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ОглавлениеGrußwort von Andrej Hunko
(Mitglied des Bundestages, Die Linke)
Es ist ein überaus verdienstvolles Anliegen, in Form von Interviews mit Zeitzeugen die verdrängte Erinnerung an den Vernichtungskrieg der Wehrmacht im Osten zu erinnern, dem 27 Millionen Menschen zum Opfer gefallen sind, darunter überwiegend Russen, aber auch viele Ukrainer und andere Völker der damaligen Sowjetunion. Ulrich Heyden legt hier rund um den 75. Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus ein sehr wichtiges Buch vor.
Das ist umso bedeutsamer, als wir in einer Zeit leben, die starke Züge eines neuen Kalten Krieges aufweist, der auch die Erinnerungskultur berührt. Im September 2019 etwa beschloss das EU-Parlament unter dem Titel „Bedeutung des europäischen Geschichtsbewusstseins für die Zukunft Europas“ eine Resolution, die insbesondere auf Betreiben polnischer Nationalisten eine revisionistische Neudefinition des 2. Weltkriegs vornimmt, die sich in die aktuelle geopolitische Stimmungsmache gegen die Russische Föderation einfügt.
Denkmäler etwa die, die Erinnerung an die Rolle der Roten Armee beim Sieg über den Nazismus aufrechterhalten, sollen laut dieser Resolution einem umgeschriebenen Geschichtsbild weichen. Erschütternde 82% der Abgeordneten stimmten dafür, einzig die Linksfraktion und einzelne Abgeordnete anderer Fraktionen stimmten dagegen. 77 Abgeordnete der parlamentarischen Versammlung des Europarates aus 17 Ländern widersprachen daraufhin in einer „written declaration“ Ende Januar 2020 jeglichen Versuchen, die „historische Wahrheit“ über den 2. Weltkrieg umzudeuten.
Ausgerechnet zum 75. Jahrestag der Befreiung vom NS-Faschismus sollte der Höhepunkt des größten Militärmanövers seit dem Kalten Krieg vor der russischen Westgrenze stattfinden. Auch wenn es so aussieht, dass das Corona-Virus diese Provokation in diesem Jahr vereitelt, ist doch davon auszugehen, dass vergleichbare Manöver in den nächsten Jahren geplant werden.
Meine teilweise ukrainischen Wurzeln ändern nichts daran, dass ich sehr westdeutsch sozialisiert bin, aufgewachsen in Aachen, derjenigen deutschen Stadt, die schon am 21. Oktober 1944 befreit wurde. Ich erinnere mich sehr gut daran, wie ich als 11-Jähriger im Rahmen einer Fußball-Jugendmannschaft nach Paris fuhr und dort von einer französischen Großfamilie aufgenommen wurde. Ich spürte die feierliche Überwindung, die es meine französischen Gastgeber 30 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs kostete, einen Deutschen aufzunehmen. Erst später begriff ich, dass dieser Jugendaustausch Teil der Elysee-Verträge war, die auch der zivilgesellschaftlichen Versöhnung der ehemaligen Erzfeinde Deutschland und Frankreich dienten.
Während diese deutsch-französische Aussöhnung erfreulicherweise weitgehend erfolgreich umgesetzt wurde, hat es nie vergleichbare Initiativen einer deutsch-russischen Aussöhnung gegeben. Die Erinnerung etwa an die Hungerblockade von Leningrad oder die Dimension des Vernichtungskrieges selbst, ist im deutschen Bewusstsein verglichen mit anderen Verbrechen des NS-Regimes nur äußerst rudimentär ausgeprägt. So konnte etwa Thomas Oppermann bei seiner offiziellen Rede zum 75. Jahrestag der Befreiung von Aachen im dortigen Krönungssaal am 21. Oktober 2019 völlig unwidersprochen etwa die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung von Ausschwitz „vergessen“.
Ähnliches dürfte bei den offiziellen Feierlichkeiten im Mai 2020 zu erwarten sein. Vor diesem Hintergrund sind die folgenden Interviews wichtige Stimmen, um dieses Vergessen zu vermeiden.
Andrej Hunko ist stellvertretender Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag und im Europarat