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MEIN WEG ZUM JOURNALISMUS
ОглавлениеIch wuchs im niederösterreichischen Weinviertel in einer sozialdemokratischen Familie auf. Trotz sehr guten Lernerfolgs in der Volksschule konnten mir meine Eltern nicht den Besuch eines Gymnasiums ermöglichen. Zu dieser Zeit gab es nicht einmal in der Bezirkshauptstadt eine Höhere Schule. Da war es noch ein Glück, dass ich nach der Hauptschule den Beruf des Schriftsetzers erlernen konnte. Damit hatte man einen Bezug zur Schrift, die mir später den Einstieg in den Beruf des Journalisten erleichterte. Nach der Schriftsetzerlehre in einer kleinen Druckerei wechselte ich 1956 in den im Eigentum der SPÖ stehenden Vorwärts-Verlag. Das Gebäude mit der markanten Außenfront war eine wichtige Station in meinem beruflichen Werdegang. Später sollte ich erfahren, dass Bruno Kreisky dazu einen ganz anderen Bezug hatte, einen politischemotionalen, der in seine Jugend führt.
Für Sozialdemokraten war dieses Gebäude ein symbolträchtiger Ort. Bis 1934, als das Dollfuß-Regime die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) verbot und deren Besitztümer enteignete, war in diesem Gebäude im 5. Wiener Gemeindebezirk außer der Druckerei auch die Parteizentrale der SDAP untergebracht. Bei den ersten allgemeinen Wahlen für Männer im cisleithanischen Teil der Monarchie im Jahr 1907 (Frauen durften erst 1919 wählen) waren die Sozialdemokraten als zweitstärkste Kraft hervorgegangen. Dieser Erfolg veranlasste die Parteileitung, ein eigenes Redaktions- und Verlagsgebäude für die Arbeiter-Zeitung zu errichten und sie erwarb ein Zinshaus in der damaligen Wienstraße 89a, die 1911 in Rechte Wienzeile umbenannt wurde. Schüler des Stararchitekten Otto Wagner adaptierten das Zinshaus zum Sitz der Parteizentrale und als Redaktionsgebäude. Eine damals hochmoderne Druckerei wurde im Innenhof neu errichtet. Die heute noch erhaltene Außenfassade erhielt eine imposante Uhr am Giebel des Gebäudes, die von zwei Steinfiguren des Bildhauers Anton Hanak umrahmt wird. 1910 bezogen das Parteisekretariat, das Frauenzentral-Komitee, die Gewerschaftskommission und 200 Angestellte der Verlags- und Druckereianstalt Vorwärts das Gebäude.
Der Vorwärts-Verlag, jahrzehntelang »Herz und Hirn« der SPÖ, war für Bruno Kreisky ein fast mythischer Ort. Für den Autor dieses Buches begann hier seine Karriere als Journalist.
Mit dem Aufstieg der SDAP – bei den Wiener Gemeinderatswahlen 1927 wählten 60,3 Prozent sozialdemokratisch – wuchs auch der Platzbedarf. Die Partei kaufte Nachbarhäuser zu, sodass ein zusammenhängender Gebäudekomplex mit rund 3000 Quadratmeter entstand. Fast alle Teilorganisationen der Partei waren nun im »Vorwärts« vereint. Auch der Republikanische Schutzbund, die bewaffnete Wehrformation der Partei, hatte seinen Sitz in der Rechten Wienzeile. In der Druckerei wurden nicht nur die Arbeiter-Zeitung, sondern auch andere illustrierte Massenblätter hergestellt, wie Das Kleine Blatt, Der Kuckuck, die Wochenzeitung Die Frau und die Arbeiter-Illustrierten-Zeitung. Auch die diversen Nebenorganisationen der Partei ließen ihre Mitteilungsblätter dort drucken. Der »Vorwärts« war in dieser Zeit Herz und Hirn der Partei. In den 1930er-Jahren waren schon einige Hundert Menschen im »Vorwärts« beschäftigt.
Das Dollfuß-Regime konfiszierte nach den Februarkämpfen 1934 den »Vorwärts«, löste ihn aber nicht auf, sondern funktionierte ihn um. Von da an wurden dort Plakate und Zeitschriften des Ständestaates gedruckt. Ein Drittel der Belegschaft wurde gekündigt, die anderen waren als Fachkräfte bei der Weiterführung der Druckerei unverzichtbar. Sie fügten sich, denn Arbeitslosigkeit war damals gleichbedeutend mit Elend. Das Arbeitslosengeld war niedrig und wurde nur für ein halbes Jahr gewährt, danach war man ausgesteuert, es gab keinerlei Unterstützung mehr. Die Ausgesteuerten waren dann auf Almosen und Sozialmaßnahmen der Gemeinden angewiesen. »Die Arbeitslosen von Marienthal« – diese berühmt gewordene Studie von Maria Jahoda, Paul Lazarsfeld und Hans Zeisel aus dem Jahr 1933 hat die dramatischen sozialen Folgen lang andauernder Arbeitslosigkeit festgehalten. Neben dem täglichen Kampf, genug zu essen zu finden, waren vor allem die sozialen Folgen verheerend. Nach Meinung der frühen linken Theoretiker führt Arbeitslosigkeit zu Aufstand und Rebellion. Die auf Anregung von Otto Bauer zustande gekommene Studie bewies das Gegenteil: Arbeitslosigkeit führt zu Apathie, Verlust der Selbstachtung, Hoffnungslosigkeit und Depression. Am Ende stand oft Alkoholismus. Es war nicht zuletzt diese Studie, die dazu führte, dass Kreisky später als Regierungschef Arbeitslosigkeit um jeden Preis vermeiden wollte.
Nach dem Putsch im März 1933 regierte Dollfuß diktatorisch. Die Publikationen der SDAP wurden unter Vorzensur gestellt. Die Polizei durchsuchte den »Vorwärts« sehr oft auf der Suche nach Waffen, weil hier auch die Zentrale des Schutzbundes war. Nach den Februarkämpfen 1934 wurden alle Organisationen der Partei aufgelöst.
Angesichts der Angst, zu den Ausgesteuerten zu zählen, werkten die sozialdemokratischen Fachkräfte des »Vorwärts« also ab 1934 bei der Herstellung jener Produkte, die den Ständestaat als einzig wahre Gesellschaftsordnung priesen. Einige traten auch der Vaterländischen Front bei, einer Sammelbewegung des Ständestaates, die durch Unterorganisationen den politischen Willen der Bevölkerung formte. Das schadete schließlich nicht bei Beförderungen. Das Gros der Arbeiter aber ging in die innere Emigration. Es fehlte auch nicht an Demütigungen: Engelbert Dollfuß war am 25. Juli 1934 bei einem Naziputsch ermordet worden. Zum Jahrestag ein Jahr darauf mussten sich die Mitarbeiter des »Vorwärts« im Innenhof zu einer Trauerkundgebung versammeln: »Trauer für den Arbeitermörder Dollfuß, das war für uns eine schlimme Demütigung«, erinnerten sich einige Teilnehmer noch Jahre später.
Für Bruno Kreisky war der »Vorwärts« ein geradezu mythischer Ort. Im ersten Band seiner Memoiren berichtet er, wie enttäuscht er war, als er am 12. Februar 1934, als die bewaffneten Auseinandersetzungen begannen, zum »Vorwärts« marschierte und dort die Tore geschlossen fand. Die Schutzbündler hatten die Parteizentrale geräumt. Wie viel dieses Gebäude Bruno Kreisky bedeutete, erhellt eine Episode aus dem Jahr 1967. Nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden der SPÖ fuhr Kreisky von der Stadthalle nicht in die Löwelstraße, wo die Parteizentrale seit 1945 untergebracht war, sondern in den »Vorwärts«. Er steuerte auf das Zimmer zu, in dem früher das Idol seiner Jugend, der intellektuelle Führer der österreichischen Sozialdemokratie Otto Bauer, gesessen war. AZ-Chefredakteur Franz Kreuzer arbeitete dort nach seinem Leitartikel noch an einer Glosse. Kreisky grüßte und trat schnurstracks an Kreuzer vorbei in den kleinen Nebenraum, in dem einst Otto Bauer gesessen war, wenn er seine Artikel geschrieben hatte. Zur Erinnerung hing dort ein großes Bild von Otto Bauer in einem dunklen Silberrahmen. Kreisky blieb allein im Raum, stand etwa fünf Minuten vor dem Bild seines Vorbilds. Franz Kreuzer hat diesen Besuch Kreiskys so interpretiert: »Er, der immer Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung und Parteiführer werden wollte, fühlte sich als Weiterführer von Otto Bauers Werk und erwies ihm seine Referenz«.
Zwei Trauerkundgebungen im Innenhof des »Vorwärts«, wie sie unterschiedlicher nicht sein können. Das obere Bild zeigt die Trauerfeier für den langjährigen Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak und dessen Frau Marianne Anfang September 1963. Das untere Bild zeigt die Trauerkundgebung anlässlich des ersten Jahrestages der Ermordung von Engelbert Dollfuß am 25. Juli 1935, zu der die Belegschaft genötigt wurde.
Als ich 1956 im »Vorwärts« meine Arbeit begann, erzählten die älteren Setzer hin und wieder von den historischen Ereignissen. Die jüngere Generation war gar nicht so politikbewusst, wie man es in diesem ehrwürdigen Haus erwarten konnte. Natürlich waren alle Mitglieder der SPÖ. Aber große politische Diskussionen fanden nicht statt – außer, wenn es um den Februar 1934 ging. Da hatten auch die Jüngeren von ihren Eltern einiges mitbekommen.
Mein Wechsel von der kleinen Druckerei im nördlichen Weinviertel in den Vorwärts-Verlag in Wien war wie der Umstieg von einem kleinen Ruderboot in einen Ozeandampfer. Die Belegschaft in meinem Lehrbetrieb bestand aus dem Druckereibesitzer, einem Gehilfen und mir. Der »Vorwärts« hatte damals mehr als 700 Beschäftigte und war neben Waldheim-Eberle, wo die Tageszeitungen Kurier und Neues Österreich gedruckt wurden, die größte Druckerei Österreichs. Neben der täglichen Arbeiter-Zeitung wurden noch zahlreiche Wochenzeitungen hergestellt: Die niederösterreichischen Bezirks-Wochenblätter, Welt am Montag, die im Tiefdruck hergestellten Illustrierten Bilderwoche sowie Funk und Film und Das Kleine Blatt mit einer Auflage von mehreren Hunderttausend Exemplaren. Dazu kamen zahlreiche Publikationen der verschiedenen Teilorganisationen der SPÖ.
Die damals übliche Herstellung erfolgte im Bleisatz. Die in Blei gegossenen Zeilen und Buchstaben wurden in der Setzerei zu Seiten zusammengefügt, von einem sogenannten Metteur, wie diese Setzer genannt wurden. Das machte die Anwesenheit eines Redakteurs beim Umbruch, wie das Zusammenstellen der Seiten genannt wurde, notwendig. Die Bleilettern waren natürlich in Spiegelschrift, sodass der Redakteur erst nach einem Probeabzug Korrektur lesen konnte. Das geschah meist an Ort und Stelle, also in der Setzerei. So lernte man als Setzer die Redakteure näher kennen. Ich wurde als Metteur der Wochenzeitung Heute zugeteilt, deren Chefredakteur war Heinz Brantl, der danach Wahlkampfmanager der SPÖ wurde. Mitarbeiter bei Heute waren unter anderem Günther Nenning, künftiger langjähriger Vorsitzender der Journalistengewerkschaft, der spätere Geschäftsführer des Institutes für Empirische Sozialforschung (IFES) Ernst Gehmacher, Siegfried Kogelfranz, später Ressortleiter Außenpolitik beim Spiegel, und Kurt Kahl, einige Jahre später Kulturchef bei der Tageszeitung Kurier. Der junge Erich Sokol steuerte seine ersten Karikaturen bei.
Auch nach seiner Wahl zum Parteivorsitzenden besuchte Kreisky oft den »Vorwärts« wie hier 1968, als er sich von Metteuren die Herstellung der Arbeiter-Zeitung im damals üblichen Bleisatz erklären ließ.
Gleich neben meinem Arbeitsplatz redigierte der aufstrebende Jungstar der SPÖ Peter Strasser die Abzüge, Peter Schieder werkte beim Umbruch von Trotzdem, der Zeitung der Sozialistischen Jugend. Auf der anderen Seite kümmerten sich Marianne Pollak und Anneliese Albrecht, später Staatssekretärin, um die Wochenzeitung Die Frau, die damals eine hohe Auflage hatte. Schräg gegenüber war das Reich des »Alten«, wie der Chefredakteur der Arbeiter-Zeitung Oscar Pollak von den Metteuren ehrfurchtsvoll genannt wurde. Er las die Zeitung vor dem Druck von der ersten bis zur letzten Seite.
Oscar Pollak war in seinem ganzen Auftreten ein Herr. Kein Setzer erlaubte sich ihm gegenüber das übliche Genossen-Du. Er war der »Herr Doktor«, wenn überhaupt jemand ihn als Genosse ansprach, dann per Sie. Pollak leistete sich einmal in der Setzerei einen Eingriff, der in die Annalen der österreichischen Zeitungsgeschichte einging. Er entdeckte beim Umbruch auf der Seite ein Inserat des gewerkschaftseigenen Nahversorgers Konsum, in dem für ein alkoholisches Getränk geworben wurde. Pollak zum Metteur: »Das stellen Sie hinaus!«. Der Metteur ungläubig: »Wirklich, Herr Doktor?« Pollak bestimmt: »Das stellen Sie hinaus!« Am nächsten Tag revoltierte die Anzeigenabteilung. Die Arbeiter-Zeitung war schließlich nicht mit Inseraten gesegnet. Schließlich gab Pollak nach, das Inserat erschien am nächsten Tag, aber Pollak schrieb dazu einen Kommentar und riet mit dem Hinweis auf das Inserat von Alkoholkonsum ab, indem er an ein Wort von Victor Adler erinnerte: »Der denkende Arbeiter trinkt nicht, der trinkende Arbeiter denkt nicht!«
Von dieser Aktion Pollaks wurde noch lange im »Vorwärts« erzählt, jedenfalls mehr als über seine Leitartikel. Die Arbeiter-Zeitung kam mit ihrem intellektuellen Zuschnitt immer weniger an die Arbeiter heran. Pollak war ein konservativer Zeitungsmacher, für den Bilder in einer Zeitung überflüssig waren. Die von ihm verächtlich genannte »Bilderlpresse« in Form der Kronen-Zeitung fand bei SPÖ-Mitgliedern allerdings immer mehr Zuspruch. Es hatte schon in den 1950er-Jahren die Idee gegeben, die gut gehende SPÖ-Wochenzeitung Das Kleine Blatt täglich herauszugeben. Das Kleine Blatt war schon in der Zwischenkriegszeit als Tageszeitung erschienen, verbreitete sozialdemokratische Politik volksnäher als die Arbeiter-Zeitung und hatte eine Auflage von 160 000 Exemplaren. Oscar Pollak war gegen ein Wiederaufleben des kleinformatigen Blattes als Tageszeitung, weil er fürchtete, dass die Arbeiter-Zeitung damit Leser verlieren würde. Pollaks Einfluss in der Partei war sehr viel größer, als man bei einem Chefredakteur des Parteiorgans vermuten würde. Er war schon vor 1933 Chefredakteur gewesen und hatte dann in der Emigration eine herausragende Rolle gespielt, als er gemeinsam mit Karl Czernetz in London eine Gruppe von österreichischen Exil-Sozialisten leitete.
Ich glaube nicht, dass Das Kleine Blatt als kleinformatige Tageszeitung gegen die anderen Boulevard-Zeitungen am Markt hätte lange bestehen können. Meine persönlichen Erfahrungen sprechen dagegen. Als sich die Kronen-Zeitung immer häufiger auf die Wiener Stadtregierung einschoss und vor allem Vizebürgermeister Felix Slavik als Zielscheibe auswählte, gründete die Wiener SPÖ 1967 die kleinformatige Neue Zeitung, was mir den Wechsel vom Korrektorenjob im »Vorwärts« in die Redaktion dieser Zeitung ermöglichte. Felix Slavik formulierte als einziges Ziel der Neugründung: »Ihr sollt der Kronen-Zeitung schaden!« Die junge Redaktion versuchte, die Kronen-Zeitung mit reißerischen Kriminalgeschichten zu überbieten. Daraufhin beschwerten sich einige Funktionäre der Wiener SPÖ, weil ihnen das zu weit ging. Da uns auch der Kampagnen-Journalismus, wie er von Krone-Chef Hans Dichand forciert wurde, nicht zu Gebote stand, blieb der Schaden für die Kronen-Zeitung begrenzt. Die Auflage der Neuen Zeitung erreichte nie nennenswerte Höhen und wurde 1971 eingestellt. Die Lehre aus dieser Geschichte: Eine Partei, die anständig bleiben will, kann keine Boulevard-Zeitung herstellen, die mit Appellen an die niedrigen Instinkte der Menschen ihre Mitbewerber am Boulevard übertrumpfen will.
Als Oscar Pollak 1963 einem Herzinfarkt erlag, verübte seine Frau zwei Tage später Selbstmord, weil sie ohne ihren Mann nicht mehr leben wollte. Das Ehepaar Pollak bekam ein sozialdemokratisches »Staatsbegräbnis«. Die Särge der beiden Toten wurden im Hof des »Vorwärts« aufgebahrt. Die gesamte Belegschaft versammelte sich im Hof, außer der Parteiprominenz war auch Bundespräsident Adolf Schärf gekommen. Die Trauerrede hielt SPÖ-Zentralsekretär Otto Probst. Später sagte mir ein Kollege: »Das war ein Gemeinschaftsgefühl, wie ich es zuletzt vor 1933 erlebt habe!« Der alte Parteigenosse spielte damit auf jene Zeit an, als die Sozialdemokratie in Österreich für alle Lebensbereiche eigene Vereine geschaffen hatte – in bewusstem Gegensatz zu bürgerlichen Organisationen, auch weil letztere oft durch hohe Mitgliedsbeiträge Arbeiter fernhielten. Konsum, ASKÖ, ARBÖ, Arbeiter-Sängerbund, ja selbst für Briefmarkensammler und Fischer gab es eigene Vereine. Als Gegenstück zum Alpenverein, der deutschnational ausgerichtet war und außerdem einen Arierparagrafen in seinen Statuten hatte, gab es die Naturfreunde. All das wurde der Arbeiterschaft durch das Dollfuß-Regime geraubt, die Arbeiter verloren damit ein Stück Heimatgefühl.
Der »Vorwärts« war ein sehr sozialer Betrieb. Die Arbeitszeit war kürzer als in anderen Betrieben. Die Arbeiter-Zeitung ging schließlich nicht nur am Leserschwund zugrunde, sondern auch an der viel zu teuren Herstellung. Ein Maschinensetzer musste in der Stunde 90 Zeilen setzen, also in acht Stunden 720 Zeilen. Ein guter Setzer schaffte aber 200 Zeilen in der Stunde. Nach vier Stunden war damit die Arbeit getan und er konnte nach Hause gehen. Auch an den Rotationsmaschinen stand lange viel zu viel Personal. Die damaligen Druckmaschinen schafften in einer Nacht nicht mehr als 100 000 Zeitungen. Da die Arbeiter-Zeitung aber in ihrer Blütezeit nach 1945 bis zu 200 000 Zeitungen verkaufte, mussten zwei Rotationsmaschinen in Betrieb genommen werden. Diese wurden noch jahrelang in Betrieb gehalten, obwohl die Arbeiter-Zeitung nur noch 80 000 Zeitungen verkaufte. Erst nach langen Verhandlungen mit dem Betriebsrat wurde eine Maschine stillgelegt und damit ein Dutzend Arbeitsplätze eingespart.
In den 1970er-Jahren wurde auch Parteifunktionären klar: Der »Vorwärts« produzierte zu teuer. Eine Reihe von SPÖ-Organisationen wechselte mit ihren Publikationen zu privaten Druckereien, die billigere Angebote machten. Die AZ, wie die Arbeiter-Zeitung seit einigen Jahren in der Kurzformel hieß, wurde bis 1985 im »Vorwärts« gedruckt, dann 1989 verkauft, womit sie auch den Status als Zentralorgan der SPÖ verlor. Das war aber zu spät, um eine linke Tageszeitung, die nicht unter Kuratel der Parteiführung stand, am Markt etablieren zu können. 1991 wurde die AZ schließlich eingestellt. Die stark verschuldete SPÖ musste schließlich den großen Gebäudekomplex des »Vorwärts« verkaufen. Der sozialistisch geführte Betrieb konnte sich in einem kapitalistischen Umfeld nicht behaupten. Vom »Vorwärts«, einst Zentrum der österreichischen Sozialdemokratie, blieb nur noch die Fassade. Sie wurde unter Denkmalschutz gestellt. Dahinter blieben noch einige Räume erhalten, die den Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung und das Kreisky-Archiv beherbergen. So blieb wenigstens die Dokumentation des Wirkens von Bruno Kreisky an jenem Ort, der ihm so viel bedeutet hatte.