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Оглавление1. Die Reise beginnt
Mein Name ist Ulan.
Bis zu meinem zehnten Geburtstag hieß ich Jonn.
In der Welt, in der ich lebe, ist es nichts Besonderes, im Laufe der ersten Lebensjahre einen zweiten Namen zu erhalten. Die neugeborenen Kinder bekommen den ersten Namen nur, damit man sie rufen kann. Er ist es lediglich von Bedeutung, um das Geschlecht zu bestimmen. Dann beginnt das große Spiel, das wir das Leben nennen, und die Dinge nehmen ihren Lauf. Wir bilden Eigenschaften und Charakterzüge aus, die in ihrer Gänze unsere Persönlichkeit formen. In dieser Zeit zeichnen wir uns durch ganz individuelle Begabungen aus, und genau die führen die Eltern zu unserem Erwachsenennamen.
In meiner Erinnerung bin ich zehn Jahre alt, als mein Vater entsetzlich unter der Frage leidet, ob er meine Schwester Liss mit Okdar Genrot, dem Yarl des Nachbarstammes, vermählen soll. Heute ist Genrot lange tot, aber meine Bilder von diesem selbstgerechten, feisten, alten Mann sind unauslöschlich: Fettiges Haar, das das runde schweinsäugige Gesicht über dem viel zu kurzen Hals schütter umrahmt. Ein Bauch wie ein Metfass und die Beine geformt, als wäre er ewig auf diesem Fass geritten. Vielleicht roch er gar nicht so streng, wie meine kindliche Erinnerung mich glauben machen will, aber der unangenehme Beigeschmack bleibt mir bis an das Ende meiner Tage.
Liss, fünf Jahre älter als ich, ist nun fünfzehn und damit im heiratsfähigen Alter. Der Yarl hat einen Boten mit dem Antrag in unsere Siedlung geschickt. Okdars erste Frau ist seit über zwanzig Sonnenkreisen an seiner Seite und entspricht in ihrer äußeren Erscheinung und mit ihren körperlichen Fähigkeiten in keiner Weise mehr dem, was der Yarl unter einer standesgemäßen Gemahlin versteht. Mein Vater kennt die Beweggründe des Fürsten und, obwohl der mit einer solchen Verbindung einhergehende Standeswechsel ihn sehr verlockt, weigert sich das liebende Herz in seiner Brust, dem Wunsch des Yarl zu entsprechen. Er ist außer sich vor Sorge und kommt zu keiner Entscheidung. Ich sehe ihn abmagern, und nur noch selten huscht das so vertraute liebevolle Lächeln über sein Gesicht.
In einer dieser sorgendurchtränkten Nächte habe ich einen Traum: Eine Eule kommt in die Schlafkammer geflogen. Sie setzt sich an das Fußende meines Lagers. Es ist ein wunderschöner Vogel, umgeben von einem geheimnisvollen Schein, der mich wohlig erschauern lässt. Noch nie habe ich eine Eule so nah gesehen. Doch kaum ist sie gelandet, nimmt sie die Gestalt meiner Großmutter, der Mutter meines Vaters, an.
„Geh zu deinem Vater und stell‘ ihm folgendes Rätsel:“, spricht sie mit einer so angenehmen, warmen Stimme, dass das letzte bisschen Angst von mir abfällt. „Du hast es, und es wird immer weniger, wenn du es anwendest. Du hast es, und es wird immer mehr, wenn du es anwendest.“ Dann verwandelt sie sich wieder in die Eule. Anmutig und so geräuschlos, wie es Eulenart ist, fliegt sie zurück in das Mondlicht.
Als ich am Morgen erwache, erinnere ich mich an den Traum, aber nicht an den genauen Wortlaut des Rätsels. Aufgeregt erzähle ich meinem Vater von dem Traum. Aber die ungeheure Last, die auf seinen Schultern liegt, verhindert sein Zuhören. In einem halbherzigen Versuch, mich zu beruhigen, streichelt er meine Wange und versinkt wieder in seinen angstvollen Gedanken. Heute wird er dem Yarl Liss‘ Hand zusprechen.
„Dann wird unser Reichtum sich wie von allein vermehren“, sagt er – es ist ein hilfloser Versuch, sich selbst zu trösten.
Bei diesen Worten fällt mir das Rätsel wieder ein. Ich stelle es ihm: „Du hast es, und es wird immer weniger, wenn du es anwendest. Du hast es, und es wird immer mehr, wenn du es anwendest.“
Mein Vater wird blass. „Woher kennst du dieses Rätsel?“ Er zittert am ganzen Leib. Nun, seit Wochen zum ersten Mal, ist seine Aufmerksamkeit ganz bei mir, suchen seine klugen grünen Augen die meinen. „Meine Mutter hat es nur für mich erdacht. Kein Mensch hat je davon erfahren. Dieses Rätsel war unser Geheimnis. Sie war fest davon überzeugt, dass die Lösung dieses Rätsels mich eines fernen Tages von großer Last befreien würde. Du hast es, und es wird immer weniger, wenn du es anwendest – das ist das Geld! Du hast es, und es wird immer mehr, wenn du es anwendest – das ist die Liebe!“
Er fasst allen Mut und macht sich auf den weiten Weg zum Yarl. Der tobt und gelobt Rache. Noch heute male ich mir gern aus, wie sein ganzer fetter Leib dabei bebt, und ich versuche mir vorzustellen, wie Wut und Zorn aus seinen Schweinsaugen sprühen. Aber das hilft ihm nichts, denn ohne Zustimmung der Eltern ist es auch einem Yarl nicht gestattet, ein Weib zu freien.
Als mein Vater am folgenden Abend heimkehrt, ruft er mich zu sich. Er ist so ernst wie nie zuvor, und da ist noch etwas, das ich bisher nie an ihm bemerkt habe und das mir, einem zehnjährigen Milchbart, bis dahin auch noch nie jemand entgegengebracht hat: Respekt. Ich stehe ihm gegenüber. Er legt seine rechte Hand auf meine Schulter.
„Jonn, was dir widerfahren ist, kann kein einfacher Traum gewesen sein. Keine Traumfigur hätte unser Rätsel kennen und es gerade jetzt zu mir bringen können. Unser Volk weiß schon lange, dass Eulen keine einfachen Vögel sind. Sie besitzen die Schlüssel zu allen Welten und fliegen zwischen ihnen hin und her. So verkehren sie zwischen den Lebenden und den Toten. Sie fliegen durch das Loch in der Zeit und tragen uns die Worte der Ahnen zu. Aber nur ganz auserwählte Menschen können diese Botschaften empfangen. Du, Jonn, bist auserwählt. Von heute an sollen alle dich Ulan nennen. Denn du bist der Baum, auf dem die Eulen landen, wenn sie die Worte der Ahnen verkünden. Du bist der Eulen-Ahne: Ul-An! Ich bin unendlich stolz auf dich, mein Sohn, und ein ganz klein wenig fürchte ich mich vor deiner Macht.“
Er küsst mich zärtlich. Er küsst ein Kind. Dann legt er seine linke Hand auf meine rechte Schulter. Mit beiden Händen zieht er mich an sich und umarmt mich. Es ist eine Umarmung unter Männern.
Jonn ist Vergangenheit.
Meine Kindheit ist Vergangenheit.
~
Wir nennen unsere Heimat Midgard, denn sie existiert genau in der Mitte zwischen Himmel und Erde. Noch immer lebe ich in derselben Siedlung. Sie liegt auf einer großen Lichtung, umgeben von einem riesigen Wald. Unser Wald ist so unendlich groß, dass noch nie ein Mensch an seinen Rand gelangte. Es sei denn, er wandte sich nach Norden, denn im Norden grenzt der Wald an das Meer. Der Weg dorthin ist lang. Er dauert viele Wochen.
Zuweilen suche ich Ruhe auf einer abgelegenen winzigen Lichtung – ein Ort stiller Schönheit, verborgen im undurchdringlichen Schattenreich des Waldes. Vor Jahren schon habe ich einen Kreis aus Steinen um den Rand der Lichtung gelegt. Steht die Sonne tief, treffen ihre Strahlen in goldenen Linien aus dem hohen Holz auf das satte Grün der Wiese, dann erstrahlen die Steine. Dann ist die Magie vollkommen und dringt tief ein in mein Herz.
Einmal ging ich auf dem schmalen Pfad zu meinem Lieblingsplatz. Es war einer der ersten sonnig-warmen Frühlingstage des Jahres. Mein Weg führte mich durch den lichten Birkenhain, vorbei an dem mächtigen, Odin geweihten Stein, in dessen Schatten wir noch vor wenigen Monden das Fest der Wintersonnenwende begangen hatten. Der vergangene Sonnenumlauf war gut und ertragreich gewesen und hatte uns in die glückliche Lage versetzt, den Göttern reichlich zu opfern.
Nun zeigten sich die Asen erkenntlich und schenkten uns eine Zeit des Friedens. Die Fehden unter den Stämmen waren auf den Things der vergangenen Monde beigelegt worden. Ja, sogar die Streitigkeiten innerhalb der Familien unseres Stammes ruhten in diesen Tagen. Neid, Missgunst und böser Leumund waren auf wundersame Weise zur Ruhe gekommen. Herz und Hirn konnten sich nun persönlicheren Angelegenheiten zuwenden.
Meine Füße traten leicht auf unter dem langsam erwachenden Laubmeer. Die Maibäume, die die Ahnen nach der Frühlingsgöttin Berkana ‚Birken‘ genannt haben, sangen leise, aber unüberhörbar das uralte Lied von Geburt und Wiedergeburt. Mit jedem Schritt, der mich von der Siedlung fort in das Herz des Waldes hineinführte, umfing mich der Odem der Götter spürbarer, fielen Alltagslast und Alltagsmühe von mir ab. Bald erreichte ich die Runde der heiligen Steine. Ich betrat den inneren Kreis – näherte mich der Stille, die ich als Pforte in die Welt der Götter bereits so lange Zeit nutzte. Langsam und bedächtig setzte sie ein. Schon verblassten alle Worte, diese geschliffenen Waffen des Geistes, in meinem Hirn. Immer deutlicher kam das endlose Rad der Sprache zum Stehen, bis endlich die Bilder direkt in mein Herz drangen, bis aus Gedanken Gefühle wurden.
Das Wissen vieler Generationen hatte mich gelehrt: Erst, wenn die Gedanken ruhen, können wir unseren Fuß auf das Idafeld setzen – öffnen sich die Tore Asgards. Bis dorthin hatte ich es bisher nie geschafft. Ich erreichte in diesem Moment einen gleichmäßig dahinplätschernden Bach. Klares Wasser umspülte glänzende Steine. Beruhigendes Murmeln redete in der Sprache der drei Welten. Die Stille in mir war nun vollkommen. Da war nur das Wasser, klar und rein, ständig sich erneuernd und doch unendlich. Mein Herz lauschte, denn das gleichmäßige Murmeln des Wassers verwandelte sich in ein nie gehörtes Runenlied:
Ein Esch und eine Ulme, die waren an Land gespült.
Die Macht der Gezeiten gab ihnen ein Bild.
Und Hönir sprach zu Odin: „Sieh ‘, diese Stämme hier, die haben eine Form, die sehen fast aus wie wir. “
Da sprach der Vater aller: „Das kann kein Zufall sein.“ Nahm einen Hauch voll Leben und gab es ihnen ein.
Er legte seine Hände
auf das tote Holz
und gab den beiden Stämmen
Atem und Puls.
Auch Hönir trat nun näher,
bedächtig war sein Schritt,
bedachte klug und weise:
„Was geb‘ ich ihnen mit?“
Er leg‘t auf Esch und Ulme die göttliche Hand und gab den neuen Wesen Erinnerung und Verstand.
Und Odin sah zu Loki mit schmunzelndem Gesicht:
„Mich düngt, mein Freund, die beiden gefallen dir nicht.
Dann mach du sie anders, besser noch als wir.
Gib ihnen für die Zukunft auch etwas von dir. “
Da dachte Loki lange mit scharfem Verstand, dann trat er zu den Wesen und senkte seine Hand und sprach mit leiser Stimme:
„Ich schenk‘ euch dafür, dass ihr nicht nur kluge Tiere seid, die Liebe und den Hass. “
Danach war es still …
Ich spürte noch lange in diese Stille hinein, aber die Götter blieben stumm. Langsam stellten sich die Worte in meinem Kopf wieder ein. Verwirrt kehrte ich um zur Siedlung, machte mich auf den Weg nach Haus.
~
Viele Tage waren vergangen, seit die Götter mir das Runenlied geschenkt hatten. Der Mond füllte sich zum wiederholten Male, und doch ließen Verwirrung und Staunen in mir nicht nach. Natürlich kannte ich die Geschichte, die Alten erzählten sie seit undenklichen Zeiten an den Winterfeuern. Es war die Geschichte der ersten Bewohner Midgards: Der Mann hieß Ask, und dies war das alte Wort für die Esche. Die Frau nannten die Götter Embla, und dies war der alte Name der Ulme. Sie hießen schlicht nach den Baumstämmen, aus denen sie gemacht worden waren.
So war es in den Runenstein geschlagen.
Aber noch nie war mir zu Ohren gekommen, dass auch Loki seinen Teil dazu beigetragen hätte. Loki, der bisher nur den Ruf des Pendlers zwischen den Welten, des Tricksters und zu guter Letzt des Auslösers des Untergangs der Alten Welt trug. Loki, zu dem ich eine innige Nähe verspürte – obwohl oder gerade weil er diesem ständigen Wechsel zwischen gutem und bösem Tun unterlag. Aber, wenn nun Loki sogar an der Menschwerdung mitgewirkt haben sollte, dann wäre meine Liebe zu ihm legitim. Kein Bewohner der Siedlung könnte mich anfeinden für Opfergaben an einen Menschenschaffer.
Um diese Frage zu klären, musste ich eine Reise antreten. Ich wusste, der Weg würde aufregend und anstrengend werden. Ich würde tief in die Häuser der Asen eindringen müssen. Ich würde mir das Vertrauen der Götter ernsthafter und opferbereiter verdienen müssen, als ich mir auszumalen wagte.
So begann ich meine Reisevorbereitungen. Zwischen zwei vollen Monden wusch ich täglich meinen ganzen Körper. Das löste in der Siedlung allgemeine Heiterkeit aus, und nicht nur einmal wurde ich gefragt, wer denn die Schöne sei, für die ich meinen Leib so hingebungsvoll salbte. Ich aß keine zubereitete Mahlzeit in dieser Zeit, sondern trank nur klares Wasser – das Fasten sollte mich reinigen. Die Götter wurden auf mich aufmerksam, ich erkannte es daran, dass sie meinen Körpergeruch unangenehm werden ließen. Trotz all meiner Waschungen stank ich. Mir war, als würde aus mir alles Niedrige, Böse und Anrüchige verdunsten. Der Gestank verging, und schon bald erfüllte mich eine nie zuvor gekannte Kraft. Meine Stimmung war gut, zuweilen geradezu beängstigend heiter, und so spürte ich bald, dass der rechte Zeitpunkt für den Beginn meiner Reise gekommen war.
Frohen Mutes und getragen in der Hoffnung auf Antwort, brach ich in der Nacht des fünften Vollmondes im Sonnenkreis auf. Zuerst führte mich mein Weg zu der Lichtung im Wald, an der ich die Runen empfangen hatte. Wie groß war jedoch meine Verwunderung, als ich an der vermuteten Stelle keinen Bach mehr fand. Immer weiter ging ich in den Wald, und nach anderthalb Tagen befand ich mich tiefer zwischen den Bäumen, als je ein Stammesmitglied gegangen war.
Unsere tapfersten Jäger hatten diesen Tann noch nie durchstreift. Auch mir war der Forst hier vollkommen fremd. Irgendwann wurde der Boden unter meinen Füßen immer weicher. Meine Schritte hinterließen keine Geräusche mehr – lautlos folgte ich dem Ruf der Wildnis.
Zuweilen versperrten tiefe und übel riechende Sümpfe meinen Weg. Sie waren die Tore zur dritten unserer Welten, Udgard – dem Sitz Hels, einer Tochter Lokis. Ich ahnte noch nicht, wie nahe ich ihr auf einer späteren Wanderung noch kommen würde, wusste nichts von ihrer wahren Art.
Zu dieser Zeit, auf meiner ersten großen Wanderung, war sie für mich schlicht die Herrin des Totenreiches und damit eine Göttin, der ich auf keinen Fall zu begegnen gedachte. Aber, je öfter ich die Tore Udgards umgehen musste, je weiter entfernte ich mich von meinem geplanten Weg. Doch schon die Alten rieten: Wenn du die Götter zum Lachen bringen willst, mach‘ einen Plan!
Immer unbekannter wurde die Landschaft, immer unsicherer wurden meine Schritte. Ich bemerkte, wie die Kräfte mich langsam verließen, und bereute nun jeden Bissen, den ich nicht gegessen hatte. Der zweite Tag ergab sich der Nacht, und das Abendrot tauchte das Tal in Feuer – Feuer, Feuer überall! Aus allen Gräsern brachen Flammen. Die Äste und Zweige der Bäume griffen mit brennenden Fackeln nach mir. Schon brannte mein Leib.
Dann war es Nacht. Es musste die Mutter aller Nächte gewesen sein. Noch nie war eine Nacht so schwarz, so tief und so allumfassend.
Als ich aus der Dunkelheit auftauchte, war ich der Meinung, in eine Ohnmacht gefallen zu sein. Ich war sicher, dass meine Erschöpfung mich in diese Bewusstlosigkeit geführt und so die Erinnerung an die letzten Kilometer meiner Wanderung gelöscht hatte. Eines war klar: Die Lichtung, auf der ich mich nun befand, hatte ich noch nie gesehen. Helles Blau überstrahlte eine saftige Wiese. Eine Wehrmauer übermenschlichen Ausmaßes begrenzte die grüne Fläche im Süden. Im Norden befand sich ein Waldessaum, im Osten das Ufer eines grenzenlos erscheinenden Sees, und im Westen erhob sich ein himmelhohes Gebirge. Es war von einem Regenbogen überspannt, der, sich hinter den Bergen erhebend, seinen Bogen direkt hier, auf der Wiese, zu einem Ende schlug. Das Allererstaunlichste jedoch waren die Apfelbäume, unter denen ich lief, denn die Äpfel waren reif. Das aber konnte nicht sein, denn ich war absolut sicher, fünf Umläufe vor dem Erntemond meine Wanderung angetreten zu haben.
Voller Ehrfurcht näherte ich mich einem der Bäume. Unendlich langsam griff meine Hand nach einer Frucht. Zärtlich, fast liebevoll, umspannten meine Finger den Apfel. Ich hatte Hunger.
„Halt!“, rief eine nicht unangenehme, aber durchaus befehlsgewohnte Frauenstimme. Schlagartig drehte ich mich um und schaute ein Antlitz von göttlicher Schönheit. „Ich bin Iduna“, sagte die Schöne.
Sie hat meine Gedanken gelesen, dachte ich und fiel vor der Asin auf die Knie.
„Steh auf!“, sprach sie und lächelte, als ich mich folgsam erhob. „Du möchtest also erfahren, was es mit der letzten Strophe des Runenliedes auf sich hat?“ Die Göttin dämpfte ihre Stimme.
„Woher wisst Ihr …?“, rief ich leichtfertig und unterbrach mich, denn im selben Moment fiel mir ein, dass es für eine Göttin ein Leichtes sein musste, über die Geschehnisse in Midgard unterrichtet zu sein. Stattdessen stammelte ich schüchtern: „Ja, das möchte ich“ und senkte meinen Blick. Zu gerne nur hätte ich in dieses wunderschöne Gesicht geschaut, aber ich hatte von plötzlichen Versteinerungen und spontanen Erblindungen gehört, die dem widerfahren könnten, der direkt in das Antlitz eines Gottes schaute.
„Nun, schau mich schon an! Der Blitz wird dich nicht treffen!“, sagte Iduna und schmunzelte.
An die Sache mit dem Gedankenlesen würde ich mich wohl erst gewöhnen müssen. Für den Augenblick schien mir jedoch nichts angenehmer, als ihrer Aufforderung zu folgen. So hob ich meinen Blick – und erkannte den wahren Sinn des Ausdrucks ‚blendende Schönheit‘. Iduna war schöner als alles, was ich bisher gesehen hatte. Der strahlende Mittelpunkt dieser göttlichen Anmut jedoch war ihr Lächeln. Wenn die Götter die Menschen nach ihrem Ebenbild gemacht hatten, dann bewies sich dies allein dadurch, dass jeder Mensch um ein Vielfaches schöner wurde, wenn er lächelte.
Iduna schien ungeduldig zu werden, denn ihr Lächeln gefror plötzlich. „Stell mir nun deine Fragen!“, forderte sie mich auf.
„Die Runen aus dem Bach“, begann ich zu erzählen, „haben gesagt, Loki habe der Esche und der Ulme Liebe und Hass eingeflößt. Nun bin ich mir nicht sicher, ob …“ Ich überlegte, wie ich meine Frage formulieren sollte.
Iduna nickte mir aufmunternd zu. „Und, weiter?“
„Darf ich das meinem Volk verkünden? Loki ist für uns von eher zweifelhaftem Wesen, und nun sagt Ihr mir bitte, ob ich die Götter verärgere, wenn ich das Gegenteil behaupte!“
Iduna lächelte wieder. „Egal, welche Welt du durchwanderst: Wonach sind die Menschen gemacht?“
„Nach dem Ebenbild der Götter.“
„Zweifelst du daran?“
Ich erschrak. „Bei Odin! Nein!“
„Dann schildere mir die Menschen“, forschte die Göttin weiter.
„Sie bauen auf und reißen nieder“, beschrieb ich meinesgleichen. „Sie können heute hassen, wen sie gestern geliebt haben, und umgekehrt. Sie machen Fehler, und sie können aus diesen Fehlern lernen. Sie …“
„Gut. Gut. Gut. Halte ein!“, befahl sie. „Schildere nun Loki, oder doch das, was ihr in Midgard von ihm wisst.“
Ich dachte nach. Mir fielen dieselben Attribute ein, die ich eben an die Menschen vergeben hatte. Iduna, die natürlich wieder meine Gedanken gelesen hatte, nahm diese bereits als Antwort und fuhr fort:
„Wenn nun aber die Götter die Menschen nach ihrem Ebenbild gemacht haben, und wenn Loki dieselben Eigenschaften zukommen wie deiner Art, wessen Ebenbild, meinst du, entsprecht ihr dann?“
„Aber …“ Mir schwindelte. „Bedeutet das dann nicht, dass all unsere Fehler, unsere Zweifel, unser Sehnen und Hoffen, dass all das Hinfallen und Wiederaufstehen göttlicher Natur ist?“
„Ahh“, lächelte die Göttin mich zärtlich an. „Du erwachst, mein Freund.“ Sie hob leicht die Augenbrauen. „Aber erst, wenn ihr das erkennt, könnt ihr beginnen, euch selbst zu lieben. Berichte deinen Leuten von Loki und seinem Geschenk an euch. Sage ihnen, dass Liebe und Hass zwei Seiten derselben Münze sind. Sie gehören zu dem großen Spiel, sind der Inbegriff des ewigen Wandels, den ihr in Midgard ‚das Leben‘ nennt.“
Ungläubig sah ich Iduna an, doch sie erriet, was ich dachte.
„Das ist es, was Loki euch sagen will: Odin ist weise, aber du kannst nicht immer weise sein. Thor ist stark, aber du kannst nicht immer stark sein. Tyr ist gerecht, aber du kannst nicht immer gerecht sein. So kann die lange Reihe der Götter aufgezählt werden, und da ist keiner, dem ihr gleicht. Doch Loki? Alle in Asgard vertrauen ihm und lieben ihn, verzeihen ihm seine Tricksereien. Er ist der Schalk, der uns zum Lachen bringt, und der Narr, der uns den Spiegel vor Augen hält – ebenso seid ihr, Menschen von Midgard. Mit eurer Narretei zeigt ihr uns unsere Unzulänglichkeiten. Ihr seid der Maßstab, an dem wir gemessen werden, und da sieht es nicht immer gut für uns aus.“ Iduna sah mich großherzig an. „Wenn eines Tages alle Götter sterben“, sagte sie leise, fast flüsternd, „wird Loki leben, denn er lebt in euren Taten, in Liebe und Hass.“
„Ihr?“, fragte ich mit leichtem Entsetzen. „Was sollte Euch denn geschehen? Seid Ihr doch unsterblich. Selbst die Sage von der Götterdämmerung scheint mir ein Märchen zu sein. Stehe ich doch jetzt hier, vor Euch.“
„Weil du an mich glaubst“, antwortete Iduna mit mildem Blick. „Götter sterben, wenn niemand mehr an sie glaubt. Sie leben von der Kraft der Gedanken und des Gedenkens – Humin und Munin. Das ist nicht besonders göttlich. Glaubt niemand mehr an dich – Wanderer – sehen die Freunde durch dich hindurch, fragen die Kinder dich nicht um Rat, bitten die Alten dich nicht um Hilfe, bist auch du tot!
Du glaubst, meine Aufgabe sei es, diese Äpfel zu hüten? Doch sei gewiss, dass es um viel mehr geht: Diese Früchte bergen eine wundersame Kraft, in der die Gesundheit der Asen gründet – doch diese Gesundheit versiegt, wenn man sie nicht hütet. Ihr Verlust ist die einzige Gefahr, der sogar die Götter ausgeliefert sind. Höre! Die Äpfel sind der Jungbrunnen der Asen. Wir müssen sie essen, um nicht zu altern. Aber es gab eine Zeit, da war ihre Art in Gefahr. Vor unsagbar langer Zeit hatte sich der Riese Thaizi in einen riesigen Adler verwandelt. Mit einer List näherte er sich Loki, packte den Ahnungslosen und schleppte ihn über Stock und Stein. Tiefe Wunden übersäten Lokis Leib. Seine Schmerzen müssen unerträglich gewesen sein.
‚Laß mich los!‘, flehte Loki. Doch nichts half.
‚Ich lass dich los, wenn du schwörst, mir Iduna und ihre Äpfel zu bringen‘, sprach der Riesenadler.
‚Ich verspreche es!‘, versicherte der geschundene Gott. Da ließ Thaizi den zerschlagenen Loki fallen.
Loki erwachte aus seiner Ohnmacht in Bilskirnir, Thors Palast, wo er von Frey, Sygn und mir gepflegt wurde. Die Tage vergingen und Loki gewann an Kraft und Gesundheit. Doch, als würde der grausame Adler noch immer seine Kreise über ihm ziehen, schwebte sein unsägliches Versprechen in der Luft.
‚Weißt du eigentlich, dass vor den Toren Asgards Äpfel reifen, die größer und schmackhafter sind als die deinen?‘, säuselte er honigsüß.
Ich war sofort erfüllt von brennender Neugier. Loki musste gar nicht lange bitten, bis ich mit ihm ging.
‚Nimm deine eigenen Äpfel mit‘, sprach er weiter, ‚dann kannst du sie sofort mit den Äpfeln vor dem Tor vergleichen.‘
Das leuchtete mir ein. Doch kaum hatten wir, mit einem Korb voller Früchte, die schützenden Mauern Asgards verlassen, senkte sich ein riesiger Schatten auf das Land. Es war Thaizi, der als Adler auf mich herabschoss und mich mit wildem Schrei in das Wolkenmeer entführte. Lange Tage blieb ich in seiner Burg, und die Götter litten unter dem Verlust der Äpfel. Sie begannen zu altern, sodass das ganze Geschlecht der Asen in Gefahr war … Loki wanderte durch Asgard und erkannte den schlimmen Verrat, den er begangen hatte, in jedem Gesicht. Der Frevel lag schwer auf seinen Schultern. Halb wahnsinnig von der Last seiner Lüge, stellte er sich eines Tages Odin und gestand ihm seine Tat. Außer sich vor Wut und Enttäuschung rief Odin den Hohen Rat ein. Es wurde beschlossen, Loki zu ächten.
Doch die Enthüllung seiner Schandtat hatte Loki gleichsam darin bestärkt, und so erbot er sich, mich aus Thaizis Gewalt zu befreien. Er bat Freyja um ihr Falkengewand, um als Falke verwandelt zu Thaizis Burg zu fliegen. Hier fand er mich in meinem Kerker. Ich war unversehrt, aber traurig. Wie staunte ich, als ein Falke durch die Gitterstäbe meines Kerkerfensters hereingeflogen kam. Er landete genau vor meinen Füßen, und langsam erwuchs aus dem Federkleid des Greifes Loki.
‚Geht es Dir gut?‘, fragte er. Sein Mitgefühl schien echt, allein der unsäglich besorgte Klang seiner Stimme ließ mich seinen Verrat vergessen.
Ja. Aber ich muss nach Asgard zurückkehren, denn die Asen sterben ohne mich.‘
‚Ich weiß. Gestatte mir einen Zauber!‘, schlug Loki vor.
Natürlich war ich einverstanden. ‚Was muss ich tun?‘, fragte ich ihn.
‚Setz dich auf deinen Stuhl und nimm den Korb mit den Äpfeln auf deinen Schoß‘, wies er mich an, und ich folgte.
Loki sprach, oder besser flüsterte, einen Seidhr. Den Rest der Geschichte kenne ich selbst nur aus Erzählungen. Er verwandelte mich in einen Haselzweig mit Blatt und Nuss, und als Falke trug er mich über die Wolken Richtung Asgard. Doch Thaizi bemerkte den Raub und folgte uns in Adlergestalt mit wildem Flug. Der Falke jedoch war schnell und gewandt. Kurz vor dem Ar erreichte er die Mauern Asgards und ließ mich auf das Idafeld fallen. Die Asen hatten den heranstürmenden Adler längst bemerkt. Sie spannten ihre Bögen und töteten den wilden Greif in vollem Flug. Der Seidhr verließ mich, sobald ich den geheiligten Boden Asgards berührte, und ich nahm meine wahre Gestalt wieder an.
So war das damals …“, schloss Iduna versonnen. Deutlich konnte ich ihr die Last der Erinnerung ansehen.
‚Und Loki? Was geschah mit ihm?‘, wollte ich wissen.
‚Loki ist Loki!‘, antwortete die Göttin, während eine leichte Röte ihr wunderschönes Antlitz überzog.
‚Sie liebt ihn!‘, dachte ich erstaunt, doch ich hatte schon wieder vergessen, dass Göttinnen Gedanken lesen konnten.
„Zügle deine Fantasie, Wanderer!“ Die Asin schimpfte, doch es klang nicht böse. Sie zeigte auf einen der Bäume. „Nimm dir nun einen Apfel. Du wirst ihn für den Heimweg brauchen.“
Dankbar ging ich die wenigen Schritte und pflückte eine Frucht, dann drehte ich mich zu Iduna um. Die Wiese war leer – kein Tier, kein Mensch und schon gar keine Göttin war zu sehen. Wieder verließen mich die Sinne, denn das war eindeutig zu viel für einen einfachen Wandersmann.
Ich erwachte erfrischt und ausgeruht in Sichtweite unserer Siedlung. Über mir stand die Sonne hoch am Himmel. Da erkannte ich, dass ich nur geträumt hatte. Ich war wohl den Folgen meiner Fastenzeit erlegen und hatte, derart geschwächt, das Bewusstsein verloren. Das Laub der Maibäume war hellgrün und noch nicht ganz aus den schützenden Hüllen der Zweige gesprossen. Blumen blühten am nahen Weiher. Es war Frühling. Wunderbarer, hoffnungsschwangerer Frühling.
In der Hand hielt ich einen reifen Apfel.