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Kapitel 2 – Nackte Landung
ОглавлениеBerlin, Hauptstadt der DDR, im November 1986
Der pechschwarze Käfer müht sich über die Fußleiste, richtet sich an der ölfarbenglatten Zellenwand auf, kippt auf den Rücken. Werner dreht ihn. Der Tag, als Oberst H. ihm seinen neuen Auftrag erteilt hatte, es war auch der Tag, der ihn zu Christine führte. Als Werner daran zurückdenkt, sieht er sich auf dem Flughafen Schönefeld stehen, als wären seither nicht sechs Jahre vergangen.
Es war der 18. August 1980. Er lehnte an einer Säule in der Halle hinter den Kollegen der Einreisekontrolle. Interflug F251, Ankunft 10.35 Uhr, war pünktlich gelandet, unter den Passagieren ein jüngeres Pärchen, beide BRD-Bürger, ihre Pässe gefälscht. Sie ließen sie durch und kümmerten sich dann um sie.
Drei Wochen später kamen die nächsten, diesmal mit dem Zug nach Berlin Ostbahnhof. Drei Frauen, avisiert im Wagen mit der Nummer 23. Christine war die Letzte, die ausstieg. Sie setzte ihren Fuß zögerlich und ungeschickt auf den Bahnsteig, als sei sie sich des Untergrunds nicht sicher. Als sie das andere Bein nachzog, blieb sie hängen, stolperte, knickte um und fiel direkt in seine Arme, eine mädchenhafte junge Frau. Sie fühlte sich ganz leicht an, ganz zart, fast wie ein Vogel, der sich aus Versehen auf ihm niedergelassen hatte. Er ließ sie sofort wieder los.
„Entschuldigung, haben Sie sich wehgetan?“
„Nein, überhaupt nicht, Sie haben mich ja aufgefangen. Ich muss mich entschuldigen.“
„Sie sind Anne Petersen?“
„Ja, aber woher wissen Sie …“
„Willkommen in der Deutschen Demokratischen Republik. Ich bin hier, um Sie abzuholen und dafür zu sorgen, dass Sie sich gut einleben bei uns. Wir sind jetzt Ihr neues Zuhause.“
„Das ist sehr freundlich. Danke.“
Das waren die ersten Worte, die sie miteinander gewechselt hatten.
Sie brachten alle Zehn auf kürzestem Wege in das konspirative Objekt. Werner ließ es sich nicht nehmen, die Einweisung persönlich zu überwachen. Als sie bei Briesen von der Autobahn Berlin-Frankfurt/Oder abbogen und in den sandigen Waldweg zum „Forsthaus an der Flut“ hineinfuhren, wie das Objekt „74“ offiziell hieß, fing er einen unsicher fragenden Blick von Christine auf. Keiner von ihnen wusste genau, wohin es ging und was sie mit ihnen vorhatten. Und so sollte es auch sein. Ein wenig Verunsicherung konnte nicht schaden. Schließlich würden sie alle ihr altes Leben loslassen müssen.
Sie fuhren an den kerzengerade aufgereihten, rötlichbraun leuchtenden Kieferstämmen vorbei, durch die warmes Herbstlicht flimmerte. Im Rückspiegel sah Werner, dass es die fünf Punkte auf Christines Gesicht aufleuchten ließ wie Glühwürmchen. Sie verteilten sich ungleich auf Nasenflügel und Wangen, drei links, zwei rechts. Seltsam diese Sommersprossen auf ihrer hellen, fast weißen Haut, sie passten irgendwie gar nicht mit ihrem pechschwarzen, kurz geschnittenen Bubikopf zusammen. Aber komisch vor allem, dass Werner einen Blick dafür hatte.
Nachdem sie angekommen waren, sorgte er dafür, dass alle gut untergebracht wurden. Sie sollten sich wohlfühlen. Er kannte sich gut aus auf dem weitläufigen Gelände. Das MfS nutzte es häufig, obwohl sich bei den umliegenden Dörflern längst herumgesprochen hatte, dass dieses Ferienheim des Ministeriums des Innern in Wahrheit eine Einrichtung der Firma war. Aber das Objekt lag so nah an Berlin und doch so weit vom Schuss, dass es sich einfach anbot für solche Fälle. Und deshalb sahen sie über die Sicherheitsbedenken hinweg, die gelegentlich gegen das Objekt erhoben wurden.
Er selbst brachte Christine auf eines der zwanzig Zimmer in den drei Flachbauten, die sich um den Hof gruppierten. Er hielt ihr die Tür auf und sie gingen fast gleichzeitig hinein. Für einen Moment wurde es so eng, dass eine Berührung nicht zu vermeiden war.
„Es ist einfach“, sagte er, als sei ihm in ihrer Anwesenheit die Beschränktheit des Raums und seine schlichte Ausstattung ein wenig peinlich, das Einzelbett mit der sorgsam darüber ausgebreiteten Blümchendecke, der kleine Tisch mit dem braun-rot-orange karierten Tischtuch, direkt daneben ein Waschbecken, davor zwei einfache Stühle, darunter ein zu oft gereinigter Teppichboden. Aber immerhin ein Fenster mit Blick auf das Wasser, sogar auf den Bootssteg, der sich in den Oder-Spree-Kanal schob.
Sie stand nur einen halben Schritt vor ihm, drehte sich um und er spürte Nähe auf zu kleinem Raum. Er trat nicht zurück.
„Nein, einfach ist es nicht“, sagte sie und blickte ihn an, „jedenfalls nicht für mich“.
„Das weiß ich.“ Werner wandte sich ab. „Wir sehen uns später“.
Abends, nach den ersten Unterrichtungen und einem Essen, war ein formloses Treffen in der Kellerbar des Objekts angesagt, um den Tag ausklingen zu lassen. Eine eigenartige Gruppe, diese Aussteiger. Werner ließ sich ein Bier einschenken und beobachte sie von seinem Eckplatz an der Theke. Sie wirkten merkwürdig verspannt, so als hätten sie sich auf fremdem Terrain verirrt. Selbst untereinander schienen sie sich nicht besonders vertraut, jedenfalls nicht alle. Erst nach und nach entdeckte er, wie sich doch einiges sortierte. Da waren die zwei, die als Erste gekommen waren, schon länger ein Pärchen, wie er wusste. Ein Weiteres stand an der Theke und schien sich erst unter den neuen Umständen zu entdecken. Das schloss er daraus, wie sie sich ansahen und miteinander redeten. Und die drei Frauen, die zusammen im Zug gekommen waren, sie saßen bald um einen Sofatisch herum und steckten die Köpfe zusammen. Andere liefen wie Fremdkörper hin und her und verschwanden früh auf ihre Zimmer.
Manchmal blickte Christine zu ihm herüber.
Nach dem zweiten Bier setzte er sich in den Bungalow ab, den er immer bezog, wenn er hier war, auch weil er wusste, dass sie hier keine Wanzen eingebaut hatten. Kurz überlegte er, ob er seine Frau anrufen sollte. Aber er ließ es und knipste den Fernseher an. Kein Westprogramm hier, schon gar kein James Bond.
Die folgenden drei Wochen diente Objekt „74“ dem einzigen Zweck, zehn ehemalige BRD-Terroristen in ordentliche DDR-Bürger zu verwandeln, die im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden pflichtbewusst und verantwortungsvoll die ihnen zugewiesenen Aufgaben erfüllen würden, vorbildlich, aber unauffällig. Werner hatte sich zusammen mit seinen Kollegen besonders viel Mühe gemacht, um für sie glaubwürdige Legenden zu erfinden, an denen niemand irgendetwas merkwürdig finden konnte, weder unter ihren künftigen Arbeitskollegen noch unter ihren späteren Nachbarn im Wohnbezirk. Und die auf keinerlei Beziehung der zehn untereinander schließen lassen konnten.
Tarnen und Täuschen. Ein paar Dinge handhabten sie natürlich ähnlich, entsprechend den Regeln ihrer Profession. Die Lebenswege dieser neuen Bürger mussten jedweder Prüfung standhalten, von Seiten irgendwelcher DDR-Anfragen, aber auch seitens ausländischer Nachforschungen. Also wurde in jedem einzelnen Fall ein ordentliches Einreise- und Einbürgerungsverfahren organisiert. Und bei allen einschlägigen Behörden und Stellen wurden nachprüfbare Vorgänge und Akten angelegt. Sie knüpften an die falschen Namen und Ausweise an, mit denen die zehn vom Westen angekommen waren. Sie erfanden die neuen Lebensgeschichten so, dass Eltern, Geschwister oder sonst enge Verwandte im Westen irgendwelcher Umstände halber nicht mehr am Leben waren, also für niemand mehr nachverfolgbar. Sie hatten für sie Arbeitsplätze in Großbetrieben und Krankenhäusern mit über 1 000 Werktätigen organisiert, wo Einzelne keine große Rolle spielten, und Wohnorte wie Cottbus, Eisenhüttenstadt, Schwedt, Dresden, Neubrandenburg, Senftenberg oder Hoyerswerda, weit weg vom Westen und von den Strecken des Transitverkehrs. Und sie drillten die Ex-Westler in Sprechweise, Alltagskultur und Umgangsgepflogenheiten für ihre neuen Lebensorte und Arbeitsplätze, bis sie sicher waren, sie würden kein Aufsehen erregen.
Harte Arbeit für die ganze Gruppe, Büffeln der neuen Legenden vom frühen Morgen an, tägliches Eintrichtern und Abprüfen, stures Wiederholen und noch einmal Wiederholen, bis sie hoffentlich ins Unterbewusstsein abgesackt waren. Dafür war abends in der Kellerbar Entspannung angesagt. Und ganz allmählich bekam Werner das Gefühl, diese verirrten Leute eingefangen und auf eine neue Spur gesetzt zu haben.
„Du musst dein neues Leben im Schlaf auswendig können, am besten du träumst davon“, sagte er irgendwann nachts zu Christine.
„Dazu müsstest du mich erstens mal schlafen lassen“, antwortete sie und rollte sich von ihm herunter. „Und zweitens bin ich mir nicht so sicher, ob es wirklich mein Traum ist, dieses neue Leben.“
Zu seiner Überraschung war sie ihm nach ein paar Tagen gefolgt, als er spätabends nach dem üblichen Absacker von der Kellerbar zu seinem Bungalow hinübergegangen war. Sie war wie selbstverständlich hinterhergekommen. Und er hatte sie ebenso selbstverständlich zu sich hereingelassen. Nicht ohne sich umzusehen. „Ich weiß selbst nicht, warum ich das tue“, hatte er gemurmelt und mit seinem schlechten Gewissen gekämpft. Distanz hatte ihm der Oberst für diese Operation eingeschärft, professionelle Distanz. Aber hier war bloße Nähe, pures Einverständnis, einfaches Einssein so wie Himmel und Erde oder Ein- und Ausatmen oder seine Hände in Christines Haaren. Es war strengstens verboten, sich mit Personen einzulassen, die Zielobjekte waren. Und wenn, dann nur zum Schein. Ja, so könnte es im Zweifel gehen, hatte er sich selbst beruhigt. Und für diesen Gedanken ein wenig geschämt. Auch andere Kollegen hatten mal irgendetwas mit irgendwem. Angeblich nur zum Schein.
„Es ist dir strengstens verboten, sich mit einer Person wie mir einzulassen“, hatte Christine aus seinem Kopf herausgelesen. Offenbar konnte sie das ebenso gut wie der Oberst. „Aber wären wir beide hier, wenn wir uns etwas verbieten lassen, das wir erstens unbedingt wollen und zweitens für richtig halten?“
„Ich schon, jedenfalls das eine“, hatte er erwidert. „Such dir aus, welches.“
„Ist doch klar. Was du willst, würdest du dir nehmen lassen. Aber für das Richtige würdest du bis zum Äußersten gehen. Nur: Was richtig ist, bestimmst nicht du, sondern die führenden Genossen. Meinst du, das war bei uns anders?“
So war sie, von Anfang an. Fing immer gleich Grundsatzdiskussionen an, auch in den unpassendsten Momenten. Hatte vor ihm in seinem Zimmer gestanden, ganz nah, wollte mit ihm schlafen und riskierte einen politischen Streit. Aber er hatte sie gestoppt, einfach auf den Mund geküsst und auf ihre fünf Sommersprossen. Dann war sie ruhig.
Sie kam auf ihm so leicht, wie sie in seine Arme gefallen war auf dem Ostbahnhof, und so frei und stark, dass sie zusammen abhoben und miteinander durch die Nacht flogen, tanzten, bis der Schlaf sie einholte und mit tausend Märchen umfing. Kein Traum von Christines neuer Legende darunter und auch nicht von Werners altem Leben.
Es war so in dieser Nacht. Und nicht nur in dieser. Werner wurde süchtig danach.
„Wer bist du?“
„Ich bin Anne Petersen. Alleinstehend. Meine Eltern waren Deutsche, haben aber aus beruflichen Gründen in Holland gelebt. Beide kamen bei einem Autounfall um, tragischerweise an dem Tag, als sie von Amsterdam nach Freiburg unterwegs waren, um nach Deutschland zurückzukehren. Damit nicht genug. Ein Jahr später ist meine Schwester an Leukämie erkrankt. Auch für sie gab es keine Rettung. Ich musste mich völlig neu orientieren. Da kam mir der Gedanke, in die DDR auszuwandern. Ich war schon immer fasziniert vom mutigen Kampf des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden und davon angetan, wie erfolgreich er sich aller Angriffe des Imperialismus erwehrte und wie solidarisch er sich an die Seite der revolutionären Bewegungen in aller Welt stellte …“
„Bestens. Aber du weißt, das meine ich nicht. Wer bist du wirklich, hier, nackt auf mir?“
„Ich bin vermutlich nicht deine erste Geliebte. Und auch nicht die Einzige, die du dazu gebracht hast, eine Verpflichtungserklärung als Inoffizielle Mitarbeiterin der Stasi zu unterschreiben.“
„Hör sofort damit auf. Du weißt genau …“
„Gut, dann bin ich nackt auf dir gelandet, weil ich aus dem Leck eines angeschlagenen Raumschiffs namens RAF herausgeschleudert wurde, das sich im Krieg der Welten rettungslos verirrt hat.“ Christine zögerte kurz. „Es hat seine Schwerverletzten als Ballast abgeworfen, um manövrierfähig zu bleiben.“
Wenn sie in den Nächten nicht tanzten und nicht flogen, redeten und stritten sie. Aber natürlich redeten sie auch tagsüber, ganz offiziell. Werner und seine Kollegen drehten sie durch die Mangel, Aussteigerin für Aussteiger, wieder und wieder, schöpften sie in Einzelverhören systematisch ab, bis nichts mehr herauszuquetschen war über ihr eigenes Vorleben und über die Zustände bei der RAF, Personen, Pläne, Logistik, Strukturen, bis sie einfach rein gar nichts mehr zu hören bekamen, was sie nicht längst wussten. Und sie verlangten Verpflichtungserklärungen, die weit über die üblichen hinausgingen. Abschwören allem, was sie in der BRD je politisch gedacht und getan hatten, ideologisch, theoretisch, praktisch, das mussten sie ohnehin. Im Gegenzug zu ihren Informations- und Verschwiegenheitspflichten sicherte Werner der Gruppe zu, dass sie sich – selbstverständlich unter strenger Kontrolle – regelmäßig treffen und austauschen konnte, solange sie das selbst wollte.
Natürlich wusste Werner auch über Christine Faller alias Anne Petersen Bescheid. Aus den Akten. 1950 in Schwäbisch Hall geboren, einzige Tochter (Arzt-Familie, unklare Nazi-Vergangenheit des Vaters), Jahrgangsbeste im Abi, geht 1968 nach Heidelberg, um Medizin und Psychologie zu studieren, schließt sich dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund SDS an (seit 24. Juni 1970 verboten), bis 1975 Aktivistin im Sozialistischen Patientenkollektiv SPK, in der „Roten Hilfe“ sowie im „Komitee gegen Folter an politischen Gefangenen in der BRD“. Nach Hungertod von Holger Meins, Stammheimer Prozess gegen Baader, Ensslin, Meinhof und Raspe und nach Freitod Ulrike Meinhofs am 9. Mai 1976, geht F. in die Illegalität.
Zweite RAF-Generation, im Besitz einer Schusswaffe. Aktiv in Recherche, Logistik und Zubringerdiensten (Kassiber-Transport, Ausspähung von Gebäuden und Personen, Wohnungsbeschaffung). Im April 77 wird Buback erschossen, Juli 77 Ponto. F. ist als Späherin an der Entführung und Ermordung von Hanns Martin Schleyer im September/Oktober 77 beteiligt. Seit Oktober 77 (sog. „Deutscher Herbst“, Mogadischu, „Selbstmorde“ in Stammheim, Erschießung Schleyer) wachsende Selbstzweifel, November 79 Banküberfall in Zürich mit Tod einer Unbeteiligten, F. steigt aus, wird 1980 für DDR-Einbürgerung avisiert.
Soweit die nackten Fakten aus den Akten, ganz anders als die nackte Christine. Werner fand auch folgenden Vermerk: „Die F. war an den Aktionen gegen Buback und Ponto nur indirekt beteiligt, ebenso an der Schleyer-Aktion. War im telefonischen Verbindungswesen eingesetzt.“
Irgendwie erleichterte es ihn, dass sich Christine während ihrer RAF-Zeit die Hände offenbar nicht schmutzig gemacht hatte, jedenfalls nicht selbst, dass kein Blut an ihnen zu kleben schien. Sonst hätte er diesen Händen seinen Körper nicht überlassen. Es hätte ihm etwas ausgemacht, obwohl er nicht genau wusste, warum. Aber offenbar hatte sie den bewaffneten Kampf mit ihrem Kopf geführt, nicht mit den Händen, nicht mit ihrer Pistole. Dieser Kopf musste viel über diese Zeit wissen, wenn nicht alles.
„Warum hast du damit aufgehört? Die andern machen doch weiter?“
Werner löcherte Christine oft mit solchen Fragen. Nicht in den Vernehmungen, sondern nachts, wenn sie zusammen lagen, wenn ihre Gegenwart so hautnah war, und ihre Vergangenheit so fremd. Diese andere Welt, aus der sie ihm in den Schoß gefallen war.
„Warum hörst du nicht auf, warum machst du weiter?“, kam sofort die Gegenfrage.
„Was meinst du damit? Etwa die Staatssicherheit?“ Werner konnte nur lachen. „Hör mal, wir sind Schutz und Schild unseres sozialistischen Staates. Das ist doch was völlig anderes. Das kannst du doch gar nicht mit dem Unsinn vergleichen, der euch umgetrieben hat.“
„Unsinn? Wir haben die Napalm-Bomben in Vietnam gesehen. Die brennenden Reisbauern und Kinder. Und irgendwann hat es Klick gemacht. Wir haben begriffen, warum das alles passiert. Irgendwann haben wir die Unmenschlichkeit des US-Imperialismus durchschaut, als zwangsläufiges Resultat des von kapitalistischer Profitgier getriebenen Neokolonialismus, nicht nur in Vietnam, auch anderswo. Wir haben uns mit Che Guevara, den Befreiungsbewegungen der Dritten Welt und mit den Black Panther in den USA solidarisiert. Und wir haben unsere eigenen Verhältnisse als scheinheiliges Ausbeutersystem entlarvt, das sich als liberale Demokratie tarnt, in dem aber in Wirklichkeit die alte Nazi-Generation ungeniert weiterregiert. Wir haben kapiert, dass sie die jeweils nächste junge Generation mit Taschengeld, Reitstunden und Kaufhäusern korrumpiert, während im Kongo Säuglinge verhungern und in den Minen Kinder sterben. Und dass die Herrschenden in den Metropolen die Jugend in den Schulen und Universitäten dazu abrichtet, all das brav weiterzumachen, und zwar scheinbar freiwillig.“
Wenn sie so redete, färbte sich ihre helle Kopfhaut dunkelrosa ein. „Ich habe meinen Papa, meinen Über-Vater, zuhause zur Rede gestellt und ihn gefragt, was er unternommen hat gegen die Faschisten und was er gemacht hat im Krieg. Meinst du, darüber wurde ein Wort verloren bei uns zuhause? Das hat unsere Generation krank gemacht. Dagegen sind wir aufgestanden. Macht kaputt, was euch kaputt macht. Und dann, was kam als Antwort? Hetzkampagnen, Polizeiknüppel, Gerichtsurteile und mörderische Todesschüsse. Dieser Staat hat uns den Krieg erklärt. Also musste es kommen, wie es gekommen ist und wie es immer kommt im Krieg. Unsinn? Alles Unsinn?“ Christine hielt kurz inne. „Und du? Was ist mit dir? Du hast doch leicht herumreden in deinem sogenannten Arbeiter- und Bauernstaat. Du bist vermutlich bei euch immer nur mitmarschiert? Hast alles brav mitgemacht. Oder mit dir machen lassen. Genau wie unsere Eltern. Im Stechschritt dem Sozialismus entgegen. Und die passenden Parolen haben Funktionäre an Fassaden gemalt.“
Wenn Christine so in Fahrt kam, wurde ihr Mädchenkörper hart und steif. Werner konnte ihre Knochen spüren. Dann hatte er das Gefühl, dass die Brücke zwischen ihnen brüchig wurde. Grundsatzdiskussion, Einsturzgefahr.
Ob sie so auch ihren Vater angegangen war? Erstaunlicherweise konnte ihr Reden seinem Gefühl nichts anhaben. Diesem Gefühl, das ihn auf dem Berliner Ostbahnhof überfallen hatte. Dem er sich ergeben hatte. Und das seither übermächtig gewachsen war. Über diese Brücke konnte er trotz allem gehen.
„Vielleicht solltest du ein klein wenig vorsichtiger sein“, ermahnte er sie. „Erstens, was weißt du schon von unsereins, von mir und meinen Eltern. Und zweitens beschützen dich im Moment genau diese Funktionäre. Und dieser brave sozialistische Mitmarschierer hier in deinem Bett. Wir sind es, die dich davor bewahren, in einem westdeutschen Gefängnis zu schmoren. So viel zu Sinn oder Unsinn dessen, was wir beide tun. Keine Ahnung, was in deinem Kopf vor sich gegangen ist. Und vielleicht immer noch geht. Fakt ist, es ist unser realer Sozialismus, der dich und deinesgleichen schützt. Als Bollwerk gegen den Imperialismus, das standhält, hinter dem du dich verstecken kannst. Das könnte dir vielleicht zu denken geben. Zum Beispiel über den Unterschied zwischen einem ernsthaften Kampf für eine andere, eine bessere Welt und dem aufregenden Ausflug auf einen Abenteuerspielplatz, wo jeder herumtoben kann, wie er Lust hat.“
Ihr Streit war vorerst erschöpft. Er schob ihr ein Kissen unter den Kopf und nahm sie in den Arm. „Ich habe dich im Schlaf weinen gehört, Christine. Und schreien.“ Seine Stimme klang unvermittelt so sanft, dass er sie selbst kaum wiedererkannte. Er streichelte ein wenig unbeholfen ihre Wange und küsste sie vorsichtig. „Ich weiß, du schämst dich. Du denkst, du wärst eine Versagerin. Eine Revolutionärin, die versagt hat.“
Sie schwieg. „Aber du konntest nicht versagen, weil es keine Revolution gab. Nur so etwas wie einen Amoklauf teils verzweifelter, teils irrsinniger Menschen. Jede Revolution braucht eine revolutionäre Situation. Und die war nie da. Nie. Nicht bei euch. Die habt ihr nur herbeihalluziniert, wie eine Fata Morgana in der Wüste.“
Er spürte ihren Kopf an seinem Hals und ihren Atem. „Weißt du, was ich denke?“ Er streichelte ihren Rücken. „Dein Schamgefühl, das sind Entzugserscheinungen. Ihr wart wie auf Droge. Und du bist dabei, dich zu entwöhnen.“
Werner hatte nie Psychologie studiert. Aber wenn er so redete, entspannte sich der Mädchenkörper in seinen Armen. Und die Knochen verschwanden wieder in schmiegsamer, zarter Haut.
„Glotz nicht so romantisch“, sagte sie.
Und Werner: „Ach komm mir nicht mit Brecht.“
So redeten sie. Und tanzten. Und flogen. Und konnten voneinander nicht lassen.
Auch später nicht, als Christine längst ganz ordentlich in die reguläre Aufnahmeprozedur der DDR für Einreisewillige eingeschleust worden war und im Zentralen Aufnahmeheim ZAH in Röntgental ihren Antrag gestellt hatte: „Hiermit stelle ich den Antrag auf Aufnahme in der DDR und Erteilung der Staatsbürgerschaft der DDR. Unterschrift: Anne Petersen“. Weder Christine noch Werner ahnten in diesem Moment, wie bald sie wieder auf Objekt „74“ zugreifen müssten.
Zunächst lief alles nach Plan. Anknüpfend an ihr Heidelberger Medizinstudium brachte Werner die DDR-Bürgerin Anne Petersen als Hilfskrankenschwester am Bezirkskrankenhaus Hoyerswerda, dann an der Medizinischen Akademie Erfurt unter. Zugleich sorgte er dafür, dass sie sich an der Medizinischen Fachschule in Weimar zur Krankenschwester weiterbilden konnte. Im Unterschied zu den meisten anderen in der Gruppe tat sie sich schwer in ihrer neuen Umgebung. Vor allem hatte sie es nach der jahrelangen Existenz im Untergrund und dem permanenten Fahndungsdruck verlernt, unbefangen auf Menschen zuzugehen und sich zwanglos einen neuen Freundeskreis aufzubauen.
Umso enger wurde ihr Verhältnis zu Werner. Und Werner war das lieb, in jeder Beziehung. Er baute sie zur „zentralen Verbindungsperson der Gruppe Stern II“ auf. Ein genialer Schachzug, der es ihm erlaubte, sich weiterhin mit ihr zu treffen, nach Belieben, immer im Dienst der „Operation Stern II“, ohne dass es irgendwem auffiel, schon gar nicht im MfS-Apparat selbst. Die DDR-Bürgerin Anne Petersen war nun unter dem Decknamen „Marga Müller“ eine „IM Sicherheit“, der Knotenpunkt im Netz der Gruppe mit der Aufgabe, regelmäßig die Treffs der Gruppe zu organisieren und fleißig Berichte an die Stasi zu schreiben. Erfahrungen im „Verbindungswesen“ hatte sie ja.
Allerdings wurde sie ihre Hemmungen nicht los. Die eigenen Leute zu bespitzeln, fiel ihr schwer, vor allem ihre zwei Freundinnen, mit denen sie gemeinsam in Ostberlin angekommen war. Nachts stritt sie sich darüber mit Werner, obwohl sie wusste, dass ihre Wohnung und ihr Telefon wie die von allen Aussteigern abgehört wurden.
„Was für ein Scheiß-Spitzelsystem“, schimpfte sie ungeniert. „Soll das die neue solidarische Gesellschaft sein? Sind das die neuen freien Menschen? Jeder verpetzt jeden, keiner traut irgendwem? Geht es so zu bei euch? Das haben wir immerhin hingekriegt. Von uns redet keiner. Oder es ist Verrat.“
Solche Sprüche musste Werner sich nicht nur anhören, sondern in den Abhörprotokollen auch noch lesen. Und er hatte in Dienstbesprechungen zunehmend Probleme, sie in Schutz zu nehmen, nicht nur wegen derartiger Äußerungen, auch weil ihre Berichte häufig als „zu ungenau“ oder „zu oberflächlich“ eingestuft wurden. Man konnte es förmlich riechen, dass sie Gott und die Welt im Detail beschrieb, Arbeitskolleginnen, Nachbarn, Leute aus der Sportbetriebsgruppe. Nur über das, was die Interna der Gruppe Stern II wirklich betraf und sich nicht in irgendwelchen Abhörprotokollen niederschlug, erfuhr man erstaunlich wenig. Dank seiner Cleverness bekam Werner es immer wieder hingebogen, wurde von Mal zu Mal besser darin, Christines privilegiertes Vierfachleben zu verteidigen: das der ehemaligen RAF-Terroristin Christine Faller, das der DDR-Bürgerin Anne Petersen und das der IM „Marga Müller“. Vor allem aber das seiner Geliebten.
Bis er vor drei Jahren umgehend zu Oberst H. gerufen wurde.
„Brause, Alarmstufe eins. Die Faller ist aufgeflogen. Man hat sie in Westdeutschland erkannt. Ist gesichert. KGB-Quelle. Wir müssen reagieren. Sofort.“
Werner war die Brisanz dieser Nachricht klar.
Honecker versteckt untergetauchte Terroristen-Mörderbande bei sich. Der Oberst musste ihm nicht erklären, was eine solche Schlagzeile in der Bild-Zeitung für das gerade erst auf neue Grundlagen gestellte Verhältnis zu Westdeutschland bedeutete. Für die Entspannungs- und Normalisierungspolitik. Und für die Stabilität und Akzeptanz der DDR in der ganzen Welt. Sie mussten Christine verschwinden lassen. Sofort, endgültig und ohne Spuren zu hinterlassen.
Er musste das tun. Allein.