Читать книгу Motte und Co Band 3: Blutspur - Ulrich Renz - Страница 10

Das Logbuch

Оглавление

JoJo reichte gerade jedem Mitglied seiner „Ermittlungsgruppe“ (wie er seine Freunde jetzt titulierte) die Hand, als es an der Tür klopfte. Dreimal hintereinander – Pause – zweimal hintereinander – Pause – dann einmal laut und einmal leise. Dann wieder dreimal hintereinander. Abel war offenbar mit dem Verdauen fertig.

Jedes Jungs-Zimmer hatte inzwischen seinen Klopf-Code. Ungebetene Gäste hatten zwar sowieso keine Chance – es hatte sich inzwischen herumgesprochen, dass die Lehne der Jugendherbergsstühle perfekt unter den Türgriff passte. Aber nachdem Max und seine Chaoten aus der 7 c damit angefangen hatten, wollte ihnen kein Zimmer nachstehen, zumindest keines der Jungs-Zimmer. Ohne Codewort oder Parole kam man nirgends mehr rein. Und natürlich war kein Code so kompliziert wie der, den JoJo für das Poetenzimmer (wie es bei den anderen inzwischen hieß) entwickelt hatte.

Das „Geniale“ (Zitat JoJo) daran war, dass der Code sich ständig änderte. Mit jeder geraden Stunde kam ein lautes Klopfen dazu, mit jeder ungeraden ein leises. Das geniale Ergebnis war natürlich, dass die Jungs selber den Code ständig durcheinanderbrachten, allen voran JoJo, der mit dem Rechnen ohnehin auf Kriegsfuß stand. MM wusste, dass er immer ein kleines Zettelchen in der Tasche hatte, auf dem der Code notiert war. Sie war die einzige, die sich das System problemlos merken konnte. Und Abel.

Obwohl sein Klopfen klar und deutlich zu hören war, schienen die Jungs nichts gehört zu haben und machten es sich wieder auf ihren Betten bequem. MM warf Motte einen auffordernden Blick zu, ohne Wirkung. Die Jungs taten immer so, als ob es die größte Strafe wäre, dass sie das Zimmer mit Abel teilen mussten. Er war bei der Zimmerverteilung am ersten Abend übrig geblieben und Zilinski hatte ihn kurzerhand dem Poetenzimmer aufgedrückt. (Seinen ewigen Spruch – „Tja, Kinderchen, das Leben ist kein Ponyhof“ – hätte er sich nach MMs Meinung allerdings sparen können.)

Klar war Abel ein bisschen merkwürdig, vor allem sein Dauerlächeln nervte einfach. Aber sie hatte auch Mitleid mit ihm, sie wusste, wie es sich anfühlte, Außenseiter zu sein. Sie hatte die Zeit noch in lebhafter Erinnerung, als sie neu in die Klasse gekommen war und keiner etwas mit ihr zu tun haben wollte, weil alle sie für eine Streberin hielten. Nur weil sie eine Klasse übersprungen hatte. Gut, letztlich hatte sie Glück gehabt, mehr Glück als Abel. Er war einfach der geborene Außenseiter – merkwürdigerweise schien er darunter allerdings nicht im Geringsten zu leiden.

Mit einem genervten Grollen startete MM zur Tür und ließ Abel herein.

Er hatte seinen ewigen Froschschal um den Hals, dessen Hellgrün ihn noch blasser aussehen ließ als er ohnehin schon war. Abel gehörte wirklich in die Kuriositäten-Sammlung. Schon mit seiner Bohnenstangenfigur und den viel zu langen Armen und Beinen. Vor allem aber mit seinem Froschtick – überall auf seinen Sachen waren Frösche drauf, auf seinem Schulranzen, seiner Waschtasche, seinem Pulli, überall.

Und gemeinerweise sah er auch fast ein bisschen aus wie ein Frosch, mit seinem breiten, geschwungenen Mund und den weit auseinanderliegenden Augen, die wegen der dicken Brille etwas hervorstanden.

Abel lächelte zwar so gut wie immer, aber sagen tat er fast nie etwas. Wehe aber, man brachte ihn auf eines seiner Lieblingsthemen, dann redete er wie ein Wasserfall und konnte gar nicht mehr aufhören. Am liebsten sprach er über irgendwelche Mikroben, chemische Formeln, Wasserstoffbindungen und gern auch vom Nobelpreis, den er einmal „mit Freuden entgegennehmen“ würde. Er arbeitete schon heute fleißig daran. Vor ein paar Wochen hatte er tatsächlich einen Nachwuchspreis bei „Jugend forscht“ gewonnen, und zwar für eine Untersuchung, in der es darum ging, wie viele Keime wohl auf einer Klobrille leben. Dafür hatte er bei sich zu Hause wochenlang Proben genommen und unters Mikroskop gelegt. „Ich hab vor allem die Durchfallerreger im Auge“, hatte er einmal allen Ernstes erzählt (worauf JoJo geantwortet hatte, „wenn du sie im Auge hast, musst du sie nicht auf der Klobrille suchen“. Abel fand das gar nicht lustig und brummelte „Du hast ja keine Ahnung, was bei der Verdauung alles schief gehen kann“). – Abel hatte es einfach mit der Verdauung. Den Tick hatte er mit Sicherheit von seiner Mutter. Sie hatte sich nicht entblödet, vor der Abfahrt noch in den Bus zu kommen, um auf ihren Sohn einzureden – „Spazierengehen nach jedem Essen, hörst du, nach jedem? Du weißt, wie wichtig das für deine Verdauung ist. Und dass du mir jeden Morgen dein Joghurt isst ...“ Jeder andere wäre im Boden versunken vor Peinlichkeit, aber Abel lächelte es weg. Er hatte tatsächlich ein Riesenglas selbstgemachten Joghurt bei sich, das er im Kühlschrank in der Küche deponiert hatte und von dem er jeden Morgen zum Frühstück zwei Löffel nahm, oder auch drei, wenn seine Verdauung danach verlangte – zusammen mit einer ordentlichen Portion Haferflocken, von denen er drei Packungen im Koffer hatte.

Abel war der verschrobenste Mensch, der ihr je begegnet war, so viel war jedenfalls klar. Aber er war kein Fiesling, im Gegenteil. MM hatte einmal mitgekriegt, wie er einen Jungen aus der Fünften angesprochen hatte, der nach der Schule heulend neben seinem Fahrrad stand. Irgendein Scherzbold hatte es mit einem Zahlenschloss an das Geländer vor der Turnhalle gekettet. Während die „Freunde“ des Jungen längst ohne ihn nach Hause gefahren waren, probierte Abel eine geschlagene Stunde alle Zahlenkombinationen durch, bis er das Schloss auf hatte.

Die Jungs sollten sich mal nicht so anstellen. Sie hätten es wirklich schlimmer treffen können.

Wie sie selbst zum Beispiel. Ausgerechnet bei den drei Obertussen war sie gelandet, Blondi, Mara und Nele. Außer Klamotten und „Styling“ hatten sie buchstäblich nichts im Kopf. Sie redeten ständig davon, wie bescheuert die anderen allesamt aussahen, MM natürlich inklusive. „Absurd“ war das Lieblingswort von Blondi, wenn es um das Aussehen der anderen ging. „Absurd“ war alles, was nicht „geil“ war, und „geil“ war das, was sie gerade anhatte. Zurzeit war alles geil, wo Yamamoto oder Kawazaki draufstand oder sonst irgendwas Japanisches. „Japan ist so geil“, verkündete Blondi immer wieder. Sie war die unangefochtene Anführerin der Tussen. Sie hieß eigentlich Jennifer, aber seit sie ihre von Natur aus eher undefinierbaren Haare wasserstoffblond färbte, ließ sie sich von ihren Anhängerinnen Blondi nennen. So hieß die Cheerleaderin in der Teenie-Serie, die sie nachmittags immer anschauten. Die drei hatten zwei Kubikmeter Modezeitschriften mitgebracht, über denen sie in jeder freien Minute hingen, um darüber zu richten, was „geil“ aussah und was „absurd“. Zum Glück konnte sich MM meistens zu ihren Freunden ins Poetenzimmer abseilen. Es gab einfach nichts, was sie weniger interessierte als Klamotten.

Abel stand noch immer in der Tür und schaute hilflos lächelnd auf JoJo in seinem Bett, sagte aber nichts, sondern blieb stehen, wo er war.

Erst jetzt erkannte sie das dicke Buch, das er unter dem Arm hatte.

„Verdammt ... das Logbuch!“ Motte hatte es offenbar auch entdeckt.

„Shit!“, kam es von Simon oben.

„Der Abend ist gelaufen“, grummelte JoJo.

Das Logbuch sollte so etwas wie die Chronik der Klassenfahrt werden. Jeden Tag war ein anderes Zimmer dran, die Liste hing im Speisesaal am Schwarzen Brett. Die Idee dahinter war, aus dem Logbuch dann im Deutschunterricht einen richtigen Roman zu machen. Wie das funktionieren sollte, wusste wahrscheinlich nur Siegwart, von dem der Plan stammte. „Vier Seiten Minimum ... und zwar schön eng beschrieben“, hatte er ihnen vor der Abfahrt eingeschärft. Und heute Morgen beim Frühstück hatte Mo-Kri sie noch einmal erinnert – „Auf den heutigen Beitrag des Poetenzimmers bin ich natürlich ganz besonders gespannt“, sagte sie mit einem Seitenblick zu JoJo.

„Also Jungs, an die Arbeit!“, sagte JoJo und saß mit einem Ruck auf der Bettkante. Wenn er nicht so klein gewesen wäre, hätte er sich den Kopf am oberen Bett angeschlagen. „Wer schreibt?“

Schweigen im Walde.

„Wenn ihr denkt, dass ich das für euch mache, habt ihr euch übrigens gebrannt“, sagte MM vorsorglich. Ihr Zimmer war übermorgen dran und bei diesen analphabetischen Modepuppen war jetzt schon klar, dass die Arbeit an ihr hängenbleiben würde. „Außerdem muss ich in einer halben Stunde sowieso verschwinden“ – sie schaute auf die Uhr –, „in 28 Minuten, um genau zu sein.“

Nach allem, was in der ersten Nacht passiert war, nahmen es die Lehrer jetzt ganz genau: Punkt 22 Uhr mussten alle in ihrem Zimmer sein. „Ausnahmslos“, so stand es in der „Disziplinarvereinbarung“, die sie alle eigenhändig unterschreiben mussten. Und um elf musste das Licht aus sein – auch das „ausnahmslos“.

„Motte, du hast die beste Schrift“, bettelte JoJo. Wenn es nach der Schrift ging, war JoJo mit seiner Sauklaue jedenfalls aus dem Schneider.

„O.K.“ Motte gab einen resignierten Seufzer von sich, „aber ihr sagt mir, was ich schreiben soll.“ Abel kam lächelnd mit dem Buch und legte es Motte auf den Schoß.

Motte schlug die erste leere Seite auf. „Also, dann schießt mal los ...“

MM hatte es schon erwartet. Keiner sagte etwas.

Aber was war über den Tag auch schon zu sagen?, ging es ihr durch den Kopf. Tobi war weg, alles andere war eigentlich völlig belanglos. Am besten wäre es, so lange „Tobi verschwunden“ zu schreiben, bis die vier Seiten voll waren.

Gut, am Vormittag hatten sie diesen Ausflug ins Marienburger Heimatmuseum gemacht. Auf der Hinfahrt hatte der Bus eine Panne gehabt, sie hatten deshalb gerade noch eine halbe Stunde Zeit für die Besichtigung gehabt. Eine Viertelstunde hätte aber auch gereicht – außer ein paar Kupferstichen und ein paar Münzen war da nichts zu sehen.

„Jetzt sag schon, was ich schreiben soll ...“ Motte schaute sie fast flehend an. Sie lächelte freundlich zurück und zuckte mit den Schultern.

Mit einem Seufzer blätterte Motte die Seiten des Logbuchs zurück. Er war anscheinend auf der Suche nach Ideen.

„Schau dir das mal an!“ Motte war ganz vorne auf der ersten Seite angekommen. „Erster Tag“ stand da, in Pinki-Susis Schnörkelschrift. Die ganze Seite war mit Buntstiften ausgemalt, überall waren Blümchen (in Pink), Herzchen (genauso) und am Rand eine lächelnde Sonne (ausnahmsweise gelb). Es sah aus wie das Poesie-Album einer Zweitklässlerin. Und hörte sich auch genauso so an:

„Um 14.06 Uhr kommt unser schöner Reisebus im schönen Schloss Wulfshausen an. Voller Vorfreude betrachten wir das schöne und ehrwürdige Gebäude, in dem wir unsere schöne Schulfreizeit zusammen verbringen werden. Schloss Wulfshausen wurde 1642 von den Grafen von und zu Breitenbuch erbaut ...

Die nächsten zwei Seiten hatten sie offenbar aus dem Reiseführer abgeschrieben. Pinki-Susi und ihre Pinki-Freundinnen mussten es mal wieder 150-prozentig machen, ganz wie in der Schule. Ihre Hausaufgaben waren immer druckreif. Auf Extra-Punkte für Schönschrift waren sie fest abonniert. Jeden Morgen trafen sie sich schon eine halbe Stunde vor dem Unterricht, um gemeinsam „den Schultag vorzubereiten“ – also ihre Stifte zu spitzen, Füller zu füllen, Radiergummis sauber zu rubbeln, Bücher zu sortieren. Seit der Fünften machten sie freiwillig den Tafeldienst und leerten jeden Tag den Papierkorb.

„Herrn Rudolph, unserem netten Busfahrer, gebührt Dank, dass er uns so schön und sicher hierhergebracht hat.“

Netter Busfahrer ... na ja ... Walter (wie er sich von den Kindern unbedingt nennen lassen wollte) war zwar wirklich ganz nett, nur übertrieb er es leider ein bisschen mit seinen Witzchen, über die außer ihm keiner lachen konnte.

„Nett ... wunderschön ...“, murmelte Motte und schüttelte den Kopf.

„Jetzt lies schon vor“, drängelte JoJo.

„Gleich nach der Ankunft“, las Motte, „heißt uns die nette Heimleiterin, Frau Gräfin von Wulfshausen, im wunderschönen Rittersaal des Schlosses herzlich willkommen.“

Eigentlich wusste keiner, ob es sich bei der Heimleiterin wirklich um eine Gräfin handelte, und erst recht nicht, ob sie wirklich die Nachfahrin der ehemaligen Schlossbesitzer war. Aber sie hatten sie von Anfang an „die Gräfin“ getauft, weil sie so vornehm wirkte. Wie sie bei der Ansprache im großen Rittersaal in ihrem hochgeschlossenen Samtkleid vor ihnen gestanden war, sah sie ganz so aus, als sei sie gerade aus einem der Ölgemälde mit den streng blickenden Herren und Damen herausgestiegen, die die Wände bedeckten. Sie stützte sich auf einen Stock mit verziertem Silberknauf. Nach ihrem zerknitterten Gesicht zu urteilen, musste sie uralt sein, es erinnerte etwas an Papagei, und dazu passte auch, dass ihre Stimme krächzte, als ob sie Kette rauchen würde. Im Gegensatz zu ihrer Stimme waren ihre Augen jedoch freundlich und warm.

„Nach der Ansprache der Gräfin machen wir die erste Bekanntschaft mit unserem Hausmeister, Herrn Stecher“, las Motte weiter. „Er weist Tobi freundlich, aber bestimmt darauf hin, dass der Kiesbelag des Hofes nicht verändert werden sollte.“

Freundlich, aber bestimmt ... das konnten sie wirklich nicht ernst meinen. Tobi hatte auf dem Kies im Innenhof mit dem Schuh ein riesengroßes Herz gezogen, mit „Renate“ in der Mitte. Der Hausmeister hatte einen regelrechten Tobsuchtsanfall bekommen. „Was glaubst du denn, wo du hier bist! Wenn ich das noch mal sehe, kannst du mich mal kennenlernen!“

Seither wurde er von allen der Giftzwerg genannt. Mit Ausnahme natürlich von Pinki-Susie und ihren Freundinnen.

Keiner war vor den Wutanfällen des Giftzwergs sicher, die immer mit dem Spruch endeten „Aber auf mich hört ja sowieso keiner, ich bin hier doch nur der Schuhabtreter!“ Er sah wirklich aus wie Rumpelstilzchen: ein kleines schiefes Männchen mit einem immer sauren bleichen Gesicht.

Mehmet und Julian behaupteten, sie hätten ihn einmal in seinem Garten hinter dem Schloss gesehen, eine Flasche in der Hand, mit der er seinen Tomatenpflanzen zugeprostet hätte. „Garten“ war eigentlich zu viel gesagt, es war eigentlich mehr ein Brombeergestrüpp. Er hatte dort eine Art Schuppen, den er wahrscheinlich vor allem als Getränkelager nutzte.

„Hört euch das an!“ Motte stieß sie von der Seite an.

„Am Nachmittag hatten wir dankenswerterweise frei, was von einem Teil unserer Mitschüler zum Fußballspielen genutzt wurde, ein anderer Teil widmete sich der Aufgabe, ihre Zimmer schön gemütlich einzurichten.“

Mit dem „anderen Teil“ meinten sie natürlich sich selber. Ihr Zimmer sah aus wie ein Ramsch-Laden. Überall hatten sie Kuscheltiere hingesetzt, von denen sie ein paar Koffer voll mitgebracht hatten. Die Wand hatten sie mit Familienfotos beklebt, natürlich nicht, ohne vorher Mo-Kri um Erlaubnis gefragt zu haben (die bei ihnen „Frau Morahwe-Krieger“ hieß, denn: „Lehrer redet man nicht mit Spitznamen an!“).

„Steht auch drin, was dann in der Nacht abgegangen ist?“ Simons Stimme brachte MM wieder in die Gegenwart zurück.

Motte blätterte weiter. „Hmm ... ja ... doch hier ... zweiter Tag ... sieht ganz nach Granates Schrift aus ... Nach dem Frühstück Aussprache mit der Frau Gräfin und Frau Morahwe-Krieger zum Thema nächtliche Vorkommnisse.“

Motte und Co Band 3: Blutspur

Подняться наверх