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Von Gedichten und Wurstbändern

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Münsterländisches Platt

Dass es sich bei uns alten Sachsen um einen Menschenschlag mit ganz eigenem Kopf handelt, musste auch die hochdeutsche Sprache höchstpersönlich erfahren. Als sie zwischen dem 6. und 8. nachchristlichen Jahrhundert von Süden her kommend ihren Siegeszug antrat und immer mehr deutsche Landstriche erfasste, kam sie eines Tages auch an unsere Grenze, sah uns und spürte instinktiv: Diesen sächsischen Querschädeln ein neues Sprechen beizubiegen, nein, einfach unmöglich. Diese mürrischen Gesichter, diese ungeübten Sprechwerkzeuge! Und so kehrte die hochdeutsche Sprache dem Münsterland den Rücken und kümmerte sich nicht weiter um uns. Fürs Erste.

Das war der Grund, warum wir mehr oder weniger einheitlich beim ›maken‹, ›Dag‹, ›eten‹, ›Timmermann‹, ›sitten‹, ›Schipp‹, ›Wiev‹ und ›Peper‹ geblieben sind, statt zu den hochdeutschen Formen ›machen‹, ›Tag‹, ›essen‹, ›Zimmermann‹, ›sitzen‹, ›Schiff‹, ›Weib‹ und ›Pfeffer‹ überzugehen. Aber auch von anderen liebgewonnenen Phänomenen konnten wir nicht lassen. Warum auch? Ist denn der ›Smiärlappen‹ nicht viel ehrlicher als der ›Schmutzfink‹, ist denn die ›Füörsterkunte‹ nicht viel stärker als der ›Frosthintern‹, reizt denn der ›Blubberbaort‹ nicht viel eher zum Lachen als der ›Nuschler‹, und hat die Formulierung, nach der jemand aus einem ›Fuorts en Düennerslag‹ macht, nicht mehr mit der norddeutschen Lebenswirklichkeit zu tun, als wenn dieser Jemand aus einer ›Mücke einen Elefanten‹ macht? Na also.

Die zitierten Begriffe dokumentieren zweierlei: Zum einen den enormen Erfindungsreichtum, wenn es darum geht, uns gegenseitig mit Komplimenten zu umschmeicheln. Zum anderen eine Besonderheit, die das westfälische Platt etwa vom ostfriesischen, holsteinischen oder mecklenburger Platt unterscheidet: die auffallende Anhäufung von Vokalen und Umlauten. Wörter wie »Mauenfrieerie«, »Quaogelerie«, »Uott« oder »Wuoddelbuil« versteht zwar niemand – aber mit Stolz können wir sagen: Das gibt‘s nur bei uns!

Das Niederdeutsche, das sich einmal von den Niederlanden bis nach Ostpreußen, vom Ruhrgebiet bis nach Dänemark erstreckte, hat also seine charakteristischen landsmannschaftlichen Unterschiede herausgebildet. Und wenn Sie jetzt vermuten, dass auch das westfälische Platt keine homogene Einheit bildet, sondern selbst schon wieder jede Menge Ausdifferenzierungen aufweist, dann kann ich nur sagen: Recht haben Sie! So verwandelt niemand anders den »g«-An- und Auslaut so formvollendet in den schroffen Reibelaut »ch« wie wir Münsterländer. Deshalb hört sich das normalerweise weich anklingende »Guat goan« – was soviel heißt wie: »Mach es gut« oder: »Lass es dir gut gehen« – bei uns wie ein im hinteren Rachenraum hervorgeraspeltes »chuat choan« an, das zuverlässig dafür sorgt, dass es einem danach alles andere als gut geht. Zumindest im Hals.

Es ist wirklich so: In dem vergleichsweise engen westfälischen Raum können wir Ihnen sage und schreibe vier Mundartgruppen anbieten: das Südwestfälische, das Ostwestfälische, das Münsterländische und das Westmünsterländische Platt. Ja, Sie haben recht gelesen: Allein das Münsterland weist zwei Varietäten auf. Damit leisten wir uns eine »Twiärsdriewerie« (Quertreiberei), die unseren Alltag auf unverantwortliche Weise erschwert. Stellen Sie sich mal folgendes Szenario vor. Ein ehrlicher, grundsolider Coesfelder Bürger fährt in die gut 30 km entfernte westmünsterländische Stadt Borken zum Shoppen. Nichts Böses ahnend sieht er mit einem Male, wie jemand einen Juwelierladen ausraubt. Mit dem festen Willen, diesen Dieb mit Hilfe der anderen Passanten dingfest zu machen, ruft er laut aus: »‘n Daiw, ‘n Daiw!« Ich garantiere Ihnen, die Einheimischen – und möglicherweise auch der Ganove selber – werden gar nicht verstehen, was dieser Mann eigentlich von ihnen will, weil sie einfach nicht wissen, dass der münsterländische »Daiw« identisch mit dem westmünsterländischen »Deew« ist. Denn hätten sie es gewusst, hätten sie – da bin ich mir ziemlich sicher – garantiert dabei mitgeholfen, die Versicherung des Juweliers vor großem finanziellen Schaden zu bewahren.

Aufgrund dieser babylonischen Sprachverwirrung auf immer kleinteiligerem Raum ist es also kein Wunder, dass unser gutes Niederdeutsch nur für wenige Jahrhunderte den Status einer offiziellen Amtssprache erhielt. Erst um 1300 verdrängt unser Platt die bis dato über 500 Jahre dominierende Schriftsprache Latein aus den westfälischen Schreib- und Amtsstuben. Mit gutem Grund, musste doch die sich immer stärker ausdifferenzierende mittelalterliche Gesellschaft mit kodifizierten Regularien versorgt werden, die diese Gesellschaft auch versteht. Und das ging eben nur mit Hilfe des Niederdeutschen. Die normative Kraft dieser Sprache war zeitweilig so stark, dass diese in ihrer lübeckischen Ausformung zur Verkehrssprache der Hanse wurde.

Doch schon gegen Ende des 16. Jahrhunderts war es mit der niederdeutschen Schriftsprachen-Herrlichkeit in unserem Ländchen wieder vorbei. Dies bewirkten unter anderem zwei historische Entwicklungen: der Niedergang der Hanse sowie ein renitentes Mönchlein namens Martin Luther, das mit seiner frühneuhochdeutschen Bibelübersetzung die Grundlage für eine alle deutschsprachigen Regionen vereinende hochdeutsche Nationalsprache lieferte. Nach und nach bemächtigte diese sich der Kanzleien, der Adelsgesellschaft und des gebildeten Bürgertums, so dass sich das Niederdeutsche immer mehr auf das zurückzog, was man das einfache Volk nennt. In den gehobenen Kreisen galt es nunmehr als fein, in der neuen Manier zu sprechen. Wer hochdeutsch sprach, war etwas Besseres. Wie selbstverständlich folgte dieser Entwicklung eine Gegenbewegung auf dem Fuße, wurde doch nun ein bis dato unerhörter Kampfbegriff in die Debatte eingeführt, der gegen das hochdeutsche, lutherische Kauderwelsch in Stellung gebracht wurde. Das Niederdeutsch wurde nun als klar und verständlich, mit einem Wort: als »platt« bezeichnet. In dieser neuen Bedeutung erscheint das aus dem Niederländischen stammende Wort zum ersten Mal in einer 1524 zu Delft gedruckten Bibel, die dem geneigten Leser versprach, sie sei »in goede(n) platten duytsche« verfasst, also in gutem, klarem Deutsch.

Genau in diese sprachlich zerrissene Lage wächst unsere Adelsdame mit Namen Annette von Droste-Hülshoff hinein. Zwar bewegt sie sich als Schriftstellerin und Briefeschreiberin im Rahmen der hochdeutschen Sprache (wenn auch mit leidlich konsistenter Orthographie!). Die Gründe, warum das Niederdeutsche nur eine Randerscheinung in ihren Werken bleibt, sind nachvollziehbar: Weder könne ein »Ausländer eine ächt vaterländische Aneckdote« verstehen, noch der »Eingebohrne, da ihm die Buchstabenfügung zu fremd« sei. Und dennoch ist die besondere Affinität der Droste zum Niederdeutschen mit Händen zu greifen. So spricht sie schon einmal von einer »Blage« statt von einem »Kind«, bezeichnet ihren Vertrauten Levin Schücking als »Baasjunge«, beschwert sich, dass ein Gedicht aus ihrer Feder »klatrig« angenommen worden sei, und beschreibt einen Bekannten, den sie offenbar nach längerer Zeit wiedergesehen hat, mit den Worten: »Ach Gott! Was war der lustige Laps für‘n alt verdrüget Männeken geworden!«

In dieser Liebe zum Platt drückt sich zugleich eine unübersehbare Verbundenheit zu den einfachen Leuten aus. Das mag daran liegen, dass Annette – wie sie schrieb – »zwischen Bauren aufgewachsen« war und »selbst eine starke Baurenader« in sich verspürte. Wie dem auch sei: Immer wieder lässt die Dichterin in ihren Briefen das so genannte gemeine Volk zu Worte kommen. Und dass dieses Wort niederdeutsch ist, versteht sich von selbst. So beschreibt sie in einem Brief an ihre Schwester Jenny, wie sie über einem Gedicht sitze und immer wieder innehalte und nachdenke. Als die Amme das sieht, wird sie ganz mitleidig und sagt: »O Herr! Wat beduurt se mi, dat se sick so quælen möttet, et is akkrort es wenn ik so recht schlechte Doddheide spinnen mott, ik möch wull Goorn deevon hebben, un auk wull gutt Goorn, un et wett doch nix esse klötte un worstbände.« (Frei übersetzt: »O Herr! Was tun Sie mir leid, dass Sie sich so quälen müssen. Es ist gerade so, als wenn ich aus minderwertigem Flachs ein feines, gleichmäßiges Garn machen möchte und am Ende nichts als Wurstbänder mit Klumpen herauskommen.«)

Die Reaktion der Dichterin auf diesen eher rustikalen Vergleich ist nun bezeichnend. Unmittelbar anschließend fragt sie ihre Schwester: »… was sagst du zu diesem Omen? ich war wie ein begossener Hund, und legte für diesmahl meine Feder ganz still hin«. Das Reichsfräulein macht die Amme weder lächerlich noch empört sie sich. In der geradezu demütigen Geste des stillen Feder-Weglegens kommt die tiefe Verbundenheit der Dichterin ihrer Amme gegenüber zum Vorschein.

Dass diese Verbundenheit auch zuweilen politisch werden kann, zeigt ein Brief vom 2. August 1844. Darin beschwert sich die Dichterin über ihren Bruder, der als Vertreter des Adels immer nur die eigenen, ständischen Sonderinteressen im Kopf habe. Sich allgemein gegen den zweiten Stand wendend, ruft sie aus: »… ich wollte die Herrn dächten auch zuweilen an allgemeinere Landes-Interessen; – es empört den Bürger- und Bauernstand, daß sie, auf den letzten Landtagen, Nichts als ihre Jagdgeschichten haben zur Sprache kommen lassen, weder Schulen, Pfarreyen, noch Sonstiges.«

Es zieht sich wie ein roter Faden durch der Dichterin Briefe: Anders als ihr Bruder und anders als der Stand, in den sie hineingeboren wurde, erweist sie dem einfachen Volke durchweg tiefen Respekt – und dieser Respekt spricht weithin vernehmbar »mönsterländsk Platt«.

Querschädel, Regenlöcher, Schlodderkappes

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