Читать книгу Griechen besiegen Perser bei Salamis! - Ulrich Graser - Страница 6
+++ Ein Meer aus Trümmern und Leichen +++
ОглавлениеDunkle Nacht liegt über der Bucht von Salamis. Im weiten Halbrund der Küstenlinie ankern mehr als dreihundert Kriegsschiffe. Zigtausend Männer sitzen, liegen und stehen am Strand. Einige schlafen, viele haben sich in Gruppen zusammengefunden und diskutieren, halblaut zwar, aber heftig. Immer wieder deuten sie aufs Meer hinaus und schütteln die Köpfe. Feuerstellen erhellen die Szenerie. Über den Lagerplatz patrouillieren Soldaten. Von Attika, auf der anderen Seite der Meerenge, dringen Marschgeräusche herüber, Befehle, Fanfarenstöße, Peitschenhiebe. Sie lassen die Griechen auf Salamis schaudern. Hören sich so die Vorboten des Todes an?
+++ Nikolaos fröstelt. Er schlingt die Arme um die Knie und zieht sie fester an den Körper. Außer einem Lendenschurz trägt er kein Kleidungsstück zum Schutz vor der kühlen Meeresbrise. Etwas abgesondert kauert er ganz allein auf einer kleinen Anhöhe über dem Strand. Nikolaos sieht auf die Bucht hinaus, horcht angestrengt in die Dunkelheit. Seit Stunden hockt er schon hier. Ihm ist, als würden sich drüben, in seiner Heimat, Millionen von feindlichen Soldaten in Bewegung setzen, keine zehn Stadien von Salamis entfernt. Plötzlich steht Demochares neben ihm. In der Triere »Aphrodite« rudert er gleich hinter Nikolaos. Demochares reicht seinem Freund eine kleine Schale: »Du musst essen«, sagt er, »sonst hast du morgen keine Kraft, wenn wir die Perser schlagen.« Nikolaos antwortet nicht. Er nimmt die Schale, überlegt kurz. Dann reicht er das Essen zurück: »Morgen Abend«, flüstert er und sieht seinen Freund mit großen Augen an, »werden wir dann noch leben?«
Demochares hebt den Kopf, lenkt den Blick ins Dunkle, Richtung Attika: »Mit Athenas Hilfe.« Schnell greift er in die Schüssel und kratzt die letzten Reste der Hafergrütze aus. Er weiß, was Nikolaos Sorgen bereitet. Sein Großvater, der schon ein wenig gebrechlich ist, blieb in Athen zurück, als alle anderen im späten Sommer die Stadt und die Höfe auf dem Land fluchtartig verließen. Und Nikolaos’ Mutter war mit seiner Frau und dem kleinen Sohn nach Aigina ausgeschifft worden, ehe er sie noch einmal sehen konnte. Zu lange hatten die Gefechte am Kap Artemision gedauert. Als die »Aphrodite« nach Attika zurückkehrte, waren viele Frauen und Kinder schon in Sicherheit gebracht worden. Morgen nun würde vor der Küste von Salamis die nächste Seeschlacht stattfinden, vielleicht die letzte. Tausend Schiffe soll der Perserkönig aufgeboten haben, dreimal so viele wie die Griechen. Viele Phönizier sind dabei, Ägypter, Ionier – die besten Seefahrer der Welt. Nur die Götter wissen, ob Nikolaos seine Familie wiedersehen wird. Alle hatten beobachtet, wie nach der Einnahme Athens tagelang eine schwarze Rauchfahne über der Akropolis aufgestiegen war. Großvater, wo bist du?
Nicht nur Nikolaos schläft schlecht in dieser Nacht. Kurz vor Sonnenaufgang werden die Krieger zum Appell gerufen. Die Feldherren der einzelnen Poleis richten einige Worte an sie. Die Korinther, die Spartaner, die Aigineten und die anderen. Nikolaos und Demochares sind zu weit weg, um etwas zu verstehen. Aber als der Athener Themistokles spricht, senkt sich ringsum der Lärmpegel. Die allgemeine Unruhe weicht für einen Moment gespannter Aufmerksamkeit. Themistokles’ Stimme füllt die Bucht. Wie gebannt verfolgen die Männer seine Worte. Sie sollten, sagt der berühmte Stratege, alle guten und schlechten Regungen, deren der Mensch fähig sei, nebeneinander stellen und sich dann stets für den guten Teil entscheiden. Während Nikolaos noch überlegt, was damit gemeint sein könnte, gibt Themistokles den Befehl, auf die Schiffe zu gehen. Die beiden Freunde sitzen im Bauch der »Aphrodite« ganz unten, direkt am Bug, gleich hinter dem Rammsporn, der gefährlichen Waffe der Triere. Sie steigen als erste an Deck, klettern hinunter und binden ihre langen Riemen mit Lederbändern an der Ruderpforte fest. Das Leder ist mit Hammeltalg eingefettet, damit der Riemen schön geschmeidig zu führen ist. Nikolaos pult aus seinem Beutel die letzten Talgreste und reibt die Bänder noch einmal ein. Demochares muss grinsen: »Du hast doch gestern schon mehr Fett gebraucht als alle anderen 169 Ruderer zusammen.« Nikoloas zuckt nur mit den Schultern und macht sich bereit. Inzwischen haben auch die Offiziere, die Matrosen und die Krieger das Schiff bestiegen. Um den Kapitän am Heck und um den Steuermann gruppieren sich Bogenschützen. Die schwergerüsteten Hopliten verteilen sich auf die Deckplanken. Unter ihren Schritten gerät die »Aphrodite« leicht ins Schwanken. Endlich setzen sie sich. Nikolaos kann nur anhand der Geräusche ahnen, was oben vor sich geht. Selbst am helllichten Tag sieht er von seinem Platz aus allenfalls den Steuermann und seine Helfer und, wenn er sich zur Seite lehnt und den Kopf vorstreckt, ein Stück des Himmels. Aber jetzt herrscht noch das Zwielicht des Morgens. Helios, der Sonnengott, hat eben erst seinen Wagen bestiegen und schickt sich an, hinter dem Aigaleos-Hügel die Fahrt über das Firmament zu beginnen. Noch ist es nicht Tag, aber die Nacht hat sich schon verabschiedet. Noch ist Nikolaos am Leben. Aber jetzt nimmt er Abschied, innerlich. Der Auletes bläst seine Flöte, gibt den Rudertakt vor. Es geht los.
Langsam gleitet die »Aphrodite« aus der Bucht, in einer Reihe mit Hunderten anderen griechischen Schiffen. Ein Schlachtruf ertönt, alle Ruderer stimmen ein. Sie fassen Mut, packen die Riemen fester. Doch der Steuermann lässt anhalten, sogar leicht zurückrudern. Dann, ganz in der Nähe, ein Rammstoß, Schreie. »Volle Kraft voraus!«, brüllt der Rudermeister. Die Flöte überschlägt sich. Nikolaos zieht durch, zieht durch, im Rhythmus, im Rhythmus, schneller und schneller. Gleich kommt der Schlag, gleich kommt – das Ende? Den ersten Rammstoß dieses denkwürdigen Tages wird Nikolaos nie vergessen. Die »Aphrodite« erwischt den Gegner nicht frontal. Erst rutscht der Rammsporn am Holz ab, Nikolaos kommt aus dem Gleichgewicht, muss sich festhalten. Dann treibt die Wucht der Geschwindigkeit den Bronzekopf doch noch durch die Bretter. Fremde Stimmen schreien auf, in Todesangst. Jetzt heißt es: Weg vom Feind! Nikolaos sieht nach oben, zu den Ruderern der anderen Reihen. Mit Kopfnicken stimmen sie sich ab. Im Gleichklang bewegen sie die Riemen, doch die »Aphrodite« kommt nicht vom Fleck. Steckt der Rammsporn zu tief? Die Bogenschützen feuern übers Deck hinweg, Pfeil um Pfeil. Schwerter klirren aufeinander. Demochares ruft: »Die entern uns!« Da stürzt ein Mensch herunter, vor Nikolaos’ Füße. Er trägt einen Schuppenpanzer und auf dem Kopf einen Filzhut. Das Gesicht ist kaum zu erkennen. Nase und Mundpartie fehlen. An ihrer Stelle klafft ein blutiges Loch. Nikolaos schaut weg, fixiert den Holzbalken vor der Stirn und zieht weiter seinen Riemen durch. Endlich ruckt die Triere, macht sich los. Die Schreie werden leiser. Der Schiffszimmermann läuft durchs Schiff und inspiziert die Wände. Keine Schäden, bisher.
Bis zum Nachmittag bohrt die »Aphrodite« noch weitere drei Schiffe in den Grund des Sundes vor Salamis. Zwischendrin verlässt der Kapitän immer mal wieder die Schlachtreihe, um seiner Mannschaft eine Ruhepause zu gönnen. Nikolaos ist ausgepumpt. Es gibt kein Wasser, nichts zum Essen. Die Ruderer baden in Schweiß, im eigenen und in dem, der von oben heruntertropft. Die Konzentration lässt nach. Doch die Flöte gibt unerbittlich den Takt vor. Wer nicht mitkommt, gefährdet die Kameraden, das Schiff, die Rettung der eigenen Familie und ganz Griechenlands. Der Gedanke an seine Frau und den kleinen Sohn hält Nikolaos wach, lässt ihn weiterrudern. Mit Athenas Hilfe wird er sie vielleicht wiedersehen. Dem Vater war dieses Glück nicht beschieden, damals vor Marathon. Er ließ sein Leben für die Freiheit. Auf der Stele seines Heimatbezirks ist der Name aufgeschrieben. Einer von 192 Gefallenen. Nach der Schlacht bei Salamis würden viele Stelen benötigt werden, um alle Toten aufzulisten. Nikolaos will nicht, dass sein Name dabei ist. Im Takt des Flötentons taucht er sein Ruder ein und zieht den Riemen durch. Immer häufiger stößt das Ruderblatt auf Gegenstände. Harte, hölzerne Gegenstände, Wrackteile. Manchmal fühlt es sich aber auch sehr weich an. Wie Segeltuch oder – wie Menschen?
Zum Nachdenken kommt Nikolaos aber nicht mehr. Noch ehe er versteht, welchen Befehl der Steuermann gegeben hat, wird ihm sein Ruder mit brachialer Gewalt aus der Hand gerissen. Der Schaft knallt ihm gegen die Brust. Nikolaos bleibt die Luft weg. Da splittert die Bordwand. Ein bronzener Rammsporn kommt auf ihn zu. Er wirft sich zur Seite, auf den toten Perser. Die Kameraden fallen über ihn. Ein Knie trifft Nikolaos am Kopf, er verliert das Bewusstsein.
Als er wieder zu sich kommt, treibt er im Meer. Das Wasser ist kalt, es hat ihn zurückgeholt aus dem gefährlichen Schlummer. Zum Glück kann er schwimmen. Doch wohin? Die »Aphrodite« schlingert in zwanzig Metern Entfernung über die rot gefärbten Wellen, in der Seite ein großes Leck. Die meisten Ruder sind gebrochen. An Deck kämpfen einige Krieger mit Schwertern und Lanzen. In Nikolaos’ Umgebung schwimmen Bretter, Leichen, Tücher, Kisten, Segel und Taue. Überlebende wie er klammern sich an allem fest, was Halt verspricht. Sind sie Griechen? Und wenn ja: Auf wessen Seite kämpfen sie? Er will gerade einen hellhäutigen Mann mit rotem Bart fragen, der vor ihm im Wasser treibt. Doch dazu kommt es nicht mehr. Ein Pfeil durchbohrt den Hals des Rotbarts. Nikolaos dreht sich um, sieht den Schützen auf einem Schiff ganz in der Nähe. Der setzt den nächsten Pfeil auf den Bogen und zielt in seine Richtung. Nikolaos taucht unter. Er schwimmt und schwimmt, bis ihm fast die Lunge platzt. Vorsichtig steckt er den Kopf aus dem Wasser, nimmt einen toten Körper als Deckung. Die Gefahr scheint vorüber. Dort drüben liegt Salamis, vielleicht zehn Schiffslängen entfernt. Nikolaos beschließt, es zu versuchen.
Helios hat seine Bahn fast vollendet, als der Ruderer der »Aphrodite« den Inselstrand erreicht. Den Wachen gegenüber kann er sich, obwohl nackt, zitternd und zerschunden, glaubwürdig als Athener zu erkennen geben. Der Dialekt ist unverkennbar. Für Nikolaos ist die Schlacht zu Ende. Am Abend kehren die griechischen Trieren in die Bucht zurück. Es sind nicht viel weniger als am Morgen. Die Perser, so geht das Gerücht im Lager, hatten wesentlich höhere Verluste. Sie wurden von den Griechen aus dem Sund hinausgedrängt. Xerxes persönlich, der »König der Könige«, soll vom Aigaleos aus die Schlacht beobachtet haben, auf einem golden schimmernden Thron sitzend. Was wird er jetzt tun? Unternimmt er morgen einen neuen Versuch? Drei Tage währte vor wenigen Wochen die Schlacht am Kap Artemision, ohne dass eine Entscheidung gefallen wäre. Wie lange dauert es diesmal? Am nächsten Morgen erteilt niemand den Befehl: »Auf die Schiffe!« Stattdessen macht eine Nachricht die Runde, die zunächst weder Nikolaos noch einer seiner Kameraden glauben kann: Die Häfen von Piräus und Phaleron sind leer, die Flotte der Perser ist verschwunden. Das bedeutet: Die Griechen haben das Unmögliche geschafft. Sie haben gegen einen vielfach überlegenen Feind die Oberhand behalten. Die Opfer haben sich also gelohnt. Athena sei Dank. Nikolaos kann es kaum erwarten, Frau und Kind wieder in die Arme zu schließen. Für den Großvater wird er auf der Grabstätte der Familie eine Stele errichten lassen. Und dann muss er noch zum Haus des Demochares: Sein Freund ist nicht ins Lager zurückgekehrt.