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Dämonie
ОглавлениеDienstagvormittag, am 24. März 2015, raste M auf seiner ersten rasanten politischen Achterbahnfahrt. Madame und Schatz verbrachten dagegen zunächst eine ruhige Zeit. Sie hatten das Fernsehen nicht eingeschaltet, in dem wie ein mahnender Zeigefinger das eigene Übertragungsprogramm aus dem Plenum läuft. Auch das Radio blieb aus. Deshalb erreichten sie nicht die brandneuen Nachrichten über den Flugzeugabsturz. Erst Stunden später, in der Mittagspause, berührten sie die Schreckensnachrichten in der Kantine, in der sie Thema Nummer eins an allen Tischen waren.
Der Vormittag im Büro war für sie besonders unbeschwert, weil sie keinen Arbeitsdruck verspürten. Die beiden Mitarbeiterinnen von M hatten nach seinem Abgang noch eine Zeit lang zusammen beim Kaffee gesessen. Das kam sehr selten vor. In der Regel lagen gerade in den Morgenstunden so viele Arbeiten an, dass jede auf ihre Weise in hektischer Routine den Berg an Aufgaben am eigenen Arbeitsplatz abzutragen versuchen musste. Die dazu notwendigen Abstimmungen zwischen den beiden Frauen verliefen meistens über Zuruf, blieben im Ton kühl und im Inhalt dienstlich. Sie verspürten keine ausgeprägte Zuneigung füreinander und hatten sich kleine Büronischen eingerichtet, von denen aus sie miteinander kommunizierten. Schatz empfand die jüngere Kollegin als ein wenig zu arrogant, und Madame störte an der älteren Kollegin, wie unpolitisch sie war und wie unterwürfig und wenig emanzipiert sie ihre Arbeit verrichtete. Über das private Leben der anderen wussten die beiden Kolleginnen fast gar nichts. Das störte Schatz mehr als Madame. Deswegen litt sie stärker unter der förmlich korrekten Dienstbeziehung als Madame. Aber es wäre falsch, die Arbeitsbeziehung der beiden Frauen als gegenseitige Belastung zu verstehen. Sie hatten keinen Grund, darüber nachzudenken, welche Konsequenzen es haben müsste, wenn sie sich irgendwelche Antipathien bekunden würden. Beide folgten der eigenen Erfahrung, die Arbeitszufriedenheit nicht zu belasten, indem man sie mit der unnötigen Frage konfrontiert, wie nahe man zu den Menschen steht, mit denen man im Bundestag auf engem Raum täglich zusammenkommt.
An diesem Vormittag einte sie aber ein langsam in Gang gekommenes Gespräch über ihren gemeinsamen Chef. Sie fanden Gefallen daran, ihre Eindrücke auszutauschen, die sie über M mit sich trugen. Schatz brachte das Eis als Erste zum Tauen, als sie nach einer Weile tastender Bemerkungen mit etwas unsicherem Unterton sagte: „Ich weiß gar nicht, ob ich das vortragen darf, aber ich fände es schön, wenn wir uns im Büro duzen würden.“ Madame hatte sie freundlich angelächelt und den Vorschlag mit „Sehr gerne“ quittiert, worauf Schatz eine weitere Tasse Kaffee eingeschenkt und ihre Schachtel Zigaretten auf den Tisch gelegt hatte. Beide rauchten, aber nicht im Büro, weil das von M nicht gerne gesehen wurde und auch von der Verwaltung dem Katalog der weichen Verbote zugordnet war.
Madame schaltete in einen anderen Modus, entspannte sich ein wenig und taute sichtlich auf in dem Vergnügen, über M zu tratschen und sich dabei ein wenig aus den Zwängen der politischen Korrektheit zu lösen, die sie im Grundsatz als unabdingbar für ihre Arbeit einschätzte. „Mit dieser Schnapsidee eines Untersuchungsausschusses hat sich M keinen Gefallen getan. Der rutscht damit auf dem Glatteis aus. M ist sicher ein fleißiger Abgeordneter und er behandelt uns besser als viele anderen. Aber er gehört nicht zu den Großen und Starken in der Politik. Er hat nicht die Anlagen für eine glanzvolle Karriere. Er ist, lass es mich mal vorsichtig so sagen, konservativ und versteht den Lauf der Zeit nicht. Es fällt mir zunehmend schwer, ihn politisch zu verstehen, um nachvollziehen zu können, was ihn antreibt.“
Schatz hatte sich genüsslich eine Zigarette angezündet und mit sanfter Stimme lächelnd geantwortet: „Ich finde ihn eigentlich ganz charmant. Er gehört für mich zu den Männern, mit denen ich zwar nicht zusammenleben möchte, in deren Umgebung ich mich aber als Angestellte wohlfühle, auch weil etwas Geheimnisvolles von ihm ausgeht.“
Die beiden variierten nun ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen. Madame hatte ihre Hände auf den Tisch gelegt, was sie immer machte, wenn sie ein Gespräch zu systematisieren versuchte. Schatz kannte diese Geste sehr genau und fühlte sich in ihrer Beobachtung bestätigt, als Madame sagte: „Zum ersten Mal reden wir über unseren Chef und merken, dass wir zwei ganz unterschiedliche Frauen sind, wenn wir über einen Mann sprechen, um den herum unsere gemeinsame Arbeit kreist. Pass auf, ich habe eine Idee, wir machen ein kleines Spiel.“
Schatz hob neugierig ihren Kopf. Spiel als Gesellschaftsspiel, das war ganz in ihrem Sinne. Einen guten Teil ihres privaten Lebens mit anderen Menschen verbrachte sie mit solchen Spielen. In ihrer Wohnung hatte sie sogar eine Kartenspielrunde gegründet, die jeden Monat einmal tagte. Sie fühlte sich stets wohl beim Spielen mit Menschen. Jetzt mit ihrer Kollegin zusammen im Büro kam ihr dieser Vorschlag wie eine Einladung vor, ein Stück ihres Privatlebens in diese ganz andere Welt des Hohen Hauses der Politik tragen zu dürfen. „Oh ja, sehr gerne“, reagierte sie voller Enthusiasmus und wartete auf die Spielanweisungen.
Madame holte zwei Bogen Papier, zündete sich nun ihrerseits eine Zigarette an und erklärte die Spielregel: „Du beginnst. Du sagst eine Eigenschaft, mit der du M charakterisierst. Die schreibst du auf. Ich überlege mir dazu ein passendes Eigenschaftswort, schreibe es auf mein Blatt Papier, ohne es dir zu sagen. In der zweiten Runde fange ich dann wie beschrieben an, nenne eine Eigenschaft und schreibe sie auf. So geht das hin und her, bis uns nichts mehr einfällt.“
Schatz gefiel das auf Anhieb. Die beiden saßen sich nahe gegenüber und das Spiel begann. „Charmant“, eröffnete Schatz den Reigen. Madame lächelte und notierte „oberflächlich“. Nun gab sie vor „impulsiv“, und Schatz schrieb auf ihr Papier „geht Risiken ein“. Schatz legte dann vor „Überzeugungskraft“ und Madame schrieb schnell „Hochstapler“. So ging es eine Zeit lang hin und her. Die Listen wurden mit weiteren Eigenschaftswörtern gefüllt.
Madame „manipuliert“ – Schatz: „einflussreich“
Schatz „selbstsicher“ – Madame „größenwahnsinnig“
Madame „erdichtet Zusammenhänge“ – Schatz „blickt in die Zukunft“
Schatz „trifft schwierige Entscheidungen“ – Madame „Gefühlsarm“
Madame „ereignisabhängig“ – Schatz: „handlungsorientiert“
Schatz „verantwortungsvoll“ – Madame „kaltherzig“
Madame „egozentrisch“ – Schatz „charismatisch“
Irgendwann waren ihre Blätter voll. Sie legten nun ihre Listen nebeneinander und waren erschrocken, wie weit die Deutungen auseinanderlagen. Sie zündeten sich neue Zigaretten an und versuchten zu verstehen, was für Eigenschaftsreihen sie zusammengestellt hatten. Klar wurde ihnen, dass jede von ihnen eine andere Seite seiner Persönlichkeit in den Vordergrund gerückt hatte. Aber es war ja nur ein Spiel. So lächelten sie über die zwei Seiten Papier an diesem Vormittag und waren wie gute Freundinnen zu Scherzen aufgelegt. Madame bilanzierte ihre Sichtweise: „Du malst ein Bild von einem stinknormalen Mann, der mächtig sein will und sich am liebsten so sieht, wie du ihn beschreibst.“
Schatz war über diese kritische Äußerung nicht böse. Sie lächelte, als sie antwortete: „Meine Güte, was haben wir da für einen Chef! Du malst ja das Bild eines richtigen Psychopathen.“
Sie schauten sich amüsiert in die Augen, und Madame nahm die Papiere, zerknüllte sie und warf sie mit einer gekonnten Bewegung treffsicher in den wenige Meter weit entfernten Papierkorb.
Der Vormittag war mit dem Einverständnis zu Ende gegangen, dass ein wenig Klatsch und Tratsch für das Arbeitsklima im Büro sicher förderlich sein würden. Madame setzte sich wieder an ihren Arbeitsplatz und widmete sich der randvoll gefüllten Schublade ihres Schreibtisches. Schatz räumte in Seelenruhe den Tisch und war sich sicher, künftig mit Madame besser klarzukommen, obgleich sie offensichtlich so unterschiedliche Persönlichkeiten waren. Gemeinsam gingen sie dann zum Mittagessen in die Kantine – auch das eine Premiere – und waren tief erschrocken, als sie von der Flugzeugkatastrophe hörten. Es wurde auch für sie ein finsterer Tag. „Das liegt nun wirklich nicht in unserer Hand“, sagte Schatz zu ihrer neuen Freundin. „Wer will das so genau wissen?“, entgegnete diese mit einer sehr weichen und freundlichen Stimme.
Reisen zu organisieren, gehört zu den Routineaufgaben in einem Büro für Abgeordnete im Bundestag. Das gilt auch für die Mitarbeiterinnen von M. Sie hatten einen halb dienstlichen, halb privaten Auftrag von M vor sich hergeschoben, obgleich er sie immer wieder mal angemahnt hatte. Vielleicht unter dem Eindruck des Flugzeugabsturzes, von dem sie nun die ersten Bilder der zerschmetterten Einzelteile der Maschine in einem unzugänglichen Bergmassiv der französischen Alpen im Fernsehen gesehen hatten, vielleicht aber auch, weil die Zeit wirklich drängte, machten sie sich am Nachmittag an die Arbeit. M wollte am 4. April nach Athen fliegen, dort bis zum 10. April bleiben und dann über die griechische Osterzeit eine Woche irgendwo im Land Urlaub machen, wo es besonders schön ist. Die Rückfahrt sollte dann von Athen aus für den 18. April gebucht werden.
Die Reise sollte eigentlich privat sein. Für die Kosten würde M aufkommen. Aber sie sollte beim Präsidenten des Parlaments angemeldet werden. Denn M verstand seine private Osterreise auch als eine politische Reise. Für sie sollten möglichst hochrangige Kontakte mit griechischen Politikern gesucht werden. Im Reiseetat hatte M einen Posten zwischen 2000 und 2500 Euro für eine gebildete und ortskundige Begleitperson vorgesehen. Sie sollte in Griechenland leben und in die aktuellen Geheimnisse des Landes eingeweiht sein. Obgleich für private Reisen der Bundestag nicht zuständig war, beanspruchte M wegen ihres in Teilen politischen Charakters die vollen Dienstleistungen seines Büros. Vor allem für die Entscheidungen, ihn mit den richtigen Menschen in Verbindung zu bringen, war er auf seine Mitarbeiterinnen vollständig angewiesen. Er war sich auch bei dieser Planung sicher, dass er bei den konkreten Vorbereitungen eher dem Schicksal vertrauen sollte, als etwas selbst in die Hand zu nehmen, von dem er das Ziel noch nicht kannte. Die beiden Mitarbeiterinnen waren bei so etwas einfach besser als er. Die hatten sich die anstehenden Vorbereitungen aufgeteilt. Madame würde sich um die politischen Kontakte in Athen kümmern und die möglichen Fragen aus der Parlamentsverwaltung beantworten. Schatz würde alle organisatorischen Probleme lösen, eine Begleitung bei einem Reiseveranstalter suchen und ein schönes Feriennest im Sonnenland vorbereiten.
Für Schatz war die Arbeit vergleichsweise einfach. Sie fand einen genialen Handlungsrahmen, der mit einfachen Mitteln schnell zu füllen war. Das Glück spielte ihr dabei in die Hände. Sie war als Touristin ein Jahr vorher, ebenfalls in der Frühlingszeit, in Griechenland gewesen. Unterwegs mit einer Studiengruppe war sie von Tobias geführt und begleitet worden, einem wunderbaren jungen und gelehrten Mann, der alles über die lange Geschichte dieses europäischen Kleinods wusste und sie mit den angenehmsten Gefühlen das in sattesten Farben leuchtende Frühlingsland im Mittelmeer erleben ließ. Und Schatz erinnerte sich, dass dieser Tobias, wenn auch ein wenig links angehaucht, über die in Jahren gewachsene Katastrophe des Landes mit ihren Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen umfassend zu diskutieren verstand.
Seit ihrer Reise im vorigen Jahr hatten ihr die Griechen stets leidgetan, und Schatz empfand die Aussagen der Politiker im eigenen Land als nicht angemessen und den Menschen gegenüber als arrogant. Tobias hatte die kleine Gruppe während einer einmalig schönen und ihre Zeit auf der Mani, der mittleren Halbinsel auf der südlichen Peleponnes, begleitet. Für Schatz war das eine der eindrucksvollsten Reisen gewesen, die sie je erlebt hatte. Einen großen Anteil ihrer Begeisterung schrieb sie Tobias zu, der sie damals Tag für Tag in eine faszinierende Welt geführt hatte. Sie ahnte, M könne nichts Besseres geschehen, als diesen Mann für seine Griechenlandreise zu gewinnen.
Schnell fand sie die Kontaktdaten von Tobias und rief ihn an. Er war begeistert von ihrem Angebot. Es passte bestens in sein neues Konzept. Er unternahm gerade alle möglichen Anstrengungen, sich als ein exzellenter Experte im Griechenlandtourismus, der in diesem Jahr gründlich einzubrechen drohte, selbständig zu machen und ganz auf umfassende Betreuungsleistungen für einzelne Reisende zu setzen. Er wollte damit auch ein Zeichen gegen die ständigen Behauptungen über die Griechen setzen, sie seien unfähig zu Reformen, scheuten die Arbeit und verprassten das Geld der anderen europäischen Länder. Solche Behauptungen hatten tiefe Spuren im Pauschaltourismus hinterlassen. Auf der anderen Seite zog es die so oder so Interessierten ins Land, in dem sie dann jedoch allein ohne Hilfe kaum hinter die Kulissen der in der Tat immer grauer werdenden Bilder aus Depressivität und Ratlosigkeit schauen konnten. So individualisiert wie möglich das Land den Gästen näher zu bringen, war Tobias neues Geschäftsmodell. Ein Kunde wie M war für ihn ein Volltreffer.
Schon im ersten Telefongespräch waren Schatz und Tobias handelseinig und klärten alle Einzelheiten. Tobias wurde eine Art Generalbevollmächtigter von Schatz. Sie gab ihm die Personaldaten von M und betonte immer wieder, dass M ein sehr freundlicher, aufgeschlossener und neugieriger Mensch sei. Tobias beteuerte, er habe keine Berührungsängste, wenngleich er der politischen Partei, die M vertrete, nicht nahestehe. Er verpflichtete sich, alle Reisevorbereitungen und Buchungen zu übernehmen und innerhalb von 48 Stunden die entsprechenden Unterlagen und Dokumente an Schatz weiterzuleiten. Mit diesem Volltreffer konnte Schatz nach einer guten halben Stunde ihrer Kollegin berichten, alle Vorbereitungenan bereits abgeschlossen zu haben.
„Hast du es gut. Dann kannst du heute ja früh nach Hause gehen“, meinte Madame. „In meinen Kontaktbörsen sieht es nicht so gut aus. Da stoße ich bisher nur auf schwarze Flecken.“
Schatz bot an, Tobias auch für die Suche nach politischen Kontakten zu beauftragen. Aber das lehnte Madame ab. Ihr war wichtig, dass bei den griechischen Stellen der Deutsche Bundestag als Anfrager und – wie sie es interpretierte – als Anbieter für politische Gespräche deutlich werden müsse. Das sei umso wichtiger, weil sie wusste, wie angespannt die Lage gerade zwischen der Fraktion und der griechischen Regierung wie auch den Abgeordneten im griechischen Parlament geworden war.
Vor allem aber erwies sich der gewünschte Zeitpunkt für Gespräche als schier unüberwindbare Hürde. Eine Woche vor dem griechischen Osterfest verließen die meisten griechischen Politiker, vornan die Parlamentarier, die Stadt. Ostern ist dort noch stärker als Weihnachten hierzulande geprägt von den alten Traditionen in der Familie und in der Heimat. Hinzu kam, was sie erwartet hatte: Keiner in Athen kennt M. Das wird an allen Stellen betont, die Madame aufruft. Wen man nicht kennt, für den interessiert sich in dieser Zeit auch niemand.
Diese einfache Schlussfolgerung bewahrte Madame davor, ihre Bemühungen unnütz allzu weit auszudehnen oder gar in ihren Gesprächen allzu intensiv zu insistieren. Sie konzentrierte sich schließlich auf das Presseamt der Regierung in der naheliegenden Annahme, dass dort Pflichten verankert sind, die durch die Osterzeit nicht außer Kraft gesetzt werden können. Im Werben für einen Gesprächstermin bewegte sie sich auf einer Grenzlinie. Sie behauptete, M komme in der Mission, die Wogen zu glätten, die inzwischen aus der großen Parteifraktion im Norden so hoch gegen die steilen Felsen im Süden schlugen. Tatsächlich konnte sie einen Treffer landen. Innerhalb weniger Minuten bekam sie per Mail die Bestätigung eines Termins. Sofort stellte sie alle weiteren Bemühungen ein mit der Gewissheit, mehr erreicht zu haben, als zu erwarten war. Das fasste sie auch in breiter Darlegung in ihrer Notiz für M zusammen. Darin stand dann als triumphaler Satz: „Trotzdem dürfen Sie sich glücklich schätzen. Am Donnerstag, dem 9. April, werden Sie um 10.00 Uhr einen halbstündigen Gesprächstermin beim Regierungssprecher Gavrill Sakellaridis im Presseamt der griechischen Regierung haben.“
M war am Dienstag nur noch kurze Zeit im Büro. Er verbreitete gute Laune, obwohl nur noch Madame anwesend war. Von ihr erfuhr er, dass die Reisevorbereitungen für die Griechenlandfahrt bestens liefen. Er würde einen hervorragenden Begleiter finden und für einen Spitzenkontakt in Athen sei auch gesorgt. „Für die Ferienwoche haben wir die Mani ausgesucht.“ Madame konnte nicht sehen, dass M ein wenig zusammenzuckte und ihm die Röte ins Gesicht schoss, als er das Wort Mani hörte. Gibt es da etwa eine fatale Verbindung zu seiner Wahrsagerin, fragte er sich, verwarf aber gleich den Gedanken, weil so eine Möglichkeit schlichtweg ausgeschlossen war. Ein wenig gespielt gab er zurück: „Wo liegt denn die Mani?“
„Das ist eine wildschöne Halbinsel auf der südlichen Peleponnes“, erwiderte Madame, unsicher, warum ihr Chef an diesem fürchterlichen Tag des Flugzeugabsturzes so gute Laune hatte.
Das klärte sich schnell auf. Ohne auch nur ein einziges Wort darüber zu verlieren, dass die Arbeitsaufträge für die Vorbereitung eines neuen Sicherheitsausschusses ab sofort als eingestellt zu gelten haben, umriss M auf die Schnelle das neue Arbeitsprogramm. „Sie haben erfahren, was sich heute in den französischen Alpen abgespielt hat. Fürchterlich, was wir alles miterleben müssen. Der Fraktionsvorsitzende hat mich beauftragt, alle Informationsquellen über die Aufklärung dieses Absturzes sorgfältig auszuwerten. Wir haben herauszufinden, ob da irgendetwas ist, das politisch relevant sein könnte. Ich habe einstweilen nur ihm zu berichten. Deshalb ist alles topsecret, kein Wort nach draußen, auch nicht über irgendwelche Kanäle hier im Hause. Ich erwarte von Ihnen eine lückenlose Beobachtung aller Reaktionen und diskrete Recherchen, wenn Sie irgendwelche für unsere Bewertung interessanten Spuren finden.“
Madame war über diese vollständige Wende ihrer Aufgabenzuweisung nicht unglücklich. Eine abschließende Bemerkung über seine irritierende Vorstellungswelt, die sie gerne noch am Morgen untergebracht hätte, lag ihr auf der Zunge. Sie verkniff sich aber, nach dem abgesagten Sicherheitsausschuss nachzufragen und eine unnötige Diskussion vom Zaun zu brechen. Stattdessen sagte sie: „Da haben wir sicher einige Tage lang gut zu tun. Ich nehme mal an, nach einiger Zeit schnell hoch schwappender Spekulationen werden wir zunehmend Fakten kennen, mit denen wir ein recht klares Bild der Vorgänge und ihrer Ursachen zeichnen können. Das war ja immer schon so nach schweren Unfällen in dieser Größenordnung.“
M sortierte noch ein wenig seine Unterlagen aus dem Plenum. Die meisten waren ungelesen, und sie schienen ihm für seine Arbeit ohne größere Bedeutung. Also landeten sie in der Ablage für Schatz, denn mit Madame hatte er jetzt Wichtigeres zu tun. Er richtete sich eine neue Mappe ein, auf die er nur die Initialen FV schrieb. In diese Mappe würden nur prägnante Arbeitsergebnisse für den Fraktionsvorsitzenden eingefügt werden, die er seinem Idol persönlich vortragen würde. Er nahm sich vor, diese Mappe ab jetzt immer mit sich zu tragen. Die einzelnen Papiere sollten mit „Streng vertraulich“ gekennzeichnet werden.
M machte sich schnell bereit, das Büro zu verlassen. Er hatte bereits eine Hand auf der Türklinke, als er noch zu Madame sagte: „Es ist nur so ein Gefühl. Ich glaube eher nicht an ein technisches Versagen. Achten Sie besonders darauf, was wir über die beiden Piloten erfahren. Sie sind zwar auch tot. Aber ich glaube, sie haben eine Geschichte mit ins Grab genommen, über die wir mehr erfahren müssen.“
Zu Hause angekommen, machte sich der Sonderbeauftragte des Fraktionsvorsitzenden gleich an die Arbeit. Schnell überflog er die Flut an Infos, Statements und Expertisen, die sich nun in breiten Strömen ohne Unterbrechung über die Öffentlichkeit ergossen. Sie deckten alles zu, was sonst noch in der Welt geschah. Es waren vor allem ans Herz gehende Schilderungen, wie es den Menschen zum Zeitpunkt des Unfalls wohl ergangen sein mochte. Und die Familien und Freundeskreise der Getöteten, allen voran aus dem kleinen Städtchen Haltern am See, aus dem eine Schulklasse mit ihren Lehrern in den Tod gerissen worden waren, gerieten in den Fokus der Journalisten. Das alles prallte an M ab, weil seine Suche anders programmiert war. M hatte starke Bilder im Kopf, die sich nicht vertreiben ließen. Am Abend, als die Fernsehnachrichten mit Brennpunkt und Specials gelaufen waren, holte er sich eine Flasche Wein und seine Kladde, in der er sich heute nach längerer Zeit wieder Aufzeichnungen machte:
„Am 11. September 2001 flogen zwei Flugzeuge in einem lang gestreckten Sinkflug auf New York zu, um gezielt gegen die Zwillingstürme des World-Trade-Centers zu prallen und an ihnen in einem riesigen Feuerinferno zu zerschellen. Sie lösten die größte Flugkatastrophe aus, die die Welt je erlebt hat. Die politischen Folgen sind noch heute der Stoff, aus dem Zeitgeschichte geschrieben wird. Die Bilder von damals sind in mir eingebrannt. Sie haben mich auf den Weg in die Politik getrieben. Diese Bilder haben sich seit heute Morgen krass über die Informationen gelegt, die ich vom Airbus-Absturz in den südfranzösischen Alpen erhielt. Sie sind in mir so stark, dass sie sich wie ein Filter, wie eine zweite Bilderstrecke über die Filme legen, die ich soeben im Fernsehen von der Absturzstelle sehen musste.
In die Politik bin ich damals gegangen, weil ich Teil eines Machtsystems sein möchte, das angesichts der Situation der Menschheit auf dieser Erde eher gestärkt als geschwächt werden muss. Es gibt einen Krieg, ausgelöst durch die Folgen aus unberechenbaren Taten Einzelner, unterhalb der Ebene klassischer Kriege zwischen aufgerüsteten Armeen dieser Welt. Religiöser Eifer und Fanatismus erzeugen diese neuen Formen der asymmetrischen Kriege, in denen Terrorismus und die Kriminalität des Tötens immer neue Verbindungen eingehen. Ich weiß sehr wohl, dass mich mit der Macht keine herausragenden Fähigkeiten meiner analytischen Kenntnisse und auch keine Sicherheit in schnellen Entscheidungen und entschiedenen Handlungen verbinden. Unter dem Gesichtspunkt der konventionellen Machtpolitik bleibe ich ein wenig beachteter Hinterbänkler. Da sind andere besser und effektiver als ich. Was mich mit Macht verbindet, mich notwendigerweise in ihr verankert, ist anders begründet, hat keine Diskursbasis, bleibt jedem verborgen, bestimmt meinen einsamen Weg. Manche glauben, meine Zeit sei ein Spielball des Schicksals. Ich dagegen behaupte, sie ist eingebettet in ein universales Kraftfeld. Es sind meine Instinkte, aus Kraftfeldern, die nicht sichtbar sind, die nicht diskutiert werden können, Zusammenhänge zu finden, die den anderen verschlossen bleiben, vor denen sie angstvoll zurückwichen, müssten sie ihre Existenz anerkennen. Ich gebe zu, diese Kraftfelder allein nicht deuten zu können, aber ich weiß seit meiner Geburt, dass es kein Ereignis gibt, das uns Menschen heimsucht, zu irritieren versteht oder bis zu Kriegen polarisiert, das keine Entsprechung in der Zeichensprache des Himmels hat. Ich bin an einem Tag der Sonnenfinsternis am 12. Oktober 1958 geboren. Erst vor wenigen Tagen gab es in diesem Jahr wieder eine Sonnenfinsternis. Ich bin wohl der Einzige im politischen Berlin, der ihre Auswirkungen im aktuellen Geschehen bis in das politische hinein ernst nimmt.
Mein Freund Tony Bonin begleitet mich dabei nun schon über so viele Jahre. Ohne ihn wäre ich nie den Weg in die Politik bis in den Deutschen Bundestag gegangen. Tony ist das Genie, das die Zeichensprache am Himmel lesen kann, die ich in mir lediglich spüre. Ich habe ihn immer gebraucht und werde ihn weiter brauchen. Er hat mich auch zu meiner derzeitigen Wahrsagerin geführt, die mir so wichtig geworden ist. Ich bin von seiner Begabung überzeugt, weil ich ohne ihn keine Sicherheit hätte, in der Klasse derer zu bestehen, die im Hexenkessel der Macht überleben. Tony liest die Horoskope nicht wie die Jahrmarktgestalten oder die Dauerlieferanten für irgendwelche Illustrierte. Er kann die auf- und absteigenden Planetenknoten berechnen und die Ergebnisse als Transformationen im kosmischen Geschehen interpretieren. Er ist den Korrelationen zwischen kosmischen Ereignissen und dem Geschehen auf der Erde auf der Spur. Deshalb bleibe ich auf ihn angewiesen, wenn ich meinen Instinkten folge. Tony hat das Attentat am 11. September 2001 in New York vollständig erklärbar gemacht. Er wird mir auch jetzt wichtige Informationen geben. Denn ich bin sicher, wir müssen die Spur aufnehmen, die uns neue Formen des Terrorismus auffinden hilft. Der Absturz enthält eine Botschaft, die als eine neue Variante der asymmetrischen Kriegsführung zu verstehen sein könnte. Die Zeichen müssen gedeutet werden wie damals in New York. Diese Deutung ist mein Auftrag. Mit ihr werde ich Macht gewinnen.
Um 8.46 Uhr New Yorker Ortszeit rammt ein Flugzeug den nördlichen Turm des World-Trade-Centers in New York. In die dadurch ausgelöste Panik hinein schießt um 9.04 ein zweites Flugzeug in den südlichen, 414 Meter hohen Turm. Brände und Zerstörungen unvorstellbaren Ausmaßes zeigen eine wahrhafte Hölle in der Stadt. Über 30.000 Beschäftigte in den Gebäuden sitzen in der Feuerfalle. Die meisten können sich irgendwie retten, rennen wie Geister aus den Ausgängen in die nächsten Straßenschluchten. Die Brände in den beiden Türmen werden immer stärker, Brandwolken wälzen sich an den Fassaden entlang. Tausende sind eingeschlossen und werden mit den Gebäudemassen verglühen. Schnell ist klar, es handelt sich um gezielte Attentate. Um 9.59 Uhr stürzt der Südturm ein. Um 10.25 Uhr sinkt der Nordturm in sich zusammen. Wir alle haben damals live im Fernsehen zuschauen können, sprachlos. Das damals höchste Gebäude der Welt, Wahrzeichen von New York und Stolz der unverletzlichen USA, versinkt zertrümmert in Feuer und Staub.
Tony hat alle astrologischen Daten miteinander verbunden und die Hauptachsen von Krebs, Waage, Merkur, Saturn und Jupiter in einem Stadthoroskop und in einem Ereignishoroskop zusammengeführt. Natürlich steht in seiner Zeichensprache nicht Bin Laden und die Al-Quaida. Aber die Bilder „Steinwüste“ und „meisterhafter Tod“ sind ebenso klar wie die dann folgende „tiefe saturnische Depression der Stadt“ und der Hinweis auf den Handels- und Finanzschwerpunkt mit der Pluto-Einwirkung. Tonys Transneptune-Netze lassen keine Zweifel zu: Der auf- und dann absteigende Saturnknoten und der auf- und dann absteigende Plutoknoten stehen in enger Konjunktion mit der nicht mehr steigenden Jupiter-Konstellation als Optimierungssymbol. Ereignis und Ziel als Botschaft seiner Daten lassen den Ablauf des Attentats klar erkennen. Die frisch in der Luft aufgetankten Flugzeuge sollten mit den Anschlägen gegen die Gebäude ein optimales höllisches Flammenmeer erzeugen, in dem dann die Türme schmelzen und zusammenbrechen mussten.
Tonys Analyse umfasst außerdem noch einen zweijährigen Sekundärrhythmus für den Ereignistag. Keiner hat sich dafür interessiert. Aber ziemlich genau zwei Jahre nach dem Fiasko, so leitete er aus dem Horoskop der Attentäter ab, sind überaus ungünstige Aspekte für die USA zu erkennen. Und tatsächlich: Am 14. August 2003 gibt es den größten Stromausfall in der amerikanischen Geschichte. Auch in New York gingen die Lichter aus.
Und nun heute diese Katastrophe. Alles nur Zufall, technische Probleme, Schicksal? Daran glaube ich nicht. Ich hätte es ohnehin besser wissen können, die Katastrophe sensibler auf uns zukommen sehen müssen. Meine Wahrsagerin hatte sie mir angekündigt. Sie ist keine gebildete Astrologin wie Tony und sie lallt beim Sprechen. Aber sie fühlt in Kraftfeldern die Zusammenhänge, die Tony in seinen komplizierten Rundbildern wie ein Anwalt Schritt für Schritt erschließt. Ich werde Toni beauftragen, das heutige Ereignis zu analysieren. Und ich werde meine Wahrsagerin besuchen. Es muss schnell gehen, sonst rast mir die Zeit davon.“
M ging mit dem guten Gefühl ins Bett, an diesem Tag alles richtig gemacht zu haben. Eine Mail an Tony Bonin mit der Anfrage und dem mit ihr verbundenen Auftrag waren schon unterwegs. Der Bevollmächtigte des Fraktionsvorsitzenden ging seinen eigenen Weg und hatte seine eigenen Methoden. Vor allem hatte er seinen Experten in der Astrologischen Akademie in Bad Wörishofen. Das aber sollte niemand erfahren, schon gar nicht sein Fraktionsvorsitzender. Die offiziellen Wege zu ihm hatte Madame, seine Mitarbeiterin, mit der ihr eigenen Methode im Umgang mit Informationen zu pflastern.
Der 25. März, der Tag nach dem Flugzeugabsturz, beginnt mit einer kurzen Lagebesprechung im Büro am Besprechungstisch. Schatz hat ihren Stenoblock auf dem Schoss. Madame hat einen Packen Papier, Kopien und Ausdrucke auf dem Tisch ausgelegt. M sitzt ohne Unterlagen am Kopf des Tisches. Er richtet sich an Madame: „Was wissen wir?“
„Wenig“, antwortet sie, „es ist viel geschrieben worden, aber Genaues weiß man noch nicht. Die Bundeskanzlerin wird heute Nachmittag zur Unglücksstelle fahren und sich dort mit dem französischen Präsidenten treffen.“
„Die Luftfahrtgesellschaft? Die Technikexperten?“, fragt M. Bleibt alles unklar. Die Maschine war zwar alt, wurde aber noch einen Tag vor dem Abflug aus Barcelona technisch gewartet. Die Experten sprechen eher über allgemeine Probleme bei den Flugzeugen, tun sich aber schwer, im konkreten Fall eine Erklärung zu finden. Selbst ein Anschlag durch Passagiere wird nicht ausgeschlossen, wenngleich es kein Anzeichen dafür gibt und auch keine Bekennerschreiben aufgetaucht sind. „Also lasst uns rekonstruieren, was wir über den Ablauf bis zum Aufprall wissen. Schatz soll mitschreiben“, kürzt M die Wiedergabe der Informationslage ab.
Der Airbus A320 der Germanwings war kurz nach 10:00 Uhr in Barcelona zu seinem Flug nach Düsseldorf gestartet. Es gab keinerlei Hinweise, dass irgendetwas mit der Maschine nicht in Ordnung sein könnte. Der Funkverkehr lief die ersten 45 Minuten völlig normal. Die übliche Flughöhe von 38.000 Fuß war schnell erreicht worden. Um 10:44 Uhr hatte es ein Signal gegeben, wonach die Maschine diese Höhe verlassen habe. Um 10:52 Uhr war der Funkkontakt in einer Höhe von nur noch knapp über 6.000 Fuß abgerissen, so Germanwings-Chef Winkelmann. Da befand sich die Maschine bereits in der Nähe von Barcelonnette im Département Alpes-de-Haute-Provence, rund 100 Kilometer nordwestlich von Nizza. Das Bergmassiv Les Trois Évêchés ist hoch, steil und zerklüftet. Dort prallte die Maschine um 10:53 Uhr gegen die Bergwand und zerschellte. Die Teile liegen meilenweit auseinandergeschleudert in dem nur schwer zugänglichen Gebiet verteilt.
Madame zieht aus ihrem dicken Papierstapel noch eine Notiz heraus: „Es gibt da eine Webseite, die heißt Flightradar24. Sie verfolgt Flugrouten und bildet sie im Netz grafisch ab, auch unseren Flug. Danach sei die Maschine am Ende etwa 900 bis 1.200 Meter pro Minute gesunken. Das sei vergleichbar mit dem Standard bei Landeanflügen.“
Diese Meldung verfolgt M mit intensiver Aufmerksamkeit. Er holt sich seine Kladde und zeichnet den Verlauf der Kurve, die die Maschine im Sinkflug in den letzten acht bis neun Minuten geflogen war. Dieser Linie legt er eine Horizontale unter, auf der er die Minuten markiert, um auf diese Weise die gleichmäßige Sinkkurve zu dokumentieren. „Das Wetter war gut, klarer Himmel. Im Cockpit war also den Piloten klar, was passieren musste. Kein Notruf, kein Alarm.“ Schatz und Madame sitzen erschrocken vor seiner Zeichnung.
Madame holt noch ein anderes Blatt aus den vielen Nachrichten: „Am Nachmittag wurde der Stimmenrekorder unter den Trümmern gefunden. Aber es gibt noch keinen Hinweis, was die Audio-Dateien an Informationen bergen.“
M bewertete diese Lagebesprechung als gut gelaufen und brach sie schnell ab. Er wollte pünktlich im Plenum sein. Auf seinem Platz verfolgte er aufmerksam die Meldungen, die er über sein Smartphone bekam, eine bei vielen Kollegen beobachtete Praxis, während der Sitzungsreden, die er zutiefst verabscheute. Immer wieder betrachtete er seine Zeichnung über die Flugbewegung der Maschine in ihren letzten Minuten. Er fertigte von ihr auf der leeren Folgeseite seiner Kladde eine Reinzeichnung an, für die er eine Broschüre aus seinen Unterlagen als Lineal benutzte. Daneben schrieb er die einschlägig bekannten Daten des Flugzeuges und seines Absturzes.
In der Mittagspause lief er fast beiläufig seinem Fraktionsvorsitzenden über den Weg. Der kam ihm entgegen, schüttelte die Hand und meinte warmherzig: „Mein Freund, Sie wissen sicher auch noch nicht mehr als ich.“ M lächelte ein wenig verlegen, zog seine Zeichnung aus der Tasche, zeigte sie dem Fraktionsvorsitzenden und sagte: „Alles weiß ich noch nicht. Aber schauen Sie, diese Fluglinie geht dem Aufprall voraus. Sie deutet auf keinen technischen Defekt der Maschine hin, auf keine Explosion und auch auf keine Turbulenzen bei den Passagieren. Die Fluglinie wäre auch nicht logisch, wenn der Pilot plötzlich kollabiert oder nicht mehr Herr der Situation gewesen wäre. Sie sieht so aus, als sei die Maschine absichtlich auf diesen Kurs gesteuert worden.“
Der Fraktionsvorsitzende verliert sichtbar Farbe im Gesicht. „Um Gottes Willen, was wollen Sie damit andeuten? Das kann doch gar nicht sein.“ Kurz schweigen beide und er fährt fort: „Haben Sie Kontakt zum Bundeskanzleramt aufgenommen? Die Kanzlerin ist wahrscheinlich schon unterwegs zur Unglücksstelle.“
„Nein“, erwidert M. „Wir waren ja so verblieben, dass ich nur Ihnen berichte und auch nur Ihnen meine Schlussfolgerungen mitteile.“
Da hellt sich das Gesicht des Fraktionsvorsitzenden wieder auf, und er klopft M freundlich auf die Schulter. „Sie haben einen scharfen Verstand. Aber verrennen Sie sich nicht. Ich setze weiter auf Sie.“ Spricht - und wendet sich schnell anderen zu, die seine Nähe suchen und ihm bereits auf den Fersen sind.
Nach der Mittagspause zurück in seinem Büro fiel M auf, dass seine beiden Mitarbeiterinnen sich ihm gegenüber sehr höflich und ehrerbietig verhielten. Offensichtlich akzeptierten sie ihn jetzt als Autorität, als einen Politiker mit Instinkten, der sich nicht durch Gefühle beeinflussen lässt, die das Unglück aller Orten ausgelöst hatte. Gleich mit seinem ersten Satz verblüffte er seine beiden Mitarbeiterinnen: „Ich hätte den Angehörigen der Piloten nicht den Rat gegeben, mit den Angehörigen der anderen Opfer ins Unfallgebiet zu fliegen.“
Die Informationslage 27 Stunden nach dem Absturz war immer noch einigermaßen unübersichtlich. Die Ursachen und der genaue Ablauf blieben im Verborgenen. 72 Bundesdeutsche waren an Bord, das wusste man nun. Der Stimmenrekorder wird noch ausgewertet. Auch Deutsche Spezialisten beteiligen sich daran. Das Zentrum im Alpengebiet, in dem die Hilfsmannschaften ihre Basis haben, in dem die Heerscharen der Journalisten einfallen, in dem die Seelsorger und Psychologen campieren, die den Angehörigen helfen sollen, in dem die Turnhalle hergerichtet wird, um die Särge für die Opfer aufzustellen, in dem offizielle Sprecher und Politiker ihr Fenster zur Welt finden, ist nun das Dorf Seyne-les-Alpes mit gerade einmal 1.400 Einwohnern. Die Bundeskanzlerin, der französische Präsident und der spanische Regierungschef zeigen auf einer gemeinsamen Pressekonferenz, wie betroffen sie sind, wie nahe ihnen diese Katastrophe geht, wie sehr sie an einer schnellen Aufklärung interessiert sind, und dass sie alles in ihrer Macht Stehende tun wollen, um den Hinterbliebenen der Opfer zu helfen.
Die Kanzlerin nannte das Unglück „das Unfassbare“ und gab ihrer Einschätzung Ausdruck, es werde angesichts der schwierigen Lage der Absturzstelle sicher einige Zeit in Anspruch nehmen, die Unglücksursachen zu klären.
Madame ergänzte die allgemeinen Informationen noch um einen Hinweis auf ein Statement des Bundesinnenministers. Der habe gesagt, es gebe keine „belastbaren Hinweise dafür, dass Dritte den Absturz absichtlich herbeigeführt hätten“.
Die beiden Frauen erschraken innerlich, als M beiläufig kommentierte: „Doch, meine Flugkurve.“
Madame sah etwas ratlos aus, als sie ihre Übersicht der Informationslage mit der Aussage abschloss: „Wir müssen offensichtlich abwarten. Die Experten finden keine heiße Spur.“
Schatz beobachtet ihren Chef. Es läuft ihr kalt über den Rücken, als sie wahrzunehmen glaubt, wie sich ein angedeutetes Lächeln um seine Lippen legt, als Madame ihre ergebnislose Bilanz vorträgt.
„Ich sehe das ein wenig anders“, entgegnet M. „Wir sollten uns ab jetzt auf den französischen Staatsanwalt in Marseille konzentrieren. Der ermittelt offensichtlich anders, als die Medien das tun. Der Staatsanwalt Brice Robin hat festgestellt, die Flugüberwachung habe kurz vor dem Absturz vergeblich versucht, den Kontakt zur Unglücksmaschine zu halten. Das finde ich bemerkenswert. Diese Feststellung erklärt voll und ganz meine Fluglinie. Beobachten Sie diese Quelle so sorgfältig wie möglich. Ich gehe davon aus, dass hier vorsätzlich gehandelt wurde.“
Schatz kann dem nicht folgen. In ihr sind die Bilder mit den herumliegenden Wrackteilen in der unwirtlichen Berglandschaft. Sie sieht vor sich die fassungslosen Menschen, wie sie in dem kleinen Steindorf zusammenkommen. Sie stellt sich vor, dass die Särge für die Angehörigen nicht geöffnet bleiben können, weil keiner den Anblick der Reste der umgekommenen Menschen ertragen kann. Sie möchte an etwas Unabwendbares glauben, ein fatales technisches Versagen, vielleicht sogar an einen Schlaganfall im Cockpit. Aber Absicht? So perfide kann doch kein Mensch sein.
Auch Madame bleibt skeptisch. Sie bewundert zwar, wie früh und konsequent sich M auf eine Hypothese eingeschossen hat und findet, diese beansprucht durchaus Beachtung. Aber sie sagt sich, dass zu vieles gegen sie sprechen müsse. Andernfalls würde es nicht die Statements von höchster Regierungsebene und die Spekulationen vieler Experten geben, die ebenfalls über die Fakten verfügten, aus denen M seine Schlüsse zieht. „OK“, sagt sie, „wir werden die französischen Staatsanwälte besonders im Auge behalten. Aber es ist sicher ebenso wichtig, dass wir alle Einschätzungen und Möglichkeiten genauso vorurteilslos registrieren, die gegen die These sprechen, der Absturz sei absichtlich herbeigeführt worden.“
Schatz ging es sehr schlecht. Sie fühlte sich völlig ermattet. Sie bat M, das Büro vorzeitig verlassen zu dürfen. M gab ihrer Bitte ohne Zögern nach und wünschte ihr schnelle Genesung. Madame zog sich an ihren Computer zurück und M verließ das Büro, um wieder in den Plenarsaal zu eilen. Dort saß er dann mit seinem Handy und der FV-Mappe auf dem Pult. In sie trug er ein: „Der Sinkflug gegen die Bergwand wurde absichtlich eingeleitet und konsequent zu Ende geführt. Das machen wahrscheinlich nicht zwei Piloten gemeinsam (Pflichtbesetzung). Es muss sich also im Cockpit eine Tragödie ereignet haben, an deren Ende nur ein Pilot handlungsfähig blieb (muss aufgeklärt werden). Die absichtliche Tat ist dann – unabhängig aus welchem Zustand entstanden – ein Attentat, dem neben dem Piloten 149 Menschen zum Opfer fielen. Ich nenne das terroristisch. Das Attentat offenbart dann in letzter Konsequenz eine neue Form des Terrorismus.“
Am Abend speist M nach langer Zeit wieder in der Parlamentarischen Gesellschaft. Die Bedienung im Kaisersaal ist ebenso vorzüglich wie das Essen und der Wein erlesen. M sitzt mit Freunden an einem Tisch. Sie kommen aus unterschiedlichen Fraktionen. Ihre Konversation kreist um Griechenland, die Ukraine und um den „unsäglichen Islamischen Staat“ in Syrien und im Irak. Sie diskutieren nicht kontrovers. Es ist ein ungeschriebenes Gesetz in der Parlamentarischen Gesellschaft, bei den Gesprächen an den fein gedeckten Tischen parteipolitische Zuspitzungen zu meiden. Sind Nuancen in der Bewertung der neuen Syriza-Regierung in Griechenland und in der Analyse der Anteile Russlands und der Ukraine am neuen Ost-West-Konflikt durchaus zu erkennen, ist die Ratlosigkeit gegenüber dem islamistischen Sturm des neuen Kalifats Abu Bakr al-Baghdadi allen gemeinsam unverkennbar. Verlässlich haben sich nur die kurdischen Kämpfer der Peschmerga und der kurdischen Verteidiger von Kobane erwiesen. Aber allein mit ihnen am Boden ist der internationale Krieg gegen den IS nicht zu gewinnen. Undurchsichtig, feindlich gar, erscheint in diesem Nahostkrieg vor allem auch die Türkei mit ihrem offiziellen Hass auf die Kurden, wo immer sie leben.
Nach dem Essen stiegen die Freunde noch in Ossis Bar in den Keller des prachtvollen Gebäudes. Dort war es voll, und sie fanden gerade noch einen freien Stehtisch, auf dem sie ihre gut gezapften Gläser Bier drapierten. Trotz der Fülle war es in diesem Bierkeller nicht laut. Auch hier, wo die Etikette der kleinen Parlamentsrepublik am lockersten ist, bleiben die Parlamentarier halb politisch, halb privat, ungeachtet der unterschiedlichen Mengen des Biers und des Weins, die sie konsumieren, ein ruhiges Völkchen, das lieber flüstert, als mit der Faust auf den Tisch zu hauen. Auch unter Freunden ist es hier üblich, das Gesicht zu wahren, ständig und ernsthaft über die vielen Probleme dieser Welt zu räsonieren.
Schließlich kam die Runde am Stehtisch auch auf das Thema des Flugzeugabsturzes zu sprechen. M gab mit keiner Bemerkung zu erkennen, in welcher Mission er mit diesem Thema auf besondere Weise verbunden ist. Die anderen suchten eher nach Ursachen im technischen Bereich. Das Pannenregister der Airbus-Maschinen hatte immerhin schon einen erschreckenden Umfang. Den Sinkflug interpretierte man eher als einen letzten Versuch eines sehr erfahrenen Piloten, die Maschine irgendwie noch zu einer Landung zu bringen, was aber in dem wilden zerklüfteten Bergmassiv leider aussichtslos gewesen sei. M war der Einzige, der zögerlich zu bedenken gab, dass auch der Faktor Mensch eine Rolle gespielt haben könne. Vorsichtig umschrieb er seine Vermutungen mit „menschlichem Versagen“, um keine Nachfragen zu provozieren, denen er sich an diesem Ort vor diesen Freunden nicht stellen wollte. Kopfschütteln und betroffenes Schweigen beendeten dann auch bald die Diskussion.
M hatte die persönliche Mailadresse seines Fraktionsvorsitzenden. Sie sollte er nutzen, wenn es geboten erschien, die offizielle Anlaufstelle im Bundestag zu umgehen. Insgesamt galt für M die Arbeitsvorgabe, das Internet sehr zurückhaltend einzusetzen, wenn es um politisch brisante Dinge ging. Auf dem Weg von der Parlamentarischen Gesellschaft in seine Wohnung überlegte M, ob er seinem Fraktionsvorsitzenden einen Hinweis über seine Vermutung zukommen lassen sollte. Er war sich darüber im Klaren, dass wahrscheinlich der BND, die NSA oder beide den Mailverkehr registrieren und auswerten würden. Er hatte also abzuwägen, ob er dieses Risiko eingehen müsste. Er kam zu dem Ergebnis, aus aktuellen Gründen seinen Fraktionsvorsitzenden schließlich doch informieren zu müssen. Seine Entscheidung stützte auch die Spekulation, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis auch andere Informationskanäle ihre Argumentation auf der Grundlage seiner Erkenntnisse aufbauen würden.
Unter den Toten ist auch der Co-Pilot. Er kommt aus Montabaur. Dort war er bereits als Jugendlicher aktiv im Verein der Segelflieger. Seine Freunde bestätigen, was für ein fantastischer Flieger und Kamerad er gewesen sei. Sie waren es auch, die gleich nach dem Absturz eine Traueranzeige in die örtliche Zeitung setzten: „Er konnte sich seinen Traum erfüllen, den Traum, den er jetzt so teuer mit seinem Leben bezahlte.“ Der Stadtrat von Montabaur tagt am Mittwochnachmittag. Die Bürgermeisterin eröffnet die Sitzung mit einer Schweigeminute zum Gedenken an den angesehenen Sohn ihrer Stadt.
Am Mittwochabend um 23.15 Uhr mailt M an seinen Fraktionsvorsitzenden: „Ich bin ziemlich sicher, dass einer der beiden Piloten die Maschine absichtlich gegen die Bergwand geflogen hat. Aus welchen Gründen auch immer das geschehen ist, bleibt die Tatsache zu bewerten, dass wir es mit einem Attentat zu tun haben, das in der Kategorie Terrorismus zu verorten ist.“ Danach rief er seine Wahrsagerin an und verabredete mit ihr einen Termin für den nächsten Tag, Donnerstag, den 26. März, um 18.00 Uhr.
Das wird mein Tag. So stieg M in den Donnerstag ein. Ungeheuerliche Informationen über den Flugzeugabsturz strömten bereits am Morgen in die Öffentlichkeit und ließen die Menschen vor Fassungslosigkeit erstarren. Nicht aber M, der in ihnen die Mosaiksteine fand, mit dem er sein Puzzle vervollständigte, das ihm von Anfang an vorgeschwebt hatte. Er wurde sich zunehmend sicher, als Politiker eine Rolle spielen zu können, weil er Karten in der Hand hielt, mit denen er in die Abgründe von Menschen sehen konnte. Er genoss es, wie die Informationen das Abgründige in Fakten gossen, ohne deuten zu können, was sie da an Wahrnehmungswirkungen auslösten.
Der erste Donnerschlag lautete: Der Co-Pilot des Fluges mit der Flugnummer 4U9525 hat den ersten, den Hauptpiloten, gekonnt aus dem Cockpit ausgeschlossen. Wie konnte das passieren? Der erste Pilot musste vielleicht auf die Toilette. Oder er hatte die Kabine aus anderen Gründen kurzfristig verlassen. Der Flug lief ja regelmäßig. Da kommt es häufig vor, dass man das Kommando seinem Co-Piloten überlässt. Die Tür zum Cockpit ist elektronisch gesichert. Ein Knopf im Inneren des Cockpits kann sie offenhalten oder aber auch absperren, sodass sie von außen nicht geöffnet werden kann. Dieser Mechanismus macht Sinn, um die Fliegerkabine vor dem Eindringen von Terroristen zu schützen. Von außen kann man über eine Gegensprechanlage Kontakt zum Piloten in der Kabine aufnehmen. Man kann auch einen Türcode über Tasten eingeben. Dann muss der Pilot auf „Unlock“ stellen und die Tür öffnet sich kurz. Sie kann aber auch von innen verriegelt bleiben. Dann dauert es eine halbe Stunde, bis sich die Tür nach Eingabe eines nur den Piloten bekannten Codes automatisch öffnet. Vor dieser Tür begann die Katastrophe. Der Stimmenrekorder verzeichnet einen Wortwechsel des um Einlass bittenden Piloten mit seinem Co-Piloten. Die Tür bleibt verschlossen, der Sinkflug wird eingeleitet. Ab nun gibt es keine Äußerung des Co-Piloten auf dem Rekorder mehr. Die Tür bleibt verschlossen.
Die Flugsicherung beobachtet zu diesem Zeitpunkt bereits besorgt das Verhalten der Flugmaschine. Sie ahnt, dass es Probleme für den Piloten gibt, die Tür zum Cockpit zu öffnen, und sie hört trotz mehrmaliger Aufforderungen nichts vom Co-Piloten, obgleich die Übertragungstechnik funktioniert. Man hört in den letzten Minuten auf dem Stimmenrekorder wild aufgeregte Geräusche von außen und ansonsten nur das Atmen des Co-Piloten. Für die französische Flugsicherung bedeutet dieser Tatbestand Notfallalarm. Sie veranlasst deshalb, was in so einer Situation zu geschehen hat. Ein Kampfjet der französischen Luftwaffe wird gestartet, um dem Airbus entgegenzufliegen. Zu spät. Der Jet wird die Maschine nicht mehr erreichen. Im Airbus saßen auch 16 Schüler und zwei Lehrerinnen des Joseph-König-Gymnasiums in Haltern am See. Sie waren auf einem Austauschbesuch in Spanien gewesen.
Ab jetzt wird von einer „absichtlichen Tat“ gesprochen. Der französische Staatsanwalt gibt diese Sprachregelung aus und vermeidet es, in diesem Zusammenhang von einem „Suizid“ zu sprechen. M vermerkt diese sprachliche Unterscheidung in seiner Mappe mit einem Ausrufungszeichen. Schnell wird der Name des Co-Piloten bekannt. Es handelt sich um Andreas Lubitz. Ihm gelten jetzt alle Recherchen, und auch für M ist er die Person, die sein größtes Interesse findet. Die ersten Infos über Andreas L. – wie er zunächst in den Medien präsentiert wird – sind wenig aufschlussreich. Er ist 27 Jahre alt und stammt aus der rheinland-pfälzischen Kleinstadt Montabaur. Er wohnt dort bei seinen Eltern, hat aber auch noch eine Wohnung in Düsseldorf. 2008 begann er seine Pilotenausbildung in Bremen, die er allerdings ein paar Monate lang unterbrechen musste. Zunächst als Flugbegleiter tätig, wurde er 2013 Pilot bei Germanwings, einer Lufthansa-Tochter. Bis zum Absturz hatte er 630 Flugstunden absolviert und galt laut Lufthansa als hundertprozentig flugtauglich, „ohne Einschränkungen und Auflagen“.
Bald kommen weitere Informationen. Die Düsseldorfer Wohnung von Lubitz war durchsucht worden. Unterlagen deuten darauf hin, dass der Co-Pilot erhebliche psychische Probleme gehabt haben musste. Auch da macht sich M eine Anmerkung in seine Quelle, kaum dass die ersten Andeutungen über eine solche Krankheit gemacht werden: „Der Attentäter soll in der Vergangenheit und vielleicht auch in der Gegenwart in psychiatrischer Behandlung gewesen sein. Jetzt wird die große Entlastung konstruiert. Psychisch krank – na dann gibt es ja kein Verschulden dieser absichtlichen, terroristischen Tat. Das Schicksal hat zugeschlagen. Dagegen ist keiner gefeit. Jetzt darf man sich entsetzen, ohne über weitere Dimensionen dieser Tat nachdenken zu müssen. Politisch: Mit dem Verkriechen in die Innensicht darf man sich nicht zufriedengeben.“
Wäre M jetzt Bundeskanzler – eine politische Vorstellung, die in seiner vorigen Kladde breiten Raum eingenommen hatte – hätte er andere Worte gewählt, als die so vorsichtig und erfahren regierende Kanzlerin sie benutzte. Sie setzte offensichtlich auf die menschliche Dimension der Tat. „Unfassbar“ war ihre erste Reaktion gewesen. Jetzt setzte sie nach den Informationen über die Tat von Lubitz fort: „So etwas geht über jedes Vorstellungsvermögen hinaus.“ M empfand diese Aussage als Negierung seines politischen Vermögens, das Ereignis in seiner Gefährlichkeit zu erkennen, Die Kanzlerin lag deshalb nach seinem Verständnis falsch. Ebenso falsch empfand er das Statement des Lufthansa-Chefs als eine Beruhigungspille, weil der den bei ihm angestellten Piloten als „tragischen Einzelfall“ bezeichnet hatte. In solchen Aussagen vermutete M die Strategie, Wut in Ohnmacht umzulenken. Er war hingegen überzeugt, dass zur Freiheit die Möglichkeit gehört, Böses zu tun. Er würde sich immer für Freiheit einsetzen, aber er war in die Politik gegangen, um die Zumutungen zu zähmen, die durch das Böse in immer neuen Formen in die Welt getragen werden. Das Wissen, dass ein Pilot in voller Absicht ein Flugzeug gegen eine Bergwand rasen lässt, ist jetzt in der Welt. Es ist Ms Aufgabe wie auch Aufgabe aller Politiker, wie mit diesem Wissen umzugehen ist.
Während seines kurzen Aufenthaltes im Büro tat ihm die Begrüßung durch Madame sehr gut. Sie machte ihm Komplimente, dass nun die Ermittlungen ganz in dem Sinne laufen, dass sie nun seine anfänglichen Vermutungen bestätigen würden. „Sie haben wirklich bemerkenswerte Instinkte und einen schnellen Verstand“, meinte sie. Im Büro arbeitete sie allein, da Schatz noch nicht wieder am Arbeitsplatz erschienen war. Madame erledigte also noch die wichtigsten Korrespondenzen, die sonst im Aufgabenbereich ihrer Kollegin lagen. So legte sie M auch eine Mail vom Fraktionsvorsitzenden vor, die er mit großer Freude und Genugtuung las: „Hervorragende Arbeit, Gratulation. Aber Vorsicht bei den Schlussfolgerungen! Weitere Informationen wie bisher nur an mich.“
Von Madame ließ er sich in Einzelheiten erklären, was es mit den technischen Sicherheitsvorkehrungen für die Tür zum Cockpit auf sich hat, auf welcher politischen und rechtlichen Grundlage sie entwickelt worden waren und welche vergleichbaren Unfälle es in der Luftfahrt der vergangenen Jahre schon gegeben hätte, in denen vielleicht der Verschluss der Tür Piloten zu einem absichtlichen Absturz verleitet haben könnte. Wie er vermutete, war der aktuelle Fall nicht zum ersten Mal geschehen, sondern stand in einer inzwischen beängstigend langen Reihe ähnlich gelagerter Anschläge. Interessant fand er auch eine Beschreibung des Tathergangs in der „New York Times“, die sich auf ein Protokoll aus dem Militär bezog, das offensichtlich dem amerikanischen Geheimdienst vorlag. Danach habe der Co-Pilot gleich nach dem Verlassen des Piloten damit begonnen, den Bordcomputer umzuprogrammieren, um den Sinkflug einleiten zu können. Der entscheidende Augenblick sei dann die Rückkehr des Piloten gewesen: „Der Mann draußen klopft leicht an die Tür, aber es gibt keine Antwort. Dann klopft er stärker an die Tür, und wieder keine Antwort.“ Dann gibt es Geräusche, wie der Pilot gegen die Türe tritt. Die Tür bleibt vorsätzlich verschlossen. Auf dem Stimmenrekorder muss der Kampf um die Tür eine Zeit lang die überragende akustische Botschaft gewesen sein. Danach hört man das gleichmäßige Atmen des Co-Piloten, das den Schluss zulässt, dass er physisch völlig gesund war. Schreie von innen gibt es nur ganz zum Schluss, sie „hören wir erst in den letzten Sekunden auf dem Band“, wie die Ermittler zu Protokoll geben.
Solche Informationen lassen M nicht kalt. Aber sie regen seine Fantasie anders an als die Gefühle der meisten Menschen. Er versucht sich in die Lage des Co-Piloten zu versetzen. Andreas Lubitz muss in extrem kurzer Zeit eine Vielzahl von Entscheidungen mit klarem Kopf treffen und logisch aufbauende Handlungen vollziehen. Alles muss sitzen, kleinste Fehler wären für ihn verhängnisvoll. Ab dem Augenblick, in dem der Pilot die Kabine verlässt, ist er der Herr über Flug und Flugzeug. Auf diesen Augenblick hat er gewartet, und er ist in jeder Beziehung für ihn günstig. Die Manipulation des Bordcomputers und die Verriegelung der Tür machen ihn vollständig autark, keiner kann mehr von außen auf das Fluggeschehen einwirken.
Vor sich sieht er in weiter Ferne die aufsteigenden Berge der Alpen mit den schneebedeckten Spitzen in einem klaren, nur kaum bewölkten Himmel. Um die Maschine gegen ihre Wände zu setzen, muss er einen Sinkflug berechnen, der ihn von gut 30.000 Fuß in acht Minuten ans Ziel bringt. Als erfahrener Pilot fallen ihm solche Parameterberechnungen nicht schwer. Er gibt die Zielwerte für den Autopiloten ein. Er ist sicher, dass seine Eingaben vollständig korrekt sind. Die Belästigungen hinter der Tür stören ihn nicht, auch nicht die ständigen Anrufe und Aufrufe aus der Flugsicherungszentrale. Er hatte sie erwartet und beschlossen, sie einfach vollständig zu ignorieren. Er stellt fest, dass die Maschine mit exakter Gleichmäßigkeit den Sinkflug beginnt. Auf diesen Airbus hat er noch nie etwas kommen lassen, er ist für ihn das perfekte Flugzeug.
Die Berge kommen immer näher. Zwischendurch schließt er für wenige Sekunden die Augen. Er malt sich aus, wie in einem kaum messbaren Augenblick alles aus ist, für ihn wie für alle, die in der Maschine in seiner Hand sind. Er ist jetzt der mächtigste Pilot, mächtiger als alle, denen er diese Macht verdankt. Macht gibt es nie auf Ewigkeit, sagt er sich. Je vollkommener sie ist, desto kürzer dauert sie, sie ist die letzte Abstraktion seines Lebens. Er hat den Gipfel der Macht erreicht. Das Panorama vor ihm wird nun immer großartiger. Die Alpen gehen von den großen Gliederungen immer zerklüfteter in kleinteilige Berg-Tal-Schluchten-Massive über. Andreas Lubitz lehnt sich zurück. Die Maschine ist ruhig, nur die Steinriesen fetzen vor seinen Augen vorüber. Vor ihm türmt sich die steinerne Wand, rast ihm entgegen. Er geht noch einmal voll in die Beschleunigung, schließt die Augen. Aus, vorbei. In einem Blitz ist alles erloschen, zerschellt.
Schon mehrere Male hat M diesen Film in seinem Kopf abgespielt. Da gibt es keinen Zufall, der an irgendeiner Stelle des Ablaufs den Gang der Dinge bestimmt. Alles ist präzise vorbereitet. Andreas Lubitz arbeitet wie ein Roboter. Er hat seine Macht mit äußerster Konsequenz gesucht und vollständig genutzt. Die Zusammenhänge sind weiter gespannt, als es die Konzentration auf die arme Psyche eines Mannes erkennen lässt. M hatte sich angewöhnt, Macht als eine Notwendigkeit zu verstehen, Mögliches zu tun. Er konnte nur wenige Texte aus dem Bestand der abendländischen Kultur auswendig. Aber ein paar Zeilen von Johann Wolfgang Goethe begleiteten ihn sein Leben lang, die „Urworte. Orphisch“:
Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen,
Die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
Bist alsobald und fort und fort gediehen
Nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So musst du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
So sagten schon Sibyllen, so Propheten;
Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
M ist überrascht, als er am Abend die Wohnung seiner Wahrsagerin betrat. Ihm kam eine Frau entgegen, die ganz anders aussah, als er sie kannte. Sie trug einen langen lilafarbigen Rock mit großen Mäandermustern in dunkelblauer Farbe, darüber eine weite Bluse mit einem tiefen Dekolleté über ihrem großen und schweren Busen. Die Bluse war aus grüner Seide, bedruckt mit prallen Blumen in rot-violetten Farbtönen, üppig prachtvoll wie die Blüten von Pfingstrosen. Die Haare waren pechschwarz gefärbt und hinten zusammengebunden. Knallrot waren die Lippen geschminkt, weit über die Linien hinaus, die sie mit der Haut des Gesichts verbinden. Schwer geschwärzt waren die Augenbrauen und die Augenlider. Sie lächelte ihn an, als er die Wohnung betrat, und ihre weißen Zähne glänzten. Ihr Auftreten und ihre Aufmachung beeindruckten M, und er war in seiner Begrüßung auffallend unsicher.
Sie führte ihn in ihr Zimmer, das sauber und aufgeräumt war. Statt der Kugel stand eine Vase mit Narzissen auf dem Tisch. Er sah keine Karten, nur ein dickes Buch der Astrologie mit zahlreichen eingelegten Zetteln. Sie erkundigte sich nach seinem Befinden und freute sich über die starke optimistische Haltung, die aus seiner Stimme klang, als er ihr über seine erheblichen beruflichen Erfolge im Parlament erzählte. „Es sind noch nicht viele Tage vergangen, seit ich am Tag der Sonnenfinsternis bei Ihnen war. Da hatten Sie mir einiges offenbart, was mir sehr geholfen hat. Vor allem haben Sie das Flugzeugunglück gesehen, das uns im Augenblick so sehr beschäftigt. Sie haben vom Zerschellen gesprochen. Leider habe ich das falsch gedeutet, aber jetzt weiß ich, welche großen Gaben Sie haben.“
Die Wahrsagerin hörte sich das mit ernstem Gesicht an und schwieg eine kurze Zeit. Dann beugte sie sich zu ihm hinüber, die Arme auf den Tisch gelegt. M musste jetzt noch näher in das riesige Dekolleté schauen und erschauerte ein wenig, wie fremd ihm dieser massige Körper war. Er roch ihr starkes Parfum, das ihm eher unangenehm war, und lehnte sich weit zurück auf seinem Stuhl.
„Ich kann mich an keinen Satz, an kein Wort erinnern, was ich damals zu Ihnen gesagt habe“, sagte die Wahrsagerin. „Ich war in ein kosmisches Rauschen gefallen, wie immer, wenn ich Dinge klar zu sehen glaube. Aber nichts davon zieht in mein Gedächtnis. Sie hören zu, sind Zeuge, bezahlen mich und gehen Ihre eigenen Wege. Ich verharre noch Stunden wie in einer Starre. Finde ich zurück in die Welt, ist alles wie ausgelöscht.“
„Dann haben Sie gar nicht gewusst, dass vorgestern das Flugzeug in den Alpen zerschellen wird?“
„Ich wusste vorher nicht mehr als Sie, aber ich wusste am Tag der Sonnenfinsternis, dass große Unglücke geschehen werden.“
Dann hielt sie ihm eine kleine Vorlesung, wie sie Astrologie und das Geschehen auf der Erde versteht, und wie sie in Trance die Verbindungszeichen zwischen den kosmischen Konstellationen, großen Ereignissen auf der Erde und den Verknotungen im kleinen Geschehen bis zum Verhalten des einzelnen Menschen erfährt. Das in der Sonnenfinsternis entstandene Uranus-Pluto-Quadrat sei ein sicheres Zeichen gewesen, dass in der Folgezeit einige gewalttätige Erschütterungen die Menschen heimsuchen würden. „Aber“, so fuhr sie fort, „Sie dürfen das nicht zu eng nur für Ihr Gesichtsfeld gelten lassen. In den letzten Tagen ist Vieles geschehen, das in seiner Häufung und der weltweiten Verteilung darauf hindeutet, wie fürchterlich die Sonnenfinsternis gewirkt hat. Die Sonnenfinsternis ist ein Ereignis, das die Notwendigkeit von Verhängnissen aussäht. Dazu gehört der Flugzeugabsturz, über den sie sagen, der Absturz sei eine Folge eines terroristischen Attentats. Dazu gehören aber noch viele andere Unglücke, die wir in dergleichen Zeit zu registrieren haben.“
M hörte ihr gebannt zu und konnte kaum glauben, wie gebildet, Wort gewandt und klar diese Frau zu analysieren verstand, die er bisher nur über Kugel und Karten gebeugt und Dämpfe inhalierend erlebt hatte. Sie durcheilt mit wenigen Sätzen die Krisenherde der Welt, aus denen stets nur tropfenweise und grob ein paar Informationen in die politischen Raster aktueller Wahrnehmungen geträufelt werden. Sie bewege sich, so sagt sie, ausschließlich auf der Eklipse jener Zeit der Sonnenfinsternis, die in jedem guten Astrologie-Buch präzise beschrieben sei, und verweist mit der rechten Hand auf das Buch vor ihr. Nun zählt sie auf: Eine Woche, bevor sich der Mond zwischen Sonne und Erde drängt, stürmt eine islamistische Terrororganisation vor dem Parlament in Tunis ein Museum. Bis zu diesem Zeitpunkt war in Tunesien von einer Terrororganisation nichts bekannt. Nun war sie blitzschnell und wie aus heiterem Himmel zur Stelle, um die Haut des Parlaments verletzen zu können. Der Krieg zwischen Saudi-Arabien und dem Iran im Jemen schien schon stillzustehen, ausgestanden. Nun bricht er wieder aus, mit zahlreichen Toten. Ob Boko Haram in Nigeria, Dschihadisten, die IS-Krieger in Syrien und im Irak, die sterbenden Flüchtlinge aus Myanmar oder die rasante Häufung ertrinkender Flüchtlinge im Mittelmeer – „man schaut nicht mehr hin, will nicht wissen, woher so viel Unordnung in der Welt kommt. Lieber wirft man sie alle in einen Topf. Sollen sie sich doch die Köpfe einschlagen, Hauptsache sie tun das nicht bei uns“.
Fast pathetisch und staatsmännisch klingt es, als sie hinzufügt: „Ich erinnere daran, Saturn durchläuft noch bis Ende 2017 das Schütze-Zeichen und prüft dort Religion und Weltanschauung. Armut und Perspektivlosigkeit zu vieler Menschen sind ein fataler Nährboden für die immer heftigeren Kriege im Zeichen von Glauben und Visionen. Wir müssen tiefer in die Hintergründe einsteigen, um zu verstehen. Die Vereinigungen, zu denen auch Sie gehören, die da einfache Antworten anbieten, klingen verlockend, können aber nicht halten, was sie versprechen.“
M muss zur Kenntnis nehmen, dass seine Wahrsagerin sich bestens in den internationalen Entwicklungen auskennt. In Israel schütze Netanjahu die Siedler und weigere sich, einen eigenständigen palästinensischen Staat anzuerkennen. Netanjahu spreche vor dem amerikanischen Repräsentantenhaus, um die inneramerikanischen Querelen zu schüren, mit dem Iran ein Abkommen über das Atomprogramm zu finden. Da sei doch die Tatsache interessant, so die Wahrsagerin, dass am entsprechenden Verhandlungstisch in Lausanne zwei Nationen ihre Teilnahme verweigern: Saudi-Arabien und Israel. Sie könne noch viele Beispiele erwähnen, was den Zeitungen nicht einmal eine Meldung wert sei: Im Schwarzen Meer, das doch ein internationales Gewässer sei, umkreisen sich in Manövern amerikanische und russische Kriegsschiffe wie knurrende Hunde. In Schweden und in den baltischen Ländern wird die Angst vor russischen Bomberflugzeugen immer größer. „Nun stellen Sie sich vor, ein Pilot macht da so etwas wie Ihr Co-Pilot in den Alpen.“ Sie zählt noch mehr auf, um dann ihre Rede mit einem Verweis auf das vor ihr liegende Astrologie-Buch abzuschließen: „Die Wirkung der Sonnenfinsternis erstreckt sich nicht nur auf den unmittelbaren Zeitraum, in dem sie sichtbar ist. Im Falle der Sonnenfinsternis vom 20. März muss man sicher von einem Zeitraum von mindestens drei bis vier Monaten vor und nach ihrem Ereignis ausgehen.“
M sah sich ermutigt, sie nun zu unterbrechen. „Woher haben Sie diese weite Informationsübersicht? Was sind Sie für eine gebildete Frau!“
Sie lächelte nicht einmal, als sie das Kompliment selbstbewusst entgegennahm. Sie wendete das Gespräch und sagte ihm offen in die Augen: „Sie sind heute zu mir gekommen, um etwas über das Horoskop vom 24. März zu erfahren. Darauf habe ich mich vorbereitet, und Sie sollen meine Ergebnisse kennen.“ Sie schlug ihr Buch auf und legte sich einige Zettel zurecht. M saß ihr aufmerksam gegenüber und sagte keinen Ton. Dann erfuhr er von ihr, dass die Sonne in Konjunktion zum Uranus gestanden habe, woraus unschwer die Liebe von Lubitz zum Fliegen abzuleiten sei. Saturn in Konjunktion zum Schützen erzählt, wie hart er an seiner Liebe zum Fliegen gearbeitet hatte. Ihr sei aufgefallen, dass Mond und Mars im Skorpion stehen und Pluto daneben bleibt. Das heißt, Pluto steigt ab in den Seelenkeller. „Diese Deutung geht zurück bis auf meine Urmütter, die im Orakel des Poseidon vor den Toren der Unterwelt auf der Mani dienten.“ M erschrak, als er von der Frau vor ihm von dem Orakel auf der Mani hörte, eine Landschaft, die er bald besuchen wird. Nur mühsam konnte er eine weitere Frage unterdrücken.
Die Wahrsagerin verwies gegenüber M auf ihre ausgeprägten Kenntnisse in der Psychologie. Ihre Stärke in der analytischen Astrologie liege darin, die Grundkonstellationen des planetarischen Geschehens mit den Entwicklungen der individuellen Psyche von Menschen verbinden zu können. Die nackten Daten der Sterne am 24. März bringen Tempo in die Schwingungen der Psyche. Es sei doch offensichtlich, dass Menschen wie Lubitz in psychische Zustände wie Burnout, Depressionen, Verlustängste getrieben würden. Je enger sich die Schlinge um sie ziehe, desto kraftvoller und explosionsartiger suchen sie dann nach einer Erlösung, koste es auch die fürchterlichsten Verluste. Von außen gesehen mache man es sich mit der Feststellung zu einfach, solche Menschen rächten sich an ihrem Leben. Lubitz hätte gewusst, dass seine innere Krankheit es bald unmöglich machen würde, ihn noch fliegen zu lassen. Die als Depression erlebte Verletzung schlägt um in äußerste Aggressivität, mit der allen sichtbar gemacht werden soll, wie verachtenswert das Leben geworden ist, wenn es vollständig unter die Regeln der Anpassung gedrückt wird. Nicht er fühle sich krank, alle seien krank, die Grund seiner Angst seien, denen er nicht entfliehen könne. Der süße Tod sei ein inszeniertes Fanal, dessen Herr er sei, mit dem er sich und alle Erreichbaren in seine letzte und in seine größte Tat der Erlösung hineinreißt.
Die Wahrsagerin unterbrach sich und fuhr dann undeutlicher artikulierend mit monotoner Stimme fort: „Die Luft habe ich angehalten, als ich das Horoskop von Andreas Lubitz vom 24. März in Verbindung zu den Daten der Sonnenfinsternis am 20. März gebracht habe. Da ist es mir im Magen flau geworden, als ich die Transite genauer untersuchte. Die vom 24. März lassen eigentlich keine extremen Auswirkungen erkennen. Die Sonnenfinsternis bildet aber ein Quadrat von Sonne auf Schütze mit dem Stellatium aus Merkur, Saturn und Uranus. Noch weiter: Die Finsternis berührt seine Mondknotenachse auf Fische. Da bekommt man eine Gänsehaut, wenn man die Transite sieht. Jupiter steht an dem Unglückstag gerade genau auf seiner Lilith.“
Nun musste M die Wahrsagerin doch unterbrechen. Er hatte zwar eine ungefähre Ahnung, was Lilith für die Astrologie bedeutet, wollte es aber in diesem konkreten Fall genauer wissen. Die Wahrsagerin löste sich aus ihrer inneren Versenkung, richtete sich auf und erklärte es ihm wie eine Lehrerin: „Zunächst einmal ist der Hinweis wichtig, dass Lilith kein eigenständiges Gestirn im Horoskop ist. Er ist gewissermaßen ein mathematischer Punkt der kosmischen Kraftkonzentration, die sich rechnerisch aus der Erdbahn und der Mondbahn ergibt, wenn man die Daten für den jeweiligen Menschen eingibt.“ Es gehe um das Prinzip Lilith, diese missratene Urform des Weiblichen in der Schöpfung Gottes, ein Klumpen Lehm, den die Spucke des Teufels traf. Der Lilith-Punkt, so die Wahrsagerin weiter, gibt Auskunft über Leidenschaften sowohl als intensive Annahme wie auch als intensive Ablehnung. Lilith bedeute: „So sehe ich das und Punkt, Schluss.“ Je stärker Lilith in das individuelle Leben hineinwirke, desto faszinierender erscheine die entschiedene Stärke, die ein Mensch in einem Augenblick erlangen könne. Die Einwirkungen einer Lilith-Konstellation könnten so stark sein, dass ein Mensch vollständig aus der Kontrolle seiner Vernunft unter den Druck gerate, etwas Endliches endgültig zum Ende zu bringen. „Mit Jupiter direkt über Lilith ist diese seltene und vollständige Einwirkung bei ihm offensichtlich erreicht worden.“ Da saß die Wahrsagerin majestätisch vor ihrem Tisch, hatte bravourös die Kurve der Astrologie zur Psychologie geschlagen und war sichtbar mit sich zufrieden. M fröstelte. Er ahnte, die Wahrsagerin zielte mit ihrer Lilith-Deutung, unter Jupiter zu liegen, auf ihn.
Sie legte das große Buch beiseite. M war sich nicht sicher, ob er alles verstanden hatte. Aber die vorgetragenen Informationen wertete er als eine Beschreibung seines Bildes von dem Piloten. Er war mit sich zufrieden. Vor allem beeindruckte ihn seine Methode, Quellen für das Verstehen der Tat zu erschließen und in den Vordergrund zu rücken, die vollständig außerhalb des Denkens in Routinen liegen, in denen Politiker Zusammenhänge zu setzen pflegen. Er musste sich nur noch fragen, was die Darlegungen seiner Wahrsagerin mit seiner augenblicklichen Arbeit zu tun hatten. Diese Frage, verbunden mit der hohen Anerkennung für ihre Arbeit, reichte er an sie weiter.
„Die Schlüsse werden Sie selbst ziehen müssen. Sie werden vor allem überlegen müssen, wie Sie Ihr Dossier aufbauen, damit auch die Menschen damit etwas anfangen können, die von Lilith oder von den Konjunktionen der Sterne keine Ahnung haben.“ Die Wahrsagerin war an M geschäftlich interessiert und überschritt deshalb eine innere Grenze, indem sie sich zu weit mit ihrer Interpretation hinauswagte. Sie rechtfertigte das in der Meinung, ein paar ganz praktische Schlüsse müsse sie M für das Geld schon anbieten: „In den nächsten Tagen werden wir viele Informationen über Ärztebesuche und Krankengeschichten von Andreas Lubitz erhalten. Wir werden einen dicken Streit darüber erleben, ob er flugtauglich oder fluguntauglich war.“
„Er war wohl vollständig fluguntauglich“, warf M ein.
„Nein“, antwortete sie, „er war bis zur letzten Sekunde vollständig flugtauglich, aber er hätte ab dem 20. März nicht mehr fliegen sollen.“
„Und warum ist er noch am 24. März ins Flugzeug gestiegen?“
„Weil ihn keiner beobachtet und erkannt hatte. Er wollte die Sache zu Ende bringen.“
„Die Sache?“
„Mit seiner Flugtauglichkeit diejenigen vorzuführen, die es zugelassen hatten, dass er mit seiner Verletzung nur noch in einen Abgrund schauen konnte.“
Im Zimmer brannte nur die Birne in einer kalten Deckenlampe. Es brannte keine Kerze und das Gesicht der Wahrsagerin war kühl. Die harten Linien durch die Schminke und der bewegungslose schwere Körper der Frau in den bunten Kleidern ließen am Ende das Gespräch erstarren. M stand auf, zahlte das Honorar und verließ seine Wahrsagerin mit dem Bekenntnis, sie sei der einzige Mensch, der ihm für seine Arbeit den Boden unter den Füßen bereiten würde. Er sei ihr für ihre Arbeit außerordentlich dankbar.
Am Abend war er in seiner Wohnung, hatte sich Rotwein ins Glas eingeschenkt und die diversen Informationssendungen und Talks im Fernsehen verfolgt. Um 23.00 Uhr kam eine Mail seines Freundes Tony Bonin aus Bayern. Er hatte schnell geliefert. M öffnete die drei Anhänge der Mail Es waren zwei Rundbildzeichnungen, ein Ereignishoroskop und ein Persönlichkeitshoroskop von Andreas Lubitz. Beide Bilder waren voll mit Punkten und Linien, für ihn nicht zu entziffern. M konnte so gut wie nichts mit ihnen anfangen. Er hatte nie gelernt, die Horoskope zu lesen, denen er vertraute. Schier unmöglich war es für ihn, die an Informationen überbordenden Bilder seines Freundes den wesentlichen Aussagen zuzuordnen. Denn in der dritten Anlage war ein ausführlicher Text, in dem sein Auftragnehmer beschrieb und deutete, was sich aus den Horoskopen für die Vorstellungswelt des Auftraggebers ergab.
Im Anschreiben hatte sein Freund darauf verwiesen, dass die Evidenzen zwischen den beiden Horoskopen, dem Tathergang und der Persönlichkeit von Andreas Lubitz erschreckend groß seien. „Wie du weißt, unterhalte ich in meinem Institut auch ein medizinisches Forschungszentrum. Wir müssen uns also allein schon deshalb intensiv damit beschäftigen, was im Leben dieses jungen Menschen geschehen ist.“ Und dann gab es noch den Satz, den sich M sofort in seine Kladde übertrug: „Von einem normalen Suizid kann man in diesem Fall nicht sprechen.“
Von den langatmigen Exegesen der Horoskope war M ziemlich enttäuscht. Der Text kam ihm über weite Strecken schwammig und wolkig vor. Tony vermied es mit der gewählten Sprache offensichtlich, sich auf klare Aussagen festzulegen. Immerhin nahm M folgende Informationen zur Kenntnis und notierte sie sich kurz in seiner Kladde, die er neben den Computer gelegt hatte: Die dramatischen Evidenzen zwischen den Persönlichkeitsstellungen und den Ereignissen mit dem Flugzeugabsturz bestätigten auch die neuen Dokumente. Die Zusammenhänge mit der Sonnenfinsternis wurden auch in den neuen Berechnungen gesehen. Als Deutung fasste M die Lektüre zusammen, sie lasse „hinterlistige Machenschaften durch Außenseiter und Zukurzgekommene durch Sabotage“ erkennen.
M fand den Hinweis, dass Lubitz den Flug von Barcelona nach Düsseldorf eigentlich gar nicht hätte antreten dürfen, da er krankgeschrieben war. Die Krankschreibung hatte er aber in kleine Stücke zerrissen, die die Fahnder in seiner Wohnung im Papierkorb gefunden hatten. Es sei davon auszugehen, dass Lubitz in den letzten Monaten seines Lebens sehr häufig zu vielen Ärzten gelaufen sei, ständig zu anderen, um nicht mit der Diagnose leben zu müssen, krank und fluguntauglich zu sein. Seine Angst vor der Gefährdung seiner Fliegerkarriere sei größer gewesen als alle Ängste, die er sonst noch hatte und kannte. Angst und ihre Verdrängung sei also der Zustand gewesen, so dachte M, aus dem heraus der Co-Pilot gehandelt habe. Auf den tieferen Grund dieser Grundangst hatten M die horoskopischen Deutungen hingewiesen: Lubitz leide an einer progressiven Einschränkung seines Sehvermögens. Er sei augenkrank. Deshalb habe er alle ärztlichen Erkenntnisse seinem Arbeitgeber gegenüber verschwiegen. Seine Fliegerkarriere habe er als die eigentliche Bestimmung seines Lebens und somit als sein Grundrecht empfunden.
Dann fand M im Gutachten die Hinweise auf einen Artikel in der BILD-Zeitung, in der über Andreas gestörte Liebesbeziehungen mit seiner damaligen Lebensgefährtin spekuliert wurde. Mit ihr lebte er seit vier Jahren zusammen, und sie sei von ihm schwanger. Die Frau erzählte den Reportern von den übertriebenen Kontrollversuchen ihres Lebensgefährten und über seine gelegentlichen Ausbrüche, wenn er sich erregte. Ihr soll er vor nicht allzu langer Zeit gesagt haben: „Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.“ Das Gutachten des M-Beraters datiert diese Aussage auf den späten Abend des 20. März.
Aus dem Lebenshoroskop des Andreas Lubitz mit der starken Uranus-Einwirkung interessierte M vor allem das Motiv, wie dominant für den jungen Menschen stets das Fliegen gewesen sei. Er notierte sich, was er bereits aus seinem Büro weiß, dass Lubitz schon mit 13 Jahren im örtlichen Luftsportclub Mitglied wurde und dort die Segelfliegerei lernte. Aus dem Gutachten erfuhr er zusätzlich: Schon in seiner Jugendzeit zog es den Segelflieger in die Alpen. Die Uranus Konjunktion Saturn interpretierte der Gutachter: „Er war fasziniert von den Alpen und sogar besessen von ihnen. Nicht nur das Bedürfnis zu fliegen bestimmt Lubitz, sondern auch der Drang, es im schwierigen Gelände zu tun. Wie soll er aus der akuten Falle herausfinden? Die zunehmenden Sehprobleme (Jupiter und Schütze als das Sehen) werfen ihn auf sich zurück. Mit seinen eingeschränkten Möglichkeiten kommen die Zweifel an sich selbst. Die empfindet er als Zurückweisung und persönliche Verletzung. Der von ihm beschrittene Ausweg ist dann Rache, ist Anklage des Systems, von dem er sich fallen gelassen sieht.“ M war froh, in dem Gutachten keine Hinweise auf die Lage Jupiters zu Lilith zu finden. Tonys Ausführungen haben Lilith ausgespart.
Nach dem Studium des Gutachtens fasst M für sich zusammen und schreibt auf: „Es gibt zwei Perspektiven, den Absturz zu deuten. Die erste Perspektive startet mit der Frage, wie ist das alles aus einer kranken Psyche möglich? Die Antwort muss im Einzigartigen eines kranken Individuums hängen bleiben. Die damit verbundene Frage bleibt gänzlich unbeantwortet oder wird an einen starken Psychiater delegiert: Warum tötet sich dieser Mensch nicht, wie es andere in einer vergleichbaren ausweglosen Situation tun, sondern reißt 149 andere Menschen kaltschnäuzig mit in den Tod? Die Perspektive, die aus dieser Frage resultiert, ist politisch. Sie geht von den Dimensionen der Tat aus. Sie folgt dem Sachverhalt, dass ein Mensch kaltblütig die Macht ergriffen hat, mit 149 Menschen gezielt an einer Bergwand zu zerschellen. Er inszeniert den lebendigen und zu demonstrierenden Beweis, dass Systeme zerschellen können, wenn jemand überzeugt ist, aus ihrem Schoß gestoßen zu werden.“
M wusste, wie wichtig es in der Politik ist, im Wettlauf mit der Zeit aktuellen Ereignissen eine Deutung zu geben. Man muss ein Thema schnell besetzen, indem man es in eine bestimmte Sprache kleidet. Mit einer semantischen Bekleidung begründet man eine Agenda, mit der das Geschehene verbunden wird mit dem Profil einer Partei und des politisch Handelnden. Diese Methode nutzt auch M. Er hatte sie vor Jahren in einer teuren Weiterbildung eingebläut bekommen. Madame hatte er frühzeitig den Auftrag erteilt, am Wochenende einen Entwurf für den Bericht über den Flugzeugabsturz zu verfassen, höchstens vier Seiten lang. Das Arbeitsergebnis solle am Montag früh vorliegen. Er würde diesen Entwurf dann während des Tages bearbeiten. Schatz hatte er gebeten, erst am Montagmittag ins Büro zu kommen. Er brauchte sie für die Reinschrift und für die Beförderung des dann fertigen Berichts in das Büro des Fraktionsvorsitzenden.
M hatte als Schlüsselbegriff für seinen Bericht das Wort Selbstmordattentat gewählt. Das Wort sollte die Assoziationen zu den Selbstmordattentaten der Dschihadisten vom Islamischen Staat auslösen, die als Vorhut bei der Eroberung von Städten in Syrien und im Irak eingesetzt wurden, um Angst, Panik und Chaos zu erzeugen, eine Erstarrung im Unfassbaren, die es dann den Kämpfern erleichterte, den militärischen Widerstand in den zu erobernden Städten schnell zu brechen. Außer in den Kurdengebieten war diese Strategie der Selbstmordattentate mit vielen toten Zivilisten meistens sehr erfolgreich gewesen. Auch im Falle Andreas Lubitz, mit 27 Jahren in einem Alter, das als besonders geeignet für Selbstmordattentäter gilt, war M überzeugt, hinter der Tat müsse eine bislang noch nicht entschlüsselte Strategie stecken. Die Hinweise auf die psychischen Schäden des Täters reichten ihm als Erklärung nicht aus. Psychische Probleme ließen sich sicher auch bei den dschihadistischen Selbstmordattentätern diagnostizieren, würde man nach ihnen suchen. Krankheiten, so die Hypothese von M, treiben einen Menschen vielleicht in einen Selbstmord. Dazu suchen sie sich aber kein Flugzeug, um 149 weitere Menschen zu töten und die große Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.
M war sich beim Verfassen des Berichts durchaus seiner heiklen Mission bewusst. Die Quellen aus seinem Umfeld ließen darauf schließen, dass Andreas Lubitz das Instrument einer übergeordneten Konstellation gewesen sei. Seine Quellen durfte er aber in seinem Bericht nicht nennen. Deswegen musste er argumentativ einen Umweg einschlagen. Außerdem konnte M die Macht, in deren Korrelationen der Co-Pilot zum Täter geworden war, noch nicht konkret benennen. Aber das Selbstmordattentat ließ, das wollte er andeuten, auf diese Macht schließen. Ihr ordnete er persönlich das Eigenschaftswort dämonisch zu. Auch hier musste er vorsichtig formulieren, denn er konnte ja nicht entlang der Sprache seiner Informanten argumentieren. Der Taktiker M ist gefragt. Sein Bericht muss ein taktisches Meisterstück werden, um seine politische Strategie verwirklichen zu können.
Natürlich kann M nicht berichten, dass er sich eines Astrologen und einer Wahrsagerin bedient, um die Korrelationen aufzudecken, in denen das Selbstmordattentat steht. Er muss seine Politik als parlamentarischer, seiner Fraktion verbundener Einzelgänger betreiben. Die Ergebnisse seiner einzelgängerischen Politik sollen im Machtzirkel seiner Fraktion beeindrucken. Für sich sucht er bei den Großen oben Respekt. Würde er seine Methode tatsächlich offenlegen, wäre er eine Lachnummer. Das muss M unter allen Umständen vermeiden, also bleibt er übereifrig loyal und angepasst.
M weiß das alles und ist sich der Einzigartigkeit seiner politischen Existenz bewusst. Nach außen ist er ein anderer als nach innen. Seine Chance sieht er darin, sich auf einer höheren Ebene mit denen zu treffen, die im digitalen Zeitalter analytisch wie auch praktisch zunehmend Gewicht gewinnen. Da M kein Mensch der Theorie ist, fällt es ihm leicht, in das Kleid der Begriffe zu schlüpfen, die, in anderen Zusammenhängen entstanden, seine Ahnungen und Vorstellungen ausdrücken. Gerne folgt er den Hinweisen über die Beschränkung der Kausalität, die Propheten der digitalen Revolution verbreiten. Was in der Welt geschieht und sich entwickelt, kann nicht auf das Prinzip von Ursache und Wirkung reduziert werden. In den digitalen Netzen finden unzählige Bewegungen der Anpassung und Veränderung statt, für die es keine zentralen Steuerungen gibt. Dennoch entsteht kein Chaos der unendlichen Möglichkeiten. Was Aufmerksamkeit erregt, hat den ersten Schritt auf den Wegen zur Macht geschafft. Macht und Erregung sind Geschwister der digitalen Welt geworden. Man muss nicht Analytiker sein, um das Verhalten von Menschen in den virtuellen Welten zu verstehen.
Madame hatte ihm ihren vierseitigen Entwurf mitsamt vielen Anlagen bereits wenige Tage später am Sonntagabend gemailt. Wie er erwartet hatte, bekam er eine sehr gute, detailreiche und gewissenhaft argumentierende Vorlage mit geschickt gesetzten Pointen. Madame war halt eine außerordentlich qualifizierte Mitarbeiterin. Auf ihre Talente konnte er sich verlassen. Bis weit nach Mitternacht arbeitete M an diesem Schriftstück. Er konnte sich nicht erinnern, je in seinem Leben so intensiv und konzentriert an einer Vorlage gearbeitet zu haben. Da er keinen Satz aus dem Entwurf seiner Mitarbeiterin streichen wollte – alle schienen ihm so ausgewählt und formuliert, als seien sie seinen eigenen Vorstellungen und Schlussfolgerungen entsprungen – vergrößerte sich der Textkörper durch Zusätze und Zuspitzungen, die aus seiner Feder stammten. Aus den vier Seiten wurden auf diese Weise fast acht.
Ein so langer Bericht würde den Fraktionsvorsitzenden zunächst missmutig stimmen. Missmut ist aber eine negative Energie beim Lesen. Das hatte der Chef des Öfteren bei den Fraktionssitzungen seinen Kolleginnen und Kollegen ins Stammbuch geschrieben. Um dieser negativen Energie entgegenzutreten, fühlte sich M ermutigt, dem Bericht einen Vorspann zuzufügen, der als Seite eins die wichtigsten Aussagen zusammenfasst und das Interesse auf die ausführlicheren Passagen des Berichts lenkt. Der Vorspann soll also die Aufmerksamkeit des Fraktionsvorsitzenden auf M und seinen Bericht lenken. Dieser Vorspann begann: „Andreas Lubitz, der Co-Pilot des Airbus, wusste in dem Augenblick, in dem er die Passagiermaschine mit 150 Menschen an Bord gegen die Bergwand lenkte, sehr genau, was er tat. Er wusste, dass er wegen seiner Krankheiten früher oder später seine Pilotenlizenz verlieren würde. Die Lizenz wäre im August dieses Jahres ausgelaufen. Alles spricht dafür, dass die Fliegerei für ihn das Wichtigste in seinem Leben war. Er wusste, was er in den zehn Minuten zu tun hatte, in denen er allein im Cockpit war. Die entsprechenden Flugeinstellungen hatte er bereits auf dem Hinflug ein paar Stunden vorher eingeübt. Ihm war klar, welche Betroffenheit seine Tat auslösen würde. Er hatte in diesen Minuten die Macht, durch seine Tat vollständige Fassungslosigkeit zu erzeugen. Er nutzte die Maschine und die Menschen in ihr, um ein Fanal zu setzen. Er schrieb mit der Tat eine dämonische Botschaft, die es zu entziffern gilt. Für diese dämonische Botschaft schuf er sich die Macht des Augenblicks. Er inszenierte ein Selbstmordattentat gegen das System, als dessen Opfer er sich verstand.“
Für die dann folgende Aussage wählte M eine Taktik, auf die er besonders stolz ist. Er verweist auf eine Mitarbeiterin im Rathaus des Alpendorfs Seyne-Les-Alpes, in dem die Krisenzentrale nach der Katastrophe eingerichtet worden ist. Dort gibt es eine gewisse Janique, die sich vor allem um die verstörten Kinder kümmert. Mit ihr haben Reporter gesprochen. „Sie muss den Kindern erklären“, schreibt M, „was geschehen ist. Natürlich kann sie ebenso wenig erklären wie alle anderen Menschen und sagt aus Gefühl, aus dunkler Ahnung: Vielleicht war der Co-Pilot ein Terrorist. – Liegt sie so falsch? So vorsätzlich, wie dieses Selbstmordattentat ausgeführt wurde, kann nur ein Terrorist handeln.“ M fügt noch hinzu, dass man keine Anhaltspunkte für Hintermänner habe. Das würde aber nicht die politische Brisanz des Attentats mindern. In den Vordergrund müsse die Frage rücken, wie zerstörerische Korrelationen in anfälligen technischen Systemen erkannt werden können, die Risikofaktoren darstellen. „In diesem Sinne handelt es sich um ein Ereignis, das eine erweiterte Art des prognostischen Sicherheitsdenkens in der Politik notwendig macht.“
Madame hatte in ihrer Vorlage versucht, das „Unfassbare“ mit Informationen herauszuarbeiten, die ihre Recherchen über Andreas Lubitz ergeben hatte. Das „Unfassbare“ redigierte M als Berührung durch das Dämonische. Die Informationskette von Madame ließ er unverändert stehen. Im Monat vor dem Todesflug hatte der Co-Pilot sieben Ärzte konsultiert. Besonders zu schaffen machten ihm Sehstörungen, die er auch seiner Mutter und seiner Lebensgefährtin anvertraut hatte. An zehn Tagen im Monat des Absturzes war er krankgeschrieben. Er hätte am 24. März nicht fliegen dürfen. Die Krankschreibungen fand man zerrissen in seiner Wohnung. Sein Arbeitgeber hat von den Arztbesuchen nichts erfahren. Während der Arbeit, also auch am 24. März, konnte er sich offensichtlich vollständig unauffällig verhalten. Der Pilot hätte anders reagiert, hätte er irgendwelche Ahnungen über den Zustand seines Co-Piloten gehabt. Madame hatte in diesem Zusammenhang geschrieben: „Es tun sich jetzt Blicke in dunkle Abgründe auf.“ M schrieb diesen Satz um: „Die zwei Seiten des Lebens von Andreas Lubitz sind von einem Dämon gesteuert. Uns erscheint Lubitz wie ein dunkler Abgrund. Aber er verweist auf etwas außerhalb des Willens und Handelns eines Individuums.“ Der Bericht erwähnt die angebliche Aussage von Andreas Lubitz gegenüber seiner Lebensgefährtin, die ein Kind von ihm erwartet und in einem nicht spannungsfreien Verhältnis zu ihm stand. Ihre Aussage gegenüber der BILD-Zeitung erscheint auch im Bericht: „Eines Tages werde ich etwas tun, was das ganze System verändern wird, und alle werden dann meinen Namen kennen und in Erinnerung behalten.“
Noch etwas anderes stärkt M in seiner Annahme, das Selbstmordattentat folge einem terroristischen Muster. Madame hatte bei der französischen Untersuchungsbehörde BEA recherchiert und alarmierende Ergebnisse in ihre Vorlage eingearbeitet. Der BEA waren bereits auf dem Hinflug von Düsseldorf nach Barcelona am Morgen des 24.März unverantwortliche Manöver des Co-Piloten aufgefallen, als dieser für kurze Zeit allein in der Pilotenkanzel saß und das Kommando über die Maschine hatte. Auch auf dem Hinflug hatte der Pilot das Cockpit verlassen. Das war zwischen 8:19 und 8:25 Uhr. Die Maschine flog zu hoch, und das Kontrollzentrum Bordeaux hatte Lubitz aufgefordert, die Flughöhe auf 35.000 Fuß zu senken. Lubitz geht auch in einen sanften Sinkflug, wie ihn Passagiere kaum bemerken. Im Kontrollzentrum fällt aber auch auf, dass die Daten für die Flughöhe im Cockpit manipuliert werden. Offensichtlich wird der Autopilot programmiert, um auch ein tieferes Sinken ohne Stopp auf der vorgegebenen Flughöhe zu erreichen. Die Autopiloteinstellung wird rechtzeitig korrigiert. Denn der Pilot kommt zurück ins Cockpit und übernimmt wieder das Fluggeschehen. Madame zitiert die BEA mit einem Satz über den Co-Piloten: Man könne aus den Daten schließen, „dass er handlungsfähig war und dass alle seine Handlungen den gleichen Zweck hatten, nämlich das Flugzeug auf den Boden stürzen zu lassen.“
M war mit dem Bericht pünktlich fertig geworden. Seine wissenschaftliche Mitarbeiterin hatte er schon am Montagmittag mit starken Komplimenten entlassen. Sie habe hervorragende Arbeit geleistet, und nun stünde ihr redlich ein wenig Freizeit zu. Schatz hatte bereits am frühen Nachmittag die Reinschrift fertig. M verzichtete auf ein persönliches Begleitschreiben. Den Bericht datierte er auf den 30. März 2015, 15.30 Uhr. Schatz brachte den Bericht in einem geschlossenen Briefumschlag in das Büro des Fraktionsvorsitzenden. Auf dem Umschlag stand auch: „Sehr wichtig – eilt!“
Schon eine Stunde später erhielt M auf seinem Mobiltelefon eine SMS: „Wenn möglich, morgen um 10.00 Uhr in meinem Büro.“ M war mit seiner Arbeit zufrieden. Am Abend gönnte er sich einen Besuch der Parlamentarischen Gesellschaft. Da traf er Freunde und hatte gute Laune in einer ihm wohltuenden Geselligkeit.
M war pünktlich. Die Sekretärin des Fraktionsvorsitzenden empfing ihn freundlich und fragte ihn, ob er Kaffee oder Tee bevorzuge. Sie war ganz anders, als über sie geredet wurde: kühl, distanziert, eine kaum zu überwindende Hürde im Reich ihres Herrn. M empfand sie hingegen zuvorkommend und warmherzig. Das sah er als ein gutes Zeichen, das sich verstärkte, als die Tür aufging und der Fraktionsvorsitzende mit einem breiten Lächeln auf ihn zukam und ihn mit einem kräftigen Händedruck herzlich begrüßte. M bemerkte, wie zwischen ihnen beiden ein Zustand der politischen Gleichgewichtung entstand. Diesen Zustand hatte er immer wieder herbeigesehnt, doch nie erreicht. Oft hatte er im Bett gelegen und sich vor dem Einschlafen vorgestellt, wie er als Diplomat mit den Großen seiner Zeit in vertraulichen Gesprächen auf gleicher Augenhöhe verhandelt.
Der Fraktionsvorsitzende begann aufmunternd das Gespräch beim frischen Kaffee mit Fragen nach der Gesundheit von M. Er war stets gut informiert über die aktuellen Probleme seiner Fraktionsmitglieder und hatte für Persönliches ein sehr gutes Gedächtnis. „In unserem Job müssen wir höllisch aufpassen. Wir sind über Gebühr physisch und psychisch gefordert und verdrängen viele Zeichen, die uns eigentlich in die Hände der Ärzte drängen sollten. Ich hoffe, hinter der Krankmeldung vor Kurzem steht nichts Ernsthaftes.“
M lächelte zufrieden, dass sein Vorsitzender die Meldung seiner kurzen Auszeit vor wenigen Tagen so präsent hatte, und wertete das als Wertschätzung und kollegiale Fürsorge seiner Person. Zugleich wurde ihm klar, dass er selbst wohl nie Fraktionsvorsitzender werden könne, weil ihm gerade solche Eigenschaften völlig fehlten. Über ihn könnten nie Geschichten erzählt werden wie über den netten Mann, der ihm gegenüberstand, der den Seinen vor allem dann zur Seite trat, wenn Hilfe wirklich geboten war oder wenn sich jemand an den Rand seiner Kräfte gedrängt fühlte. M bedankte sich für die freundliche Nachfrage und beteuerte, dass er sich wieder sehr gesund fühle. Hin und wieder gebe es Probleme mit dem Magen. Aber um die müsse man sich keine Sorgen machen. Er habe sie im Griff.
„Mein Freund“, kam der Fraktionsvorsitzende mit Blick auf seine Uhr schnell zur Sache, „Sie haben eine hervorragende Arbeit geleistet, für die ich Ihnen aufrichtig zu danken habe. Mit Ihrem Bericht bin ich nun besser informiert, obgleich ich mir redliche Mühe geben musste, mich durch den Informationsdschungel zu schlagen. Kompliment, wie sie die klaren Linien aus Fakten und Schlussfolgerungen gezogen haben. Keine Frage, wir müssen einen solchen Vorgang sehr ernst nehmen. Da haben Sie völlig recht.“
M musste sich Mühe geben, seine Glücksgefühle nicht zu offen zu zeigen. Er hatte sich nach vorne gebeugt, um gekonnt die Tasse Kaffee wieder auf den niedrigen Besprechungstisch zu positionieren. In die kurze Sprechpause sagte er: „Wir müssen wohl lernen, getrennt voneinander stattfindende Ereignisse wie Attentate in Zusammenhängen zu sehen. Die Täter, ob im Irak, in Syrien, Libyen, Nigeria, Afghanistan oder in unserem Falle ein Co-Pilot eines Airbus-Flugzeuges, tun alle das Gleiche: Sie reißen unschuldige Menschen mit sich in den Tod. Allein deshalb müssen sie unsere Feinde sein.“
Der Fraktionsvorsitzende war verschlossener und ernster geworden. Nun kam die Phase – M ahnte es – in der das Konsensband gedehnt würde. Sein Gesprächspartner nahm den Ball von M auf und stellte nun, mit deutlich gepresster Stimme, seinerseits Reihen von Ereignissen zusammen, was Andreas Lubitz möglicherweise mit anderen Attentätern gemeinsam hatte, betonte aber auch solche Aspekte, wie sich die kriegerischen Anschläge der Islamisten von der Flugzeugkatastrophe unterscheiden lassen. Dem folgte M sehr aufmerksam, wobei in seinem Kopf gleichzeitig das Bild seiner Wahrsagerin lebendig war, wie sie ihm die Reihe zeitgeschichtlicher Katastrophen der Gegenwart aufgezählt hatte, in denen Politik versage, weil sie deren Zusammenhänge nicht erkennen würde. Der Fraktionsvorsitzende schloss aus seinen Aufzählungen: „Es gibt Katastrophen, die weit ins Politische reichen, keine Frage. Aber sie sind nicht strategisch verursacht, weil sie die Folge eines verrückten oder kranken Einzelgängers sind. Nehmen Sie unseren tapferen und pflichtbewussten Finanzminister. Er sitzt im Rollstuhl, weil er das Opfer eines Attentats ist. Aber der Täter war krank. Deshalb können wir doch nicht das Grundrecht der Versammlungsfreiheit suspendieren.“
„Ich ahne, worauf Sie hinauswollen.“ M wollte nun wieder der meisterliche Taktiker sein. „Sie haben von mir einen Bericht gefordert, nur für Sie allein. Es geht mir nicht um ein öffentliches Statement, nicht um die Vorlage einer Presseerklärung. Ich wollte nichts anderes, als Ihnen höchstpersönlich ganz am Anfang einer Debatte, von der wir nicht wissen können, ob sie je zu Ende geführt wird, eine Richtungswertung nahelegen, mit der wir den Kreis unserer Gefährdungen erweitern und zugleich mit anderen Gefährdungspotenzialen verbinden, deren Hintergründe wir bereits besser durchschauen.“ Es gelang M nur schwer, seine Begriffe des Dämonischen, das aus dem Bösen des Menschen etwas Zwanghaftes mache, und des Terroristischen, das auf die Spuren von Taten hinweise, verständlich in eine politische Argumentation einzuführen. Er spürte, dass er mit dieser Essenz seines Berichts die klare Denkweise des Fraktionsvorsitzenden nicht erreichen würde.
Der kehrte überraschend in den anfänglichen Modus seiner Freundlichkeit zurück. Er betonte noch einmal, wie wertvoll dieser Bericht sei. Es solle Ausdruck einer besonderen persönlichen und politischen Beziehung zwischen ihm und M bleiben, dass diese Arbeit „strikt unter dem Deckel“ bleibt und die Brisanz behält, für die Probleme zu sensibilisieren, die in ihr aufgeworfen werden. „In diesem Sinne können Sie sicher sein“, meinte der Fraktionsvorsitzende, „dass Sie einen wichtigen Beitrag geleistet haben, dessen Kapital sich in der Zukunft erweisen wird. Sie haben ja recht, für das Böse sind technische Systeme eine riesige willkommene Herausforderung.“
M war sich in diesem Augenblick nicht sicher, ob ihm diese Bilanz schmeichelt oder ob sie eine freundliche Beerdigung seiner politischen Methode bedeutet. Seine Stimmung neigte dazu, die exklusive Nähe mit dem Fraktionsvorsitzenden auf dem Feld der Sicherheitspolitik als größten Erfolg seiner bisherigen parlamentarischen Laufbahn zu verbuchen.
„Mein Freund“, bog nun der Fraktionsvorsitzende mit weicher Stimme und seinem alemannischen Akzent in die Schlussrunde ihres Gespräches ein, „ich möchte Ihren Bericht auf meine persönliche Liste der Merkposten setzen. Mit dieser Liste arbeite ich an meinem politischen Netz, in dem ich die Verbindungen setze, die uns zu beschäftigen haben. Aus diesem Netz entstehen für mich die vertraulichen Beziehungen mit Kollegen, die gleichsam die DNA meiner Politik sind. Sie dürfen sicher sein, dass ich diese Vertraulichkeit mit Ihnen nicht missbrauchen werde und erwarte das im Gegenzug auch von Ihnen.“ Der Fraktionsvorsitzende wusste sehr genau, dass er mit diesem Angebot mögliche Widersprüche von M bereits im Kern aufgelöst hatte. Er erhob sich, ging an den Wandschrank und holte eine Flasche Mirabellenobstler und zwei kleine Gläser. Auch M erhob sich, als sein Freund mit den gefüllten Gläsern auf ihn zukam. „Trinken wir auf unsere Gesundheit und eine gute politische Zusammenarbeit.“
M bedankte sich für das Vertrauen, das er auch als natürliche Fortsetzung der Loyalität bewertet wissen wollte, die er stets seinem Fraktionsvorsitzenden gegenüber bewiesen habe. Sie setzten sich noch kurz, und der erfahrenere Politiker nutzte die Situation für eine kurze Bitte: „Bevor ich Ihren Bericht in meinem Ordner ablegen kann, möchte ich Ihnen dringend raten, zwei Begriffe aus Ihren Darlegungen zu streichen, die für mich eher kontraproduktiv sind. Sie sollten auf das Wort terroristisch verzichten. Das wollen wir uns für solche Attentate vorbehalten, von denen wir wissen oder annehmen können, mit welcher Absicht sie erfolgen. Und sie sollten den Begriff der Dämonie streichen. Dieses Wort taugt nicht für die Politik. Warum sollen wir die Geister beschwören? Das können wir nicht. Hinter der Dämonie steht etwas Pathologisches, und wir sollten dieses Feld den Psychologen überlassen. Mit diesen kleinen Streichungen erreichen wir eine analytische Geschlossenheit, mit der die mögliche Nähe einer so fürchterlichen Flugzeugkatastrophe zum Politischen viel deutlicher wird.“
M wusste in diesem Augenblick natürlich, dass sein Bericht in den wesentlichen Schlussfolgerungen entwertet ist, die ihm so wichtig erscheinen. „Das ist der Preis meiner Methode, mit der ich arbeite“, sagte er sich. Aber im Augenblick war ihm kein Preis zu hoch, um die Nähe zu diesem bedeutenden Mann im Parlament zu gewinnen. Der Alkohol lockerte seine Stimme, als er sagte: „Vielleicht habe ich das infolge meiner Arbeit an dem Bericht etwas anders gesehen als Sie. Aber ich werde die Streichungen vornehmen, weil mir daran gelegen sein muss, dass Sie etwas mit meiner Arbeit anfangen können. In einer Zusammenarbeit muss es darum gehen, einen gemeinsamen Nenner zu finden und den in Sprache umzusetzen. Das nennt man wohl auch Kompromiss.“
M war überzeugt, nach genau 45 Minuten aus einem Gespräch zu gehen, in dem er seine diplomatische Feuertaufe bestanden hatte. Er musste sich zugestehen, dass der alte Fuchs noch cleverer sein Ziel erreicht hatte, als es M vermocht hätte. Die „Pathologie des Dämonischen“ blieb einstweilen aus der praktischen Politik ausgeschlossen. Das hinderte ihn nicht, seinen Weg als Einzelgänger weiterzugehen, dieser Pathologie auf der Spur zu bleiben und ihre Relationen zu erkunden. Er sagte sich, die Zeit sei noch nicht reif für die Methode, mit der er sich die Verbindungen des Pathologischen seiner Dämonenwelt mit dem Politischen erschloss. Aber seine Diplomatie mit dem Fraktionsvorsitzenden feierte er innerlich als einen Etappensieg seiner politischen Karriere. Möge er auch noch so weit hinten auf den Bänken des Deutschen Bundestages sitzen, so hebe ihn aus der großen Schar seiner Kolleginnen und Kollegen doch eine persönliche Stellung zum Machtzentrum der Fraktion hervor. Er war sich sicher, dass es für diese Konstellation auch eine Entsprechung im Gang der Sterne geben würde. Sein Lilith-Problem war ja durch Jupiter zugedeckt. So verstand er seine Wahrsagerin jetzt jedenfalls.