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In der Mitropa bin ich

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und ich bin nicht besoffen.

Und mit der vollen Tasche am Arm geht es erstmal nicht weiter. Nur bis zur Mitropa. Mit der Tasche bleibe ich erstmal hier sitzen.

Viel zu voll und viel zu schwer. Voll wie die Mitropa.

Muss für Wochen reichen: Wäsche, Tabellenbuch, Zirkelkasten, Essbesteck, schmaler Gedichtband von Johannes Bobrowski aus Berlin-Friedrichshagen, Schattenland Ströme: „Rufe“.

Da war er schon gestorben:

Er: Über dem breiten Hang-

der Wiese, den Zäunen, über

den Pfählen- ich war der Wind

und unablässige Rede

Ich: Drunten des Baches, war ich

sprachlos und trank

Himmel aus, seine Bläue,

allabendlich der Flügel Gesang.

Vom Bahnsteig her gibt es nur eine Tür in die Mitropa, doppelflüglig. Sind es doch zwei und ich sehe die andere Tür nicht...

Brigitte kommt herein.

Brigitte, aus Erfurt. Pralle Schenkel, dichtes, leicht rötliches Haar, erinnert an einen Bubikopf mit Sommersprossen... wo hat sie noch Sommersprossen? Sie setzt sich ein paar Tische weiter, sieht mich nicht. Ich will jetzt auch lieber schreiben, will lieber für mich sein. Sie muss auch den Nachtzug genommen haben, den aus der anderen Richtung. Sie sieht mich jetzt, jetzt kommt sie rüber.

Kleine Reisetasche.

„Guten Morgen.“

„Guten Morgen, Brigitte.“

„Du schreibst wohl?“ fragt sie und: „Jetzt so früh schon, ein Brief nach Hause?“

...Welche Worte sie wählt. Wenn einer schreibt, denken alle, da schreibt einer einen Brief nach Hause:

Liebe Eltern, ich bin gut angekommen, das Wetter ist schön, das Essen schmeckt, wir gehen morgen baden... Ferienlager.

Was anderes ist auch vorstellbar.

Sind also nun zwei gegenüber, sind sich gegenüber, sitzen nun zwei unbeholfen. Jeder in Erwartung. Ihre Worte kommen nicht, die lösenden Worte. Soll ich anfangen oder sie?

Freundlich sein, Allerweltszeug plappern, über andere reden, prahlen und: „Hast du das schon mal gehört“. Wichtig tun.

Geschmeidig schnell geschürzte Lippen.

Ich will nichts von ihr.

Nach innen gedacht: Wenn ich lache, denkt sie: ihm gefalle ich.

Denke ich aber: sie gefällt mir nur an einer Stelle.

Nach innen denken ist immer Sauerei.

Charme?

Dein Kleid, Brigitte, welch schöne Form dem Busen es geschenkt, köstlich wie die Morgenröte. Gehen wir gemeinsam zur Uni?

Mit dem englischen Charme, dem tragödischen, vom Hofe Richards, des Herzogs von Gloster, der Missgestalt: „Eu’r Reiz, der heim mich sucht’ in meinem Schlaf, (...) den Tod zu unternehmen für eine Stund an eurem Busen.“

Und denkt: „Ich, roh geprägt, entblößt von Liebesmajestät will sie haben, doch nicht lang behalten. (...) Sie find’t, ich sei ein wunderhübscher Mann. Ich will auf einen Spiegel was verwenden, und ein paar Dutzend Schneider unterhalten...“ London. Shakespeare, Richard III. Hat Schlegel übersetzt.

Und der Richard Third setzt nach: „...Hunde bellen, hink’ ich vorbei.“

Ein kaiserlich, untertänig, monarchisch fühlender tut’s vielleicht zackig, Brust raus unterm Korsett, und auch recht patriotisch deutsch, Hände vors Geschlecht, nein, an den Degen und an die Naht: Gestatten Vortritt zu... gnä...Fräulein, wohl allein hier in der Mitropa?

Mitropa zu Kaisers Zeiten?

Und vielleicht noch den Nietzsche in petto zum Zitieren. Gut jetzt! Lass es sein, Du Prahlhans eines Unterprimaners.

Tatsächlich denke ich: Augen, Hautfarbe, Brüste, Hüfte...

Tatsächlich denkt Sie: Frisur, Pickel, Bizeps, Sprache...

Der wollene Rock dräut ihren Leib.

Blitzschnell fällt mein Auge wieder in die Mitte.

Sie lächelt.

Ich werde mürrisch.

Wie immer, zuerst visuelle Auswahl der Signale. Es genügt ein trügerischer Code, und die Ehe dann – eventuell – geht flöten. Flöten, streiten, heulen, versöhnen, Schwanz rein, Schwanz raus, Kinder, schreien, trösten, Taschentücher...

Brigitte ist mal laut geworden, hat ihr Mundwerk voll genommen vor den anderen. Stark. Aufrecht. Plötzlich ist sie aufgestanden in der Seminargruppe und hat gefightet. Unheimlich.

Wie eine Mutter mit drei Kindern beim Ausgießen der Abwaschschüssel. Brigitte, spitzer Tonfall, Dialekt oberhalb der Indifferenzlage.

Sicher Spannung den ganzen Tag dort unter Thüringens Dächern.

Ute ist die erste gewesen.

Nichts. Einfach nichts, Knutschen, unkörperlich.

Leiser, sanfter Griff. Nach dem Saufen in der Lagerbaracke.

Bin nicht rangekommen. Sie wollte Gewissheiten, ich Konkretheiten.

Wollte mich über sie legen auf der Bank neben der Dorfkirche von Korbetha. Ein bisschen wippen. Benebelt von den süßlichen Staubdämpfen aus den brodelnden Buna-Kesseln.

Wiedersehen mit ihr vielleicht heute, während der Anmeldung im Sekretariat oder morgen in irgendeiner Bankreihe, vielleicht Reihe 7 im Hörsaal 213, oder im Seminarraum xyz.

Vielleicht noch einen Versuch wagen. Wie mir ist.

Will ich, will ich nicht, will ich, will ich nicht?

Vorher Hände waschen...

In der Wartehalle hängen versoffene Leute ab.

Nachtschlaf im Stuhlbett der Mitropa des Dresdner Hauptbahnhofs.

Frühes Kaffeeschlürfen und schales Bier in schmutzigen Gläsern.

Zigarettenqualm verstopft die Luft zwischen den Tischen und vollen Aschenbechern. Eigentlich ist es noch Nacht, oder doch schon früh, fünf Uhr früh.

Jetzt habe ich Sodbrennen vom dem Gesöff.

Brigitte sagt nach einer Weile, es ist acht Uhr: „Ich gehe mal los.“

Ich sage: „Ich bleibe noch.“

Ich bleibe sitzen, schaue auf mein Papier, voll geschrieben seit vier Uhr in der Mitropa. Was will ich machen mit soviel Zeit.

Schnell noch die Zeilen überfliegen:

„Der Alte vom Bahnhof, Februar 1966

Ich schien im Wartesaal aufzufallen.

Die Fahrt mit dem Zug war lang und unbequem gewesen, dazu noch während der Nacht. Der Termin war erst um zehn Uhr vormittags und um drei Uhr Dreißig, früh, stand ich bereits auf dem Zielbahnhof. Es ist nichts, wenn man in der stillen Provinz wohnt. Also ging ich rein in die Expreß-Mitropa. Ich gaffte die Leute an. Die gafften zurück, aßen, tranken und gafften. Einige schliefen, und wenn sie munter wurden und aufschauten, war ihr Gesicht wie zerknülltes Butterbrotpapier. Die Zeit wurde mehr und mehr langweilig.

Ein Alter kam an meinen Tisch und setzte sich unaufgefordert zu mir. Der will sich unterhalten, dachte ich. Der will mich unterhalten. Er redete von früheren Zeiten und wie er vor Stalingrad lag bei ungeheurem Frost, dass der Tee in der Thermosflasche gefror. Der Alte bekam ein rotes Gesicht, wurde aufgebracht, redete sich Rage, seine Stimme überschlug sich. Er überlegte nicht beim Reden, er entleerte die Speicher seiner Vergangenheit. Seine Frau war tot. Sie kam als Lebende nicht mit ihm in die Mitropa. Er wollte unvergessene alte Freunde zu treffen, frühere Kameraden. Sie wollte keinen treffen. Er traf auch niemals einen. Er hielt in seiner linken Hand ein leeres Glas. Am Rand klebte angetrockneter Bierschaum...“

Und so weiter.

Auf A5 (das ist jetzt Tagebuchformat), mit schwarzem Kugelschreiber und in der Vergangenheitsform. Weglegen und irgendwann weiter schreiben.

Und ich will mich fühlen wie ein Schriftsteller, kein Briefeschreiber. Ich bin ein Weltverbesserer, ein Unabhängiger, ein freier Mensch. Ich bin ein bar der Strümpfe Laufender.

Was will ich dann hier?

Schreiben geht nicht im Hörsaal, wenn mathematische Fourierreihen an der Tafel entwickelt werden. Schreiben geht in einer warmen verrauchten Kneipe, in einem ruhigen Zimmer, an einem alten Tisch mit einer alten Lampe, Leistung 40 Watt, eine Seite täglich, ein halbe tut’s auch, manchmal nur ein einziger Satz, mehr ist nicht drin und ist der Einsamkeit abträglich.

Der Walter Ulbricht zitiert den Walter Jens in der NDL:

„Alles ist in Fluß, und der Schriftsteller tut gut daran, nicht vorschnell nach neuen Bindungen zu suchen, sondern die Isolation, in die er sich gedrängt sieht, zu tragen und die Einsamkeit nicht zu verachten - eine Einsamkeit, die um so größer ist, als er sich in der einmal gegeben Lage weder als ein Sprecher einer Klasse noch als Repräsentant der Nation fühlen kann (...) der deutsche Schriftsteller unserer Tage (...) ein dreifach einsamer Mann.“

(Walter Ulbricht, Rede auf dem 11. Plenum des ZK der SED, Dezember 1965)

Wer hat denn das nur dem Ulbricht ins Redemanuskript geschrieben?

Der Schreiber kriegt ein Parteiverfahren und wird aus der Partei ausgeschlossen. Einsamkeit und Sozialismus schließen sich auch aus.

Die Einsamkeit kennt keinen Sozialismus. Der Sozialismus verträgt keine Einsamkeiten, er will Kollektivitäten

Die Einsamkeitsvorstellung des einen Walter, zitiert durch den anderen Walter, verhöhnt die hiesigen Einsamen. Das weiß der Walter Ulbricht. Der glaubt, den westdeutschen Walter Jens auf seine ostdeutsche politische Seite ziehen zu sollen, und haut gegen die Gehirne der ostdeutschen Schreiber, diktiert denen, was ihm verständlich, sendet eine vorweihnachtliche Order:

„In unserer Periode der Entwicklung der Menschen und ihres Schaffens am umfassenden Aufbau des Sozialismus steht der Schriftsteller vor vielen menschlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Problemen, deren Lösung nicht einfach auf dem Tisch liegt (...) Der Schriftsteller kann nur vom Standpunkt der sozialistischen und wissenschaftlich-technischen Perspektive Kunstwerke von nationaler Bedeutung schaffen...“ (ebenda)

Vielleicht keuche ich deswegen auf einer so breiten Straße in Dresden zur Uni. Die Koordinaten auf dem Globus: Technische Universität Dresden, 13,74° östlicher Länge von Greenwich und 51,05° nördlicher Breite. Das ist schon mal eine wissenschaftlich-technische Perspektive.

Hat er Recht der Walter Ulbricht... und weist mir die richtigen Koordinaten? Der Ulbricht würde sicher auch Grenzen mit einem Lineal ziehen, glaube ich. Grenzen auf der Landkarte, wie ein Seil für Artisten, wie der Zar Peter I., wie die Grenze zwischen Kanada und den USA, zwischen Algerien und Mali, zwischen, zwischen, zwischen...

Zwischen meiner Unterwäsche liegt in der Reisetasche die aktuelle Ausgabe der NDL. Inhaltsverzeichnis:

Das 11. Plenum und die Literatur (W. Ulbricht, H. Sakowski, M. Zimmering)

Über die Funktion des Kunstwerks und seine Theorie (H. Redecker)

Rentiere in Not (H. Friedrich)

Unser Auschwitz (M. Walser)

Gedichte (E. Strittmatter)

Die Berliner Antigone (R. Hochhuth)

Neue Namen

Neue Bücher

Umschau

Nachtlektüre im Nachtzug nach Dresden.

Was will ich lesen?

Ab Halle eine Tafel Schokolade. Die Rentiere habe ich schlafen lassen. Bei Walser aufgemerkt, wegen des Namens, endlich, wieder, einer aus dem Westen. Den Hochhuth und sein Stück haben auch die Zeugen Jehovas diskutiert, den Stellvertreter, das Theaterstück. Ich war nicht dabei. In den Händen gehalten habe ich ihn und im Fernsehen gesehen. Ost- oder Westfernsehen, wer weiß, ist eher Ostfernsehen möglich. Wieso eigentlich? Katholische Frage.

Zimmering geht Kollegen ans Zeug: Biermann, Heym, Bräuning.

Kafka und Joyce fallen wieder durch, so nebenbei und wie selbstverständlich. Wer hat denn Kafka und Joyce lesen dürfen außer Zimmering & Co? Eine Meinung kann ich also nicht haben, ein Urteil ist mir fern. Die Texte derer sind dem Sterblichen zugriffsfern.

Kriege ich die Texte irgendwo woher?

Was fern ist, soll ich ablehnen? Ich soll glauben.

Bin ich in der Kirche oder im Sozialismus?

Wahrheit ist konkret. Konkretes ist zum Anfassen.

Für die Sinne: Fühlen, Schmecken, Riechen, Sehen, Hören.

Für die höheren Sinne: Lesen, Verstehen, Urteilen, Erörtern, Schreiben.

Ich will schreiben.

Das schmale NDL-Heft, schweres Papier mit Fotos und Bildern addiert das Gewicht meiner Reisetasche um 200 g auf 8 Kg an einer Hand, seit gestern Nacht.

Die NDL erscheint monatlich. Preis des Einzelheftes 2,50 MDN, Mark der Deutschen Notenbank.

Auslieferungsstellen in Westberlin und Westdeutschland: KAWE Kommissionsbuchhandlung GmbH, 01 Berlin 12, Hardenbergplatz 13; Kommissionsbuchhandlung Ernst Globig, 01 Berlin 30, Nollendorfstraße 11/12; Kunst und Wissen, Inh. E. Bieber, 07 Stuttgart 1, Postfach 46; Santa Vanasia GmbH Köln, Kubon & Sagner, Furth im Wald; München; Hanau; Hamburg; Außerhalb: Moskau; Peking; Warschau; Prag; Budapest; Bukarest; Sofia; Tirana; Wien; Zürich; Amsterdam; Paris; Kopenhagen; London; Rom; Mysore; Toronto. Interessenten wenden sich an die „Deutsche Buch-Export und –Import GmbH“, 701 Leipzig, Schließfach 276...

Ich sitze immer noch, Brigitte ist schon gegangen.

Ich habe eine Scheibe trockenen Brotes in der Linken, ein Papierblatt auf der Tischplatte und schreibe mit der Rechten.

„Der hat einen Knall“, denke ich, wird jetzt einer sagen von den Müden in der Mitropa. Und: „Verkappter Student mit Hornbrille.“

„...die dünne Luft der Belletristik, das Universum breitete sich zu meinen Füßen, und jedes Ding begehrte demütig einen Namen...“

„...ich habe die Unordnung meiner Erfahrung mit Büchern verwechselt...“

Jean-Paul Sartre. Der rauchende Philosoph, Schielauge, ich sehe was, was du nicht siehst. Was du siehst, kann ich nicht sehen. Was du, kann ich. Ich schreibe wie du, Jean-Paul, mein werdendes Ich.

Klebestreifen gehören immer auf die Innenseite des Buchumschlages, dann reißt der Umschlag der Wörter existentiell nicht ein. „Die Wörter“, Aufbau Verlag Berlin und Weimar, 1965, Lizenz vom Verlag Rowohlt, mir verkauft, ich gekauft bei Alban Hess, St.- Michael-Buchhandlung, in Sangerhausen, auf dem Heimweg von der Schule. Eines jener Bücher von meinen ersten eigenen gewünschten Büchern.

Der Sartre ist ins Eingehauste eingedrungen.

Er hat es gemacht.

Wo muss ich jetzt eigentlich hin mit der schweren Tasche und mit mir?

Die Vernunft flüstert mir dauernd meine Existenz ins Ohr.

Eine Existenz der Vernunft. Die eigentliche Existenz habe ich umgehen müssen. Ich habe sie nur geträumt.

Und ich bin aufgewacht und fand mich nüchtern und voller Erwartung und habe mich für Dresden entschieden.

Meine Rechnung bezahlen, die Tasche aufheben, die Mitropa verlassen.

Es ist 8:30 Uhr und ich laufe nun auf einer breiten leeren Straße.

Die Koordinaten meiner inneren Richtung habe ich vergraben.

Die Koordinaten für die Uni in Dresden stehen im Einweisungsbrief.

Hier hab ich den Brief, herauszerren, zerknitterter Fetzen, hier steht es doch geschrieben, mit Maschine getippt.

Die wievielte Kopie mag das sein, die Einhundertste, Zweihundertste, Dreihundertstetetetete?

Dreihundert immatrikulierte Studenten für das Studienjahr?

Gestern habe ich es schon mal gelesen... und wieder vergessen.

Gestern gibt es nicht mehr.

Es ist abgelaufen, Geschichte.

Das hört sich gut an. Ich fühle mich auch gut.

Vergesse ich das alte Zeitalter oder lasse ich es für später liegen?

Lauter Krümel in der Tasche und ein verrotztes Taschentuch vom Vater.

Meine eigenen liegen unberührt und verpackt seit dem 14. Geburtstag im Schrank. Jugendweihegeschenke von der Nachbarsfamilie.

Was steht da auf dem Papier?

Dieser blöde Umschlag: 10 Uhr Anmeldung.

Was das nun wieder ist. Überall Anmeldung. Mommsenstraße.

Wo ist die Mommsenstraße?

Ich will in diese Stadt und weiß doch nicht wohin.

„Wo ist die Mommsenstraße, hallo, können Sie mir sagen, wo ich die Mommsenstraße finde?“ (Als hätte ich diese Straße verloren)

„An der Uni, dort oben.“

Ein dunkler Mohr aus Afrika... Aus den Lehmhütten, vom Baum gesprungener. Zehn kleine Negerlein...

Ach ja, Prag, internationaler Studentenclub. Soll ich machen, mich anmelden, sagt mir ein schlauer Prahlhans, weiß nicht mehr wer. Hab’s gemacht: !967, Identity card number 91404. Jährliche Gebühr 10 Tschechische Kronen.

Eintreten, Ausweis krallen und dann will ich ab in die Ferien ans Schwarze Meer. Geht einfacher und preiswerter damit. Internationaler Klub ist mehr als nur Kreisstadt, Landstraße, Marktplatz. Du Träumer, bist kaum hier angekommen. Schwarzes Meer!

Bräuchte neue Schuhe dafür. Habe nur die mit der Ledersohle. Und Jesuslatschen und die grüne Kutte mit dem Kunstfell.

...„Bin ich dann hier richtig, oder ist der Weg falsch?“

„Nich fals, lange laufen. Fährt Strasebahn.“

„Danke.“

Der kann auch kein richtich Deusch. Lehmhüttendeutsch.

Ich bin schon mal hier gewesen. Vergessen, wie.

Mein Kopf hat sich den Weg nicht gemerkt. Oder ich war überwältigt und sah nichts. Hypnotisiert war ich und ich bin blind gegangen, gezittert.

Was man kennt oder was bekannt ist, wird wahrgenommen.

In fremden Zeichen, in neuen Reden, in neuen Dingen findet man sich nicht zurecht, oder nur mangelhaft, irre Summe von Erinnerungslücken, für die Wiedererkennung unbenutzbar.

Der Typ ist nicht geeignet. „Nicht geeignet“, lautete das Prädikat nach meiner ersten Bewerbung an der Hochschule in Weimar.

Jetzt bin ich geeignet, jetzt, hier in Dresden.

Wie viele Male brütete ich über dem Hochschulführer ohne hinein zu schauen. Ich wollte nicht auswählen, wollte dieses nicht, jenes schon, hatte Angst, verzagte, heulte, verbrannte ausgefüllte Bewerbungspapiere im Kanonenofen. Irrwege, vor dem Betreten selbiger wird gewarnt. Eltern haften für Kinder.

Neue Angst, Ratlosigkeit in den Gesichtern der Alten.

Dunstquellen, Hexenschweigen.

Druckausgleichsregler für Lebewesen sind animierbar durch Kratzen auf der Bauchhaut und an den äußeren Geschlechtsteilen. Ein anhaltendes Mahlen der Kieferknochen (unter Vernachlässigung des Verlustes von Zahnschmelz) fördert die Ansammlung von Speichel bis zum Überlaufen und allmählichem Abtropfen auf die Bügelfalten. Der nachfolgende Übergang des Subjektes in einen lethargischen Zustand ggf. in den Zustand zunehmender Willenlosigkeit

und (scheinbarer) Apathie führt zu einer kathartisch wirkenden Entfernung aller Flausen und einer mentalen Nullstellung mit hohen Erfolgschancen für einen Neustart. Spezielle Abweichungen von diesem verbreiteten Phänomen sind noch nicht untersucht worden.

Mein Tagebuch führt auf die Spur: „...entspricht hinauf, noch nicht gezeichnet der Druck aber, nach gegangenbegangenem Weg und bei einem kam ich ans Ziel, mit Achtzehn.“

Faktensicher und wahr ist mein Anfang gewesen:

„Ich schrieb mich 1965 in eine Fakultät ein, die relativ neu an der Universität in Dresden eingerichtet worden war und meines Wissens nach eine kurze Zeit die einzige ihrer Art in der Hochschullandschaft blieb. Ein Jahr zuvor, noch in der Abiturprüfungszeit, hatte mir in einem dünnen Brief das Prorektorat für Studienangelegenheiten der TU Dresden auf meine Bewerbung hin mitgeteilt, ich könne das elf Semester dauernde Studium der Ingenieurökonomie an der gleichnamigen Fakultät, Fachrichtung Bauwesen, im Herbstsemester 1965 aufnehmen einschließlich eines sechsmonatigen Praktikums im BMK Chemie Halle, konkret auf deren Baustelle im VEB Chemische Werke Buna. Als Voraussetzung sollte ich eine abgeschlossene Lehre in einem Bauberuf vorlegen und meine dadurch eventuell erlangte Reife in einem Prüfungsgespräch an der Dresdner Fakultät belegen.

Ich hielt das Schreiben bereits für die Immatrikulation. Und aus einer kurz greifenden Sicht bis zum elterlichen Gartenzaun heraus kalkulierte ich, damit eventuell um die Wehrpflichtzeit herum zu kommen, weil ich nach dem Studium vielleicht als zu alt gelten und aus der Rekrutierungsstatistik fallen würde.

Die Wendung: ich schrieb mich (...) ein, ist eine von mir gewollte Anhebung eines nüchternen Registrierungsvorganges. Der Schönheit und Einmaligkeit des bürokratischen Aktes wegen, seiner Hochstimmung erzeugenden Wirkung wegen und der immer wieder in älteren Büchern gelesenen anhebenden Textpassagen, diese oder jene Person hätte sich in eine Fakultät eingeschrieben, habe ich den Euphemismus mit Schmunzeln aufgenommen, ohne Scham mit einer stillen immer noch anhaltenden Freude. Freude empfand ich bereits während des besagten Eignungsgespräches im für mich unerwartet imposanten Schumann-Bau der Universität (in meiner Heimatstadt gab es zu der Zeit keine dominierenden Gebäude mit mehr als drei Etagen). Ich wurde in einen freundlich wirkenden, sehr hellhörigen Raum mit gerahmten gläsernen dünnen Türen und ständig eindringenden Geräuschen aus der Flurebene der fünften Etage beordert. Die mir gewaltig vorkommenden dicken Wände, die meiner Erinnerung nach an den Türleibungen abgerundet waren oder immer noch sind, denn das Gebäude existiert mit steinerner Würde weiterhin, passten nicht zu den schmalen Türchen. Aber der Gesamteindruck des Baues und seines mir noch nie vor Augen gewesenen Innenlebens, wie Rotunde, breite nicht knarrende Treppenaufgänge, die hie und da auf den weiten Etagenfluren protzenden eckigen plüschbespannten Sessel (ich wollte den Bauhausstil an ihnen erkennen), hielten mich im Bann und versagten mir den lockeren Blick auf anderes. Erst später erfuhr ich, in einem ehemaligen und umgerüsteten Gefängnis zum Gespräch gewesen zu sein.

Zwei promovierte Herren im Anzug und gelassen in ihrer Haltung baten mich ins Zimmer mit Fenstern, die einen satten Blick auf voll belaubte Bäume erlaubten. Sie redeten mehr als ich. Ihre Fragen und meine Antworten weiß ich nicht mehr. Ich habe aber den Eindruck behalten, die Herren fühlten sich in ihrer Rolle wohl und gaben mir in dem Maße ihrer zunehmenden Sprechmenge das Gefühl, aus dem Raum kommst du als Student in spe heraus. Die beiden honorierten zu meiner Überraschung mit wohlwollenden Worten eine kleine Broschüre in meinen unruhigen Händen über die Fünfte Baukonferenz der DDR (die Idee, die Broschüre vorzuzeigen, kam von dem in der direkten Nachbarschaft lebenden, wortkargen aber freundlichen Lehrmeister Otto Erl aus dem vaterstädtischen Bauunternehmen, der mich während meiner Lehrzeit von Ferne beobachtete und wusste, dass ich das Aufnahmegespräch in Dresden vorbereitete. Er reichte mir die Broschüre am Vorabend meiner Hinreise durchs Küchenfenster, lachte dabei und wünschte mir Erfolg. Seine Zähne waren schadhaft. Das sah ich dabei das erste Mal.)

Ich wunderte mich im Stillen. Was sollte an der roten Broschüre von Bedeutung und förderlich sein? Ich hatte gesellschaftliche Ereignisse wie Industriezweig-Konferenzen, Plenen des ZK der SED oder gar ihre Parteitage nie ernst genommen geschweige denn, deren Verkündigungen mit Verstand gelesen. Zu Inhalt und Ziel der Baukonferenz wäre mir kein Wort gelungen, vielleicht ein paar peinliche politische Phrasen wie in der EOS-Zeit im Deutschaufsatz. Aber wäre mein Phrasendreschen peinlich gewesen, wenn die Phrasen in die richtige Richtung geklungen hätten? Was hatte mich eigentlich gelenkt, die Broschüre während des Gesprächs in die Hand zu nehmen? Vielleicht war es der weise Rat von Otto Erl gewesen. Ich habe es vergessen.

Den Herren muss es imponiert haben, dass ich Grünschnabel mit einer aktuellen politischen Broschüre angerückt kam und die dauernd in meinen Händen zu einer Röhre drehte, wie eine Drohung, sogleich spontan und eilfertig über die Konferenz zu posaunen, worauf die beiden keinerlei Lust gehabt haben dürften, weil auch sie vielleicht nicht über allgemeine Bemerkungen zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität und intensiveren Auslastung der Produktionsmittel hinweg gekommen wären. Doch halte ein, sagt mein Gedächtnis, einer von den beiden, derjenige, der mir vom Habitus auch wie ein wirklicher Wissenschaftler und Hochschullehrer vorkam, wusste zu sagen, um welche Prozentzahl die Auslastung der produktiven Baumaschinen im Planungszeitraum erhöht werden sollte. Ich glaube aber, dass den beiden, vielleicht meine kräftigen und zupackend wirkenden Hände für den zukünftigen Planungszeitraum entscheidender als die Broschüre erschienen, um die nächste Erhöhung der Planziele zu erreichen. Zu meinem akzeptabel gelungenen Berufszeugnis nebst gutem Abitur sagten sie nichts Wesentliches. Sie überzeugte wohl mein gesamtes Auftreten - ein durchaus zutreffendes Wort für den Ablauf des Gesprächsereignisses von Begrüßung bis Verabschiedung, aber nicht dafür, dass ich die ganze Zeit nervös auf dem flachen Stuhl saß – und vermittelte genug Sicherheit, den Besetzungsplan des Studienganges mit einem wahrscheinlich erfolgreichen Studenten personell aufzufüllen. Schwärmend und voller Einbildung muss ich noch hinzudichten, dass auch der hoffnungsfrohe Blick meiner Augen ihnen gesagt haben könnte, den Jungen dürfen wir nicht enttäuschen und auf keinen Fall zurück in die Provinz schicken...“ Hier ist das Ende des langen Zitats erreicht. Hab’s einfach abgeschrieben.

Schweißflecke habe ich, schon seit der Bahnfahrt. Ich rieche den klebrigen Schweiß. Fahnen hängen aus der Fassade des Wohnheims. Die DDR–Fahne sehe ich und eine rote. Fahnen sind immer im Wind, sie brauchen den Wind um zu blühen...

Doch, die Szene hier erkenne ich wieder.

Die kenne ich von ... ja, von dem Bewerbungsgespräch.

Bin also hier schon mal vorbei, aber die klaren Bilder gibt es nicht. Habe nur nach oben geschaut, mich gefühlt wie ein Vogel. Ein Nestflüchter, zu früh, unbeholfen und hungrig. Und ein Großmaul im Stillen.

Halt die Klappe!

Konntest keinen besseren Zug ausgesucht haben, du Dussel.

Fährst die Nacht hindurch, Station für Station über die Prärie, durch die Käffer und noch Umsteigen in Leipzig, anstatt in Halle den Schnellzug zu nehmen und durchzufahren...

Schnellzug hat es für mich noch nie gegeben, immer Bummelzug, den ganzen Tag Bummelzug. Die ganze Fahrt Bummelzug. Reise im Bummelzug. Bummelzug ist bezahlbar.

Ich belüge mich selber. Ich hatte die Studentenermäßigung für den Fahrschein vergessen, das war der einfache Grund.

Kinderzimmerknabe, zerwühltes Bett.

Das Fenster zu Hause blieb offen stehen - Mutter, machst du es zu, wenn ich weg bin? Mutter, Mama, hörst du mich?

Wie sich das einbrennt und zurückholt.

Am Siebzehnten gibt es Geld bei Mutter im Büro. Ich weiß noch immer nicht, wie viele Mark Gehalt sie im Monat nach Hause bringt. Geheimnisse gibt es!

Vater trägt ein, zwei Hunderter im Portemonnaie. Wo hat er die Scheine nur her? Vater, du hättest die Scheine auch selber gemacht, wenn du gekonnt hättest. Wie er lacht, wenn ihn, es, niemand sieht.

Niemand erkennt ihn.

Du hättest gedruckt, im Keller, sage ich, und du hättest gefeixt. Und dir beim ersten Ausgeben doch in die Hosen geschissen. Vater.

Hättest.

Ich hätte besser trampen sollen die lange Strecke. Trotz der schweren Tasche. Rußschwarze Hände habe ich heute. Niemanden anfassen damit.

...Hunderter Scheine in Vaters Portemonnaie stimmt nicht, Zehnerscheine stimmt. Hunderter Scheine haben wir nicht zu Hause.

Ich habe nachgeschaut, jeden Monat. Das Geld liegt im Büfett in der Haushaltskasse. Der Schlüssel steckt schräg. Die Bibel liegt über der Kasse und kippt auf dem angenieteten Griff mal nach rechts mal nach links. Ich habe nie das Geld angefasst. Nie welches gebraucht. Immer nur gezählt, wenn ich allein sein konnte und den Schwund geschätzt und das Haushaltbuch gelesen. Im Sommer mehr Ausgaben, als im Winter. Kohlen und viele verschwitzte Wäsche, Wasser zum Gießen, Most aus der Kelterei und Fahrkarten für den Zug. Im Winter mehr Geld für Fleischer und elektrisches Licht.

Die Villa in der Oskarstraße

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