Читать книгу Das Herz des Hais - Ulrich Becher - Страница 5
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In der deutschen Schweiz sind die Frauen sächlich. Nicht deshalb, weil sie zumeist im Diminutiv erwähnt werden (etwa das Fini statt die Josefine). Auch Männer werden im Diminutiv erwähnt (etwa der Heiri statt der Heinrich), doch bleibt ihr Pronomen dabei männlich. Von einer jungen oder jüngeren Frau spricht man als von einem ›Es‹ (während anderwärts im deutschen Sprachraum ›Das Weib‹ veraltet ist, nur noch bei Priestern und Schimpfern im Kurs steht). Von einer Matrone oder Greisin aber sagt man ›sie‹; erst das Altern oder das Alter beehrt man mit dem Attribut der Weiblichkeit. Redet man etwa, selbst ohne den Diminutiv anzuwenden, von einer Madeleine, so ist sie Das Madeleine. In der patriarchalisch-demokratischen neutralen Schweiz ist die blühende Frau ein Neutrum.
Das Lulubé hatte seinen Ruf- und Künstlernamen einer bekannten Kose-Abwandlung von Luise zu danken: Lulu, der es, als es in den Ehestand trat, das Initial ›B‹ seines Familiennamens Brugger anhängte. Es war eine der besten Trommlerinnen von Basel; ja, das war’s. Die Stadt am Oberrhein, wo Erasmus von Rotterdam, Hans Holbein d.J., Friedrich Nietzsche und andere merkwürdige Leute als Professoren angestellt waren, ist die Wiege europäischer Trommelkunst. Zweifellos wird auch am Kongo vortrefflich getrommelt. Aber in Basel ist das marschgerechte Trommeln, das alte Landsknechtstrommeln, nach dem zahllose Söldnerheere in getragenem Schritt und Tritt in zahllose abendländische Kriege zogen, vermöge eines aus dem Mittelalter überkommenen Fastnachtsbrauchs sublimiert worden zu einem verrückt-militant tuenden, gleichermaßen ausgelassenen und disziplinierten, großen und großartigen Volksfest, wie es so echt Europa sonst nirgends mehr kennt, einem fabelhaften in des Wortes Sinn, mit archaischen Visionen, optischen wie akustischen, und vielen traumhaften gespenstischen Momenten: der einzige protestantische Karneval auf Erden.
Das Lulubé war die Tochter eines Kleinbasler Fuhrunternehmers, der selber ein großer Trommler vor dem Herrn gewesen war. Gelegentlich einer Fas’-nacht (das ›t‹ wird hier verschluckt) Jahre nach dem Ersten Weltkrieg hatte er, im Suff, Lulus Mutter mit dem Trommelschlegel ein Auge ausgeschlagen. Hätt’ er’s unterlassen, hätte sich seine Tochter – sie sah als Vierjährige diese an ihrer Mutter ›bei verminderter Zurechnungsfähigkeit verübte schwere Körperverletzung‹ mit an – das kurze Begebnis, das fast dreißig Jahre später auf der abgewrackten Sträflingsinsel Lipari an ihren faszinierten Blicken vorbeispielen sollte, die Geschichte mit dem Herz des Hais nicht so zu Herzen genommen. Nicht so zu Herzen, das Haienherz, nicht so zu Herzen.
Denn Klein Lulus Seele erlitt einen Defekt beim Beobachten der betrunken-fahrlässigen Tat und der Folgen, die sich als seltsam geringfügig offenbarten. Das Vorkommnis wurde als Unfall vertuscht, die Mutter, personifizierte Geduld und Vergebung, ließ sich ein künstliches Auge einsetzen und klemmte eine Brille darüber. Eine sehr zerstreute Frau, seufzte sie gelegentlich: »Ich habe mein Auge verlegt, Lulu, hast du mein Auge gesehn?« So wuchs das Lulu in der kaum bewußten Vorstellung auf, daß Grausamkeiten zur Tagesordnung der Zivilisation gehörten. Der Zweite Weltkrieg – wenngleich Basel einen Grenzpfosten der neutralen Friedensoase vorstellte –, der Hitlerkrieg mit seinen technisierten Ausrottungen wehrloser Menschenmassen, nährte das Trauma des jungen Mädchens. Gleich seiner Umgebung fand es den Faschismus verabscheuungswürdig. Dennoch unternahm es nach Kriegsende, nachdem es an der Kunstgewerbeschule studiert hatte und eine Studentenehe eingegangen, Lulu B. Turian geworden war, mehrere Studienreisen nach Franco-Spanien und wurde eine Aficionada. Und dann, dann fuhr es eines Septembers mit Angelus Turian, seinem Gatten, zur Abwechslung nach Lipari hinab – steiniges Eiland, auf dem zur Zeit des neuen Imperium Romanum Benito Mussolinis dessen politische Gegner neben gewöhnlichen Verbrechern festgesetzt waren – und sah, ja, sah es schlagen, das Herz …
Angelus Turian war in jedem Betracht ein Gegenstück zu dem Lulubé, mehr: ein wandelnder Gegensatz. In Basler Kunstmalerkreisen wurde er, ungeachtet daß Cherubim den Plural von Cherub darstellt, Der Kerubin genannt. (Ehrenwerte Kreise, die bis zu einem gewissen Grad von der Theorie abhingen, daß das Café des Deux Magots neben der Kirche Saint-Germain-des-Prés im Sechsten Bezirk von Paris binnen fünfeinhalb Stunden per Leichtschnellzug und Taxi erreichbar sei, während das Exempel verhältnismäßig selten statuiert wurde.) Der Kerubin war kaum so groß wie ›Es‹, womit seine Frau gemeint war. Er hatte einen rosigen Teint und weißlich-rotblondes, ins Rosafarbene spielendes Haar, das ihm in Simpelfransen in die Stirn fiel und als Vollbart sein wie aus Marzipan geformtes Gesicht umrahmte. Zudem trug er stets weiße, lichtblaue oder rosafarbene Rollkragen-Pullover, winters wollene, sommers solche aus Zwirn. Der ganze Malersmann strahlte etwas possierlich Engelhaftes aus oder erinnerte an ein abendliches Zirruswölkchen.
Zirrus, was vermagst du gegen einen Riesenhai? Du segelst in Höhen über ihn hin, Zirrocumulus, aber niemand wird ein Herz in dir vermuten. Haben Engel Herzen? Aber ein Hai hat ein Herz, wie sich am Ende vom Lied herausstellen sollte, welch ein Herz …
Angelus Turian hatte ein Herz, ein empfindsames, leicht betroffenes, weshalb er von den bewußten Kreisen ein wenig über die Schulter angesehn wurde, eher mitleidig als geringschätzig. In der ›Höhle‹ (der Spitzname von Basels Künstlertreffpunkt, einem stockbürgerlichen Lokal) pflegte man zu munkeln: »Der Kerubin ist ein Armer.« Was nicht auf seine Finanzlage gemünzt war, sondern auf seine Artigkeit. Und: »Wenn er nicht pariert, hängt Es ihn am ausgestreckten Arm zum Fenster hinaus.«
Wenn das Paar an einem Schönwettersonntag über die Mittlere Rheinbrücke flanierte, wirkte es in seiner einfältigen Diskrepanz wie gemalt von einem der französischen ›Primitiven‹, etwa von Bombois – Er: so rosa in rosa – Es: so dunkel in dunkel. Das Lulubé hatte große dunkelblaue Augen, die, wenn sie in Trommel- oder Stierkampf-Verzückung geriet, kohlschwarz zu funkeln begannen; ein attraktives schlankes Gesicht mit niedlicher Nase, eine ins Ockergelbliche spielende Hautfarbe und glänzendes pechschwarzes Haar, das im Genick zu einem bombastischen Spanierinnenknoten gewickelt war und gehalten wurde von einem aus Sevilla importierten Flitterkamm. Auch hatte es den Spanierinnen abgeguckt, fast immer in Schwarz zu gehn mit bloßen alabastrigen, einen Deut vollschlanken Armen, die es bei kleinen Festivitäten mit einer ebenfalls importierten Mantilla umhüllte. Des fulminanten Busens wegen, den Es mit Italiens Nationalfilmdiva Nummer 1 gemein hatte, wurde Es von Basels musischen Witzbolden gelegentlich ›Das Lollobri‹ genannt.
In der Tat malte Angelus Turian licht und hübsch und nett und zuweilen rührend einfältig im Stil ›der Primitiven plus etwas Surrealismus‹. Periodenweise versuchte er sich als ›Abstrakter‹ und schuf Gebilde, die wie aus Mehl und zart gefärbtem Badesalz auf die grundierte Leinwand gepappt schienen. Man nannte ihn einen ›anständigen epigonalen Maler, der nicht den großen Schnauf hat‹. Das Lulubé hatte den großen Schnauf. Ein homosexueller Psychopath und snobistischer Hochstapler, der mit Pomp zum Katholizismus übergetreten war, hatte Frau Turian den Floh mit der ›Gnade der Tiere‹ ins Ohr gesetzt. Hatte ihr zugesäuselt, daß es fürs ›seelenlose Tier‹ einzige Gnade bedeute, von Gottes Ebenbild, dem mit der unsterblichen Seele ausgestatteten Menschen, getötet zu werden: zum Behuf einer Mahlzeit oder auch nur zum Vergnügen wie Taubenschießen, Fuchsjagd, Stierkampf. Und Es, das Lulubé, malte mit unheimlich anmutendem ›Schnauf‹ die Tiere im Zustand dieser Todesgnade – eine teils meisterhaft bewältigte Marotte, die den Kerubin, wiewohl er die Frau aufrichtig liebte, im Herzen ekelte. Tiermenschliche Zwitterwesen, stets mit dem gottmenschlichen Töter konfrontiert. Taubenkinder mit Puttenköpfchen, die im Flug die Sonntagsschützen anflehen, gut zu zielen (gelegentlich waren gesprochene Sätze ins Ölgemälde geschrieben wie auf alten ›Marterln‹). Auf Pflastersteine geworfene Fische, die, nach Wasser ringend, die Flossen wie Hände gefaltet, die Fischweiber bitten, auf dem Marktbrett zerstückelt zu werden. Ein gottvoller junger schwarzer Stier, der dem Torero – dieser seinerseits anzusehn wie ein Mammutpapagei – einen treuherzig-dankbaren Augenaufschlag gewährt, weil dieser ihm den Degen in den Nackenwulst jagt, daß das Blut emporspritzt wie eine Fontäne.
Einmal, in der zweiten Hälfte der Fünfzigerjahre – man führte bereits ein Dezennium eine ›harmonische Künstlerehe‹, – hockte man bei unerträglicher Junihitze in der Arena von Pamplona, wo das Lulubé hinbegehrt hatte, nachdem es die Taschenbuchausgabe von Hemingways ›Fiesta‹ gelesen (sechs- bis siebenmal hintereinander; als sie das Buch partienweise auswendig kannte, übergab sie’s den von den Abwässern der chemischen Industrie verschmutzten Fluten des Rheins, ließ sich hinfort nicht ausreden, daß Hemingway den Vornamen Ernesto trage). – Während Turian sich umtobt sah von Massenhysterie, gedachte er einiger kürzlich gelesener Sätze aus der Feder des berühmten französischen Schauspielers Barrault:
»Ich sah einen jungen Stier in Barcelona sterben. Das war keine ›mise à mort‹ – er wurde buchstäblich ermordet. Der Degen ragte ihm zum Halse heraus. Man ließ einfach sein Blut auslaufen. Plötzlich steht er unbeweglich. Er blickt alle diese als Papageien verkleideten Männer an und kehrt ihnen den Rücken zu. Nun geht er artig, mit letzter Kraft, langsam der Tür seines Geheges entgegen. Dort stürzt er. Aus. Ich gedenke immer wieder dieser Arena, die vor Zorn schäumte wie ein Heer von tobsüchtigen Irren, vor Zorn über diesen sympathischen Stier, der starb, indem er ihnen den Hintern zukehrte …«
Angelus Turians sanftes Herz erschrak. Jäh hineinverstrickt sah er sich in das Duplikat der unlängst von Jean-Louis Barrault geschilderten Situation. Der haargleiche, schwarzhaargleiche junge Stier stand dort unten im blutmatschigen Sand, stand noch auf seinen kurzen, knabenhaft-stämmigen Beinen, und die Degenklinge ragte, ein rosiges Blitzen in der glühenden Nachmittagssonne, aus seinem Blutströme blubbernden Hals, und er sah die ihn umstehenden Papageienmänner – den Matadoren mit seiner blutroten Muleta-Fahne, die silbern-orange gekleideten Peónes der Cuadrilla – an, offensichtlich der Reihe nach an. Und Angelus, den Feldstecher in den klebrigen, etwas zitternden Fäusten, erkannte: Es war kein Blick der Dankbarkeit, den das Wesen der bunten Überzahl seiner Folterer und Mörder schenkte, weiß der Teufel nein, sondern der eines sehr jungenhaften maßlosen fürchterlichen Staunens, Staunens darüber, daß man ihm all dies (so kunstvoll ertüftelte) mörderische Leid zugefügt hatte. Und dann ging er fort. Der Gemordete. Dem Gehege zu, das den tunnelartigen Durchlaß des Toril verschloß, durch den er sich kurze Weile zuvor hereingetummelt hatte, kaum Böses ahnend, allein etwas beunruhigt ob all des Volks (er war auf einer menschenarmen Weide zu Hause). Ging fort, einen Blutsturz nach sich ziehend, mit manierlichen, wenn auch schon sterbensmatt wankenden Schrittchen; und die sechs Banderillas, die die Papageienmänner zuvor unterm Getänzel von Balletteusen in seinen Rücken gerammt hatten, kurze Spieße, die sechs tiefe Wunden gestochen, aus denen Blut gequollen war, das seine Flanken schwarzrot lackierte, die sechs Banderillas wippten auf seinem Rücken – so sah es sich schauerlich trügerischerweise an: – beinahe kokett.
»Toro! Toro! Hijo de la gran puta!«
Da brach der sommerlich, teils hochelegant gekleidete Pöbel aus in seinen Wutorkan. Flaschen, Hüte, Brot, Papierbälle wurden in die Arena geschmissen, Kavaliere – auch solche in Offiziersuniform – brüllten, hüpften, fuchtelten, aufgetakelte Damen kreischten wie die Furien. Ungläubig erkannte Turian, daß sich der ›Volkszorn‹ keineswegs gegen den Torero richtete, sondern gegen den Toro, den Stier. Der’s gewagt hatte, nicht auf dem Fleck zu verrecken, wie es sich nach all der Marter und nachdem er so stilgerecht vom Degen durchbohrt worden war, schickte. Gegen den Stier, der sich unterfing, noch im Martertod an den Heimtrott zu seiner menschenarmen Weide zu denken.
»Toro, ladrón! Hijo de la gran puta!«
Den gottvollen jungen Stier, Prachtexemplar, in das einst Zeus sich zu verwandeln nicht gezögert hätte, um die Europa hinwegzutragen, den sterbenden Stier schimpften sie, ein unisono-Massengebrüll, das selbst die feinsten Herrschaften ansteckte, schimpften sie ›Schuft‹ und ›Sohn der großen Hure‹. Total unsinnigerweise, dachte Turian verwirrt und erschüttert bei der Vorstellung der kreuzbraven und gewißlich sittenstrengen Kuh, die den Martertodeskandidaten geboren hatte.
»Hörst du, Lulubé? Der steinalte Massenwahnsinn triumphiert«, tuschelte er seiner Frau zu, zunächst ohne sie anzusehen. »Nie wäre die spanische Republik besiegt worden, wenn sie nicht gewagt hätte, den Stierkampf abzuschaffen. In meinen Augen – ich kann mir nicht helfen – eine grausige Metzelei, Metzgerei. Hitler.« Doch im Wut-Orkan verwehte sein Getuschel.
Da stürzte der Gottvolle vor dem rotlackierten Tor, das den Tunnel verschloß, stürzte wie ein Ausgestopftes, das umgestoßen wird, und rührte sich nicht mehr.
»Toro! Abajo! Hijo de la gran puta!«
Turian ließ den Feldstecher sinken, blickte zur Seite und sah, zurückbebend, nun fassungslos, daß Es, auch Es, das Lulubé, den nicht ganz der Etikette gemäß Verendenden gellend lästerte. Daß Ihm schaumige Blasen aus dem schreienden Munde platzten, dessen lila Lippenschminke verschmiert war. Daß sich Sein Haarknoten zu lösen begann, während Es wie im Veitstanz hüpfte und – jetzt – Seinen Florentinerhut in die Arena niederschleuderte wie einen Diskus.
»Heh, Lulubé, bist du von Sinnen?«
Da zuckte seine Frau herum und zischelte ihm mit Augen, die kohlschwarz funkelten, dabei so starr wie das Glasauge ihrer in Duldsamkeit erstarrten Mutter, ein hämisches Scheltwort zu, das in Kleinbasels bescheiden-verrufener Rheingasse beheimatet war:
»Dummes Licht! … Du weinst ja.«
Verstohlen griff er sich ins Gesicht und entdeckte, daß ein paar dicke Tränen in seinen rosa Bart gerollt waren.