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Große und kleine Zeichen

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M hatte in der Nacht vom 19. auf den 20. März 2015 sehr schlecht geschlafen. Genau genommen hatte er seiner Meinung nach überhaupt nicht geschlafen. Um 7.00 Uhr morgens war sein Gemütszustand so zerrüttet, dass er reichlich viele Tabletten der Marke Vivinox schluckte, um schnell und tief in einen traumlosen Schlaf zu fallen. Er hatte panische Angst vor den kommenden Stunden. Die wichtigsten Tage der Sitzungswoche im Bundestag waren gelaufen. Es war Freitag, ein Plenumstag zwar, aber auch der Tag, an dem die meisten mit gepackten Reisetrollis ins Parlament kamen, um es am Nachmittag zur Abreise in ihre Wahlkreise verlassen zu können.

Am 20. März lag über Mitteleuropa ein kräftiges Hoch. Am Vormittag gab es keine Wolken über dem Himmel von Berlin. Mit viel Sonne war eine freundliche Frühlingswoche angebrochen. Auf den Bürgersteigen war mit dem hellen Licht zunehmend Betriebsamkeit und buntes Leben zurückgekehrt. Obwohl die Luft noch kühl war, füllten sich schon am Morgen die Tische auf den breiten Bürgersteigen mit Gästen. Sie blinzelten den wärmenden Sonnenstrahlen des Himmels entgegen und erprobten die ersten Versuche gelassener Freundlichkeit im aufziehenden Frühsommer, um Aufmerksamkeit auf sich zu lenken oder verspielt ihre individuelle Korrespondenz mit dem Allgemeinen, Hellen und Schönen zu pflegen. So startete der Tag gelassen heiter, wärmend und sonnig. Es war ein normaler Freitagmorgen in Berlin, der allerdings mit der Zeit immer ruhiger, aber auch angespannter zu werden schien.

Der Glockenschlag halb zehn fiel kurz und trocken in das Karree rund um den Karl-August-Platz in Charlottenburg. Da lag M in tiefem Schlaf. In dieser Zeit fand ein prächtiges Schauspiel statt, eine nicht totale, aber kräftige Sonnenfinsternis, in der sich der Mond zwischen Sonne und Erde schiebt. Vollständig dunkel wurde es in Berlin also nicht. Aber für eine zwielichtige Dämmerung reichte es, die sich kontrastierend in den hellen Tagesbeginn schob. Der Mond erreichte eine Überdeckung des Sonnenballs von ungefähr 74 Prozent, immer noch genug, um das Schauspiel nicht ignorieren zu können und ausreichend für die eindringliche Warnung, ohne Schutzbrille der Versuchung zu widerstehen, in die Restsichel der Sonne an dem sich verdunkelnden Himmel zu blinzeln. In den Genuss solcher die Augen schützenden Brillen waren nur Wenige gekommen. Der Markt hatte vollständig versagt. Kurz vor diesem Tag war die Nachfrage für diese kleinen Helfer, die einem ermöglichen, eine Sonnenfinsternis zu beobachten, rasant gestiegen. Doch da waren die Regale bereits leer. Es gab keinen Nachschub. Mit so vielen Kaufwilligen hatte keiner auf den Märkten gerechnet, obgleich das Ereignis doch schon lange bekannt war.

Um 9.38 Uhr hatte der Mond den äußeren Rand der Sonne berührt. Nun schob er sich Stück für Stück als schwarzes Loch in den Feuerball. Langsam wurde es dämmrig. Der Scheitelpunkt für den Nachtschatten wurde um 10.47 Uhr erreicht. Da lag nur noch das düstere Licht über der Stadt, in der die Schatten wie von einer zu schwachen Laterne geworfen wurden. Die Glocke schlug ihre Viertelstunden nun voller in die Stille. Zwischen 10.30 und 11.30 Uhr blieben die städtischen Geräusche eines geschäftigen Tages sehr gedämpft. Auch die Spatzen hatten aufgehört zu zwitschern. Lediglich Hundegebell war zu hören. Die Hunde meldeten sich aus allen Richtungen. Doch das erholte sich alles so schnell, wie es gekommen war. Bald war die Stadt wieder bei sich selbst. Um 11.58 Uhr verließ der Mond die Sonne. Sogar das Stromnetz hatte gehalten. In den zwei Stunden mussten riesige Schwankungen großer Voltmengen verkraftet werden, die kurzzeitig nicht verfügbar waren, dann aber ebenso plötzlich wieder mit voller Leistung in die Netze fluteten. Die Experten und Strommanager hatten mit ihrer Angst im Vorfeld der Sonnenfinsternis nicht hinter dem Berg gehalten. Sie bewerteten das Ereignis als größten Crashtest für das wachsende System mit den erneuerbaren Energiequellen. Der Test verlief positiv. Es wurden keine nennenswerten Störungen gemeldet.

M hatte diesen Freitagvormittag tief und fest geschlafen. Er wachte erst gegen 15.00 Uhr wieder auf. Da zogen bereits erste Wolkenschlieren am Himmel auf. Als er durch seine Dachwohnung nahe dem Karl-August-Platz schlurfte, sah er an den großen Fensterscheiben zu seiner Außenterrasse einen schmierigen Fleck auf dem sorgsam gereinigten Glas. Er öffnete die Tür zur Terrasse und sah eine Taube tot auf den Holzdielen liegen. Der Anblick erschreckte M zutiefst. Mit festem Griff zog er die Tür zu, holte das Telefon und bestellte seinen Fensterputzer. Der kam am folgenden Montagnachmittag, beseitigte die Taube und reinigte das Fenster. Erst danach kehrte M in seine Wohnung zurück, die er bereits am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis panikartig verlassen hatte.

Der Bundestagsabgeordnete M gehört zu den eher unauffälligen Mitgliedern seiner Fraktion. In den Plenarsitzungen mit vollem Haus, wie sie nur selten stattfinden, sitzt er in der siebten Reihe ziemlich in der Mitte. In den Sitzungswochen bleibt er meistens auf Abruf in seinem Büro, eilt dann stets pünktlich zu den Abstimmungen in den großen Saal, wenn er gebraucht wird. Nur wenn Vorlagen verhandelt werden, an denen der Ausschuss beteiligt wird, in dem er Mitglied ist, sitzt er dann inmitten der meistens kleinen Schar im Plenum, sogar weit vorne. Im Bundestagsfernsehen, das eigens für diese große Einrichtung hergestellt wird, kann man ihn bei solchen Sitzungen manchmal sehen. In seinem Büro lässt er entsprechende Sequenzen kopieren und verwendet sie gerne in seinem heimatlichen Wahlkreis. Reden im Plenum hat er noch nicht gehalten. Zwei kleinere Beiträge von ihm wurden schriftlich eingereicht und zu Protokoll gegeben.

M wurde 2013 in den Bundestag gewählt. Seine Partei pflegt in seinem Wahlkreis immer die Mehrheit zu erhalten, und so ist M ein direkt gewähltes Mitglied des Parlaments. Dort gilt er als ein geschätzter Kollege, dessen Ambitionen als überschaubar gelten. Gegenüber dem Führer seiner Fraktion ist er vollständig loyal, was mit steter Freundlichkeit erwidert wird. Bei seinen politischen Freunden ist er geachtet, vor allem auch wegen seines bescheidenen Auftretens und wegen seiner unbedingten politischen Zuverlässigkeit denen gegenüber, die im Bundestag auf ihn zählen. Man hat ihn in den großen Innenausschuss geschickt, wo er sich mit weiteren 36 Mitgliedern dem Schwerpunkt Innere Sicherheit widmet.

Im Bundestag unterhält M wie alle Mitarbeiter des Bundestages, kurz MdB, ein Büro. Dafür hat er im Jakob-Kaiser-Haus in der zweiten Etage zwei Standardräume mit je achtzehn Quadratmetern und mit den für ihre Zwecke typischen biederen, aber durchaus freundlichen Einrichtungen. Im vorderen Zimmer arbeiten seine Sekretärin und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin. Mit diesem Raum verbunden residiert er selbst im hinteren Zimmer. Die Tür zum Gang hält er von seinem Zimmer aus immer verschlossen.

Über seine Sekretärin spricht M meistens in warmherzigeren Worten als über seine Mitarbeiterin. Im Alltagsbetrieb nennt er die Sekretärin immer Schatz. Schatz ist mit 55 Jahren ungefähr genauso alt wie er, eine durchaus attraktive Frau, unauffällig, aber stilvoll gekleidet, bestens vernetzt vor allem in der Verwaltung des Bundestages. Schatz führt seinen Terminkalender mit den vielen offiziellen und halboffiziellen Treffen, Veranstaltungen, Gesprächen, Sitzungen und Unterhaltungen. Sie macht die Ablage, die Korrespondenz, räumt auf, telefoniert, mailt im Namen des Abgeordneten. Ohne Schatz, das weiß M, wäre er völlig hilflos dem politischen Stressbetrieb ausgesetzt und nicht in der Lage, auf den Bühnen der Gesellschaft des politischen Berlins mitzuspielen.

Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin nennt er ausschließlich Madame. Mit 37 Jahren ist sie jünger als M. Die studierte Soziologin arbeitet mit M auf der Grundlage eines privatwirtschaftlichen Arbeitsvertrags, der für eine Legislaturperiode mit gegenseitigen Kündigungsrechten abgeschlossen worden ist, und wird aus dem ihm zustehenden Personalbudget finanziert. Bevor sie ihre Arbeit bei M begann, hatte Madame bereits für zwei andere Abgeordnete aus seiner Fraktion gearbeitet, kennt sich also in der Büroleitung, dem Redenschreiben und den Anforderungen an die Öffentlichkeitsarbeit aus. Madame hatte sich durchaus auf M gefreut, da er vergleichsweise jung und als neues MdB auf ihre Zuarbeit besonders angewiesen war. Sie hatte allerdings schnell gemerkt, dass mit ihrem neuen Arbeitgeber keine großen politischen Sprünge zu machen sein würden. Das demotivierte sie aber nicht in ihrem Arbeitseifer. M war ihr in einer Weise sympathisch, die außerhalb des Politischen lag. Manchmal sitzt Madame vor ihrem Computer und baut an den Sätzen eines politischen Textes. Dann denkt sie an M, lächelt, weil sie ahnt, dass M den Inhalt ihrer Sätze nie verstehen wird.

M verbringt mehr als die Hälfte seiner Zeit in Berlin. In den 22 Sitzungswochen ist seine Anwesenheit dort Pflicht. Um sie herum hat er sich in der Stadt ein eigenes Arbeitsprogramm aufgebaut, mit dem seine Verweildauer stetig gewachsen ist. Zu Beginn seines Mandats hatte er noch seinem Wahlkreis versprochen, die Hälfte seiner Arbeitszeit bei seinen Freunden zu Hause zu verbringen. Es gehörte zu den stark unterstrichenen Kernaussagen daheim, dass die großartige parlamentarische Verantwortung im fernen Berlin getragen bleiben müsse durch die Anliegen und die Lebensweisheiten der vielen Freunde in der Heimat. „Ich stehe mit beiden Beinen auf der Erde, zu der ich gehöre.“ So stand es noch in dem Wahlbrief, den er im Sommer 2013 an alle Haushalte seines Wahlkreises hatte verteilen lassen. Auch deshalb hatte man ihn gerne gewählt.

In Berlin ist er unwichtiger und unsicherer als zu Hause auf dem Land, von dem aus er in die große Politik aufgebrochen war. Hauptstadt und Provinz ist für M ein schwieriges Paar. Fast täglich spürt er die Diskrepanz. Umso mehr achtet er darauf, dass sein Büro tadellos funktioniert. Für ihn ist es wichtig, dass es überschaubar und ordentlich bleibt, dennoch den ernsthaften Eifer ausstrahlt, der jeden Entsandten in diesem Hohen Haus als absolut notwendig erscheinen lässt. Einer von den 631 Abgeordneten ist M. Bei einer so großen Zahl würde man ihn auf einem Gruppenfoto aller Abgeordneten kaum mehr erkennen.

Auf dem großen Winkelschreibtisch aus dunklem Nussbaumholz liegen immer nicht zu hohe Stapel Papiere und Mappen. Dort liegen auch die drei Zeitungen, die er abonniert hat, und rechts neben dem Computer stehen die wichtigsten Gesetzestexte und Verordnungen für seine Tätigkeiten. An den Wänden hängen schöne Plakate aus seinem Wahlkreisgebiet und über dem Besprechungstisch hängt ein riesiges Foto, auf dem ihm die Bundeskanzlerin auf einer Wahlkampfveranstaltung auf dem Marktplatz seiner Geburtsstadt lächelnd die Hand drückt. Mit Filzstift hatte er quer ins Foto eigenhändig die Worte geschrieben: „Viel Glück!“ Im Bücherregal lagern viele Protokolle. Die wenigen zeitgeschichtlichen Schriften werden eigentlich nur von Madame genutzt. So bleibt viel Platz in den Regalen, in denen Pokale und Andenken aus seiner Heimat ihren Platz gefunden haben. Aber auch eine Reihe Kriminalromane gibt es da und – als einzige individuelle Beigabe – astrologische Bücher, zum Teil in prachtvoller Aufmachung. Seinem Schatz hatte er mal anvertraut, diese Bücher seien für ihn zwar nicht beherrschend, sie seien für ihn aber auch nicht verzichtbar, weil er „die Marotten eines siebten Sinnes“ habe. Schatz hatte das nicht weiter hinterfragt und nur geantwortet: „Ich lege mir auch manchmal die Tarotkarten.“

M legt großen Wert auf Pünktlichkeit und auf das Einhalten möglichst gleichlaufender Präsenzzeiten in seinem Büro. Das war für Madame eher ungewöhnlich im Bundestag mit den Stoßzeiten, ständig neuen Terminanforderungen und langfristig verplanten Verpflichtungen. Aber M hatte gleich am ersten Tag in seiner Begrüßungsansprache in seinem Büro die Regel ausgegeben: „Zwischen 10.00 und 16.00 Uhr ist Kernarbeitszeit. Wenn ich in diesen Stunden nicht gerade woanders sein muss, sind wir drei hier.“ Schatz und Madame lernten, mit dieser Regel gut zu leben, versprach sie doch vor allem, im Vergleich zu den anderen Abgeordnetenbüros, einen planbaren Dienstschluss und attraktive Übergänge ins Privatleben.

Die wachsende Inanspruchnahme von M in Berlin lag nicht nur in dem kaum zu bewältigenden Arbeitspensum für die Abgeordneten. M sucht die geordneten Verhältnisse. Was Stress erzeugt und ihn aus zeitlichen Routinen drängt, ist ihm zuwider. Deshalb musste er den Weg einschlagen, die Fülle seiner Verpflichtungen als Abgeordneter nicht in die Enge der Sitzungswochen zu pressen. Entzerrung wurde ein von ihm immer häufiger genutztes Wort. So übernahm er nicht mehr die Gewohnheit, sich am Freitag so früh wie möglich auf den Weg nach Hause zu machen, um am Montag zu nachtschlafender Zeit wieder in die Hauptstadt zu reisen. Mit den Wochenenden entdeckte er Tage, die nicht mehr ausschließlich durch seine Arbeit im Bundestag bestimmt wurden. Er hatte mit der Zeit gelernt, dass er umso mehr Persönlichkeit ausstrahlte, je weniger innere Anspannung und zeitliche Überforderung ihn belasteten. So wurde seine Anwesenheit im Wahlkreis immer knapper und seltener.

In den zwei Jahren seines Lebens als Abgeordneter in Berlin hatte er Spielräume gewonnen, die er zu nutzen verstand. Er wirkte, wie er zu beobachten meinte, ruhiger als viele seiner geschäftigeren Kolleginnen und Kollegen. Als Bestätigung empfindet er die Beweise an Zuneigung, die er in der dicht neben seinem Büro gelegenen Parlamentarischen Gesellschaft erfährt. Dort ist er ein gern gesehener Gast. So oft wie möglich begibt er sich am späten Nachmittag in die prächtigen Räume des Palais an der Spree, um die hervorragende Küche mit dem empfindsamen und diskreten Service zu genießen, bevor er dann zu einem abendlichen Glas Wein oder Bier in Ossis Kellerkneipe im Souterrain dieses herrschaftlichen Hauses zieht, wo er sich im Lauf der Zeit zahlreiche Freunde aus allen Fraktionen des Parlaments gemacht hat.

Nicht geringen Einfluss auf seine wachsende Verweildauer in Berlin hatte noch eine andere Entwicklung. Außerhalb des Kreises der vielen Menschen, die Nähe zur Politik suchen oder diesem Kosmos angehören, hatte er eine Wahrsagerin kennengelernt. Sie arbeitete in Friedrichshain, in einer ziemlich verborgenen Hinterhofwohnung in der Sonntagstraße nahe dem Ostkreuz. Als er sie zum ersten Mal unverbindlich besuchte, wusste er sofort, dass er sich ihrem Bann nicht würde entziehen wollen. Er verband mit ihr keinerlei erotische Ambitionen. Sie ist etwa so alt wie er. Er weiß, dass ihre Anwesenheit ihn Macht spüren lässt. Er ist überzeugt, ihre Macht über ihn wird ihm mit der Zeit den Weg öffnen, wie er die Macht in sich entdecken kann, sich als mächtig zu denken und zu entwickeln.

In der Woche der Sonnenfinsternis beginnt am Montag eine weitere Sitzungswoche in Berlin. Mittags steht für M fest, dass er an diesem Tag nicht mehr gebraucht wird. Die Zeit bis 16.00 Uhr verbringt er mit seinen beiden Mitarbeiterinnen im Büro. Dann verlassen sie ihre Räume. M verabschiedet sich und fährt nach Friedrichshain in die Sonntagstraße. Die Wahrsagerin pendelt ihn in eine tiefe Trance und er vernimmt eine klare Botschaft: Du wirst am 20. März, dem Tag der Sonnenfinsternis, nicht zur Arbeit gehen. Du wirst Zeuge einer starken Verwirrung sein, die du nicht verstehst. Du wirst am Nachmittag jenes Tages erregt zu mir kommen und wirst Zeuge einer Katastrophe sein, die sich hier in der Nähe abspielen wird. Du wirst den Mythos der Sonnenfinsternis wieder entdecken, der in dir tief verborgen ist. Die aufziehende Panik nach dieser Botschaft wird M durch die weitere Woche begleiten.

Zu den unverrückbaren Grundsätzen des Politikers M gehört: „Wir müssen unser Land gegen den Terrorismus von links und von rechts schützen.“ Die Reihenfolge von links und rechts war ihm immer wichtig, und er hielt sich stets an sie. Ihm war klar, dass diese Forderung an seine eigene politische Existenz die volle Spannweite zwischen Macht und Ohnmacht grell ausleuchtet. Schwierigkeiten der Erfüllung lagen im System, etwa in den geteilten Zuständigkeiten des Bundes und der Länder, auch in dem fast uneingeschränkten Schutz der Täter, solange ihre Tat noch nicht vollständig bewiesen war. „Des Volkes Stimme“ war in dieser Besonderheit des Rechtsstaates eindeutig. Im Grundsatz teilte er sie. Auf der anderen Seite erlaubten die Gesetze eine ganze Menge, mehr als seiner Meinung nach in die Strafverfolgung und Strafpraxis tatsächlich erreichten. Verstärkt werden müssten gezielte Beobachtungen im Vorfeld, Maßnahmen gegen Gruppen, Observationen nach unaufgeklärten Taten, Festnahmen, Haftbedingungen, schnellere Prozesse.

M gehört zu den Menschen, die mit einer tief sitzenden Angst leben, für die gegenwärtig die Zustände schlechter sind, als sie früher waren, die gerne das Gute in sich selbst sehen und das Böse bei den anderen vermuten. Mit Sorge verfolgt er, wie die Sicherheitspolitik immer aufwändiger wurde, ihre Wirkungen indessen oft nur Spott und Hohn erzeugten. Die Daten und Informationen, die ihm Madame vorlegt, kreisen um horrende Summen, die Nachrichtendienste, Verfassungsschutz und polizeiliche Aufklärung verschlucken. Die Personalbestände wachsen wieder. Aber offensichtlich wird es immer leichter, den Staat an der Nase herumzuführen, das Leben der Menschen immer mehr zu verunsichern. In seinem Wahlkreis spricht M gerne vom Bösen als der neuen Internationale. Diese Internationale wächst schneller, als die Abwehrkräfte sie zu schwächen verstehen. Seinen Wählern erzählt er auch, dass er in Berlin diesem Bösen in seinen vielseitigen Erscheinungsformen näher als je zuvor in seinem Leben ist. Er verschweigt dann auch nie den Hinweis, dass es zu Hause in seinem Wahlkreis ein paar verrückte Rechtsradikale gäbe. Doch sie in den Vordergrund zu rücken, halte er für falsch. Zu Hause ist noch alles einigermaßen überschaubar. Man kennt sich besser untereinander, kann die einzelnen Ausreißer im Zaume halten. Vor allem fehlen zu Hause die Rekrutierungsquellen, aus denen der soziale Kollaps ideologisch gespeist wird. Das ist in Berlin schon ganz anders. In seiner Lebenszeit habe M die Erfahrung gemacht, dass erst durch die linke Ideologie, aus verkürzter Meinungsmache, die Formen der Gewalt entstanden seien, die sich blind gegen die Herrschenden in Staat und Gesellschaft austobten. Es schmerzt M fast körperlich, wie durch terroristische und kriminelle Gewalt die Gesellschaft mutiert.

Bereits am Donnerstag, einen Tag vor der Sonnenfinsternis, hatte M in seinem Büro angerufen und sich krankgemeldet. Er habe große Probleme mit seinem Magen. Madame beauftragte er, die Vorlagen für seine anstehende Griechenlandreise auszuarbeiten. Die hatte der Abgeordnete M privat gebucht, obgleich sie ihm politisch eine überaus wichtige Mission zu werden versprach. Madame sollte sich auch um Gesprächspartner in Athen bemühen, schließlich würde er das Land zwei Wochen lang vom 4. April bis zum 18. April bereisen. Schatz bat er, nicht nur seine Krankmeldung in die richtigen Wege zu leiten, sondern vor allem auch dem Fraktionsvorsitzenden ein paar freundliche Worte zu schreiben und ihm die selbstverständliche Unterstützung in der weiteren Arbeit zu signalisieren. Und bitte nicht zu vergessen, fügte er am Telefon seinem Aufgabenkatalog für Schatz mit schmeichelnder Stimme zu, solle sie eine Nachricht an die Geschäftsführung der Parlamentarischen Gesellschaft schreiben, dass er leider erst im späteren April wieder die gewohnte Gastfreundschaft in Anspruch nehmen könne.

Am Freitagnachmittag, dem Tag der Sonnenfinsternis, war er zu seiner Wahrsagerin nach Friedrichshain in die Sonntagstraße gefahren. Er hatte sich in die S-Bahn gesetzt, die ihn direkt bis zum Ostkreuz brachte. Normalerweise bucht er für seine Fahrten durch Berlin den Fahrdienst des Bundestages. Die schwarzen Limousinen empfindet er als für sich angemessen. Aber M ist ein vorsichtiger Mensch. Für diesen Besuch will er keine Spuren hinterlassen. Eine Wahrsagerin passt nicht in das Bild, das man sich von einem Politiker macht. M gibt sich viel Mühe, dem allgemeinen Bild nach Möglichkeit vollständig zu entsprechen. Zu genau glaubt er zu wissen, seine politische Karriere könne er nur geräuschlos weiterentwickeln, wenn keine Schatten eines Skandals auf den Politiker M fallen. In der öffentlichen Wahrnehmung solle gar nicht erst der geringste Verdacht entstehen können, zwischen seinem privaten Leben und seinem Leben als Politiker gäbe es irgendwelche Ungereimtheiten. Gerade erst hatte es einen Kollegen aus einer anderen Fraktion, mit dem M im Ausschuss eng zusammengearbeitet hatte, mit voller Wucht erwischt. Der Druck öffentlicher Empörungen über sein Sexualleben hatte ihn zugrunde gerichtet.

Die Umgebung vom Ostkreuz empfindet M als düster, dreckig, bedrohlich. Die Fremdheit der meisten Menschen in dieser Gegend wird kaum gemildert durch die fröhliche Neugierde vieler Touristen. M stellt sich vor, dass Touristen eigentlich seine geheimen Verbündeten sind. Lieber sieht er sie Unter den Linden als in dieser finsteren Ecke zwischen einer riesigen Baustelle und einer unübersichtlichen Szene der Gelegenheitsgeschäfte. Wie die Touristen hat er eigentlich nichts gegen Araber, Türken, Schwarze und die vielen Arbeitslosen, die es hierher verschlagen hat. Aber in ihrer Vielzahl sind sie ihm unheimlich, und er wird das Gefühl nicht los, sie nicht beherrschen zu können. Das Böse entsteht in solchen Brennpunkten wie um das Ostkreuz. Hier, so hat M oft seine Überzeugungen bildhaft ausgemalt, leben zu viele Menschen, die der Gesellschaft feindlich gesonnen sind, die den Staat bekämpfen, von dessen sozialen Segnungen vor allem sie profitieren.

Mit schnellen Schritten eilt M über den Bürgersteig an der Reihe nicht endender Kneipen und Restaurants mit exotischen Namen und eigentümlichen Einrichtungen vorbei. Er kann sich nicht vorstellen, wie auf so engem Raum so viel Gastronomie in einer dichten Stadtlandschaft der Armen und Ausländer überleben kann. Sicher, die Preise sind niedrig, geradezu lächerlich niedrig, vergleicht er sie mit den Gaststätten in seiner Heimat oder mit seinen Erfahrungen in anderen europäischen Hauptstädten. Doch mit Hartz 4 geht man nicht ins Restaurant und kann nicht tagaus und nachtlang in einer Kneipe hocken wie hier. Die Geldkreisläufe in dieser Szene müssen anderen Wirtschaftsgesetzen folgen. Das ärgert ihn. M hat viel darüber gelesen, wie Schwarzmärkte, Drogenhandel und andere dunkle Geschäfte am besten in den Gegenden gedeihen, wo die Hartz IV-Quote am höchsten ist. Hier also ist der Humusboden für die Kriminalität, da ist M sicher. Die Kriminalität, so weiß er auf den wenigen Metern der Sonntagstraße ganz deutlich, ist das gesellschaftliche Umfeld für die großen Sicherheitsprobleme des Landes. Sie ist, das will er künftig noch viel klarer aussprechen, der Kern eines politischen Problems. Anfänge einer wichtigen Rede bilden sich in seinem Kopf, die er bald halten möchte.

Seine Wahrsagerin hatte an diesem Nachmittag viel Zeit für ihren so erregten Kunden. Doch professionell folgt sie sehr aufmerksam und voll konzentriert den Linien, die sie zwischen der aktuellen Sonnenfinsternis und M zu erkennen glaubt. Ihr prägt sich die Panik in seinem Gesicht ein, als er von dem toten Vogel unter dem Fenster in seiner Wohnung erzählt. Erfahrungen von Generationen Frauen aus der inneren Mani, der mittleren Südspitze der Peloponnes mit den hohen steilen Steinwüsten, Blutrachen und Freiheitskämpfern, fließen durch ihr Blut, wie sie meint. Männer wie M spiegeln sich sehr gerne in ihr und machen es ihr einfach, ihre Sehkraft des Allgemeinen mit den Ängsten des konkreten Menschen vor ihr zu verbinden. Mit einem Politiker wie M hatte sie allerdings noch nicht zu tun. Mit ihrem Pendel hat sie schnell Erfolg, und die Karten geben viele Geheimnisse preis, die im Licht der Kugel zu Gewissheiten für die Klienten werden. Sie bleibt M gegenüber vorsichtig unklar in ihren Offenbarungen, will ihn nicht unnötig mit seinem eigenen Leben konfrontieren. Dazu scheint ihr die Zeit noch nicht reif und ihre Einblicke in diesen Mann noch zu unzureichend zu sein. Sie konzentriert sich auf wenige fast alltägliche Ereignisabläufe, weil ihre Karten sie darauf hinweisen, M werde ihre (heil)seherischen Fähigkeiten besonders überzeugen, wenn ihre Botschaften demnächst durch seine eigenen Wahrnehmungen bestätigt würden. Als Politiker ist M ihr unsympathisch. Aber ihr ist sehr daran gelegen, diesen Mann als ihren Kunden nicht zu verlieren. Sein Honorar ist beachtlich und er zahlt ohne Quittung. Außerdem fragt er nicht nach ihrer Geschichte, will über sie offensichtlich nichts wissen.

„Im Strahlenkreuz“, beginnt sie leise und behutsam in seine Trance zu reden, „speit die Sonne viele Feuer wie ein Vulkan über den harten Rand des kalten schwarzen Mondes. Die Flammen treffen nun die Erde und erzeugen bei Tieren und Menschen tiefe Erregungen. Es ist die Zeit der Warnungen. Kühl und dunkel ziehen die Botschaften über das Land, in dem keiner mehr sicher sein kann. Die Finsternis ist die Gegenmacht des Lichtes und deckt alle Gedanken zu, es könne eine ewige Herrschaft des Hellen gegen das Dunkle geben.“ Sie macht eine Pause. In der tiefen Stille hört sie das langsame gleichmäßige Atmen von M, fühlt seinen Schlaf, in dem ihre Worte die Bilder malen. „Am Abend, wenn die Erde schon längst wieder um die Sonne laufen wird, von keinem Mond gestört, wird von oben auf dem Haus an der Straße ein scharfer Knall die Luft zerfetzen. Unten auf der Straße wird ein Kind zusammenbrechen.“

Tage später wird M in der Zeitung lesen: Im zweiten Stock eines Hauses in der Straße der Pariser Kommune sind in einer Wohnung sieben Personen, fünf Männer und zwei Frauen. Es ist 19.00 Uhr. Unten auf der Straße spielen Kinder. Unter ihnen ist ein neunjähriger Junge, der plötzlich, von einer Kugel getroffen, schreiend auf die Erde fällt. Blut rinnt aus dem Bauch. Es ist Freitagabend, noch nicht ganz dunkel, aber auch nicht mehr tageshell. Polizei und Rettungswagen kommen sehr schnell. Das Kind wird überleben. Als Schütze wird nach kurzer Ermittlung ein 47-jähriger Mann aus jener Wohnung ermittelt, Familienvater. Die Polizei findet ein Luftgewehr, das neben dem Fenster steht, aus dem geschossen wurde. Das Motiv bleibt unklar. Der Mann hat die Tat sofort gestanden. Im Haus wohnen mehrere Roma und Rumänen – wer will da schon so genau unterscheiden? Mehr oder minder wird klar, was sich in der Wohnung abgespielt hat. Es wird laut und heftig geredet und gestritten. Sie finden nicht zueinander und wissen nicht, was sie miteinander tun sollen. Sie schimpfen über den Lärm der spielenden Kinder unten auf der Straße. Sie hätten es jetzt so gerne ganz ruhig unter sich, suchen emotionale Nähe wie beim Kerzenlicht, finden sie aber nicht. Sie erleben sich fremd und wie einer Katastrophe ausgeliefert. Aggressiv bleibt jeder mit sich allein. Die lärmenden Kinder sind schuld, die da unten auf der Straße provozierend unbekümmert spielen.

Die Trance bei der Wahrsagerin war noch nicht zu Ende. In den Schlaf von M hinein säuselt sie mit schmeichelnd drohender Stimme weiter: „Die Flammenstürme, die aus den Rändern der Sonne züngeln und über den harten Rand des Mondes schwappen und zu uns wehen, verbinden sich mit Köpfen und Seelen vieler Menschen um uns. Ich sehe sie hier in der Stadt, und meine Kugel zeigt mir den Weg, wie sie nur wenige hundert Meter von uns entfernt tanzen. Die Karten erzählen mir, in welche Köpfe und Seelen sie eindringen, und die Kugel zeigt ihre große Kraft.“

Die Wahrsagerin nuschelt nun, als würde sie nur noch mit sich selbst sprechen. M hat zwar die Augen leicht geöffnet, aber in der Trance schwebt er jenseits der Sätze, die mit seinem tiefen Atem in ihn hineinströmen. „Ach, hätten die Menschen einen Horizont, der in den Kosmos reicht. So aber sind sie Werkzeuge des Schicksals, gefangen im Lebensaugenblick, verwickelt an dem Ort, an dem sie sich gerade befinden. So lauern sie um die Stunde der Sonnenfinsternis und spüren nicht die Zeit, die ihnen ein Zeichen des Schicksals schickt. Sie haben Angst. Doch sie stützen ihre Angst auf die eine Stunde, in der bangen Überlegung, was dieses Ereignis ihnen bringen mag, verdichten ihre Gefühle in falschen Prophezeiungen, in der Stunde der Finsternis könne ihnen der Strom abgeschaltet werden. Ob mit oder ohne Elektrizität ahnen sie nicht das Unheil, das ihnen mit den Strahlen der Feuer an den Fersen klebt. Zwischen zwei und vier Uhr in der nahen Nacht, immer in der Nacht vom Sonntag auf den Montag, schlägt die Deutsche Widerstandsbewegung zu. Ich sehe, wie die höhnenden Flammen sich wie ein Mantel um sie legen. Aber keiner kann sie erkennen. Immer deutlicher sehe ich einen Mann, er ist nicht weit entfernt. Er schläft noch ruhig auf einem Sofa. Dann tummelt er sich wie viele anständig gekleidete Herren auf den verkehrsreichen Straßen unter die vielen Menschen, von denen auch du einer sein kannst. Ich erkenne ihn, weil er da im Strahlenkranz mitzieht. Er trägt einen Beutel und eine Plastiktasche. Darin sind die Pulver, mit denen sie ihren Sprengstoff mischen. Groß und klar stehen da die Paläste des Parlaments. Zu ihnen zieht es ihn hin. Dort wird er in der Nacht zum Montag seinen Anschlag zelebrieren. Die Spur ist deutlich. Sie führt ins Regierungsviertel.“

M war aufgewacht, ohne wirkliche Erinnerungen an das Gespräch mit der Wahrsagerin. Aber er hatte ein starkes Gefühl mitgenommen, das ihm anzeigte, es würde bald Einiges geschehen, das sofort die Brücken zu seinem Unterbewusstsein finden würde. Er musste sich eine Zeitlang neu sortieren. Er rief sich zur Ordnung, seinen Pflichten als Bundestagsabgeordneter nachzukommen. Er wollte daran glauben, dass es einen Zusammenhang zwischen den Andeutungen seiner Wahrsagerin und seiner politischen Rolle geben müsse. Jetzt war er gefragt.

In der Woche nach der Sonnenfinsternis ist eine weitere Sitzungswoche des Deutschen Bundestages angesetzt. M nimmt an ihr teil, unauffällig, aber korrekt den Erwartungen folgend, die ihm von seiner Fraktion entgegengebracht werden. Als er die Wahrsagerin verlassen hatte und darüber grübelte, was sie ihm denn offenbart hatte, fand er nur drei Buchstaben in seiner Erinnerung: DWB. Er konnte mit ihnen nichts verbinden, und auch das Googeln half ihm nicht weiter. Er rief im Bundeskriminalamt – BKA – an. Auch dort hatte er keinen Erfolg. Obgleich er dreimal durchgereicht wurde, konnte er keine Spur von diesen Buchstaben im Amt ermitteln. Man verwies ihn an die örtliche Polizei. Dort wurde er fündig. Am 3. November 2014 hatte es einen Anschlag vor dem Reichstag gegeben. Personenschaden war nicht zu beklagen und der Sachschaden war unerheblich. Allerdings fand die Polizei im Papierkorb einen Stapel Flugblätter, die eine Putzfrau am Montagmorgen dorthin befördert hatte. Diese Flugblätter hatten tatsächlich den Absender „Deutsche Widerstandsbewegung“ – DWB –.

Der Abgeordnete M, im Innenausschuss des Bundestages für Innere Sicherheit zuständig, fühlt sich herausgefordert. Das Wochenende zwischen der Sonnenfinsternis und der Sitzungswoche des Parlaments nutzt er hektisch für Recherchearbeiten. Er beginnt für seine privaten Aufzeichnungen eine neue Kladde, die er mit dem Titel überschreibt: „Im Jahr der Sonnenfinsternis“.

Solche Kladden begleiten seinen Aufstieg aus der kommunalen Politik in die gehobenen Kreise der Politik in Berlin. M schreibt in sie regelmäßig, oft in der Form eines Tagebuches, aber auch in der Form von Visionen und Konzepten, für die er sich eine führende Rolle reserviert. Beide bisherigen Kladden hatten die gleiche Überschrift „Wenn ich Kanzler wäre I“ und „Wenn ich Kanzler wäre II“. Für M hatten die Kladden eine große Bedeutung. Nicht so sehr die einzelnen Inhalte waren es, die ihm ans Herz gewachsen waren. Wichtiger war ihm eine andere Erfahrung: Sammelte er sich und schrieb in die Kladde seine Sätze, fühlte er sich in seiner Rolle als Politiker aufgewertet, spürte die Potenziale in sich, mit Macht umgehen zu können. Dann hatte er ein kaum beschreibbares Gefühl, was es bedeutet, ein Politiker zu sein. Oft wurde er mit der Frage konfrontiert, welche Macht er als Abgeordneter habe. Er wusste die Frage anderen Menschen gegenüber nur mit stereotypen Wörtern zu umschreiben wie Verantwortung, Gestaltung der öffentlichen Angelegenheiten, Mitwirkung am politischen Regierungskonzept, Arbeit an guten Gesetzen. Wenn er vor seiner Kladde saß und schrieb, war das ganz anders. Dann sah er die Welt ohne sich als etwas Unförmiges, als eine zerklüftete Landschaft aus Lug und Betrug, in der Menschen wie er mit der Kraft ihres Wissens und ihres Daseins Schlimmeres verhüten. Schrieb er an sich selbst, war er ein Mann, den er sehr achtete, der ihm aber auch unheimlich war. Es entstanden dann Gefühle, nach denen er süchtig war. M widersetzte sich seinen Gefühlen nicht. In seiner Kladde lebte er seine Sucht aus, rührte an tieferen Schichten seines Inneren, die im Alltag völlig zugedeckt waren.

Die neue Kladde mit den Aufzeichnungen nach der Sonnenfinsternis beginnt mit den Sätzen: „Eine deutsche Widerstandsbewegung hatte es in der Sowjetzone der 50er Jahre gegeben. In ihr waren sicher ehrenhafte Männer. Aber wir kennen sie nicht. Sie verschwand spurlos.“ M war auf der einen Seite stolz, ganz von allein einem Skandal auf die Spur gekommen zu sein, dessen politische Tragweite noch gar nicht abzusehen war. Auf der anderen Seite erregte ihn die Vorstellung, weil er nicht ausschließen konnte, dass sein Besuch bei der Wahrsagerin ihn eigentlich auf die Spur gesetzt hatte, ohne dass er sich genau erinnern konnte, was dort bei dieser Frau mit ihm geschehen war. Der Besuch in Friedrichshain am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis war ihm in den Knochen stecken geblieben. Er quälte sich, durch intensives Nachempfinden herauszufinden, welche Botschaften die Frau ihm überbracht hatte. Auf dem Weg, das irgendwie haften gebliebene Kürzel DWB zu entwirren und mit Anschlägen gegen seine Republik in Verbindung zu bringen, schwirrten immer wieder Assoziationen und Wortfetzen durch seinen Kopf, von denen er nicht wusste, welchen Ursprung sie hatten. Mit der Zeit jedoch war er sich immer sicherer geworden, dass bei der Verabschiedung von seiner Wahrsagerin noch ein Satz von ihr gesprochen worden war, der zunehmend als Last des Besuchs auf seiner angespannten Seele lag. Als er nämlich die Frau nach dem Tag der Sonnenfinsternis tief in der Nacht verlassen hatte, und sie im matten Schein der Kugel Auge in Auge sehr nahe gegenübersaßen, hatte sie seine beiden Hände fest gedrückt, was bei ihr nie üblich war, und hatte fast ängstlich mit unterdrückter Stimme geflüstert: „Es wird sehr bald etwas Fürchterliches geschehen, das unser ganzes Land in Schrecken versetzen wird. Ich sehe, wie etwas in voller Wucht zerschellt, sehe einen Regen aus Trümmern vom Himmel fallen.“ Ihre Stimme war dann erloschen, und die Wahrsagerin hatte ihn schnell aus der Tür gedrückt und sie hinter ihm laut verschlossen.

M kann sich gut erinnern, wie unsicher seine Schritte auf der Straße waren, obgleich er sich viel Mühe gab, keinerlei Aufsehen zu erregen. Er winkte sich ein Taxi und ließ sich in ein ihm bekanntes Hotel in die Mitte der Stadt fahren. Er hatte nur wenige Sachen in eine Handtasche gesteckt, als er seine Wohnung am Nachmittag des Tages der Sonnenfinsternis verlassen hatte. Unter den wenigen Sachen war auch die neue Kladde. Er blieb von der Nacht bis zum Montag früh im Hotel. Seine einzigen Ausflüge in dieser Zeit führten ihn zur Polizei. Dort hatte er mit dem Kommissar Peter L. einen vortrefflichen Informanten getroffen.

Er hatte herausgefunden, dass es in den letzten Monaten jeweils in der Nacht vom Sonntag auf den Montag vier Anschläge gegeben hatte, deren Handschrift gleich war und auf ein und denselben Täter hinwiesen. Dennoch blieben Hintergründe und Tatabläufe rätselhaft. Brandsätze, die alle ohne großen Schaden anzurichten gezündet waren, wurden gegen den Reichstag, gegen die CDU-Geschäftsstelle im Tiergarten und zweimal gegen das Paul-Löbe-Haus, den langen Gebäudetrakt des Bundestages gegenüber dem Bundeskanzleramt, geworfen. Diese Objekte galten als besonders gut gesichert und mit Videokameras überwacht. Kein einziges Mal hatte es irgendwelche Spuren eines Täters gegeben. Kommissar Peter L. war sicher, dass bei den Ermittlungen die Scham über das Versagen der umfangreichen Überwachungen die Tateinschätzung mit weitem Abstand am stärksten prägte. Die Öffentlichkeit hätte sich mehr über die staatlichen Stellen als über die Taten empört, zu Recht, wie er meinte.

An jedem der Tatorte wurden Flugblätter der DWB gefunden, sehr amateurhaft gemacht, mit inhaltlich unauffälligen Aneinanderreihungen allgemein bekannter Sätze gegen Flüchtlinge und Migranten. Über die Deutsche Widerstandsbewegung wussten die Geheimdienste eigentlich nichts. Das war der politische Skandal, wie M sofort erkannte. Auch M interessierte sich nicht besonders für die Inhalte der Pamphlete. Er las da den üblichen rechtsradikalen Unsinn, wie er zurzeit zuhauf verbreitet wurde. M empörte es, dass eine bisher unbekannte Gruppe, ohne aufzufallen, zentrale Gebäude der Demokratie attackieren konnte. Das darf sich eine wehrhafte Demokratie nicht gefallen lassen. Mit vergleichsweise beschränkten Mitteln können ein paar Verrückte alle aufwändigen und teuren Sicherheitssysteme überlisten und Anschläge im Allerheiligsten der Macht verüben, und keiner weiß etwas Genaues. M fühlt sich im Herzen getroffen.

M fühlt aber in der Empörung und Verwirrung auch einen anderen Zugang zu der skandalösen Sache. Offensichtlich ist er der erste Politiker, der dieser Spur nachgeht. Auf ihn kommt es jetzt an. M sieht in sich seine Bedeutung als Politiker wachsen. Ab nun wird seine Stimme Gewicht bekommen. Er wird gefragt sein. Er wird ruhig und selbstbewusst Antworten vortragen, in seinem Ausschuss berichten, vor der Presse sein Gesicht zeigen. Dieses Wochenende wird der Ausgangspunkt für einen Sprung in seiner Karriere sein. Mit Peter L. hat er ins Schwarze getroffen. Auf ihn wird er sich berufen können, ohne ihn als Informationsquelle zu nennen und ihn in seinem dienstlichen Umfeld beruflich zu gefährden. Natürlich wird er mit keiner Silbe erwähnen, wie ihn seine Wahrsagerin auf die Spur gesetzt hatte. Für sie empfindet er jetzt dankbare Zuneigung.

Ganz so ahnungslos waren die staatlichen Einrichtungen allerdings nicht, wie M zunächst annahm. M hatte nicht ganz genau hingehört, was ihm bereits Peter L. zu berichten wusste. Diese Passage der Unterhaltung war zu sehr überlagert durch die Versicherungen und Rückversicherungen für einen unbedingten Informantenschutz, die mit einer Art Schwur durch M abgeschlossen wurden, dass sich M dafür verbürge, nie dieses Treffen zu erwähnen und nie den Namen des Informanten oder seine Dienststelle ins Gespräch zu bringen. Peter L. zur Folge hatte der Generalbundesanwalt bereits nach dem zweiten Anschlag wegen des Inhalts der Flugblätter einen „Beobachtungsvorgang“ für die Akten anlegen lassen und darüber in der Sitzung des „Gemeinsamen Extremismus und Terrorismus Abwehrzentrum“ informiert. M hatte sich lediglich das Stichwort Generalbundesanwalt notiert, das Zentrum hatte er nicht weiter beachtet. Ihm gehörten auch das Bundeskriminalamt und das Landeskriminalamt Berlin an. Das waren Informationen, die M nicht sorgfältig genug registriert hatte. So war ihm entgangen, dass das LKA bereits die Berliner Staatsanwaltschaft informiert hatte, die in Sachen Brandstiftung wegen der rätselhaften Nachtanschläge ermittelte. Aber richtig liegt M mit der Einschätzung, dass es keine Aufklärung gegeben hatte, dass die ganze Sache der Öffentlichkeit vorenthalten war.

In seinem Hotel grübelt M über seine nächsten Schritte. Vor seinen Augen entsteht die Dramaturgie für die Einrichtung eines neuen Untersuchungsausschusses des Deutschen Bundestages, möglichst unter seiner Leitung. Seine Handlungsstrategie ist aus seiner Sicht konsequent und politisch zwingend. Das kriminelle Delikt der Anschläge muss in die politische Sprache des Schutzes von Staat und Gesellschaft übersetzt werden. Die Inhalte der Flugblätter sieht er nicht als die eigentliche Gefahrenquelle. Sie sind für ihn die intellektuelle Form rechtsradikaler Parolen, nicht gerade anregend, aber leider nun mal Bestandteil der laufenden Auseinandersetzungen in der Bevölkerung, Ausdruck der Angst vor den Flüchtlingen, die ins Land kommen, Abneigung gegen die vielen Menschen aus anderen Ländern, die sich in Deutschland breitgemacht haben. Doch die Anschläge als Tat verweisen auf einen anderen Zuschnitt der Täter als jene Menschen, die Vorstellungen haben, wie sie in den Flugblättern aufgeschrieben sind, und die in großer Zahl politisch zu umwerben, M nicht als Problem seiner politischen Grundeinstellungen empfindet. Die Täter, so baut M seine Hypothese auf, stammen aus dem aktionistischen Milieu der Stadt, das als Folge der sozialen und kulturellen Verwahrlosung immer größer wird und das er an vielen Stellen der Stadt immer anschaulicher besichtigen kann. Die Tat selbst läuft stets nach dem gleichen Muster ab. Das stärkt den zweiten Teil seiner Hypothese, dass es sich um einen Einzeltäter handeln wird, der für eine Kerngruppe austestet, wie die Sicherheitsvorkehrungen gerade dort zu überlisten sind, wo sie ihren höchsten Standard erreicht haben.

Am Montag, dem 23. März, steht M sehr früh auf, frühstückt einigermaßen entspannt im Hotel und genießt seit Tagen zum ersten Mal wieder seinen Kaffee. Er möchte pünktlich in seinem Büro sein. Vor ihm liegt nicht nur eine anstrengende Sitzungswoche. Er hat darüber hinaus politische Verantwortung durch Eigeninitiative umzusetzen, die ihm sein neues Wissen auferlegt hat. Schatz und Madame werden eine Menge zu tun bekommen. Wie es seine Gewohnheit ist, überfliegt er am Morgen in seinem Smartphone die lange Liste der News, die ihm von seiner Partei zur Verfügung gestellt werden. So macht er es auch heute Morgen in der Hotellounge. Keine der Überschriften fesselt ihn sonderlich oder regt zum Weiterlesen an. Er ist bereits in der Nachhut der Nachrichten angekommen, beim Vermischten und Sex and Crime des Tages sozusagen. Diese weniger wichtigen Meldungen scrollt M normalerweise im Schnelldurchgang. Aber da! Wie elektrisiert liest er: „Brandsätze gegen das Paul-Löbe-Haus“.

Als Sturm rasen die Zeilen durch seinen Kopf, die er da liest. Die gerade eben zurecht gelegten Sätze über den DWB wirbeln durcheinander. Seine kaum wieder etwas ins Gleichgewicht gependelte Gemütsverfassung bricht im Beben erschüttert zusammen. „Zerschellen“ fällt als erste Wortassoziation in sein Bewusstsein. Und ein schwaches Erinnerungsbild meint er aus seinem tiefen Inneren auferstehen zu sehen, als er zu lesen beginnt: „Gegen das Paul-Löbe-Haus des Deutschen Bundestages ist in der Nacht zum Montag gegen 2.00 Uhr ein Brandschlag verübt worden. Sachbeschädigungen sind nicht entstanden. Der Brandsatz hat nicht gezündet. Vom Täter fehlt noch jede Spur. Am Tatort wurden Flugblätter der als rechtsextrem eingestuften Deutschen Widerstandsbewegung gefunden. In ihnen wird gegen Multikulti gehetzt und vor einer Überfremdung des deutschen Volkes gewarnt. Die Flugblätter sind überschrieben: Der Ausgangspunkt der Gewalt ist die Ignoranz der Herrschenden.“

M steht abrupt auf, lässt seinen Kaffee stehen, packt in seinem Zimmer die wenigen Sachen in die Tasche und lässt ein Taxi rufen, mit dem er die kurze Entfernung zum Parlament zurücklegt. Er lässt sich vor dem Osteingang des Reichstags absetzen, hält dem Sicherheitspersonal seinen Hausausweis hin und eilt in festen langen Schritten kurz nach oben zum Plenarsaal, wo er sich in die Anwesenheitsliste für die Abgeordneten seiner Fraktion einträgt. Sein Name steht weit oben auf der Liste, was ihn mit innerer Zufriedenheit erfüllt. Dann eilt er mit hastigen Schritten durch die labyrinthischen Gänge der Katakomben unter der Spree hinauf in sein Büro. Schatz ist schon da, an der er kurz und freundlich grüßend vorbei in sein Zimmer eilt. Er setzt sich an seinen Schreibtisch, fühlt sich außer Atem. Seinen Kopf hat er zwischen beiden Händen eingekeilt und die Augen in eine imaginäre Ferne gerichtet.

„Kannst du bitte ein Diktat aufnehmen, Schatz? Es ist wichtig.“ Seine Sekretärin kommt sofort mit Block und Bleistift in sein Zimmer. Sie ist eine der wenigen Sekretärinnen im Bundestag, die noch die Stenografie beherrscht. Gerne hätte sie jetzt erst einmal bei einer Tasse Kaffee ein kleines Schwätzchen mit M gehalten und mit ihm vor allem über seine Gesundheit geplaudert. Sie mag ihren Chef rein persönlich zwar nicht besonders, aber die kleinen Gespräche in gemütlicher Atmosphäre mit etwas Klatsch und Tratsch waren immer willkommene Abschnitte ihrer dienstlichen Tagesordnung. Auf der anderen Seite ist ihr die hektische Betriebsamkeit der Abgeordneten vor allem am Morgen vor den Plenarsitzungen in ihren Büros nicht fremd. So stöhnt sie nur leicht auf, setzt sich M gegenüber und ist bereit zum Diktat.

„Schatz, es ist wirklich sehr wichtig, und ich möchte, dass die Dokumente nicht per Mail gesendet werden, sondern dass du sie in Umschlägen verschließt und über die Hauspost verschickst.“ M sitzt aufrecht vor seinem Schreibtisch und sieht übermüdet aus. Seine Sekretärin lächelt ihm dennoch freundlich entgegen, wohl ein wenig aus Mitleid. Es wäre ihm noch ein wenig Zeit für eine Rekonvaleszenz zu gönnen, der Arme, denkt sie. Aber sie weiß aus Erfahrung, die Arbeit eines Abgeordneten ist ein Knochenjob. Das sagt sie auch immer wieder in ihrem Bekanntenkreis.

M diktiert ihr einen Brief an den Vorsitzenden seiner Fraktion sowie auch an den Vorsitzenden des Innenausschusses. Er berichtet kurz über die Kette der Anschläge auf die CDU-Zentrale und den Bundestag, die „Herzkammer unserer Demokratie“. Er deutet sein Hintergrundwissen an, das er aus einer „sehr gut unterrichteten Quelle“ erworben habe. Vollständig bedeckt hält er sich noch mit seiner Vermutung, dass er hinter den Anschlägen Täter aus der linken Szene vermutet, die eine falsche Fährte gelegt haben, indem sie sich hinter den Stereotypen der Rechtsradikalen tarnen. Stattdessen folgt der Schlussabsatz seines Schreibens:

„Es steht mir als einzelnem Abgeordneten nicht zu, unserer gemeinsamen Verantwortung durch eigene Ermittlungen und mit eigenen Bewertungen nachzukommen. Sie werden mit mir übereinstimmen, dass wir uns nach den NSU-Skandalen als wehrhafte Demokratie nicht noch einmal zu spät beweisen dürfen. Deshalb möchte ich in Erwägung bringen, ob es angesichts auch der hohen Symbolkraft dieser Anschläge nicht angemessen ist, dass unsere Fraktion einen Untersuchungsausschuss beantragt, der aufzuklären hat, wie es geschehen kann, dass der Deutsche Bundestag zur Zielscheibe von Anschlägen von Extremisten oder gar Terroristen werden kann. Selbstverständlich würde ich einem solchen Ausschuss gerne angehören.“

Nach dem Diktat sichtlich entspannt lächelt M nun seinerseits seine Sekretärin an und erkundigt sich mit der ihm eigenen Freundlichkeit nach ihrem Befinden.

„Ist es wirklich so gefährlich um uns bestellt?“ Die Sekretärin sucht nach einer Überleitung, um ihm zu erzählen, wie schlimm die vergangene Woche gewesen sei, in der sie dreimal zur Zahnbehandlung unterwegs sein musste. Doch sie kommt nicht sehr weit, weil gerade Madame ins Büro hinein gerauscht kommt und den beiden ziemlich mürrisch ihr „Guten Morgen!“ entrichtet.

Sofort fällt M wieder in hektische Betriebsamkeit. Private Anteilnahmen bei einer Tasse Kaffee scheinen ihm heute fehl am Platz. „Madame, auf uns kommt reichlich Arbeit zu“, begrüßt er seine Mitarbeiterin.

Madame schaut von Schatz zu M und wieder zurück. Irgendetwas ist ungewohnt und irritiert sie. Die Unterlagen für die Sitzungswoche hat sie wie immer professionell zusammengestellt und übersichtlich entsprechend der Tagesordnung in Mappen abgelegt. Sie liegen unberührt auf dem Schreibtisch von M. Der Block auf dem Schoss der Sekretärin muss etwas enthalten, was sie bisher nicht kennt. Das gefällt ihr ganz und gar nicht. Sie ist pünktlich ins Büro gekommen, doch die beiden waren noch früher da und haben bereits etwas zu Papier gebracht. Hoffentlich ist es etwas Privates, beruhigt sie sich. Wahrscheinlich hat er ihr einen Brief diktiert, der mit seiner Krankheit zusammenhängt, die ihn vergangene Woche daran gehindert hatte, an den Sitzungen im Plenum teilzunehmen.

Bevor sie selbst nachfragen kann, ist das Wort schon wieder bei M. „Madame, ich bitte Sie, in der nächsten Zeit alles liegenzulassen und Ihre volle Aufmerksamkeit und Ihr ganzes Können ausschließlich auf Folgendes zu lenken: Was können wir über die drei Buchstaben DWB wissen? Wie müssen wir die Flugblätter interpretieren, die letzte Nacht nach dem Anschlag auf das Löbe-Haus gefunden wurden? Dabei achten Sie aber besonders auf die sprachlichen Eigenschaften des Pamphlets. Und – das ist heikel, ich weiß – aber versuchen Sie es trotzdem: Gibt es vielleicht Zusammenhänge zwischen den Anschlägen auf unser Parlament und der kürzlich in Friedrichshain registrierten Schießerei in der Straße der Pariser Kommune, bei der ein neunjähriger Junge schwer verletzt wurde?“

Für einen Augenblick genoss M die Verwirrung, die er bei den beiden Frauen feststellte. Madame reagierte völlig ungeschützt. Sie hatte nichts verstanden, zumal sie von dem angeblichen Anschlag bisher nichts erfahren hatte. Etwas trotzig sagte sie M offen, sie habe im Augenblick wirklich keine Ahnung, wovon ihr Chef spreche, werde sich aber selbstverständlich sachkundig machen. M steht nun auf, schaut auf seinen Schreibtisch, lächelt dann seine beiden Mitarbeiterinnen an und meint: „Ihr macht das schon. Lest mal gründlich die Zeitungen von heute. Dann wisst ihr, wovon ich rede und was jetzt politisch geboten ist. Ich verlasse mich auf euch.“ Er nimmt sich seine Sitzungsunterlagen für den Plenarsaal unter den Arm und verlässt mit aufrechtem Gang sein Büro. In dreißig Minuten werden die Klingeln und roten Lämpchen die Abgeordneten in den großen Saal rufen. M wird pünktlich auf seinem Platz sitzen.

Gewissenhaft erfüllt er seine Verpflichtungen an diesem Montag. Zuverlässig hebt er bei den Abstimmungen seine Hand, obgleich er selten bei der Sache ist. Die Tagesordnung kommt ihm an diesem Tag entgegen. Um 17.00 Uhr ist er ein letztes Mal gefragt. Danach kann er den Plenarsaal verlassen, denn nun folgen nur noch Berichte und unstrittige Überweisungen an die Ausschüsse. Die Kollegengespräche auf den Fluren sind an solchen Tagen nur oberflächlich, Routinen bestimmen den Sitzungsalltag. Dennoch hat es ihn ein wenig geärgert, dass keiner seiner politischen Freunde danach gefragt hatte, wie es ihm gesundheitlich gehe. Schließlich war er einige Tage lang nicht unter ihnen gewesen. Es mühte ihn, das Wort „Hinterbänkler“ nicht in seinen Gemütszustand hinein zu lassen.

Eiligen Schrittes zog M aus dem Reichstagsgebäude über die langen Flure in sein Büro. Schatz und Madame hatten es bereits verlassen. Auf seinem Schreibtisch war es wie immer aufgeräumt. Die Unterschriftenmappe lag in der Mitte auf ihrem Platz. Seine Unterlagen aus dem Plenum waren chronologisch geordnet. Was erledigt war, kam in die Abteilung „Ablage Madame“. Die legte er auf den Schreibtisch seiner Mitarbeiterin. Den Rest, eine dickere Mappe, behielt er in seinem Zimmer in seiner Obhut für den nächsten Tag. In ihr waren die Unterlagen entsprechend der Tagesordnung zusammengestellt, die für ihn ab 9.15 Uhr des folgenden Dienstags galt. Im Verwalten seiner Laufmappe war er sehr sorgfältig. Diese Mappe legte er griffbereit auf den kleinen Tisch in der Besprechungsecke.

Er setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete die Unterschriftenmappe. Vorne lagen die beiden Briefe, die er Schatz diktiert hatte. Er las sie noch einmal konzentriert durch und hatte dabei das Gefühl, für die Politik wirklich wichtig zu sein. Aus einer Schublade holte er einen kostbaren Füllfederhalter mit einer goldenen Feder. Der war ein Geschenk eines Unternehmers aus seinem Wahlkreis, der ihm freundschaftlich verbunden war. M sitzt staatsmännisch mit aufrechtem Rücken vor seinem Schreibtisch, öffnet seinen Füller, neigt den Kopf leicht nach rechts, führt die Feder zu der vorbestimmten Stelle am Ende des Textes und unterschreibt mit seiner markanten Signatur, innerlich mit gefühlter Würde, ein wichtiges Dokument nun auf den Weg zu bringen.

Unter anderem lag in seiner Mappe eine Notiz von Madame: „Ihr Hinweis auf sprachliche Eigentümlichkeiten des Pamphlets der DWB ist interessant. An Ihren Vermutungen könnte etwas dran sein. Tarnung ist ja heute ein weit verbreitetes Mittel in öffentlichen Bekundungen. In der Sache bin ich nicht darüber hinausgekommen, was Ihnen bereits bekannt ist. Anders als Sie sehe ich aber noch keinen parlamentarischen Handlungsbedarf, da eine Verdunklungsgefahr oder ein Versagen der staatlichen Stellen noch nicht zu erkennen ist. Vielleicht sollten Sie mit ihrer Unterschrift unter den Briefen noch etwas warten. Die Angelegenheit scheint mir bei der Staatsanwaltschaft im Augenblick ausreichend gut aufgehoben.“

M ärgert sich über diese Einschätzung. Er überlegt nicht lange, was Madame zu diesen Zeilen bewogen haben könnte. Er hält seine Mitarbeiterin für klug, aber für zögerlich. In seinem Kopf steht fest das Wort: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ Er holt zwei Briefumschläge, tütet seine Briefe ein, schaut sich noch einmal kurz im Büro um und verlässt schnell die Räume. Die Briefe befördert er in die Hauspost und entfernt sich aus dem Bundestag. Bereits gegen 18.00 Uhr ist er wieder in seiner Charlottenburger Wohnung. Dorthin hat er sich mit dem Fahrdienst des Bundestages befördern lassen. Ausspannen, etwas Abstand gewinnen, früh ins Bett gehen ist sein Programm.

Bilder und Informationen der vergangenen Tage gehen ihm durch den Kopf. Macht, Schicksal, Verantwortung, Irritationen sind ihm Koordinaten, die es ihm schwer machen, seine Identität und sein Persönlichkeitsprofil klar zu erkennen. Kosmische Einflüsse auf das Tagesgeschehen sind stets auf seinen Rechnungen, wenn er über sich nachdenkt. Sie gehören zu seinen privaten Überzeugungen. Er weiß, sie sind kaum mit den intellektuellen Anforderungen an einen Politiker zu vereinbaren. Deshalb spricht er darüber mit keinem und lässt als Bundestagsabgeordneter nicht erkennen, welche Bedeutung sie für ihn haben. Er kann sich die Logik solcher Einflüsse nicht erschließen. Die Wirkungen sind für ihn offensichtlich, aber die Wirkungszusammenhänge kann er nicht erkennen. In seiner Person lagern Schichten, die jenseits der Politik ein üppiges Leben führen und auf ihm nicht bekannte Weise den privaten Menschen M mit dem politischen Menschen M verbinden.

Er glaubt daran, dass es Medien gibt, die kosmische Einflüsse auf seine Persönlichkeit zu lesen und zu vermitteln verstehen. Diese Medien leben versteckt unter den Menschen und sind Personen, die mit Politik nichts zu tun haben. M zieht es zu solchen Personen, die einen Zugang zu dieser anderen Ebene der Gesetze über Leben und Geschehen auf der Erde haben. Es würde ihn auch zu diesen Personen ziehen, wäre er nicht in der Politik. Aber er verspricht sich ein zusätzliches Kraftfeld für seine berufliche Tätigkeit, wenn er die Logik des Irrationalen zulässt. In seinen Aufzeichnungen findet sich der Satz: „Über eine Wahrsagerin als Medium kosmischer Konstellationen für unser Leben gewinne ich Hinweise für meinen politischen Kosmos. Von außen gesehen wird man mich als Politiker mit Machtinstinkten zu begreifen versuchen. In Wirklichkeit sind meine Instinkte das Ergebnis eines Lebenslaufs, dessen Rationalität mir selber verborgen bleibt. Was ich nicht nach außen kommuniziere ist meine Gewissheit und die daraus resultierende politische Praxis, dass neben Religion oder Natur ein kosmisches Regulativ für die Entwicklungen auf der Erde mitbestimmend ist.“ Er glaubt, mit seiner Wahrsagerin einen schicksalshaften Glücksgriff gemacht zu haben, obgleich er sie als Person nicht mag, sie ihm als Frau zuwider ist.

Die in Berlin gefundene Wahrsagerin hält er für ein Medium, über das er nicht wissen will, wie es funktioniert. Sie verfügt, das spürt er, besonders zuverlässig über die Gabe der klaren Sicht des Kosmischen. Sie ist für ihn wie eine Brücke zwischen seinem Alltag als Politiker und den Außeneinwirkungen auf die Dinge, mit denen er sich zu befassen hat. Die Sonnenfinsternis ist nach seiner Überzeugung mehr als ein markantes Großereignis in den ständigen Interdependenzen zwischen dem raumzeitlich Unendlichen und dem raumzeitlich Begrenzten im Hier und Jetzt. Diese Interdependenzen können Politiker – auch das eine Feststellung, die sich in seinen Aufzeichnungen findet – nicht aufheben oder beseitigen. Das sei so unmöglich, „wie ein Erdbeben, einen Vulkanausbruch oder einen Tsunami verhindern zu wollen.“ Für ihn als Politiker sind Zeichen des Himmels, die aus dem Reich des Unendlichen unmittelbar im begrenzt Überschaubaren eingeschrieben sind, wichtige Botschaften, um einem Kompass folgen zu können, was Aufmerksamkeit zu beanspruchen hat. „Wir können keine Katastrophen vermeiden und nicht die Ungerechtigkeit in der Welt beseitigen. Wir können auch nicht das Leben für alle sicher und planbar machen. Aber wir können uns sensibilisieren für Ereignisse und Entwicklungen, die von uns angemessenes Handeln erfordern“, hat sich M an den Anfang seiner Kladde „Im Jahr der Sonnenfinsternis“ geschrieben.

Für seinen Kompass ist seine Wahrsagerin sehr wichtig. M hält sich für einen der wenigen Politiker, der mit diesem Kompass arbeitet. M sagt sich, andere haben ihren Beichtvater oder Erzbischof, ich habe meine Wahrsagerin. Wahrscheinlich ist er der Einzige im Bundestag, der zu einer Wahrsagerin läuft. Instinkte und Intuitionen, da ist er sicher, spielen auch bei vielen seiner Kolleginnen und Kollegen eine Rolle. Anders ist kaum zu erklären, warum die einen in der Politik aufsteigen, die anderen aber scheitern. Für ihn ist es auch ein Wettkampf, nach oben zu kommen. Er registriert durchaus, dass die meisten der Parlamentarier in der Hierarchie bedeutender und höher angesiedelt sind als er. Doch das muss nicht so bleiben, das letzte Wort in seiner Karriere ist noch nicht gesprochen. Den höher angesiedelten Instinktpolitikern unterstellt er eine Logik der Intuition. Sie perfektionieren Mittel, die sie aus Irrationalem schöpfen. Für ihn sind Intuition und Instinkte, die man ja nur von außen beobachten und so bezeichnen kann, Ergebnisse aus Überzeugung und Methode. Er kennt also die Grundlagen und Instrumente für den Aufstieg in der Politik. Sie sind bei ihm besonders ausgeprägt, weshalb M zu der Annahme neigt, in der großen Schar der Abgeordneten einzigartig zu sein und ein Alleinstellungsmerkmal des Politischen in seiner Persönlichkeit zu haben.

Über seine Wahrsagerin weiß er nur sehr wenig. Er hat von ihr erfahren, dass sie seit fünfzehn Jahren in Berlin wohnt und des Öfteren zu einem Familientreffen auf den mittleren Finger der südlichen Peleponnes nach Griechenland fährt. Diese Halbinsel trägt den Namen Mani. Die Wahrsagerin behauptet, ihre Großmutter stamme aus einer uralten manischen Familie, die nicht weit von einer zerklüfteten karstigen Bergkette zu Hause war, an deren Fuß man seit der Antike den Eingang zur Unterwelt, zum Hades verortet hatte. Von dieser Großmutter, eine Zauberin, habe sie viel geerbt. Was sie in den Seancen mit ihrem zweiten Gesicht sehen und erfahren könne, sei wahr, so unzureichend es in ihrer Sprache auch geäußert sein möge. Zu dieser Wahrheit gehöre auch, dass sie nur im Augenblick ihrer Offenbarung Ausdruck finde und von ihr im Nachhinein nicht erinnert werden könne.

M hatte akzeptiert, das genaue Funktionieren dieses Mediums nicht verstehen zu können. Die Distanz zwischen ihr und ihm war am spürbarsten, wenn sie in den Sitzungen vollständig in ihre Welt eintauchte, in der er für sie ganz ausgeblendet war. Er war dann eigentlich nur ein gebannter Zuhörer ihrer murmelnden Selbstgespräche, in denen es immer auch wieder Passagen gab, von denen er nichts verstand, die er mit nichts in Verbindung bringen konnte, was in seinem Leben interessierte. Legt sie die Karten und schaut in die Kugel, klingt alles viel harmloser, erscheint ihm wie prosaische Psychologie einer sehr gebildeten Frau. M sieht keinen Grund, an der Seriosität seiner Wahrsagerin zu zweifeln. So gibt es auch keinen Grund, an seiner Methode zu zweifeln, sich ihrer für seine Tätigkeit zu bedienen. Seine Methode vertraut er nur seiner Kladde an und hat sich geschworen, nie mit einem anderen Menschen darüber zu reden.

In der Politik gilt es, keine Spur zu hinterlassen, die dazu führen könnte, ihn der Scharlatanerie zu bezichtigen. Nach außen ist er deshalb der absolut loyale Abgeordnete, der stets den vorgegebenen Spielregeln der parlamentarischen Abläufe folgt und großen Wert darauf legt, als sehr zuverlässig und gewissenhaft zu gelten. Dass er diese Wahrsagerin gefunden hatte, ist für M ein Beweis, dass er, wenn auch nur auf unterster Stufe, einbezogen ist in das kosmische System. Seinen Auftrag versteht er in der ihm eigenen einfachen und prägnanten Art: Signale und Botschaften zu empfangen, sie in politischen Zusammenhängen zu verstehen, Lösungen im Rahmen der Institutionen zu finden, deren Teil er ist. Die Sonnenfinsternis war ein ihn aufwühlendes Ereignis. Die Informationen, die er in ihrem Umfeld von seiner Wahrsagerin erhalten hatte, hatten sich wie ein Mantel um die Ereignisse geschmiegt, die sich in den wenigen Tagen abgespielt hatten. Es liegt nun an ihm, daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen.

Mit der Sonnenfinsternis und den für einen Politiker dunklen Wegen, die er ihretwegen in den vergangenen Tagen gegangen ist, verbinden sich für M aktuelle Ereignisse in Zusammenhängen, die andere Politiker offensichtlich nicht sehen können, jedenfalls noch nicht. In Friedrichshain war es in der Nacht nach der Sonnenfinsternis zu einem kurzen großflächigen Stromausfall gekommen. Die Straßenlaternen erloschen, und sofort waren Randalierer zu Stelle. In der düsteren Rigaer Straße brannten schnell errichtete Barrikaden, ein Supermarkt wurde geplündert und Polizisten wurden mit Steinen beworfen. Die Chaoten kamen von einer „Soli-Party“, die nur wenige Häuser von der Wahrsagerin entfernt stattgefunden hatte. Wie ein Schwarm waren die Randalierer durch das Viertel gezogen und hatten zerstört, was auf dem Weg lag oder was sich ihnen entgegenstellte. Autos wurden beschädigt und angezündet, Polizisten verletzt.

M hatte die Meldungen verfolgt, weil sie so genau in das Bild passten, das ihm vorher seine Wahrsagerin gezeichnet hatte. Das war ebenso präzise wie das Bild von dem schießwütigen Mann in der Straße der Pariser Kommune. Der Mob in diesem Viertel, so die Vorstellung von M – ist nicht nur eine ständige Herausforderung des Rechtsstaates, sondern zeigt, wie der Politik die Zügel entglitten waren. Die Bevölkerung wird eingeschüchtert und die Politik findet keine angemessenen Mittel, mit diesen Zerstörungen im Inneren der Gesellschaft fertig zu werden.

Dann war da noch der Satz seiner Wahrsagerin, der ihm am meisten zu schaffen machte und so viele Energien in den wenigen Tagen freigesetzt hatte: „Es wird sehr bald etwas Fürchterliches geschehen, das unser ganzes Land in Schrecken versetzen wird. Ich sehe es, wie es in voller Wucht zerschellt, sehe einen Regen aus Trümmern vom Himmel fallen.“ M hatte diese Prophezeiung als Umschreibung der Ungeheuerlichkeit verstanden, dass nun selbst die starken Mauern des Parlaments zur Zielscheibe von Anschlägen werden konnten. Er fühlte in sich den Auftrag, die Initiative zu ergreifen, um die politische und öffentliche Aufmerksamkeit auf ein Schauspiel zu lenken, das in höllischer Unverfrorenheit die Stein gewordene Demokratie zu zertrümmern begann. Natürlich waren fürs Erste keine sichtbaren Beschädigungen mit den Anschlägen verbunden, und die Tat an sich mochte marginal erscheinen. M aber sah hinter dieser zu vernachlässigenden Äußerlichkeit einen Anschlag mit unendlichem Zerstörungspotenzial. Nicht nur die Gesellschaft erodierte in ihren Kernen. Nun wurde die Demokratie selbst angegriffen und ihre stärksten Symbole wurden der Lächerlichkeit preisgegeben.

Die Stimmung am Dienstagmorgen im Büro ist spürbar gereizt. M kann seine Nervosität kaum verbergen und schreitet ziellos durch sein Büro. Schatz ist über Gebühr lange mit der Kaffeemaschine beschäftigt. Ihr Lächeln beim Begrüßen ihres Chefs bleibt künstlich. Der Morgen im Büro, das ist sonst ihre große Zeit. Die Bilder früherer Tage, als die drei in freundlicher Konversation mit Kaffee den neuen Arbeitstag begannen, sind ein irritierender Kontrast gegen die unbeholfene Art, wie M und Madame vergeblich den Einstieg in ein Gespräch suchen. Es ist ein grauer Tag, und die Sekretärin hat noch nicht gemerkt, dass sie vergessen hatte, die Jalousien vor den Fenstern hochzuziehen. Es ist lähmend still im Büro, und die Minuten vergehen zäh, in denen alle drei schweigen und jeder mit sich selbst beschäftigt zu sein scheint.

Schließlich ist es Madame, die den Bann bricht und sich mit festen Schritten in das Zimmer von M begibt. „Darf ich Sie kurz stören?“ Ihre Stimme klingt unsicher. Schatz sieht sie aus dem anderen Zimmer in der Tür stehen und bemerkt, wie verlegen die junge Frau mit den Fingern ihrer rechten Hand durch die Haare fährt. Auch M wittert, dass seine Mitarbeiterin nicht das Selbstvertrauen ausstrahlt, das er sonst von ihr gewöhnt ist. Er zaudert einen Augenblick, steht dann aber sehr gerade und mit seinem Körper ihr zugewandt: „Sie dürfen. – Sie haben sicher zur Kenntnis nehmen müssen, dass ich Ihrem Rat nach langem Nachdenken nicht gefolgt bin.“ Seine Stimme klingt ein wenig gepresst, als müsse er künstlich Haltung gegen seine Emotionen bewahren. Nach kurzer Pause fügt er zu: „Ich weiß Ihre analytischen Fähigkeiten sehr zu schätzen. Aber ich bin Politiker und muss zum richtigen Zeitpunkt tun, was ich für richtig halte. Und diesen Zeitpunkt halte ich jetzt für richtig.“

Madame macht ein paar Schritte in Büro hinein und setzt sich auf die Lehne eines Sessels an der Vorderseite des Besprechungstisches. Ihr Chef steht fast ungeschützt vor seinem Schreibtisch, und sie schaut ihm direkt ins Gesicht. Sie holt tief Luft und merkt, wie sie ruhiger wird, wie ihr die Sätze auf die Zunge kommen, die sie sich vorhin überlegt hatte, als sie zur Kenntnis nehmen musste, dass die Briefe bereits nicht mehr im Büro waren. „Ich hatte Ihnen die Notiz geschrieben, weil ich überzeugt war, es könne der Sache nur guttun, noch einmal eine Nacht über die Absicht zu schlafen, einen Untersuchungsausschuss anzuregen. Ich hoffte, im Gespräch können wir klären, ob wir genügend Indizien und Argumente haben, um für diesen Vorschlag Verständnis und Unterstützung Ihrer Kollegen beanspruchen zu können.“

M schaut sie nicht an, während sie redet. Seine Augen liegen abgelenkt auf dem dicken Stapel der Unterlagen für die gleich beginnende Sitzung. Er braucht diesen kurzen verbalen Schlagabtausch mit seiner Mitarbeiterin, will ihn aber auch nicht richtig. Am liebsten wäre es ihm jetzt gewesen, der Gong für die Abgeordneten wäre in dieses Gespräch gefallen, das Zeichen, sich nun in den Plenarsaal rufen zu lassen und die Plätze einzunehmen. Er schaut auf seine Uhr und vergewissert sich, dass es bis zum befreienden Gong noch etwas dauern wird. So gewinnt er Zeit und bewegt sich langsam hinter seinen Schreibtisch, setzt sich auf seinen Stuhl und faltet seine Hände auf der Tischplatte. Die innere Ordnung stellt sich bei ihm wieder ein, die Dinge um ihn herum verlieren ihr provozierendes Eigenleben. Es ist wieder klar, wer hier Chef ist. Durch die geöffnete Tür ruft er seiner Sekretärin mit seiner liebenswürdigen Stimme zu: „Schatz, hast du für uns noch einen Kaffee?“ Er wendet sich nun seiner Mitarbeiterin zu, die er mit konzentriert ernster Miene ins Visier nimmt. „In der Politik gibt es Situationen, in denen entschieden werden muss, auch wenn noch nicht alle Fakten und Argumente auf dem Tisch liegen, die gegen diese Entscheidung ins Feld geführt werden können.“ Seine Augen bleiben jetzt fest auf das Gesicht von Madame gerichtet.

M ist über sich selbst verwundert, wie leicht ihm diese tiefsinnige Erkenntnis über das Politische über die Lippen kam. Denn der Satz erscheint ihm nicht nur sehr analytisch zu sein, sondern auch sehr praktisch, weil er den Unterschied zwischen ihm und seiner Mitarbeiterin deutlich macht. M ist ein wenig stolz, wie er Madame gerade mit den Mitteln der Analytik schlagen kann, auf einem Gebiet also, dem sie sich ihm gegenüber überlegen weiß. Und er will ihr ebenso eindrucksvoll deutlich machen, dass er der Entscheider bleibt und seine Mitarbeiterin eine zuarbeitende Rolle einzuhalten hat. Seine Haltung hinter dem Schreibtisch verharrt in einer bei ihm nur selten erkennbaren Festigkeit und Konzentration, welche die Überlegenheit seines Status ebenso signalisieren soll wie die Angespanntheit eines sich selbst reflektierenden Denkers.

Madame schaut ihn entspannt an und lächelt leicht. Sie ist ihm jetzt ferner denn je. Sie fühlt die stickige Luft, in der seine Worte verhallt sind. Innerlich setzt sich in ihr nur ein Wort fest, das sie wie ihren Augapfel hütet: „Phrase“. Einen Augenblick lauscht sie in sich, genießt, wie dieses Wort klingt. Aber freundlich und korrekt antwortet sie ihm: „Selbstverständlich werde ich mit Ihnen den Weg gehen, den Sie eingeschlagen haben. Ich halte den Weg nicht für richtig, aber ich werde meine Aufgabe so gut wie möglich erfüllen, Sie optimal in dem Entscheidungsrahmen zu unterstützen, der von Ihnen gesetzt ist.“

In die kurze Pause, die entsteht, kommt Schatz mit dem Kaffee und den Tassen. Sie stellt die Utensilien eines friedlichen Morgens auf den Besprechungstisch. Sie selbst setzt sich gleich zu Tisch, und auch M erhebt sich nun und nimmt seinen Platz zwischen den beiden Damen ein. Beim Eingießen des Kaffees sagt die Sekretärin zu ihrem Chef: „Der Fraktionsvorsitzende hat anrufen lassen. Er möchte Sie gerne um 11.00 Uhr kurz sprechen. Er wird dann im Plenum anwesend sein und lässt Sie bitten, mit ihm ein paar Schritte gemeinsam auf den Gängen hinter dem Plenarsaal zu machen.“

M zieht die Luft tief in seine Lungen. „Ach, Schatz, öffne doch bitte die Jalousien, es ist ja hier viel zu dunkel.“ Er streckt sich und sagt mit ernstem Gesicht zu den beiden: „Der Wagen rollt. Ich glaube, wir bekommen viel Arbeit.“ Nun ist er auch Madame gegenüber wieder versöhnlich gestimmt. Das Gefühl eines besonders guten Morgens durchrieselt ihn. Madame soll wissen, dass er nicht weiter der böse Vorgesetzte sein möchte. Fast ein wenig zärtlich spricht er sie an: „Ich schätze Ihre Offenheit und Ihre vorsichtigen, abwägenden und kritischen Einstellungen sehr. Ich bin sicher, schon bald werden wir gemeinsam eine gute Gelegenheit haben, effektiv und beachtet von der Öffentlichkeit unsere sicher nicht leichte Arbeit starten zu können. Da setze ich auf Sie. Sammeln Sie doch bitte alle Dokumente, die von der DWB bekannt geworden sind und finden Sie jemanden, der sich mit Sprachanalysen auskennt.“

Im Plenum sieht man M pünktlich auf seinem Platz. Sein Gesicht ist entspannt. Gewissenhaft hört er zu, was vom Rednerpult aus vorgetragen wird. Gefühle, wie sie sich im Applaudieren oder auch in Zwischenrufen mitteilen, berührten ihn nicht. Die Vorträge und Redebeiträge erscheinen ihm an diesem Dienstagmorgen nicht besonders wichtig. Er blättert hin und wieder in seinen Unterlagen. Er hat registriert, dass auch sein Fraktionsvorsitzender pünktlich vorne auf seinem Platz saß

Dieser Tag im Deutschen Bundestag ist für M alles andere als ein normaler Routinetag in einer Sitzungswoche des Hohen Hauses. Er erlebt ihn angespannt als einen Schlüsseltag in seiner Parlamentskarriere. Hinter der ruhigen Gelassenheit, mit der er äußerlich seine Pflichten als Abgeordneter zu Protokoll gibt, flackert innerlich Unruhe und Tatendrang. Der 24. März soll um 11 Uhr ein politisches Kapitel aufschlagen, in dessen Mittelpunkt notwendigerweise seine Person rücken muss. Ab 10.30 Uhr schaut er des Öfteren auf seine Uhr und spürt eine knisternde Erregung, die in der Luft zu liegen scheint. Kurz vor 11 Uhr bemerkt M, wie seine Hände ein wenig zittern, als er seine Papiere auf dem Pult sortiert zusammenlegt. Er ruft sich zur Ordnung und reißt sich zusammen. Innere Unruhe will er nicht zulassen. Selbstbewusstsein und Souveränität sind jetzt gefragt.

Er konzentriert sich nun vollständig auf seinen Fraktionsvorsitzenden und wartet, dass sich dieser von seinem Platz erhebt. Denn M hat sich vorgenommen, ihm im angemessenen Abstand nach draußen zu folgen, sobald der Vorsitzende nicht weit von ihm den Saal verlässt. Nun nimmt M wahr, wie auf einmal ein Saaldiener auf den Fraktionschef zugeht und diesem einen Zettel übergibt. Der Fraktionsvorsitzende überfliegt ihn schnell und M glaubt erkennen zu können, wie Fassungslosigkeit, Erschrecken und Erstarrung von seinem Freund Besitz ergreifen. „Nur keine Ablenkung, kein Zwischenfall“, schießt es M durch den Kopf. „An meiner Mission geht kein Weg vorbei“, sagt er sich und registriert, wie ihn diese Bilanz beruhigt. Doch irgendetwas muss geschehen sein. Denn der Fraktionsvorsitzende ist jetzt in Bewegung. Eine kleine Traube ratloser und betroffen ausschauender Kolleginnen und Kollegen aus den ersten Reihen stehen da mit gleicher Fassungslosigkeit in den Gesichtern, die er bereits bei seinem Chef erkannt hatte. Im Plenum entstehen jetzt überall die kleinen Veränderungen im Verhalten der Abgeordneten. Die Ordnung im Parlament ist aus den Fugen.

Um 11.10 Uhr unterbricht der Präsident des Bundestages die Sitzung. Er läutet mit seinem Glöckchen und wartet, bis in den gut gefüllten Reihen des Hauses Ruhe eingetreten ist. Auch in seinem Gesicht ist das schreckliche Ereignis geschrieben, das er gleich verkünden wird. „Meine Damen und Herren, ich muss Ihnen eine sehr traurige Nachricht überbringen. Soeben ist bekannt geworden, dass vor wenigen Minuten ein Flugzeug in den Bergen der südlichen Alpen etwa 100 Kilometer nördlich von Nizza abgestürzt ist. Es handelt sich um einen Airbus A 320 der Germanwings, einer Tochter der Deutschen Lufthansa, mit der Flugnummer 4U9525 auf ihrem Flug von Barcelona nach Düsseldorf. An Bord waren 150 Personen, 144 Passagiere, zwei Piloten und vier Flugbegleiterinnen. Wir müssen davon ausgehen, dass alle ihr Leben verloren haben. 70 Personen unter den Opfern sollen deutsche Staatsbürger gewesen sein.“

Der Präsident ringt mit seinen Gefühlen, die Stimme klingt fast gebrochen. Gedankenverloren schaut er einen Augenblick lang auf das vor ihm liegende Papier und fährt dann in die vollständige Stille des Saales fort: „Meine Damen und Herren, ich bitte Sie, sich von Ihren Sitzen zu erheben.“ Stehend und schwer nach den richtigen Worten suchend deklariert er: „Der Deutsche Bundestag verneigt sich voller Schmerz vor den Opfern. Unsere Trauer und unser Mitgefühl gelten ganz besonders den vielen Familienangehörigen und Freunden, die jetzt von dieser schrecklichen Katastrophe erfahren müssen. Das ist ein schwarzer Tag für die Luftfahrt und ein schwarzer Tag für unser Land. Das schreckliche Ereignis zeigt uns die Grenzen unseres Mitleid in der Politik ebenso auf, wie es uns an unsere tiefsten Gefühle zum Mitleiden als Menschen ermahnt, an unsere Mitmenschlichkeit. Ich bitte Sie, mit mir ein Minute zu schweigen, um unsere Trauer zu bekunden.“

Natürlich ist auch M aufgestanden. Wie bei allen anderen im Saal zeigt sein Gesicht ernsthafte Sammlung. Er steht sehr gerade, hat seine Hände vor dem Körper ineinander gelegt, hält abwechselnd den Präsidenten und den Fraktionsvorsitzenden im Blick. In die Schweigeminute hinein merkt er, wie er die Nachricht ohne jede Gefühlsregung aufgenommen hat. Ob sich seine Gedanken auf den Flugabsturz oder auf seine politische Mission beziehen, ist ihm in dieser Minute nicht klar. In seinem Kopf gibt es eine Schublade für Ereignisse, vor allem solche, die man mit dem Begriff Katastrophe bezeichnet, gegen die man nichts machen kann, die nach einer anderen Logik geschehen, wie sie dem politischen Handeln zugrunde liegt. In diese Schublade rutscht gerade die Nachricht vom Flugzeugabsturz. Hingegen drängt sich ihm sehr deutlich ein Imperativ auf: „Jetzt keine Fehler machen!“

Die Sitzung wird für eine halbe Stunde unterbrochen. Im Saal bilden sich viele Grüppchen und man sieht nur betretene Gesichter. Keiner will mit der Nachricht allein sein. Viele drängt es, zusammen mit Kolleginnen und Kollegen den Saal zu verlassen. M aber bleibt allein, sitzt vor seinem Pult und gibt sich Mühe, die Haltung eines ratlos Grübelnden und tief Betroffenen einzunehmen. Den Kopf hat er in seinen Händen abgestützt. In Wirklichkeit beobachtet er angestrengt die Gruppe vorne um seinen Fraktionsvorsitzenden. Dieser steht, nicht sehr groß aber mit imposanter Gestalt mitten unter den anderen, die immer wieder den Kopf schütteln oder sich mit kurzen Sätzen aneinander wenden. Der Fraktionsvorsitzende redet fast gar nicht. Er sieht sehr blass aus, und seine rechte Hand hebt sich öfter hoch zur Brille, als es sonst bei ihm üblich ist. M merkt, wie dem Fraktionschef die Nachricht offensichtlich in die Knochen gefahren ist. Er kennt ihn als einen Menschen, der zu starken Gefühlen neigt.

Nach wenigen Minuten löst sich der Fraktionschef aus dem Pulk der Abgeordneten, die sich um ihn herum versammelt haben. Er verlässt sie und schreitet schnell den Gang nach oben dem Ausgang entgegen. Er sieht nicht nach rechts und nicht nach links und bemerkt auch nicht M nur wenige Meter entfernt, der so allein auf seinem Platz sitzen geblieben ist und der jetzt aufsteht, da der Vorsitzende so dicht an ihm vorbeieilt. M bleibt noch kurz an seinem Platz stehen. Die Reihen im Plenarsaal haben sich weitgehend gelichtet. Nur auf den Zuschauerrängen, die gut besucht sind, mag es Augen geben, die auf ihn gerichtet sind. Langsam setzt sich M in Bewegung Richtung Ausgang. Auch draußen, nun wieder mit einigem Betrieb auf dem Gang, bleibt er allein. Links den langen und breiten Gang hinunter erkennt er seinen Fraktionsvorsitzenden im Gespräch mit einem Kollegen. M weiß, die beiden schätzen sich nicht besonders. Langsam schlendert M an den miteinander im Gespräch vertieften Abgeordneten vorbei, dem Vorsitzenden entgegen.

Nur wenige Meter von seinem Ziel entfernt wird er bereits von seinem Chef erkannt. Der hält seine Hand freundlich, oder auch nicht, um den rechten Oberarm seines Gesprächspartners, dreht sich ein wenig von ihm und löst sich dann von ihm ohne weitere Worte. Er wendet sich M mit einem aufhellenden Gesicht zu, aus dem allerdings das sonst oft jungenhafte Lächeln im Kreis seiner Getreuen gewichen ist. „Mein Freund, wie gut, Sie zu treffen“, kommt er M entgegen.

M lächelt eher verlegen und fixiert den Vorsitzenden mit starrem Blick. „Es gibt entspanntere Situationen, sich zu treffen“, erwidert er die Begrüßung, „wir werden aufpassen müssen, politisch nicht in dieses Unglück hineingezogen zu werden.“

Mit Stolz registriert M die Beachtung, die ihm gerade zuteilwird. Er muss nicht herumschauen, um zu wissen, dass nun viele Blicke auf ihn gerichtet sind mit dem neugierigen Interesse, mit wem der Fraktionsvorsitzende gerade spricht. Der legt vertraut den Arm um Ms Schulter und schlendert mit ihm ein paar Schritte weiter den Gang hinunter bis zur nächsten Sitzecke, wo sich die beiden auf einem schwarzen Sofa nieder lassen. M ist seinem Chef jetzt also wichtig. Der Gong tönt und ruft die Abgeordneten zurück in den Plenarsaal. Für M, der mit dem Fraktionsvorsitzenden auf dem Sofa sitzt, ist dieser Ruf nicht ganz verbindlich gemeint. Er ist jetzt außerordentlich wichtig. Schnell leert sich der Gang. M genießt die Situation, hier sitzen bleiben zu dürfen und nickt nun doch dem einen oder anderen freundlich zu, während der Fraktionsvorsitzende noch mit seinen Gefühlen über das Vorgefallene zu kämpfen scheint.

„Ich bewundere, wie offensichtlich gefasst Sie mit dieser fürchterlichen Nachricht klarkommen. Mir raubt sie noch immer jede Vernunft.“ In der feierlichen Stimmung, die von den alten Wänden des Reichstags ausgeht, klingt der alemannische Zungenschlag des Fraktionsvorsitzenden noch gesungener und breiter. „Sie haben recht“, fährt er fort, als spräche er zu sich selbst, „bei solchen Katastrophen kann man gar nicht achtsam genug sein, alle nur denkbaren Verbindungen zur Politik frühzeitig zu erkennen und im Auge zu behalten.“ Eine kurze Pause fügt sich an, in der sein Fraktionsvorsitzender scharf konzentriert nachzudenken scheint. M schweigt erwartungsvoll, bis sich sein Kollege an ihn wendet, sich sogar auf dem Sofa zu ihm dreht, ihm sehr direkt ins Gesicht schaut und sagt: „Seit Sie in unsere Fraktion gekommen sind, habe ich Sie sehr schätzen gelernt. Sie sind loyal, fleißig und neigen nicht zur Emotionalität, die den Verstand benebelt. Sie sind für unsere Arbeit wichtig. Heute habe ich eine Bitte an Sie. Ich benötige von Ihnen ein Dossier, in dem Sie alle kommenden Informationen über diesen schrecklichen Unfall genau registrieren und vor allem unter dem Gesichtspunkt prüfen, in welcher Weise die Politik, unsere Regierung und unser Parlament in die Sache gezogen werden könnte. Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie diese Analyse für uns vorbereiten und mir entsprechende Anmerkungen zukommen lassen. Und meiden Sie einstweilen öffentliche Erörterungen Ihrer Arbeit. Ihre Hinweise sollen ausschließlich an mich gehen. Es gibt also keinen weiteren Verteiler.“

Die Lobby vor dem Plenarsaal ist inzwischen leer. Die beiden Herren sitzen fast verschworen in einer Ecke. M fühlt sich mit diesem Angebot überrollt, mehr noch aber geehrt und aufgewertet. Exklusivität verbindet ihn mit seinem Vorsitzenden. Aber auch ein Empfinden des Misstrauens steigt in ihm auf. Das Thema behagt ihm eigentlich nicht. Es läuft doch sowieso wieder alles auf eine menschliche Schwäche oder auf irgendeine Schlamperei hinaus. Doch er verehrt seinen Vorsitzenden und hat noch nie so nahe mit ihm zusammengesessen. Nie würde er ihm widersprechen oder ihm einen Rat geben. So nimmt er ihn fest ins Auge und sagt: „Das werde ich sehr gerne für Sie tun. Sie können sich wie immer auf mich verlassen. Zwar bin ich sicher, in dieser Sache ist nichts für uns drin. Aber damit dürfen wir uns nicht vorzeitig zufriedengeben. Und wenn es so ist, dann ist das ja auch ein wichtiges Ergebnis.“

Der Fraktionsvorsitzende zieht die Augen ein wenig zusammen. Auf seiner Stirn bilden sich die kleinen Falten. Sein Gesicht wird kühl und unfreundlich. Er hört einen eigenartigen, schwer zu deutenden Ton in der Stimme seines Kollegen, unangemessen und ohne Empathie für das grausame Geschehen, unter dessen Schatten sie miteinander reden. Die Verstimmung verebbt wie sie aufgeflackert ist. Vielleicht kennt er sein Gegenüber einfach zu wenig. Freunde müssen sie ja nicht sein. Jedenfalls schickt er sich an aufzustehen und der wartenden Arbeit zu widmen. Fast beiläufig sagt er wie zum Abschied: „Ach ja, vielen Dank für Ihren Brief.“

M ist jetzt wie elektrisiert. Sein Kopf ist hellwach. „Die Anschläge gegen unser Haus müssen uns sehr beunruhigen.“ Er sagt das, während sein Blick auf den großen Sandsteinquadern liegt, aus denen die gegenüberliegende Wand errichtet ist. Die historischen Zeichen in dem mächtigen Haus beeindrucken ihn immer wieder. M spricht langsam, und es soll bedacht und verantwortungsvoll klingen, wie er sein Thema der Absicht seines Gesprächspartners entgegenstellt, der gerade im Begriff ist, sich aus der Unterhaltung zu lösen und zu gehen.

Beide stehen sich nun gegenüber. Der Fraktionsvorsitzende schlüpft nun schnell wieder in die Haltung des erfahrenen Politikers, der M signalisiert, dass er keinen langatmigen Dialog führen wird. Er steht da und strahlt die Autorität aus, durch klare Feststellungen und Anweisungen aufkommende Diskussionen schnell zu ihrem Ende zu führen. „Werter Kollege, wir haben im Augenblick Wichtigeres zu tun, als Ihrer Vermutung nachzugehen, ob durch die Anschläge, wie Sie die Verrücktheiten eines Querulanten oder Idioten bezeichnen, das parlamentarische System in Gefahr geraten kann. Vergessen Sie das. Ich hätte Ihnen das gerne ausführlicher dargelegt. Aber angesichts der Katastrophe, unter deren Eindruck wir stehen, müssen wir das auf irgendwann später vertagen. Im Augenblick habe ich viele andere Sorgen. Es eilt ja auch nicht, sollte an Ihren Beobachtungen irgendetwas dran sein. Ich freue mich, dass Sie meinem Wunsch folgen, sich mit den Informationen über die Aufdeckung der Unfallursachen und der Unfallfolgen zu beschäftigen.“

Der Fraktionsvorsitzende steht nun so aufrecht vor M, dass der sich gezwungen sieht, ihm gegenüber demütig ein wenig den Kopf nach unten zu neigen. Sein Gegenüber reicht ihm die Hand. Obgleich er nicht größer ist als M, erscheint er doch mächtiger und selbstbewusster dazustehen. Der Handschlag des Vorsitzenden ist kräftig und fest. Mit unterwürfiger Verbeugung verabschiedet sich M von seinem Idol. Schließlich steht auch M wieder gerade und schaut in ein freundliches Gesicht eines geschäftigen Mannes, der noch einmal aufmunternd nickt und sich dann abwendet. Mit ausholenden Schritten zieht der Fraktionsvorsitzende zur Tür, die ihn wieder in die Arena lässt.

Bevor auch M sich anschickt, wieder in den Plenarsaal auf seinen Platz zu gehen, bleibt er einen Augenblick mit sich allein in der Nische des Wandelgangs, der um den großen Saal der Gemeinschaft der Abgeordneten führt. Er fühlt sich spürbar von den großen Gefühlen seiner Kolleginnen und Kollegen ausgeschlossen, ein Mann, sehr allein mit sich. Seine innere Einsamkeit verbindet sich mit vielen Erfahrungen in seinem Leben, die er mit anderen Menschen gemacht hat. Er denkt an seine Wahrsagerin. Das Zerschellen des Flugzeuges an den schroffen Wänden der Alpenbergwand ist für ihn nun klar mit den Zeichen der Sonnenfinsternis verbunden. Ihm waren diese Zeichen offenbart worden, er hat sie aber nicht zu deuten verstanden. Ihm kommt der Satz seiner Wahrsagerin in den Sinn: „Die Finsternis ist die Gegenmacht des Lichtes und deckt alle Gedanken zu, es könne eine ewige Herrschaft des Hellen gegen das Dunkle geben.“ Der ehrwürdige Raum in diesem Haus gibt ihm keinen Schutz vor der Weltsicht, dessen Zeuge er ist.

Natürlich weiß er nun, dass die Bilder des Zerschellens und der Trümmer, von denen die Wahrsagerin geraunt hatte, in den noch frischen Nachrichten über den Flugzeugabsturz ihre groteske Erfüllung fanden. Mit seiner Deutung lag er falsch, die Sätze der Wahrsagerin auf die stürzenden Mauern des Bundestages bezogen zu haben. Er, der sich noch bis vor wenigen Minuten als eine Lichtgestalt gegen die Finsternis dachte, wurde von der Finsternis höhnend herabgezogen in einen Abgrund seiner politischen Existenz. Die mahlenden Kräfte der Zeit überrollten gnadenlos seine Illusion, dem Bösen rechtzeitig die Stirn zu bieten. Die großen und die kleinen Zeichen, die aus der Sonnenfinsternis zu ihm gesandt worden waren, gerieten ihm gründlich durcheinander.

Dieser Vormittag ist für M eine schwere Niederlage. Dafür macht er nicht den Fraktionsvorsitzenden verantwortlich. Dessen Bereitschaft, mit ihm persönlich zu sprechen, rechnet er ihm hoch an. Er schämt sich jetzt sogar, dessen Aufmerksamkeit mit einer falschen Idee auf sich gelenkt zu haben. Er mutmaßt, dass die unterschiedlichen Gefühlslagen, die das Flugzeugunglück bei ihm und den anderen erzeugte, nicht nur auf unterschiedliche politische Reflexe zurückzuführen sind. M wittert in seiner Persönlichkeit eine ihm rätselhafte Kraft, warum ihn das Unglück mit den 150 Toten so wenig berührt. Ihn rühren keine Gefühle, die nichts nützen und zu nichts führen, wie er schon oft in anderen Zusammenhängen feststellte. Diese Kraft ließ ihn in der politischen Arena auf ein falsches Ziel setzen. Dieses Mal hat er verloren. An dieser Einsicht ging kein Weg vorbei. Dem musste er sich fügen. Diese Einsicht musste er sich eingestehen. Das war ihm klar geworden.

Noch gehört er auf die hintere Bank, wo er wieder Platz nimmt. Da spricht er sich aus der sicheren Deckung Mut zu. Immerhin hat ihn der Fraktionsvorsitzende soeben zum Sonderbeauftragten gemacht – das ist nun das neue Schlüsselwort, das ihm spontan durch den Kopf schießt. Er wird allein gegenüber diesem Fraktionsvorsitzenden Verantwortung für die Deutungen haben, die aus den Informationen zu ermitteln sind, die in großem Umfang nun über den Absturz der Flugzeugmaschine in die Öffentlichkeit gejagt werden. Er muss das in keinem Gremium machen, keiner wird erfahren, woran er arbeitet. Er will diese politische Aufgabe gut erledigen und gleichzeitig den Beweis führen, dass er diplomatisch sein kann, ohne dass ihm jemand auf die Spur kommt, womit er seine parlamentarische Zeit füllt. M verlässt die Stätte seiner politischen Niederlage an diesem Tag nicht ohne Mutlosigkeit. Es ist das erste Mal, dass er im institutionellen Rang der parlamentarischen Dinge gefragt ist, exklusiv.

Sonnenfinsternis

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