Читать книгу Ein ganzes Leben in einer Hutschachtel - Ulla Rogalski - Страница 8

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Icki Franziska Haag, so der volle Name meiner kommunikativen Heidelberger Nachbarin, ist hoch erfreut, dass ihre Berichte nun endlich auf echtes Interesse stoßen. Sie ist ein wenig stolz auf „ihre“ manchmal so missmutige Bertha, die jetzt in ihrem kleinen Altenheim in East Sussex südlich von London residiert. Dort hat die Heidelbergerin sie schon mehrfach besucht. Jetzt schreibt sie an Bertha, dass die Innenarchitektin und Journalistin, die im gleichen Haus wohnt, Interesse an ihrer Arbeit zeige, dass diese gerne mehr über Berthas Leben wissen und auch gerne zu einem Interview anreisen würde. Bertha freut sich, schreibt aber auf einer Karte, dass sie sich nicht mehr imstande sehe, ein Interview zu geben. Gleichzeitig spannt sie Ted, den Inhaber des kleinen Alterssitzes, ein, um Fotos von zwei kleinen Tischen zu machen. Dazu schreibt die Ex-Kölnerin, dass sie die Tischchen um 1921 entworfen habe, als sie zwanzig Jahre alt war. Sie seien als Beistelltische, jeweils links und rechts [eines Bettes oder Sofas], gedacht und hätten ausschwenkbare, weiße Glasplatten. Die Fotos, die dann nach Heidelberg kommen, sind nicht besonders gut, was Bertha auch im Begleitbrief bemängelt: Sie habe Ted schon zu einer zweiten Fotoaktion verpflichtet. Die hellen Tischchen mit den geraden runden Füßen und der dicken abgerundeten Platte wirken so modern, dass man gar nicht glauben mag, dass dieser Entwurf von 1921 stammt, also heute über neunzig Jahre alt ist. Offenbar hat die ehemalige Innenarchitektin diese Tischchen erst einige Jahre zuvor in England nach ihren alten Zeichnungen neu anfertigen lassen. In einem zweiten Brief aus England bekommt Frau Haag dann neue, unwesentlich bessere Fotos der Tischchen. Ein hilfsbereiter Seniorenheim-Betreiber ist eben kein Profi-Fotograf!

Jetzt sammelt Frau Haag bei ihren England-Besuchen mit Akribie Daten und Informationen von Bertha. Sie versucht mit ihr den Inhalt ihres „Allerheiligsten“, ihrer Hutschachtel durchzugehen, in der die über 85-Jährige Persönliches aufbewahrt. Man sieht die Listen der Dinge durch, die ab 1985 an das Victoria & Albert Museum beziehungsweise deren „Archives of Art and Design“ gegangen sind, und die begleitende Korrespondenz des Museums. In Heidelberg wird der bruchstückhafte Lebenslauf mit der Schreibmaschine aufgelistet. Im Sommer 1990 stirbt Bertha Sander in Justins, wo Ted und Jane Francis, das Betreiber-Ehepaar des kleinen Altenheimes, sich intensiv und liebevoll um sie gekümmert haben. Berthas Testament entsprechend erhalten die Erben ihre Anteile. Die besagte Hutschachtel aber geht an Icki Franziska Haag in Heidelberg, zuletzt wahrscheinlich Berthas engste und einzige Vertraute.

Ein ganzes Leben in einer Hutschachtel

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