Читать книгу Nicht aus noch ein - Уилки Коллинз, Elizabeth Cleghorn - Страница 4
Erster Act
Die Haushälterin redet
ОглавлениеAm andern Tage traf Mrs. Goldstraw ein, um ihre neuen Pflichten zu übernehmen.
Nachdem sie sich in ihrem Zimmer eingerichtet hatte, ohne die Diener zu bemühen und ohne Zeitverschwendung meldete sich die neue Haushälterin bei ihrem Herrn, um die Instructionen, die er ihr etwa zu geben wünsche, entgegenzunehmen. Der Weinhändler empfing Mrs Goldstraw im Eßzimmer, in der er sie schon am vorigen Tage empfangen hatte und, nachdem die gegenseitige Begrüßung vorüber war, setzten sich beide nieder, um über die häuslichen Angelegenheiten zu berathen.
»Was die Speisen anbetrifft, Sir!« sagte Mrs. Goldstraw. »Habe ich eine große Anzahl oder nur wenig Menschen zu bewirthen?«
»Wenn ich einen lieben altmodischen Plan ausführen kann,« erwiderte Mr. Wilding »werden Sie eine große Anzahl zu versorgen haben. Ich bin ein einsamer unverheiratheter Mann, Mrs. Goldstraw, und gedenke mit allen denen, die bei mir im Geschäft sind, zu leben, als ob wir eine Familie wären. Bis es so weit ist, haben Sie Niemand als mich und den neuen Compagnon, den ich jeden Augenblicke erwarte, zu versorgen. Welche Gewohnheiten mein Theilnehmer am Geschäft haben mag, kann ich nicht sagen, aber mich selbst kann ich als einen Mann bezeichnen, der regelmäßig seine Stunden einhält und regelmäßig Appetit mitbringt, darauf können Sie rechnen.«
»Was das erste Frühstück anbelangt, Sir?« fragte Mrs. Goldstraw. »Haben Sie einige besondere —«
Sie hielt ein und ließ den Satz unvollendet. Ihre Augen wendeten sich langsam von ihrem Herrn ab und blickten nach dem Kamin hin. Wenn sie eine weniger vortreffliche und erfahrene Haushälterin gewesen wäre, so hätte sich Mr. Wilding einbilden können, daß ihre Aufmerksamkeit schon am Anfang ihrer Unterredung abzuschweifen beginne.
»Acht Uhr ist meine Frühstückszeit,« nahm er das Gespräch wieder auf. »Es ist eine meiner Tugenden, daß mir gebratener Speck nie überdrüssig wird und eines meiner Laster, daß ich Eier stets mit Mißtrauen betrachte.« Mrs. Goldstraws Augen kehrten wieder zu dem Sprechenden zurück, aber sie weilten. nur halb auf ihrem Herrn und zur andern Hälfte auf ihres Herrn Kamin. »Ich trinke Thee,« fuhr Mr. Wilding fort; »und bin, was denselben anbetrifft, krankhaft peinlich; ich trinke ihn in einer genau abgemessenen Zeit nach seinem Fertig werden. Wenn mein Thee zu lange steht —«
Er hielt jetzt seinerseits ein und ließ den Satz unvollendet. Wenn er nicht im Besprechen eines Gegenstandes von so ungemeiner Wichtigkeit, als sein Frühstück begriffen gewesen wäre, so hätte Mrs. Goldstraw sich einbilden können, daß auch seine Aufmerksamkeit schon im Anfang des Gesprächs abzuschweifen beginne.
»Wenn Ihr Thee zu lange steht »Sir?« half die Haushälterin ein, höflich den Faden des Gesprächs wieder aufnehmend.
»Wenn mein Thee zu lange steht« – wiederholte der Weinhändler mechanisch, aber sein Geist verlor sich weiter und weiter hinweg vom Frühstück und seine Augen hefteten sich immer forschender auf die Züge der Haushälterin. »Wenn mein Thee – Himmelt Himmel! Mrs. Goldstraw Woran erinnert mich Ihre Art und Weise und Ihre Stimme? Es ergreift mich heute noch mehr als gestern, wo ich Sie zum ersten mal sah. Was kann es sein?«
»Was kann es sein?« wiederholte Mrs. Goldstraw.
Sie sprach die Worte und dachte augenscheinlich an ganz etwas anderes, als an das, was sie sprach. Der Weinhändler der sie noch immer forschend ansah, bemerkte, daß ihre Augen wieder und wieder nach der Kaminwand hinschweiften. Sie blieben an dem Portrait seiner Mutter hängen, welches sich dort befand und blickten es an. Sie zog ihre Brunnen leicht zusammen, wie man es bei einer kaum bewußten Anstrengung des Denkvermögens zu thun pflegt. Mr. Wilding erklärte:
»Meine geliebte verstorbene Mutter ist ihrem fünfundzwanzigsten Jahre.«
Mrs. Goldstraw bedankte sich mit einer leichten Kopfbewegung für die Mühe, die er sich nahm, ihr das Bild zu erklären und sagte wieder mit freier Stirn, daß es das Portrait einer sehr schönen Dame wäre.
Mr. Wilding fiel in sein früheres Sinnen zurück und versuchte auf’s Neue seine Erinnerungen aufzufrischen, die so genau und so unerklärlich sich an die Stimme und an die Art und Weise der neuen Haushälterin knüpften.
»Entschuldigen Sie eine Frage, welche freilich nichts mit mir oder meinem Frühstück zu thun hat,« sagte er. »Darf ich wissen, ob Sie je eine andere Stellung inne gehabt haben als die einer Haushälterin?«
»Ja, Sir. Im Anfange meiner Laufbahn war ich Kinderwärterin im Findelhause.«
»Ha! da ist es!« rief der Weinhändler seinen Stuhl zurückstoßend. »Beim Himmel. An deren Art und Weise erinnern Sie mich.«
Mrs. Goldstraw sah, ihn verwundert an und wechselte die Farbe. Dann nahm sie sich gewaltsam zusammen, senkte Je Augen zur Erde und verharrte schweigend und bewegungslos.
»Was ist Ihnen?« fragte Mr. Wilding.
»Verstehe ich Sie recht, Sir? Sie sind im Findelhause gewesen?«
»Gewiß. Ich schäme ich nicht, es einzugestehen.«
»Unter dem Namen, den Sie noch führen?«
»Unter dem Namen Walter Wilding.«
»Und die Dame?« – Mrs. Goldstraw hielt ein und warf einen Blick, der augenscheinlich von Angst und Unruhe sprach, auf das Portrait.
»Ist meine Mutter,« unterbrach sie Mr. Wilding.
»Ihre – Mutter,« wiederholte die Haushälterin gezwungen, »nahm Sie aus dem Findelhause? Wie alt waren Sie da,Sir?«
»Zwischen elf und zwölf Jahren. Es ist eine ganz romantische Geschichte, Mrs. Goldstraw.«
Er erzählte in seiner unbefangenen mittheilsamen Weise, wie eine Dame während der Tischzeit mit ihm gesprochen habe, als er und die andern Knaben im Findelhause beim Mittagbrod gewesen seien, und welche Folgen sich daran für ihn geknüpft hätten. »Meine arme Mutter würde mich nicht herausgefunden haben,« setzte er hinzu, »wenn nicht eine der Aufseherinnen, mit der sie gerade zusammentraf, Mitleiden gehabt hätte. Dieselbe willigte ein, den Knaben, welcher Walter Wilding genannt wurde, beim Herumgehen um die Tische anzufassen – und auf diese Art erhielt meine Mutter mich wieder, nachdem sie an der Thür des Findelhauses aus ewig Abschied von mir genommen hatte, als ich ein ganz kleines Kind gewesen bin.«
Bei diesen Worten sank Mrs. Goldstraw’s Hand vom Tisch, auf dem sie lag, in ihren Schooß. Die Haushälterin saß, ihren neuen Herrn anstarrend, mit einem Gesicht das todtenbleich geworden war und mit Augen da, die unsäglichen Schrecken ausdrückten.
»Was hat das zu bedeuten?« fragte der Weinhändler. »Halt!« rief er. »Es steht vielleicht noch etwas aus meiner Vergangenheit mit Ihnen in Beziehung. Ich erinnere mich, daß meine Mutter mir von einem Mädchen aus dem Findelhause erzählte, dem sie zu großem Dank verpflichtet war. Damals, als sie sich von mir getrennt hatte, verrieth eine der Kinderwärterinnen den Namen, der mir in dem Institut zuertheilt worden. Waren Sie die Kinderwärterin?«
»Gott vergebe mir, Sir – ich war es.«
»Gott vergebe Ihnen?«
»Wir thäten besser, Sir, wenn ich so frei sein darf, das auszusprechen, zu den Pflichten, die ich im Hause übernehmen soll, zurückzukehren,« sagte Mrs. Goldstraw. »Um acht Uhr frühstücken Sie. Nehmen Sie Mittags ein zweites Frühstück oder Ihr Diner ein?«
Die dunkle Röthe, die Mr. Bintrey in das Antlitz seines Clienten hatte aufsteigen sehen, begann sich aufs Neue zu zeigen. Mr. Wilding faßte mit der Hand an die Stirn und kämpfte eine augenblickliche Verwirrung, die dort herrschte, nieder, ehe er zu sprechen anfing.
»Mrs. Goldstraw! sagte er, »Sie verheimlichen etwas vor mir!«
Die Haushälterin wiederholte beharrlich: »Wollen Sie nicht so gütig sein, mir zu sagen, Sir, ob Sie Mittags ein zweites Frühstück einnehmen oder dinieren?«
»Ich weiß nicht, was ich Mittags thue. Ich bin nicht eher im Stande auf häusliche Angelegenheiten einzugehen, Mrs. Goldstraw, bis ich nicht erfahren habe, warum Sie die Freundlichkeit, die Sie meiner Mutter erwiesen haben, bereuen, eine Freundlichkeit, deren meine Mutter dankbar bis zu ihrem Lebensende gedachte. Sie erzeigen mir keinen Dienst mit ihrem Schweigen. Sie regen mich auf und beunruhigen mich. Sie beschwören das Sausen in meinem Kopf herauf!« Seine Hand faßte wieder nach der Stirn, und die Röthe in seinem Antlitz wurde tiefer und tiefer.
»Es ist traurig für mich, Sir,« sagte die Haushälterin, »gerade beim Eintritt in Ihren Dienst etwas gestehen zu sollen, was mir Ihre gute Meinung kosten kann. Bitte, wollen Sie sich erinnern, wie es auch enden mag, daß ich nur spreche, weil Sie darauf bestehen, und weil ich sehe, wie sehr ich Sie durch mein Schweigen beunruhige. Als ich der armen Lady, deren Portrait dort oben hängt, den Namen verrieth, den man ihrem Kinde im Findelhause gegeben hatte, verletzte ich allerdings meine Pflicht, und ich sehe, schreckliche Folgen – Folgen, die mich entsetzten – sind daraus erwachsen. Ich will die Wahrheit eingestehen, so gut ich es vermag. Wenige Monate, nachdem ich der Lady den Namen ihres Kindes verrathen hatte, erschien eine Dame vom Lande, eine Fremde, in dem Institut, welche den Wunsch aussprach eines unserer Kinder zu adoptieren. Die nöthige Erlaubniß dazu brachte sie mit, und nachdem sie eine Menge unserer Zöglinge gesehen hatte, ohne sich entschließen zu können, erfaßte sie eine plötzliche Zuneigung zu einem derselben – einem Knaben, – der unter meiner Aufsicht stand. Bitte, suchen Sie sich zu fassen, Sir, das Verheimlichen ist nicht mehr möglich. Das Kind, welches die Fremde mit sich nahm, war das Kind jener Dame, deren Bild hier hängt.«
Mr. Wilding starrte den Boden an. »Unmöglich!« rief er mit aller Gemalt, deren er fähig war. »Wovon sprechen Sie? Welche wahnsinnige Geschichte erzählen Sie mir? Hier hängt ihr Bild! Habe ich Ihnen das nicht schon einmal gesagt? Das Bild meiner Matter!«
»Wenn diese unglückselige Frau Sie in späteren Jahren aus der Anstalt nahm,« sprach Mrs Goldstraw so milde wie möglich, »so war sie das Opfer eines traurigen Mißverständnisses, und Sie waren es gleichfalls, Sir.«
Er sank in seinen Sessel zurück. »Das Zimmer geht mit mir herum,« rief er. »Mein Kopf! mein Kopf.«
Die Haushälterin sprang erschrocken auf und öffnete das Fenster. Ehe sie die Thür erreicht hatte, um nach Hilfe zu rufen, machte sich die Beklemmung, die Mr. Wildings Leben zu bedrohen schien, durch einen gewaltsamen Thränenstrom Luft. Er gab wiederholentlich der Mrs. Goldstraw Zeichen, ihn nicht zu verlassen. Sie wartete geduldig, bis der Weinkrampf sich beruhigt hatte. Als Mr. Wilding wieder Fassung gewonnen, richtete er den Kopf auf und sah Mrs. Goldstraw ärgerlich und argwöhnisch an, wie ein schwacher Mensch, der das ihm Unbequeme nicht glauben will.
»Mißverständniß?« fragte er zornig, ihr letztes Wort wiederholend. »Wie kann ich wissen, ob Sie nicht selbst im Irrthum sind?«
»Hoffen Sie nicht, daß ich mich irre, Sir. Ich will Ihnen den« Grund sagen, wenn Sie besser im Stande sind, ihn zu hören.«
»Jetzt! jetzt!«
Der Ton, in dem er sprach, überzeugte Mrs. Goldstraw, daß es eine grausame Gutmüthigkeit sein würde, ihn noch einen Augenblick länger sich mit der eitlen Hoffnung schmeicheln zu lassen, daß das Erzählte auf einem Irrthum beruhen könne. Wenige Worte mehr machten allem Zweifel ein Ende, und sie war entschlossen, diese wenigen Worte zu sprechen.
»Ich sagte Ihnen,« begann sie, »daß das Kind der Dame, deren Portrait dort hängt, von einer fremden Frau fortgenommen und adoptiert worden sei. Es ist so gewiß wahr, was ich sage, wie ich hier vor Ihnen sitze und gezwungen bin, Sie zu kränken. Bitte, folgen Sie mir im Geist in die Zeit zurück, als ein Vierteljahr über Ihre Aufnahme im Findelhause dahingegangen war. Ich befand mich damals in London, um einige Kinder von dort nach unsrer Anstalt auf dem Lande abzuholen. Man hielt Rath über die Taufe eines Kindes. – eines Knaben – der gerade aufgenommen worden war. Wir wählten die Namen gewöhnlich, ohne das Directorium zu befragen. Heute erschien zufällig einer der bei der Verwaltung betheiligten Herren und sah die Register durch. Er bemerkte, daß man den Namen jenes Kindes, welches adoptiert worden war, Walter Wilding, ausgestrichen hatte – offenbar aus dem Grunde, weil das Kind für immer unserm Wirkungskreis entzogen war. Hier ist ein Name, sagte er, gebt ihn dem Findling der heute aufgenommen ist. Man gab ihm den Namen, und das Kind wurde getauft. Sie, Sir, waren das Kind.«
Der Kopf des Weinhändlers fiel auf die Brust. »Ich war das Kind!« sagte er zu sich selbst einen ohnmächtigen Versuch machend diese Idee wirklich zu fassen. »Ich war das Kind!«
»Kurze Zeit nachdem Sie in der Anstalt verweilten, Sir,« fuhr Mrs. Goldstraw fort, " »gab ich meine Stellung auf, weil ich heirathete. Wenn Sie sich dessen erinnern wollen und wenn Sie sich entschließen können das Folgende scharf ins Auge zu fassen, so wird Ihnen selbst klar werden, wie dieser bedauerliche Irrthum, von dem wir reden, sich ereignen konnte. Elf bis zwölf Jahre verliefen, ehe die Dame, die Sie für Ihre Mutter gehalten haben, das Findelhaus wieder betrat um ihren Sohn zu suchen und mit sich nach Hause zu nehmen. Die Dame wußte nur, daß ihr Sohn Walter Wilding hieß. Die Aufseherin, welche sich ihrer mitleidig annahm, konnte ihr nur den Walter Wilding zeigen, der sich in der Anstalt befand. Ich, welche den Irrthum entdeckt haben würde, war fern von den Kindern und von allem was zu ihnen gehörte. Nichts, wirklich nichts konnte den traurigen Mißgriff, der geschah, abwenden. Ich empfinde mit Ihnen – gewiß, Sir, das thue ich. Sie werden denken – und mit Recht – daß es eine unselige Stunde war, die mich in Ihr Haus führte, ganz ahnungslos, das versichere ich, um mich nach der Haushälterinstelle umzuthun. Mir ist, als ob ich zu tadeln wäre – als ob ich mehr Selbstbeherrschung hätte entwickeln müssen. Wenn meine Mienen nicht verrathen hätten, an was mich dieses Portrait und ihre eigenen Worte erinnerten, Sie würden nie, selbst nicht auf ihrem Sterbebette, erfahren haben, was Sie jetzt wissen.«
»Mr. Wilding richtete sich plötzlich auf. Die angeborene Ehrlichkeit des Menschen sträubte sich gegen die letzten Worte der Haushälterin. Es schien, als ob seine Seele sich nach dem Schlag, der sie niederzuschmettern drohte, kräftig aufrichtete.
»Wollen Sie damit sagen, daß Sie es mir verheimlicht haben würden, wenn es möglich gewesen wäre?« rief er aus.
»Ich würde stets auf Befragen die Wahrheit gesagt haben, Sir, so hoffe ich von mir,« entgegnete Mrs. Goldstraw. »Und, so viel weiß ich, es ist besser für mich kein Geheimniß dieser Art auf meiner Seele lasten zu haben. Aber ob es besser für Sie ist? Wozu kann es Ihnen nützen.«
»Nützen? Allmächtiger! Wenn Ihre Erzählung eine wahre ist.—«
»Würde ich sie, in der Stellung, die ich inne habe, mitgetheilt haben, wenn sie nicht wahr wäre?«
»Entschuldigen Sie,« sagte der Weinhändler, »Sie müssen Nachsicht mit mir haben. Ich kann mir diese schreckliche Entdeckung jetzt nicht als wirklich darstellen. Wir haben uns so innig lieb gehabt – ich empfand mich ganz und gar als ihren Sohn. Sie starb, Mrs. Goldstraw, in meinen Armen – sie gab mir sterbend ihren Segen, wie nur eine Mutter ihn geben kann. Und nun, nach der ganzen Zeit zu erfahren, daß sie nicht meine Mutter war! O, Himmel! Himmel! Ich weiß nicht was ich rede!« rief er, als die Selbstbeherrschung die ihn das Vorhergehende hatte sprechen lassen, ins Wanken gerieth und unterlag. »Es ist nicht dieser schreckliche Kummer – es liegt mir etwas anderes im Sinn, von dem ich reden wollte. Ja, richtig! Sie haben mich überrascht – Sie haben mich tief gekränkt. Sie thaten so, als ob Sie mir alles verheimlicht haben würden, wenn Sie gekannt hätten. Lassen Sie mich das nicht wieder hören. Nur ein Verbrechensucht man zu verheimlichen. Sie meinen es gut, ich weiß es. Ich will Ihnen nicht wehe thun. Sie sind eine freundliche Seele. Aber Sie vergessen, in welcher Lage ich mich befinde. Sie hat mir alles was ich mein nenne in der festen Ueberzeugung hinterlassen, daß ich ihr Sohn sei. Ich bin nicht ihr Sohn. Ich habe den Platz unrechtmäßig eingenommen, ich habe unschuldiger Weise das Erbe eines andern Mannes im Besitz. Er muß aufgefunden werden. Kann ich wissen, ob er nicht in diesem Augenblick im Elend ist und keinen Bissen hat um seinen Hunger zu stillen! Er muß aufgefunden werden! Meine einzige Hoffnung dem Schlag, der mich getroffen hat nicht zu unterliegen beruht darauf, meine Handlungsweise so einzurichten daß sie sie billigen müßte. Sie wissen noch mehr, Mrs. Goldstraw, als Sie mir bis jetzt mitgetheilt haben. Wer war die Fremde, welche das Kind adoptiert hat? Sie müssen den Namen der Dame gehört haben.«
»Ich habe ihn nie gehört, Sir. Und habe sie nie wieder gesehen und nichts wieder von ihr vernommen.«
»Sagte sie nichts, als sie das Kind mit sich nahm? Spähen Sie in ihrem Gedächtniß nach. Sie muß etwas gesagt haben.«
»Nur auf Eines kann ich mich besinnen, Sir. Es war auffallend schlechtes Wetter in dem Jahre, und die Kinder kränkelten viel. Als sie den Knaben mitnahm, sagte sie freundlich zu mir: »Beunruhigen Sie sich nicht seiner Gesundheit wegen. Er wird in einem schöneren Klima als dies ist groß werden. – Ich gehe mit ihm in die Schweiz.«
»In die Schweiz? In welchen Theil der Schweiz?«
»Das hat sie nicht gesagt, Sir.«
»Nur diesen schwachen Anhalt! sagte Mr. Wilding. »Und ein Vierteljahrhundert ist vorübergegangen, seitdem das Kind fortgeholt ist! Was soll ich thun?«
»Ich hoffe, Sie halten mir meine Offenheit zu gut, Sir," sagte Mrs Goldstraw. »Aber weshalb sich grämen, möglicherweise ist er nicht mehr am Leben, wer kann es wissen? und sollte er leben, so ist es nicht wahrscheinlich daß es ihm schlecht ergehe. Die Dame, welche ihn an Kindes statt aufnahm, war eine vornehme, wohlhabende Frau – das konnte man gleich erkennen. Auch muß sie sich darüber ausweisen, den Knaben erziehen zu können, sonst überläßt man ihr kein Kind. Wenn ich in Ihrer Stelle wäre, Sir – entschuldigen Sie, daß ich mir die Freiheit nehme, so zu sprechen – ich würde mich in dem Gedanken beruhigen, daß ich die arme Lady, deren Portrait dort hängt, geliebt hätte – in Wahrheit geliebt hätte, wie eine Mutter und daß sie mich in Wahrheit geliebt hätte, wie ihren Sohn. Alles, was Sie von ihr besitzen, hat sie Ihnen um dieser Liebe willens gegeben. Diese Liebe war unverändert, so lange sie lebte und würde sich nicht verändert haben, so lange Sie lebten, dessen bin ich gewiß. Giebt es ein besseres Recht, Sir, auf das, was Sie besitzen?«
Mr. Wildings nicht zu beirrende Ehrlichkeit erkannte die schwache Seite in der Ansicht seiner Haushälterin auf den ersten Blick heraus.
»Sie verstehen mich nicht« sagte er. »Gerade weil ich sie geliebt habe, empfinde ich es als eine Pflicht eine heilige Pflicht gerecht gegen ihren Sohn zu handeln. Wenn er am Leben ist, muß ich ihn auffinden; meinetwegen so gut als seinetwegen. Ich würde zusammenbrechen unter dieser schrecklichen Prüfung, wenn ich mich nicht beeiferte – dringlich und schleunig beeiferte – das zu thun, was mein Gewissen mir als Nothwendigkeit vorschreibt. Ich muß mit meinem Advocaten sprechen; ich muß Alles in Bewegung setzen, noch ehe ich schlafen gehe.« Er ging auf das Sprachrohr, welches sich in der Wand des Zimmers befand, zu und rief etwas in das Bureau hinab. »Verlassen Sie mich, Mrs. Goldstraw,« fuhr er fort. »Ich werde später gesammelter und mehr dazu fähig sein, mit Ihnen zu sprechen. Wir werden gut mit einander auskommen – ich hoffe, wir werden gut. mit einander auskommen – trotz alledem, was sich ereignet hat. Sie können nicht dafür. Ich weiß, Sie können nicht dafür. So! so! schütteln mir uns die Hände und thun Sie Ihr Möglichstes für meinen Haushalt. – Ich hin nicht im Stande, darüber mit Ihnen zu sprechen.«
Die Thür öffnete sich gerade, als Mrs. Goldstraw darauf zuging und Mr. Jarvis erschien.
»Schicken Sie zu Mr. Bintrey,« sagte der Weinhändler. »Zeigen Sie ihm an, daß ich ihn sogleich zu sprechen Wunsche.«
Der Schreiber schob unhefugter Weise die Ausführung des Befehls dadurch hinaus, daß er Mr. Vendale« meldete und den neuen Theilnehmer der Firma Wilding und Co. auch sogleich eintreten hieß.
»Wollen Sie mich auf einen Augenblick entschuldigen, George Vendale,« sagte Wilding. »Ich habe Jarvis noch ein Wort zu sagen. Schicken Sie zu Mr. Bintrey,« wiederholte er. »Schicken Sie sogleich!«
Ehe Mr. Jarvis das Zimmer verließ, legte er noch einen Brief auf den Tisch.
»Von unserm Correspondenten aus Neuschatel, glaube ich, Sir. er Brief trägt die Schweizer Postmarke.«