Читать книгу Motte und Co Band 3: Blutspur - Ulrich Renz - Страница 12
Nächtliche Vorkommnisse
ОглавлениеNächtliche Vorkommnisse ... Motte musste den Kopf schütteln. Renates Schrift war einfach unglaublich. Ihre Auf- und Abstriche gingen schwungvoll nach oben und unten, die i-Punkte waren Kringel so groß wie Murmeln. Mehr als zwei Wörter passten in einer Zeile nicht nebeneinander. Diese Logbuch-Seite war so ziemlich das genaue Gegenteil von dem, was sich Siegwart vermutlich unter „schön eng beschrieben“ vorgestellt hatte. Die Schrift passte zu Renate wie die Faust aufs Auge – „Hoppla, hier komm ich!“
„Aussprache mit der Frau Gräfin und Frau Morahwe-Krieger zum Thema nächtliche Vorkommnisse“, war auch schon alles, was Renate über die Ereignisse der ersten Nacht geschrieben hatte. Und das war auch besser so. Wer wusste schon, wem das Logbuch alles unter die Augen kommen würde? „Schwamm drüber“, hatte Mo-Kri am Ende gesagt, und dabei sollte es bleiben.
Wie hatte das ganze Desaster eigentlich angefangen?, überlegte Motte. Ach ja, mit diesem dummen Spruch von Dimitri, „ich bin Party“. So hatte er nach dem Abendessen rumgetönt, wahrscheinlich wusste er selber nicht, was er damit sagen wollte. Aber plötzlich war das Gerücht in der Welt, dass im Russen-Zimmer wahnsinnig was los wäre. Und obwohl sie eigentlich keine Lust auf Party hatten, schauten Motte und seine Freunde dann doch bei den Russen vorbei – nur mal kurz, man wusste ja nie, ob man nicht was verpasste. Und dort trafen sie dann auf sämtliche Jungs der Klasse, die auch alle „nur mal kurz“ vorbeigekommen waren. Und sich nun alle zusammen bis raus auf den Flur die Beine in den Bauch standen. Außer Gequassel und Gequatsche war rein gar nichts los, Dimitri war bloß genervt, weil er und seine Freunde bei ihrem ewigen Munchkin-Kartenspiel gestört wurden. Dass sich trotz des Lärmpegels kein Lehrer blicken ließ, hatte – wie sich später herausstellen sollte – damit zu tun, dass diese hinter den dicken Wänden des Rittersaals über das „pädagogische Konzept“ für die kommenden Tage berieten. Und dass die Gräfin im Anschluss noch ihren dreißig Jahre alten Whiskey aus dem Schrank geholt hatte, um auf das gute Gelingen der Klassenfahrt anzustoßen.
Als Motte und seine Freunde sich gerade wieder in ihr Poetenzimmer zurückziehen wollten, kam das nächste Gerücht auf: dass Max und seine Chaoten einen Kasten Bier auf dem Zimmer hätten. Nicht dass sie unbedingt Bier trinken wollten, aber man wollte doch ganz gern wissen, ob wirklich was dran war an der Sache. Den anderen ging es offenbar genauso, denn bald kam es zu einem regelrechten Sturm auf das Chaotenzimmer. Zwar stellte sich schnell heraus, dass es sich bei dem Kasten Bier nur um drei Dosen Red Bull handelte, aber da war es schon zu spät, denn von hinten drängten die anderen nach, bis das Zimmer buchstäblich aus den Nähten platzte. Mit einem lauten Krachen gingen die beiden Stockbetten zu Bruch, kurz darauf war das Klirren einer Scheibe zu hören.
Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen, mit Robertos Schlachtruf „Wir stürmen die Mädchen-Zimmer!“ ging der Tumult dann aber erst richtig los. Ein Teil der Jungs unter Führung des Chaotenzimmers wollte sich leise über den Flur anschleichen, ein anderer außen um das Schloss herumgehen und von der Rückseite angreifen. JoJo hatte die geniale Idee, einen „Überraschungsangriff aus der Luft“ zu starten, womit er den Weg über das Dach des Anbaus meinte.
Natürlich hatten die Mädchen längst Wind von der Sache bekommen und empfingen die Jungs nach allen Regeln der Verteidigungskunst mit Kissen, Turnschuhen und Wurfgeschossen aller Art. Renates Zimmer benutze mit Erfolg die Zahnputzbecher aus dem Waschsaal, um die Angreifer abzuwehren – und den Flur unter Wasser zu setzen. Die Kampfhandlungen gerieten vollends außer Kontrolle, als Mehmet das Zimmer von Pinki-Susie mit dem Feuerlöscher in ein Schaumbad verwandelte, aus dem die Pinki-Mädchen wie Schneetrolle auf den Flur gerannt kamen. In ihrem Kreischen ging es fast unter, dass in Renates Zimmer der Schrank umfiel und im Flur die Lampe von der Decke krachte.
JoJos Luftangriff war trotz der genialen Planung kein glückliches Ende beschieden. Er hatte es zwar mit Ach und Krach auf das Dach geschafft, aber als er sich auf der anderen Seite wieder hinunter hangeln wollte, gab die Dachrinne nach und er landete mit einem großen Platsch mitten in der Regentonne. Als er patschnass und prustend in Anzug und Krawatte aus der Tonne gekrochen kam, stand zu allem Unglück Delius vor ihm. JoJo hatte zwar wie üblich gleich eine Ausrede parat: dass er noch kurz ein Erfrischungsbad habe nehmen wollen, „schweißbedingt ... Sie wissen schon ...“, aber Delius zeigte trotzdem keine Neigung, ihm Glauben zu schenken, woran sicher auch die Dachrinne schuld war, die JoJo noch in der Hand hielt.
„Acht kaputte Stühle, zwei Türen, drei Fensterscheiben, zwei Lampen, ein Schrank, ein eingeschäumtes Zimmer. Und der Wasserschaden. Von der Dachrinne ganz zu schweigen“, zählte die Gräfin am nächsten Morgen auf, als sie sich alle zur „Aufarbeitung“ nach dem Frühstück im Rittersaal versammelt hatten. „Dazu ein vollgekotztes Zimmer, zwei Schülerinnen im Alkoholrausch.“ Die beiden Punk-Mädchen, Sandra und Sina, hatten sich während der Kampfhandlungen in aller Seelenruhe mit einer Flasche Wodka besoffen, die sie in ihrem Gepäck ins Schloss eingeschmuggelt hatten. Sandra hatte mal wieder Liebeskummer, weil sich ihr angehimmelter Roberto auf der Busfahrt neben Mariam gesetzt hatte.
Die Gräfin ließ einen strengen Blick aus ihren Papageien-Augen über die Kinder schweifen, deren Augen wiederum wie magisch von dem Eichenparkett unter ihren Füßen angezogen waren.
Die peinliche Stille wurde von der Stimme des Giftzwergs unterbrochen. „Ins Umerziehungslager sollte man alle ...“
„Welche Maßnahmen zu ergreifen sind, sehr geehrter Herr Stecher“, fiel ihm die Gräfin scharf ins Wort, „das überlassen sie bitte den zuständigen Personen.“
Der Giftzwerg grummelte noch sein „ich bin hier doch eh nur der Schuhabtreter!“, hielt dann aber für den Rest der Aussprache die Klappe.
Die Gräfin krächzte weiter, dass „solche Sachen“ durchaus schon mal vorgekommen seien, allerdings schon vor „langer langer Zeit“, wie sie sich ausdrückte. Dass eine Schulfreizeit nur möglich sei, wenn man den Kindern vertrauen könne, und dass sie nun alles tun müssten, um das verlorengegangene Vertrauen wieder zu „verdienen“. Sie seien doch sicher alle froh, dass sie in so einem schönen Schloss wohnen dürften ...
Nach der Gräfin war Mo-Kri dran. Sie hatte ihren unvermeidlichen grauen Hosenanzug an und wie immer den rosa Lippenstift aufgetragen, der ihre blauen Augen betonte. Nach dem eisigen Schweigen zu urteilen, in das sie sich erst einmal hüllte, konnten die Kinder sich auf ein Donnerwetter gefasst machen. Mo-Kri war zwar eigentlich nett und freundlich, aber alle wussten, dass sie auch sehr konsequent sein konnte.
„Mir ist das ziemlich nahe gegangen, was gestern Nacht passiert ist“, fing sie an. Ihre Stimme klang eher bekümmert als streng. Auch ihr Gesicht hatte plötzlich seine Härte verloren und einen besorgten Ausdruck angenommen.
„Ehrlich gestanden“, setzte sie fort, „wir hätten die Klassenfahrt im ersten Moment am liebsten abgebrochen. Nur dass wir damit auch die bestraft hätten, die sich nichts zuschulden kommen lassen haben. Und das ist ja immerhin die Mehrheit.“ Es klang fast ein bisschen aufmunternd, wie sie das sagte. „Das hoffe ich zumindest, so genau lässt sich das ja nicht mehr rekonstruieren. Das leise Lächeln in ihrem Gesicht ließ hoffen, dass ihnen ein größeres Donnerwetter erspart bleiben würde. „Wir haben deshalb beschlossen, dass wir euch eine zweite Chance geben wollen.“
Die zweite Chance sah folgendermaßen aus: Alle mussten eine „Disziplinarvereinbarung“ unterschreiben, worin sie sich verpflichteten, die Hausordnung penibel einzuhalten.
„Will heißen, Kinderchen“, mischte sich Zilinski ein, „wer jetzt noch irgendwas ausfrisst, sitzt zwei Stunden später im Zug nach Hause.“ Dem musste er natürlich noch seinen Ponyhof-Spruch hinzufügen.
„Die Schäden werden erst einmal aus der Klassenkasse bezahlt“, übernahm Mo-Kri wieder, „und wir überlegen uns dann gemeinsam, wie wir sie wieder auffüllen können. Ich denke da zum Beispiel an den nächsten Weihnachtsmarkt, für den ihr sicher gerne etwas basteln wollt, oder?“
„Vielleicht fällt uns dafür ja im Kunstunterricht etwas ein“, fügte Delius hinzu. Dabei schaute er nicht die Kinder, sondern wie immer die Rote Zora an, die ihrerseits kein Auge von ihm ließ und genauso wie Delius ein seliges Lächeln auf den Lippen hatte.
Mo-Kri ging ein paar Schritte auf und ab und blieb neben der Glasvitrine mit der Ritterrüstung stehen. „Ich weiß, dass es euch leid tut. Und ich weiß auch, dass wir damals in unserer Schulzeit auch keine Engel waren, vor allem auf Klassenfahrten. Also“ – sie schaute sie alle mit erhobenen Augenbrauen über den Rand ihrer Megabrille an –, „Schwamm drüber!“
Man konnte das Aufatmen im Raum förmlich hören. Auch JoJo war anzusehen, dass er mit seiner Strafe für die abgerissene Dachrinne nicht ganz unzufrieden war – eine Woche Küchendienst.
Die Logbuch-Seiten vor Motte waren immer noch völlig leer – mit Ausnahme der Überschrift „Fünfter Tag“. Er schaute auf die Uhr. Viertel vor zehn. Unwillkürlich warf er einen Blick zu MM neben ihm, aber bekam nur ein ironisches Zwinkern aus ihren Meeraugen zurück. „Das schafft ihr ganz gut ohne mich. In zehn Minuten bin ich sowieso verschwunden!“
Er musste es wohl oder übel bei JoJo und Simon versuchen. „Jetzt sagt schon, was ich schreiben soll ...“
Anstatt einer Antwort klopfte es zaghaft an der Tür.
„Wir wollen nur ein bisschen Informationsmaterial vorbeibringen“, war Alinas Pieps-Stimme zu hören.
„Es ist super wichtig ... wirklich“, wisperte Hannah so eindringlich, dass man meinen konnte, ihr Leben würde davon abhängen, dass gleich die Türe aufging.
Die Veggis! Die hatten ihnen jetzt wirklich noch gefehlt. „Wir sind schon informiert“, brummte Motte.
„Überinformiert“, ergänzte JoJo.
Alina und Hannah mit ihrer Veggi-Kampagne. – Angefangen hatte alles, als vor ein paar Monaten Alinas Meerschweinchen (das sinnigerweise auf den Namen „Mausi“ gehört hatte) gestorben war. Seither war Alina kompromisslose Vegetarierin geworden (sie selber bezeichnete sich am Anfang allen Ernstes als „eingefleischte Vegetarierin“, bis sie Delius im Kunstunterricht einmal darauf hingewiesen hatte, dass der Begriff rein sprachlich nicht glücklich sei). Jedes Mal, wenn sie jetzt Wurst oder Fleisch sah, musste sie an ihre arme Mausi denken, die im Blumenbeet im Garten unter der Erde lag. Sie konnte einfach kein Fleisch mehr essen. Und bald konnte sie auch nicht mehr mit ansehen, wie andere Fleisch aßen. „Mausi soll nicht umsonst gestorben sein“, so sagte sie immer schniefend, „ihr Tod hat mir die Augen geöffnet, dass jede Kreatur unendlich wertvoll ist, und dass es eine Sünde ist, zu töten.“ Ihre Kulleraugen fielen ihr dabei fast aus dem Gesicht.
Ihr Lebensziel war von nun an, möglichst viele „Kreaturen“ vor den Zähnen der „Fleischfresser“ zu retten. Alinas Eifer hatte schnell ihre ganze Clique infiziert, die nun einen regelrechten Feldzug gegen die Fleischfresser starteten. Sie erzählten jedem, ob er es wissen wollte oder nicht, dass jedes Jahr X Millionen Hühnchen geschlachtet würden, X Millionen Schweine, X Millionen Kühe – „einfach so getötet“, piepste Alina immer, und Hannah flötete hinterher „einfach so!“ Die Zahlen waren so beeindruckend (und wurden auch noch jeden Tag höher), dass mittlerweile die halbe Mädchenklasse kein Fleisch mehr aß.
In letzter Zeit wurden Alina und ihre Veggis immer radikaler. Auf dem Weg zum Schullandheim hatten sie im Bus Flugblätter verteilt, auf denen sie fleischfreies Essen im Schullandheim forderten.
Motte war von zuhause ohnehin nur vegetarisches Bio-Essen gewohnt. Und natürlich wusste er, dass fleischloses Essen gesünder war und auch besser für die Welternährung und genauso für die Umwelt. Wenn die Menschheit sich nur von pflanzlicher Nahrung ernähren würde, hatten sie im Erdkundeunterricht gelernt, würde sie ein Fünftel weniger Treibhausgase ausstoßen. Und hätte mit einem Schlag den Hunger in der Welt besiegt. Ein einziger Hamburger verbrauchte bei der Herstellung so viele Rohstoffe, dass man davon fünf Menschen mit Reis versorgen könnte.
Trotzdem, hier im Schullandheim ließ er sich die Wurst schmecken – wenn auch ein bisschen mit schlechtem Gewissen seiner Mutter gegenüber, die ihm gestern ein Päckchen mit ihrem ganzen Arsenal an Bio-„Leckereien“ geschickt hatte, von Grünkerncrackern bis Tofu-Sellerie-Röllchen – die er gleich an die Veggis verteilt hatte, die ihn seither als ihren neuen Verbündeten betrachteten.
„Schiebt ab, wir sind resistent“, rief Simon zur Tür.
„Dann lest wenigstens unsere Informationsblätter, ja?“, piepste es zurück.
„Wirklich, ihr könnt den armen Tieren helfen“, flötete Hannah hinterher.
Die „Informationsblätter“ kamen nun unter der Tür hindurch. „FLEISCH IST MORD“, stand auf dem einen in großen bunten Buchstaben, darunter hatten sie „Wie kann man nur so grausam sein?“ gepinselt und süße Kälbchen und Schäfchen gemalt, denen jemand mit dem Beil den Kopf abschlug. Dazu war zu lesen: „Wir bitten euch von Herzen im Namen der unschuldigen Lämmlein, Kälblein und Schweinlein (so stand das tatsächlich da), ab jetzt kein Fleisch mehr zu essen. Das „jetzt“ was großgeschrieben und dreimal unterstrichen.
Das zweite Flugblatt verkündete die frohe Botschaft „MAUSI LEBT!“ (auch das selbstverständlich in Großbuchstaben), womit wohl zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass Alinas Meerschweinchen nicht umsonst gestorben sei – was JoJo zu dem Kommentar veranlasste, dass er Mausis Auferstehung jetzt gerne mit einem vernünftigen Burger feiern würde.
JoJo hatte gerade rechtzeitig zur Klassenfahrt seine (inzwischen legendäre) „Anti-Fastfood-Diät“ beendet, die ihn zwei Wochen lang von McDonalds und Burger King ferngehalten hatte. – Die dicke Berta von der Schullandheimküche konnte jedenfalls immer auf ihn zählen, wenn sie ihre Würstchen, Hühnerschenkel oder Schnitzel anpries, auf denen sie jetzt regelmäßig sitzen blieb, seit die Veggis ihren Feldzug gegen das Fleischessen gestartet hatten. „Ihr seid doch meschugge, so gutes Fleisch!“, sagte sie mit ihrem polnischen Akzent immer kopfschüttelnd, wenn sie die Fleischberge wieder abräumen musste. „JoJo, mein Junge, nimm doch noch eins!“ JoJo ließ sich nie lange bitten.