, um in ihrer umfangreichen Niederlage unter den Parlamentshäusern Inventur zu halten.

Er würde gesehen haben, wie der Pfarrer in zerstreuter Weise dem Küster zunickte und – es war dies unzweifelhaft eine geheime Parole unter der doppelten Maske der alltäglichen Bemerkung und der freundlichen Frage – sagte: »Ein schöner Morgen, Thomas. Habt Ihr schon gefrühstückt?« Er würde ferner gehört haben, wie Thomas mit einer argwöhnischen Rücksicht auf die kleinsten Einzelheiten antwortete: »Ich habe eine Tasse Tee und eine Brotrinde zu mir genommen, Sir.«

Und dann würde er gesehen haben, wie diese beiden Verschwörer, nachdem sie beide gleichzeitig den Blick auf die Kirchenuhr geworfen, sich mit einander nach der Seitentür bewegten, welche die Aussicht auf den über die Felder führenden Fußweg hatte.

Wäre er ihnen gefolgt – wie unser fremder Beobachter doch ganz gewiß getan haben würde – so hätte er noch drei fernerweite Verschwörer entdeckt, welche den Fußweg entlang kamen.

Der Anführer dieses verräterischen Trupps war ein ältlicher Herr mit verwittertem Gesicht und einer biedern geraden Haltung, welche ganz bewundernswürdig geeignet war, den Argwohn zu entwaffnen.

Seine beiden Begleiter waren ein junger Herr und eine junge Dame, welche Arm in Arm gingen und flüsternd miteinander sprachen. Sie trugen beide das allereinfachste Morgenkostüm. Die Gesichter beider waren ein wenig bleich und das Benehmen der Dame ein wenig aufgeregt.

Außerdem war nichts Besonderes an ihnen zu bemerken, bis sie an das in den Kirchhof hineinführende Pförtchen kamen, wo dann das Benehmen des jungen Herrn auf den ersten Anblick ziemlich befremdend erschien.

Anstatt das Pförtchen zu öffnen und die Dame zuerst eintreten zu lassen, blieb er nämlich zurück, ließ es sie selbst öffnen, wartete bis sie die andere Seite erreicht hatte, streckte dann die Hand über das Pförtchen und ließ sich von ihr durch den Eingang hindurchführen, als wenn er sich plötzlich aus einem erwachsenen Mann in ein hilfloses kleines Kind verwandelt hätte.

Unser fremder Beobachter würde, wenn er dies bemerkt hätte, sowie ferner, daß, als die Personen vom Felder her sich dem Pfarrer so weit genähert hatten, daß sie ihn grüßen konnten, und nachdem der Küster von seinem Schlüsselbund Gebrauch gemacht, um die Kirchentür zu öffnen, der Begleiter der jungen Dame in die Kirche – diesmal aber von Doktor Chennerys Hand – ebenso in die Kirche hineingeführt, wie er früher durch das Pförtchen geführt ward, zu dem unvermeidlichen Schlusse gekommen sein, daß die einen solchen Beistand bedürfende Person mit dem Übel der Blindheit behaftet sei.

Durch diese Entdeckung ein wenig stutzig gemacht, würde er noch mehr erstaunt sein, wenn er in die Kirche hineingeschauet und gesehen hätte, daß der Blinde und die junge Dame miteinander vor dem Altar standen mit dem ältlichen Herrn als Vater daneben.

Seine nun in ihm erwachende Vermutung, daß der Zweck, welcher die Verschwörer zu dieser frühen Stunde zusammenführte, eine Vermählung beträfe und daß es sich hier um die Feier einer Hochzeit unter der strengsten Verschwiegenheit handle, würde binnen fünf Minuten durch das Erscheinen des Doktor Chennery bestätigt worden sein, welcher in voller Amtstracht aus der Sakristei heraustrat und mit seiner sanften, wohlklingenden Stimme die Traurede und Trauformel ablas.

Nach Beendigung dieser Zeremonie würde der Fremde in immer größere Verwunderung geraten sein, wenn er bemerkt hätte, daß die dabei beteiligten Personen in dem Augenblick, wo das Unterzeichnen, Küssen und bei solchen Gelegenheiten gebräuchliche Gratulieren vorüber war, sich wieder trennten und rasch nach den verschiedenen Richtungen hin entfernten, von welchen her sie sich der Kirche genähert hatten.

Wir lassen den Küster auf dem Dorfwege, die Braut, den Bräutigam und den ältlichen Herrn auf dem Fußwege über die Felder zurückkehren und den fingierten fremden Beobachter als Beute getäuschter Neugier nach irgend einer beliebigen Richtung hin verschwinden und folgen dem Doktor Chennery zum Frühstück im Pfarrhause, um zu hören, was er in Bezug auf seine amtlichen Leistungen an diesem Morgen innerhalb der vertrauten Atmosphäre seines Familienkreises zu sagen hat.

Die bei diesem Frühstück versammelten Personen waren erstens Mr. Phippen, ein Gast; zweitens Miß Sturch, eine Gouvernante; drittens, viertens und fünftens Miß Louise Chennery, zehn Jahre alt; Miß Amely Chennery, neun Jahre alt, und Master Robert Chennery, acht Jahre alt. Es war kein Mutterantlitz gegenwärtig, um das häusliche Gemälde vollständig zu machen. Der Doktor war seit der Geburt seines jüngsten Kindes verwitwet.

Der Gast war ein alter Universitätsfreund des Pfarrers und verweilte jetzt, wie man annahm, um seiner Gesundheit willen in Long Beckley. Die meisten Menschen von irgendwelchem Charakter wissen sich einen Ruf von irgendeiner Art zu erwerben, der sie in dem geselligen Zirkel, in welchem sie sich bewegen, individualisiert. Mr. Phippen war ein Mann von einigem Charakter und lebte in der Wertschätzung seiner Freunde auf den Ruf hin, ein Märtyrer von Verdauungsbeschwerden zu sein, mit großer Auszeichnung. Überall wohin Mr. Phippen ging, dahin gingen auch die Leiden seines Magens mit ihm. Er übte öffentliche Diät und kurierte sich öffentlich. Er war mit sich selbst und seinen Krankheiten so unausgesetzt beschäftigt, daß er einen zufälligen Bekannten binnen fünf Minuten schon in die Geheimnisse der Beschaffenheit seiner Zunge einweihete, und ganz ebenso fortwährend bereit war, den Zustand seiner Verdauung zu besprechen, wie die Leute im Allgemeinen bereit sind, den Zustand des Wetters zu erörtern.

Über dieses Lieblingsthema sprach er wie über jedes andere in freundlich sanfter Weise, zuweilen in wehmütigem, zuweilen auch in sentimental schmachtendem Tone. Seine Höflichkeit war von der drückend liebreichen Sorte und er machte, wenn er andere Leute anredete, fortwährend von dem Worte »Lieber« Gebrauch.

Was sein Äußeres betraf, so konnte man ihn nicht einen schönen Mann nennen. Seine Augen waren wässerig, groß und hellgrau und rollten in einem Zustande feuchter Bewunderung irgend eines Gegenstandes oder einer Person fortwährend von einer Seite zur andern. Seine Nase war lang, herabhängend und tief melancholisch, wenn in Bezug auf dieses Glied ein solcher Ausdruck statthaft ist. Übrigens hatten seine Lippen eine weinerliche Krümmung, seine Gestalt war klein, sein Kopf groß, kahl und locker zwischen den Schultern sitzend, seine Art sich zu kleiden ein wenig exzentrisch elegant, sein Alter ungefähr fünfundvierzig Jahre, sein Stand der eines ledigen Mannes.

Dies war Mr. Phippen, der Märtyrer der Verdauungsbeschwerden und Gast des Pfarrers von Long Beckley.

Miß Sturch, die Gouvernante, kann kurz und genau als eine junge Dame beschrieben werden, welche seit dem Tage ihrer Geburt niemals durch eine Idee oder eine Empfindung belästigt worden. Sie war ein kleines, feistes, ruhiges, weißes, lächelndes, nettgekleidetes Mädchen, genau zur Verrichtung gewisser Pflichten zu gewissen Stunden aufgezogen und im Besitz eines unerschöpflichen Wörterbuchs von Gemeinplätzen, welche, so oft es verlangt ward, stets in derselben Qualität zu jeder Stunde des Tages und zu jeder Jahreszeit freundlich von ihren Lippen rieselten. Miß Sturch lachte nie und weinte nie, sondern wählte den sichern Mittelweg, fortwährend zu lächeln. Sie lächelte, wenn sie des Morgens im Januar aus ihrem Schlafzimmer herunterkam und sagte, es wäre sehr kalt. Sie lächelte, wenn sie an einem Morgen im Juli herunterkam und sagte, es sei sehr heiß. Sie lächelte, wenn der Bischof einmal des Jahres sich einfand, um den Vikar zu besuchen; sie lächelte, wenn der Fleischerjunge jeden Morgen kam, um Bestellungen zu holen. Sie lächelte, wenn Miß Louise an ihrer Brust weinte und wegen ihrer Fehler in der Geographie um Nachsicht flehte; sie lächelte, wenn Master Robert ihr auf den Schoß sprang und ihr befahl, ihm das Haar zu bürsten. Es mochte im Pfarrhause geschehen, was da wollte, so war nichts im Stande, Miß Sturch aus dem einen glatten Gleise herauszuwerfen, in welchem sie sich fortwährend und stets in demselben Schritt hin- und herbewegte. Hätte sie während der Bürgerkriege in England in einer Royalistenfamilie gelebt, so hätte sie am Morgen der Hinrichtung Karls des Ersten dem Koche geklingelt, um das Mittagsmahl zu bestellen. Wäre Shakespeare wieder zum Leben erwacht und hätte er an einem Sonnabend abends sechs Uhr in dem Pfarrhause vorgesprochen, um Miß Sturch genau zu erklären, mit welchen Ideen er sich bei dem Verfassen des Trauerspiels Hamlet getragen, so hätte sie gelächelt und gesagt, es sei dies außerordentlich interessant, bis es sieben Uhr geschlagen, wo sie den Barden von Avon gebeten hätte, sie zu entschuldigen, um dann mitten in einem Redesatze fortzulaufen und die Hausmagd bei Vergleichung des Waschbuches zu beaufsichtigen.

Eine sehr achtungswerte junge Person war Miß Sturch, wie die Damen von Long Beckley zu sagen pflegten, so umsichtig mit den Kindern und so treu in Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten, von guten Grundsätzen beseelt und eine Pianistin mit markigem Anschlage, gerade hübsch genug, gerade gut genug gekleidet, gerade redselig genug, vielleicht nicht ganz alt genug und vielleicht ein wenig allzusehr zu einer zu Umarmungen verlockenden Korpulenz um die Taille herum geneigt – im ganzen genommen aber eine sehr schätzenswerte junge Person.

Bei den charakteristischen Eigentümlichkeiten der Schüler der guten Miß Sturch ist es nicht notwendig, sehr ausführlich zu verweilen.

Miß Louises zur Gewohnheit gewordene Schwäche war ein eingefleischter Hang, den Schnupfen zu bekommen.

Miß Amelys Hauptfehler war eine Geneigtheit, ihren Gaumen zu befriedigen, indem sie zu unberechtigten Zeiten und Stunden allerhand Ergänzungsmahlzeiten und Frühstücke zu sich nahm.

Master Roberts bemerkenswerteste Mängel hatten ihren Grund in der Schnelligkeit, womit er seine Kleider zerriß, und der Stumpfsinnigkeit, welche er beim Lernen des Einmaleins entwickelte.

Die Tugenden sämtlicher drei Geschwister waren ziemlich von einer und derselben Art – sie waren gut gewachsen, sie waren echte Kinder, und sie liebten ihre Miß Sturch auf sozusagen tumultuarische Weise.

Um die Galerie von Familienporträts vollständig zu machen, müssen wir wenigstens versuchen, einen Umriß von dem Vikar oder Pfarrer selbst hinzuzufügen.

Doktor Chennery gereichte in physischer Beziehung der Kirche, welche er angehörte, zur Zierde. Er maß sechs Fuß zwei Zoll, er wog siebzehn Stein, er war der beste Schläger in dem Cricket-Club von Long Beckley; er war in Bezug auf Wein und Hammelfleisch streng orthodox; er brachte auf der Kanzel niemals unangenehme Theorien über die künftige Bestimmung der Menschen zur Sprache; er zankte sich mit niemandem außerhalb der Kanzel; er knöpfte nie seine Taschen zu, wenn die Bedürfnisse seiner armen Brüder – auch mit Einschluß von Andersgläubigen – ihn aufforderten sie zu öffnen. Sein Weg durch die Welt war ein ruhiger Marsch die hohe trockene Mitte einer sichern Chaussee entlang. Die geschlängelten Nebenpfade theologischer Kontroversen konnte sich ihm rechts und links so verlockend öffnen wie sie wollten – er ging ruhig seinen Weg und ließ sich nicht irre machen. Neuerungssüchtige junge Rekruten der Kirchenarmee konnten ihm die Neununddreißig Artikel auf die verfänglichste Weise dicht unter der Nase aufschlagen, so schaute doch das vorsichtige Auge des Veterans nie um ein Haar breit weiter als seine eigene Unterschrift am Fuße derselben. Er verstand von der Theologie so wenig als möglich, er hatte seiner vorgesetzten Behörde während seines ganzen Lebens nie eine Minute lang irgend eine Belästigung verursacht, er war unschuldig an aller Beteiligung beim Lesen oder Schreiben von Flug- und Streitschriften – kurz, er war der ungeistlichste aller Geistlichen, aber trotz alledem machte er in seiner Amtstracht eine Erscheinung, wie man sie selten sieht.

Siebzehn Stein aufrechtes muskelstarkes Fleisch, ohne eine einzige wunde und unreine Stelle, besitzen jedenfalls das Verdienst, daß sie Ausdauer hoffen lassen und dies ist eine vortreffliche Tugend bei Säulen jeder Art, in der gegenwärtigen Zeit aber eine ganz besonders kostbare Eigenschaft an einer Säule der Kirche.

Sobald der Vikar in das Frühstückszimmer trat, kamen ihm die Kinder mit lautem Geschrei entgegen. Er war in Beobachtung der Pünktlichkeit bei Mahlzeiten sehr streng und sah sich jetzt selbst von der Uhr überführt, daß er eine Viertelstunde zu spät zum Frühstück kam.

»Es tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen, Miß Sturch,« sagte der Vikar, »ich habe jedoch für meine Verspätung eine gute Entschuldigung.«

»O bitte, sprechen Sie nicht davon, Sir,« sagte Miß Sturch, indem sie freundlich ihre feisten kleinen Hände eine über der andern rieb. »Ein schöner Morgen. Ich fürchte, wir werden wieder einen warmen Tag bekommen. Robert, mein guter Junge, stemme dich nicht mit dem Ellbogen auf den Tisch. Ein schöner Morgen – wirklich ein schöner Morgen.«

»Ist dein Magen immer noch nicht in Ordnung, Phippen, wie?« fragte der Vikar, indem er den Schinken zu tranchieren begann.

Mr. Phippen schüttelte kläglich seinen dicken Kopf, legte seinen gelben, mit einem großen Türkisenring geschmückten Zeigefinger auf das mittelste Quarré seiner hellgrünen Sommerweste, sah Doktor Chennery kläglich an und seufzte, nahm den Finger wieder weg und brachte aus der Brusttasche seines Paletot ein kleines Mahagoni-Etui heraus. Aus diesem nahm er eine sauber gearbeitete kleine Apothekerwaage mit den dazugehörigen Gewichten, ein Stück Ingwer und ein blankpoliertes kleines silbernes Reibeisen.

»Sie werden einen Kranken entschuldigen, meine liebe Miß Sturch, nicht wahr?« sagte Mr. Phippen, indem er den Ingwer matt und langsam in die nächste Teetasse zu reiben begann.

»Ratet einmal, weshalb ich heute Morgen eine Viertelstunde zu spät komme,« sagte der Vikar, indem er geheimnisvoll einen Blick um den Tisch herumschweifen ließ.

»Du hast es verschlafen, Papa!« riefen die drei Kinder, indem sie triumphierend in die Hände klatschten.

»Was meinen Sie, Miß Sturch?« fragte Doktor Chennery.

Miß Sturch lächelte wie gewöhnlich, rieb wie gewöhnlich die Hände, hustete wie gewöhnlich sanft, um die Kehle frei zu machen, sah unverwandt die Teemaschine an und bat dann mit der anmutigsten Höflichkeit, man möge sie entschuldigen, wenn sie nichts sage.

»Nun bist du an der Reihe, Phippen,« sagte der Vikar. »Rate einmal, weshalb ich mich heute Morgen verspätet habe.«

»Mein lieber Freund,« sagte Mr. Phippen, indem er dem Doktor brüderlich die Hand drückte, »fordere mich nicht auf, zu raten, denn ich weiß es. Ich sah, was du gestern beim Dinner aßest – ich sah, was du nach dem Dinner trankst. Keine Verdauung könnte dies aushalten, nicht einmal die deinige. Ich soll erraten, weshalb du diesen Morgen so spät gekommen bist? Ach geh doch, ich weiß es ja ! Du gute, liebe Seele, du hast Arznei eingenommen!«

»Nein, Gott sei Dank, seit zehn Jahren ist davon kein Tropfen über meine Zunge gekommen,« sagte Doktor Chennery mit einem Blick frommer Dankbarkeit. »Nein, nein, du irrst dich vollständig. Du mußt nämlich wissen, ich bin in der Kirche gewesen und was glaubest du wohl, was ich da gemacht habe? Hören Sie, Miß Sturch – höret, Mädchen, mit allen euren Ohren! Der arme blinde junge Frankland ist endlich ein glücklicher Mann – heute Morgen eben habe ich ihn mit unserer lieben Rosamunde Treverton vermählt.«

»Ohne uns etwas zu sagen, Papa!« riefen die beiden Mädchen gleichzeitig im gellendsten Tone des Ärgers und der Überraschung. »Ohne uns etwas zu sagen, während du doch weißt, wie gern wir zugesehen hätten!«

Eben dies war der Grund, weshalb ich euch nichts davon sagte, meine lieben Kinder,« antwortete der Vikar. »Der junge Frankland ist noch nicht so an sein Übel gewöhnt, der arme junge Mann, daß er es ertragen könnte, sich in der Eigenschaft eines blinden Bräutigams öffentlich bemitleiden und angaffen zu lassen. Er hatte eine so große Furcht davor, an seinem Hochzeitstage Gegenstand der Neugier zu sein, und Rosamunde, dieses gutherzige Mädchen, war so darauf bedacht, ihm in allen Dingen den Willen zu tun, daß wir verabredeten, die Vermählung zu einer Stunde des Morgens zu vollziehen, wo sich vermuten ließe, daß noch keine müßigen Gaffer sich in der Nähe der Kirche herumtrieben. Mir war in Bezug auf den Tag die strengste Verschwiegenheit zur Pflicht gemacht und dasselbe war mit meinem Küster Thomas der Fall. Mit Ausnahme von uns beiden, der Braut, des Bräutigams und des Vaters der Braut, Kapitäns Treverton, wußte niemand –«

»Treverton!« rief Mr. Phippen, indem er seine Teetasse mit dem geriebenen Ingwer auf dem Boden derselben hinhielt, um sie von Miß Sturch füllen zu lassen, »Treverton! – So ist es genug, meine liebe Miß Sturch! – Das ist doch merkwürdig! Diesen Namen kenne ich. – Noch ein wenig Wasser, wenn ich bitten darf. – Sage mir, lieber Doktor – ich danke recht sehr – keinen Zucker – er verwandelt sich im Magen in Säure – ist diese Miß Treverton, welche du vermählt hast – ich danke nochmals, auch keine Milch – eine von den Trevertons in Cornwall?«

»Jawohl, versteht sich,« entgegnete der Vikar. »Ihr Vater, Kapitän Treverton, ist das Haupt der Familie. Nicht als ob dieselbe sehr zahlreich wäre. Der Kapitän und Rosamunde und ihr launenhafter, mürrischer alter Onkel, Andrew Treverton, sind alles, was noch von dem alten Stamme übrig ist. In frühern Zeiten war es eine reiche Familie und eine schöne Familie – gute Freunde der Kirche und des Staats, weißt du, und alles dergleichen.«

»Erlauben Sie, Herr Doktor, daß Amely noch ein Stück Brot und Kompott bekommt?« fragte Miß Sturch den Vikar, ohne im mindesten zu wissen, daß sie ihn in seiner Rede unterbrach. Da sie in ihrem Geiste keinen überflüssigen Raum hatte, an welchem sie gewisse Dinge hätte aufbewahren können bis es Zeit war, damit herauszurücken, so tat sie Fragen und machte Bemerkungen in dem Augenblick, wo ihr dieselben einfielen, ohne auf den Anfang, die Mitte, oder das Ende der Konversationen zu warten, welche vielleicht in ihrem Beisein geführt wurden. Mit den Augen spielte sie die Rolle einer Zuhörerin ganz vollkommen, aber sie war eine solche wirklich nur dann, wenn die Worte unmittelbar für ihre eigenen Ohren bestimmt und an dieselben gerichtet waren.

»O, geben Sie ihr noch ein Stück – immerhin,« sagte der Vikar gleichgültig. »Überessen muß sie sich einmal und das kann sie ebensogut in Brot und Kompott tun, als in etwas anderem.«

»Mein guter, lieber Freund,« rief Mr. Phippen, »sieh an, was für ein unglücklicher, kranker Mensch ich bin; spricht nicht in dieser entsetzlich gedankenlosen Weise davon, daß du deine liebe kleine Amely sich überessen lassen willst. Wenn der Magen schon in der Jugend überladen wird, was soll dann aus der Verdauung im Alter werden? Das Ding, welches die gemeinen Leute das Inwendige nennen – Miß Sturch wird aus Interesse an ihrer liebenswürdigen Schülerin mich entschuldigen, wenn ich in physiologische Erörterungen eingehe – ist in der Tat eine Maschine. Vom Standpunkt der Verdauung aus betrachtet, Miß Sturch, ist selbst der schönste und jüngste von uns eine Maschine. Man öle unsere Räder, aber man hemme ihren Gang nicht durch unpassende Substanzen. Mehlhaltige Puddings und Hammelkoteletts – Hammelkoteletts und mehlhaltige Puddings – das müßte, wenn es mir nach ginge, die Parole der Älteren von einem Ende Englands bis zum andern sein. Schau her, liebes Kind, sieh mich an. Diese kleine Waage ist durchaus kein Spaß, sondern furchtbarer Ernst. Sieh, ich lege in die eine Schale derselben trockenes Brot – altbackenes, trockenes Brot, liebe Amely – und in die andere einige Unzen Gewichte. ‚Mr. Phippen, essen Sie nach dem Gewicht. Mr. Phippen, essen Sie Tag für Tag aufs Haar genau dieselbe Quantität. Mr. Phippen, überschreiten Sie dieselbe um keinen Preis, wenn es auch bloß altbackenes, trockenes Brot ist.’ Meine liebe Amely, das ist kein Scherz – das ist, was die Ärzte zu mir sagten – die Ärzte, liebes Kind, welche meine Maschine seit dreißig Jahren mit kleinen Pillen durch und durch sondiert, aber immer noch nicht gefunden haben, wo es mit meinen Rädern hapert. Merke dir das, liebe Amely – denke an Mr. Phippens mangelhafte Maschine – und sage das nächste Mal, wo man dir noch mehr zu essen anbietet: Nein, ich danke – Miß Sturch, ich bitte tausendmal um Verzeihung, daß ich mich in etwas mische, was Ihres Amtes ist, mein Interesse aber für dieses liebe Kind, meine eigene traurige Erfahrung in Bezug auf die hydraköpfigen Qualen – ach, Chennery, mein guter, lieber Freund, wovon sprachen wir denn eigentlich? – Ja, jetzt fällt es mir wieder ein – wir sprachen von der Braut – der interessanten Braut. Also, sie ist eine der Trevertons von Cornwall? Ich war vor Jahren mit Andrew ein wenig näher bekannt. Er war ein exzentrischer, menschenfeindlicher alter Junggesell, gerade wie ich selbst, Miß Sturch; er litt auch an der Verdauung gerade wie ich, liebe Amely. Er hatte, vermute ich, durchaus keine Ähnlichkeit mit seinem Bruder, dem Kapitän. Also, die ist nun vermählt? Ein liebenswürdiges Mädchen – ich zweifle nicht daran – ein liebenswürdiges Mädchen.«

»In der ganzen Welt gibt es kein besseres, aufrichtigeres und hübscheres,« sagte der Vikar. »Dabei ist sie auch eine sehr lebhafte, energischer Person.«

»Wie werde ich sie vermissen,« sagte Miß Louise. »Niemand anders amüsierte mich so wie Rosamunde, als ich das letzte Mal an dem blöden Schnupfen litt und das Bett hüten mußte.«

»Und was gab sie uns immer für nette kleine Soupers!« sagte Miß Amely.

»Sie war das einzige Mädchen, welches ich je gekannt, das mit Knaben zu spielen verstand,« sagte Master Robert. »Sie konnte den Ball mit einer Hand fangen, Mr. Phippen, und auf dem Eise mit gleichen Füßen schuscheln.«

»Was du nicht sagst!« rief Mr. Phippen. »Das ist ja eine ganz außerordentliche Frau für einen Blinden! Nicht wahr, lieber Doktor, du sagtest, er sei blind? Wie hieß er gleich? Sie werden mein schlechtes Gedächtnis nicht allzuhart beurteilen, Miß Sturch. Wenn Verdauungsbeschwerden den Körper ruiniert haben, dann beginnen sie auch an dem Geiste zu nagen. Mr. Frank hieß er, nicht wahr? Und ist er von seiner Geburt an blind gewesen? Traurig! Traurig!«

»Nein, nein – Frankland heißt er,« antwortete der Vikar, »Leonard Frankland. Auch ist er keineswegs von seiner Geburt an blind gewesen. Es ist nicht viel über ein Jahr her, als er noch so gut sehen konnte wie eins von uns.«

»Dann ist er wohl durch einen Unfall erblindet?« sagte Mr. Phippen. »Du erlaubst mir doch, daß ich mich in den Armstuhl setze ? Eine teilweise liegende Stellung ist mir nach der Mahlzeit allemal von wesentlichem Nutzen. Also, es ist mit seinen Augen ein Unfall vorgegangen? Ja, in diesem Lehnstuhl sitzt es sich doch köstlich!«

»Einen Unfall kann man es eigentlich nicht nennen,« entgegnete Doktor Chennery, »Leonard Franklands Erziehung hatte viel Schwierigkeiten. Erstens war er von Haus aus sehr schwächlich. Mit der Zeit schien sich dies jedoch zu bessern und er wuchs zu einem ruhigen, gesetzten, manierlichen Knaben heran, der mit meinem Söhnchen dort durchaus keine Ähnlichkeit hatte. Er war sehr liebenswürdig und es ging sich, wie man zu sagen pflegt, sehr gut mit ihm um. Er hatte große Vorliebe für die Mechanik – ich erzähle dir alles dies, damit du die Sache richtig begreifst, wenn ich auf seine Blindheit zu sprechen komme – und nachdem er eine Beschäftigung dieser Art nach der andern vorgenommen, legte er sich endlich aufs Uhrmachen. Es war dies ein seltsamer Zeitvertreib für einen Knaben, aber alles, was zarte Behandlung und viel Geduld und Ausdauer erforderte, war gerade das, was Leonard liebte und gern trieb. Ich sagte immer zu seinen Eltern: »Zieht ihn von diesem Stuhle herunter, zerbrecht seine Vergrößerungsgläser, schickt ihn zu mir und ich will mit ihm Turnübungen durchmachen und ihn einen Ballschlägel handhaben lehren.« Aber es half nichts. Seine Eltern wußten, glaube ich, am besten, was zu tun wäre und sagten, man müsse ihm den Willen tun. Na, die Sache ging eine Zeitlang ganz gut, bis er wieder in eine lange Krankheit verfiel – wie ich glaube, weil er sich nicht Bewegung genug gemacht hatte. Sobald als er wieder zu genesen begann, ging auch die alte Uhrmacherei wieder los. Das schlimme Ende aber sollte noch kommen. Ungefähr die letzte Arbeit, die er ausführte, der arme Teufel, war die Reparatur meiner Uhr – hier ist sie – sie geht so regelmäßig wie eine Dampfmaschine. Ich hatte sie noch nicht lange wieder in der Tasche, als ich hörte, daß er sich über heftige Schmerzen im Hinterkopfe beklage und daß er alle Arten sich bewegende Punkte vor den Augen sähe. »Gebt ihm tüchtig Portwein zu trinken und laßt ihn täglich drei Stunden lang auf einem ruhigen Pferdchen spazierenreiten« – dies war mein Rat. Anstatt aber denselben zu befolgen, ließen seine Eltern Ärzte von London holen, legten ihm spanische Fliegen hinter die Ohren und zwischen die Schultern, ließen ihn Quecksilber einnehmen und steckten ihn in ein finsteres Zimmer. Es half nichts. Die Augen wurden schlimmer und schlimmer, flackerten und flackerten und verlöschten endlich wie die Flamme eins Lichts. Seine Mutter starb – es war ein Glück für sie, die arme Seele – ehe dies geschah. Sein Vater war ganz außer sich und reiste mit ihm zu Augenärzten in London und zu Augenärzten in Paris. Sie taten aber weiter nichts, als daß sie die Blindheit bei einem langen lateinischen Namen nannten und sagten, es sei hoffnungslos und nutzlos, eine Operation zu versuchen. Einige von ihnen sagten, das Übel sei die Folge der langwierigen Schwäche, woran er zwei Mal nach seiner Krankheit gelitten. Andere wieder sagten, es sein eine apoplektische Ergießung im Gehirn. Alle aber schüttelten die Köpfe, als sie von der Uhrmacherei hörten. Und so brachte man ihn blind wieder nach Hause; blind ist er jetzt und blind wird er bleiben, der arme junge Mann, so lange er lebt.«

»Du machst mich sehr ängstlich, lieber Chennery, du machst mich sehr ängstlich,« sagte Mr. Phippen, »besonders mit dieser Theorie von langwieriger Schwäche nach Krankheit. Gütiger Himmel! Ich habe auch an langwieriger Schwäche gelitten – ich leide jetzt noch daran. Punkte sah er vor den Augen? Ich sehe auch schwarze Punke – tanzende schwarze Punkte – tausende, schwarze, gallige Punkte. Auf mein Ehrenwort, lieber Chennery, das paßt ganz auf mich – meine Sympathie ist schmerzlich erregbar – Ich fühle diese Blindengeschichte in jedem Nerv meines Körpers – du kannst es mir glauben.«

»Wer aber Leonard ansieht und es nicht weiß, der würde kaum glauben, daß er blind ist,« sagte Miß Louise, indem sie sich mit der Absicht, Mr. Phippens Gleichmut wieder herzustellen, ins Gespräch mischte. »Abgesehen davon, daß seine Augen ruhiger aussehen als die anderer Leute, scheint kein Unterschied bemerkbar zu sein. Wer war jener berühmte Mann, von dem Sie uns erzählten, Miß Sturch, der auch blind war und dem man es ebensowenig anmerkte wie Leonard Frankland?«

»Milton, liebes Kind. Ich bat euch, zu merken, daß er der berühmteste der epischen Dichter Englands war,« antwortete Miß Sturch in ihrem freundlichen Tone. »Er spricht sich selbst sehr poetisch über die Ursache seiner Blindheit aus. Du sollst es selbst lesen. Louise. Nachdem wir diesen Morgen ein wenig französisch getrieben haben, werden wir ein wenig Milton vornehmen. Still, still, liebes Kind,– dein Papa spricht.«

»Der arme junge Frankland!« sagte der Vikar mitleidig. »Das gute, zärtliche, edle Wesen, welches ich ihm diesen Morgen vermählt, scheint ihm in seinen Leiden als Trost gesendet zu sein. Wenn irgend eine menschliche Kreatur ihn für sein noch übriges Leben glücklich machen kann, so ist es Rosamunde Treverton.«

»Sie hat ein Opfer gebracht,« sagte Mr. Phippen, »aber deswegen gefällt sie mir, denn ich habe auch ein Opfer gebracht, indem ich ledig geblieben bin. Auch scheint es aus Humanitätsrücksichten unumgänglich nötig zu sein, daß ich ledig bleibe. Wie könnte ich mit gutem Gewissen bei einer solchen Verdauung wie die meinige ein Mitglied des schönern Teils der Schöpfung unglücklich machen! Nein, ich bin ein Opfer in meiner eigenen Person und habe Mitgefühl für Andere, die sich in derselben Lage befinden. Weinte sie sehr, Chennery, als du die Zeremonie vollzogst?«

»Ob sie weinte!« rief der Vikar verächtlich. »Rosamunde Treverton gehört nicht zu der weinerlichen sentimentalen Sorte, das kann ich dir versichern. Sie ist ein schönes, kräftiges, warm fühlendes Mädchen, welches schon durch ihre Blicke zu erkennen gibt, was sie meint, wenn sie einem Manne sagt, sie wolle ihn heiraten. Und merke wohl, sie ist auf die Probe gestellt worden. Wenn sie ihn nicht von ganzem Herzen und ganzer Seele liebte, so hätte ihr schon vor Monaten freigestanden, ganz nach Belieben einen Andern zu heiraten. Sie waren schon lange zuvor, ehe der junge Frankland von diesem grausamen Leiden heimgesucht ward, miteinander verlobt, denn die Väter haben seit Jahren als Nachbarn hier nebeneinander gewohnt. Als Leonard blind ward, erbot er in seiner Gewissenhaftigkeit sich sofort, Rosamunde ihres Versprechens zu entbinden. Du hättest den Brief lesen sollen, Phippen, den sie ihm darauf schrieb. Ich gestehe ganz offen, daß ich flennte wie ein altes Weib, als man mir ihn zeigte. Ich würde die jungen Leute sofort, nachdem ich den Brief gelesen, vermählt haben, der alte Frankland aber war ein krittlicher, pedantischer Mann und bestand auf einer Probezeit von sechs Monaten, damit Rosamunde sich überzeugen könne, ob sie ihr eigenes Gemüt auch richtig verstünde. Er starb ehe diese Frist um war und dies war die Ursache, daß die Heirat abermals hinausgeschoben ward. Alle diese Verzögerungen aber äußerten auf Rosamunden keine Einwirkung und sechs Jahre würden sie ebensowenig verändert haben, als diese sechs Monate im Stande gewesen waren. Sie stand dem armen geduldigen Blinden heute morgen noch ebenso zärtlich liebend zur Seite wie an dem ersten Tage ihrer Verlobung. ‚Du sollst keinen traurigen Augenblick kennen, Lenny, wenn ich es verhindern kann, so lange du lebst.’ Diese waren die ersten Worte, die sie zu ihm sagte, als wir alle aus der Kirche heraustraten. ‚Ich höre Sie, Rosamunde’, sagte ich. ‚Und Sie sollen auch mein Richter sein, Doktor’, sagte sie blitzschnell. ‚Wir wollen wieder nach Long Beckley kommen und Sie sollen dann Lenny fragen, ob ich nicht mein Wort gehalten habe.’ Mit diesen Worten gab sie mir einen Kuß, den Ihr hier in dem Pfarrhause hättet hören können, das gute Mädchen! Wir wollen bei dem Dinner auf ihre Gesundheit trinken, Miß Sturch – wir wollen auf die Gesundheit beider trinken, Phippen, und zwar in einer Flasche des besten Weins, den ich im Keller habe.«

»Was mich betrifft, in einem Glas Wasser, wenn du es mir erlaubst,« sagte Mr. Phippen traurig. »Aber, mein lieber Chennery, als du von den Vätern dieser beiden interessanten jungen Leute sprachst, sagtest du, sie hätten seit Jahren hier in Long Beckley als nahe Nachbarn gelebt. Mein Gedächtnis hat sehr gelitten, dies weiß ich recht wohl, aber ich glaubte, Kapitän Treverton sei der älteste der beiden Brüder und habe, wenn er nicht zur See gewesen, stets in dem alten Familienschlosse in Cornwall gewohnt.«

»So lange seine Gattin lebte, war dies allerdings der Fall,« entgegnete der Vikar. »Seit ihrem Tode, der schon im Jahre Neunundzwanzig erfolgte – jetzt schreiben wir Vierundvierzig – das macht –«

Der Vikar schwieg einen Augenblick, um nachzurechnen und sah Miß Sturch an.

»Fünfzehn Jahre, Sir,« sagte Miß Sturch, indem sie dieses Fazit eines kleinen Subtraktionsexempels mit ihrem freundlichen Lächeln darbot.

»Sehr richtig,« fuhr Doktor Chennery fort, »seitdem Mistreß Treverton vor fünfzehn Jahren starb, ist der Kapitän dem Schlosse Porthgenna Tower nicht wieder zu nahe gekommen. Und was noch mehr ist, Phippen, bei der ersten Gelegenheit, die sich ihm darbot, verkaufte er es – er verkaufte es mit allem Zubehör, Bergwerk, Fischereien u.s.w. – alles zusammen für vierzigtausend Pfund.«

»Wie?« rief Mr. Phippen; »fand er denn die Luft ungesund? Ich sollte meinen, die dortigen Bodenerzeugnisse, insoweit sie als Nahrungsmittel dienen, müßten in jenen rauhen Regionen von ziemlich geringer Art sein. Wer kaufte denn die Besitzung?«

»Leonard Franklands Vater,« sagte der Vikar. »Es ist eine ziemlich lange Geschichte, dieser Verkauf von Porthgenna Tower, und es knüpfen sich einige seltsame Umstände daran. Wie wäre es, wenn wir einen Gang in den Garten machten, Phippen? Ich will dir die ganze Geschichte erzählen, während ich meine Morgenzigarre rauche. Miß Sturch, wenn Sie mich brauchen, so finden Sie mich unten im Garten. Mädchen, sehet zu, daß ihr eure Aufgaben richtig lernt. Bob, vergiß nicht, daß ich in der Hausflur einen Stock stehen und in meinem Ankleidezimmer eine Rute hängen habe! Komm, Phippen, erhebe dich aus diesem Armstuhle. Willst du denn keinen Spaziergang mit im Garten machen?«

»O ja, mein lieber Freund, das heißt, wenn du mir freundlichst einen Sonnenschirm leihen und mir erlauben willst, daß ich meinen Feldstuhl in der Hand trage,« sagte Mr. Phippen. »Ich bin zu schwach, um die Sonnenhitze zu ertragen, und kann nicht weit gehen, ohne mich niederzusetzen. In dem Augenblick, wo ich mich ermüdet fühle, Miß Sturch, schlage ich meinen Feldstuhl auseinander und setze mich nieder, mag es sein wo es wolle, ohne die mindeste Rücksicht darauf, wie es vielleicht aussieht. Ich bin bereit, Chennery, sobald es dir beliebt – ebenso bereit, mein guter Freund, auf den Spaziergang im Garten als auf die Geschichte wegen des Verkaufs von Porthgenna Tower. Du sagtest, es wäre eine seltsame Geschichte, nicht wahr?«

»Ich sagte, es knüpfen sich allerhand seltsame Umstände daran,« entgegnete der Vikar, »und wenn du dieselben gehört haben wirst, so wirst du, glaube ich, dasselbe sagen. Komm mit, du findest deinen Feldstuhl und eine Auswahl von allen Arten Regen- und Sonnenschirmen unten in der Hausflur.«

Mit diesen Worten öffnete Doktor Chennery sein Zigarrenetui und ging voran aus dem Frühstückszimmer hinaus.

Ein tiefes Geheimniss

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