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Zweimal begraben
ОглавлениеSteffi hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Der gestrige Streit steckte ihr noch in den Knochen.
Die Beziehung zu Dominic hatte sich vor Jahren irgendwie ergeben. Auch wenn er sich bei allen anderen wenig Mühe gab, bei Steffi hatte er sich immer von seiner besten Seite gezeigt. Natürlich war ihr die Kritik ihrer Familie und ihrer Freunde an Dominic aufgefallen, doch sie versuchte stets, sich bei der Einschätzung ihrer Mitmenschen von niemandem beeinflussen zu lassen. So hatte sie sich auch über Josef noch kein Urteil gebildet. Ja, er hatte sich bei der Hochzeit eindeutig danebenbenommen, das musste sie zugeben. Aber lustig war er! Und was hatte er schon groß getan? Etikette, Höflichkeitsfloskeln, die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der gutbürgerlichen Gesellschaft, all das war ihr schon immer auf die Nerven gegangen. Vielleicht war das auch ein wesentlicher Grund, warum sie mit Dominic zusammen war. Der scherte sich einen Dreck um diese Dinge.
Ihre Mutter wunderte sich sehr, als ihr Steffi am nächsten Morgen in der Küche begegnete. Margarethe und Max Rett waren erst spät am Abend von der Hochzeit zurückgekehrt und hatten nicht bemerkt, dass Steffi ihr Zimmer über Nacht wieder bezogen hatte. Die Beziehung zwischen Max und seiner Schwester Sophie war nicht gerade die beste. In der Familie Rett wurde Sophie Knie wegen ihrer aufgespritzten Lippen spöttisch Tante Botox genannt. Max hatte diesen Namen erfunden, als er einmal seine Schwester im Profil betrachtet hatte. Als jüngste Tochter nach drei Söhnen war Sophie das Zentrum der Aufmerksamkeit beider Eltern gewesen. Bereits in ihrer Kindheit musste alles nach ihrem Kopf gehen. Ihre erste Beziehung mit Didier de Montfalcon zerbrach, nachdem sie „ungewollt“ schwanger geworden war. Als Mitglied der Adelsfamilie Montfalcon wollte Didier keine Kinder mit einer Bürgerlichen, und das hatte er auch am Beginn ihrer Liaison klar zum Ausdruck gebracht. Er riet ihr, das Kind abtreiben zu lassen, doch Sophie hatte schon zu lange gezögert. Schließlich wollte sie Didier unter Druck setzen, doch da war sie an den Falschen geraten. Er teilte ihr kühl lächelnd mit, dass sie gerne die Gerichte bemühen könne, doch solle sie wissen, dass erstens ein länderübergreifendes Gerichtsverfahren seine Zeit brauchen würde und daher sehr kostspielig wäre, zweitens aber würde er alle Hebel in Bewegung setzen, um sich seiner Verantwortung zu entziehen. Sie könne davon ausgehen, dass der französische Hochadel noch immer einen bedeutenden Einfluss habe. Sophie ließ sich rechtlich beraten, sah aber dann ein, dass sie chancenlos war. Das einzige, was der jungen Sophie Rett nach ihrer Beziehung mit Didier blieb, war die Schande eines unehelichen Kindes. Der erste Versuch, über einen Mann den erwünschten sozialen Aufstieg zu schaffen, war somit gescheitert.
Was nun? Sie musste sich gehörig anstrengen, um sich den Industriellen Adolf Knie zu angeln, obwohl ihr überaus attraktives Aussehen zu ihren Gunsten sprach. Adolf war bedeutend älter als sie und alles andere als ein hübscher Mensch, dafür aber sehr vermögend und erfolgreich. In der Anfangszeit ihrer Beziehung verschwieg sie ihm die Existenz des kleinen Arthur. Erst nach und nach rückte sie mit der Wahrheit heraus, doch da war sie bereits ein zweites Mal schwanger. Adolf Knie war ein aufrichtiger und fairer Mann. Ihm gefiel die junge Sophie und er hatte Mitleid mit ihr. Er akzeptierte daher die Tatsache, dass sie einen unehelichen Sohn in die Beziehung mitbrachte und machte ihr auf Knien einen Antrag. Aber obwohl Aldo, wie er nach dem Krieg genannt wurde, Arthur gern hatte, stellte sich nie die Frage einer Adoption. Seit Sophie den Namen Knie trug, behandelte sie ihre Geschwister wie Untergebene.
***
Max Rett atmete erleichtert auf, als er hörte, dass sich Steffi von Dominic trennen wollte. Er hatte schon befürchtet, dass demnächst ein kleiner Kickboxerenkel das Licht der Welt erblicken würde. Um den guten Kontakt zu ihrer Tochter nicht zu gefährden, hatten die Eltern nie ein schlechtes Wort über Dominic verloren, obwohl sich Max stets heftig auf die Zunge beißen musste, um mit bissigen Bemerkungen hintanzuhalten, insbesondere, wenn Dominic begann, seine reaktionären Parolen vom Stapel zu lassen. Auch an jenem Morgen hielten sich Max und Margarethe zurück. Das zarte Pflänzchen der Hoffnung, dass diese unselige Beziehung ihr Ende finden sollte, wollten sie nicht durch irgendwelche Kommentare, die vielleicht ein Umdenken auslösen hätten können, gefährden. Steffi war erstaunlich gefasst. Es war, als ob in ihrem Kopf ein Schalter umgelegt worden wäre. Mit einem Schlag war ihr klar, dass sie sieben Jahre ihres Lebens vergeudet hatte. Diesen Irrtum galt es nun zu korrigieren. Auf eine Konfrontation mit Dominic hatte sie keine Lust. Abgesehen davon wollte sie sich einer weiteren für sie inzwischen sinnlosen Debatte mit ihm nicht stellen. Ihr Entschluss stand fest, die Sache war zu Ende. Sie kannte Dominic wohl gut genug und wusste, dass er sich gegen eine Lösung der Beziehung mit allen Mitteln wehren würde. Daher ermächtige sie ihren Vater in einem kurzen Schreiben, ihre Sachen bei Dominic abzuholen.
Während ihre Eltern sich nun auf den Weg machten, rief sie ihren Cousin Heinrich an, um zu erfahren, wo man Josef besuchen könne. Doch es lief nur das Band. Aber das war eigentlich auch egal, denn selbst, wenn Josefs Kieferverletzung nicht in Heinrichs Fach passte, lag er sicher bei diesem auf der Internen Abteilung. Sie würde ihn daher leicht finden.
Sie kam gerade noch rechtzeitig. Josef stand in seinem Spitalsnachthemd, das am Rücken weit geöffnet war, vor seinem Kasten und wollte sich gerade anziehen. Kurzzeitig war er irritiert, bis er erkannte, wer ihn da besuchen kam. Jetzt, wo Steffi normale Alltagskleidung trug, gefiel sie ihm noch besser als am Tag davor. Sie war klein und sehr zart und wirkte dennoch selbstbewusst. Ihr Gesicht wurde von einer dichten Mähne blonder Haare umrahmt, und unter den gerade geformten Augenbrauen blickte sie fast streng. Josef ließ sich dadurch nicht beirren und grinste sie mit seiner Zahnlücke an.
***
Es waren nur vier Monate vergangen, da betrat Josef erneut das große Barockhaus. Sein oberes Gebiss zierte nun ein schönes neues Implantat. In der Zwischenzeit hatte er einige Familienmitglieder von Arthur näher kennengelernt. An seiner Seite schritt Steffi die Steinstufen zur Rundbogentüre hinauf. Dass Steffi Dominic verlassen hatte, wurde in der Familie Knie allgemein mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Der Schreck war umso größer, als man erfuhr, wer nun der neue Mann an ihrer Seite war. „Kann sich dieses kleine dumme Ding nicht einen ordentlichen Freund aussuchen?“, hatte Sophie Knie zu ihrer Tochter gesagt, nachdem sie Steffi und Josef in der Stadt einmal zufällig begegnet waren.
Am Stephanitag nach Weihnachten war es Tradition bei den Knies, dass die Großfamilie zu einem opulenten Festessen zusammentraf. Nur seiner frischen Verliebtheit und der Freundschaft zu Arthur war es zu verdanken, dass Josef sich hatte überreden lassen, dieses Haus erneut zu betreten. Er bereute es aber sofort, als er erfuhr, dass Arthur ohne Entschuldigung dem Fest ferngeblieben war. Genervt ließ er den Smalltalk über sich ergehen. Um sich abzulenken, konzentrierte er sich auf seinen Teller. Allmählich dämmerte es ihm, dass er hier fehl am Platz war. Doch er hatte dazugelernt und verzichtete daher darauf, sich mit launigen Einlagen in Szene zu setzen. Eines musste er zugeben: Bei Knies gab es exzellentes Essen. Bei Erikas Hochzeit war er ja nicht in den Genuss der Köstlichkeiten gekommen. Aber so missmutig Josef auch war, er ließ sich nicht davon abhalten, jede aufgetragene Speise mit seiner kleinen roten Kamera zu fotografieren.
Es machte ihn etwas nervös, dass er von jedem Gang nur einen kleinen Happen bekam. Gerade wollte er die Haushälterin, die heute gemeinsam mit einem eigens engagierten Kellner servieren musste, in seiner üblichen direkten Art anweisen, ihm einen Nachschlag zu verschaffen, da hatte er schon den nächsten Teller vor der Nase.
Gespeist wurde in dem großen Salon im Erdgeschoß. Das Klavier war zugeklappt und in das linke, hintere Eck verfrachtet worden. In der Mitte des Raumes waren mehrere Tische zu einer langen Tafel zusammengestellt. Das wertvolle Familiensilber war samt dem Sèvres-Porzellan aufgedeckt. Mitten im dritten Gang kippte dann Aldo Knie vornüber. Mit einem lauten Knall donnerte sein kahler Schädel auf den vor ihm liegenden Teller. Die Scherben des Porzellans zerschnitten ihm das Gesicht und das Wildgulasch spritzte durch die Gegend. Heinrich sprang auf und zog den leblosen Körper seines Onkels auf den Täbris herunter. Die klaffende Wunde auf der Stirn schien kaum zu bluten. Heinrich untersuchte Aldo und begann dann gleich mit Wiederbelebungsversuchen. Dieses Mal dauerte es viele bange Minuten, bis der Notarzt eintraf. Josef hätte gerne Fotos gemacht, aber dass die Lage ernst war, war selbst ihm bewusst, und so blieb die Kamera in der Hosentasche.
Der Notarzt packte seinen Defibrillator aus, doch Aldos Zustand ließ sich nicht stabilisieren. Mehrmals bäumte sich der leblose Oberkörper durch die Elektroschocks auf, doch das Herz war nicht wieder in Gang zu bringen. Nach dem Eintreffen der Rettung wurde Aldo sofort auf eine Bahre verfrachtet und aus dem Haus getragen. Heinrich verließ mit dem Notarzt das Haus und die betretene Gesellschaft blieb zurück. Erika und Reinhold kümmerten sich um Frau Knie, die weiß wie die Wand auf einem seitlich stehenden Sofa Platz genommen hatte. Nach einigen geflüsterten Worten standen die drei auf und verließen den Raum.
Im Krankenhaus konnte nur noch Aldos Tod festgestellt werden. Ein Aneurysma in seinem Hirn war gerissen, er hatte spontan das Bewusstsein verloren und war nach wenigen Sekunden durch die starke Blutung verstorben.
Arthur war zu diesem Zeitpunkt auf seiner ersten großen Tournee unterwegs. Einige Wochen nach der Hochzeit seiner Schwester hatte er in Wien durch Mischa Sisi Braunschweiger kennengelernt. Die aufstrebende Sängerin suchte für ihre neue Band geeignete Musiker und ein guter Schlagzeuger fehlte noch. Arthur und Sisi waren beide besonders attraktive Menschen mit besonderen Eigenschaften; sie waren einander auf den ersten Blick sympathisch. Arthur wurde wenige Tage später zu einer Probe eingeladen und trommelte sich in die Herzen der Bandmitglieder. Mischa wurde als Tontechniker engagiert und kümmerte sich bald auch um organisatorische Belange der Gruppe. Sisi und Arthur verstanden sich prächtig, und Arthur fühlte sich zum ersten Mal in seinem Leben als der wahrgenommen, der er selbst zu sein glaubte.
Sisi Braunschweiger und Band waren ein Erfolgsgespann. Arthur war zum ersten Mal seit Monaten, vielleicht überhaupt zum ersten Mal in seinem Leben, glücklich. Aufgenommen in der Familie der Bandmitglieder war er befreit von dem Spießrutenlauf, dem er sonst ausgesetzt war. Kein wütender Trafikant, der „Guten Tag Herr ⅎ#☠ blöder ʞ†☹Ȋ!“, auf sich bezog. Keine verwunderte Frau an der Wursttheke im Supermarkt, der vor Angst fast die Gabel aus der Hand fiel, wenn der sympathisch wirkende junge Mann seine Bestellung aufgab: „Bitte eine Semmel mit – #☹ʞ☠ⅎ, Frau, †¿#☠☠#!, aber mit Extrawurst – ☹☠†#ⅎⅎ, blöde ¿ⅎ#☠ⅎ!“
Nach dem Konzert zog ihn Mischa zur Seite. Arthur sah das besorgte Gesicht seines Freundes, konnte sich allerdings keinen Reim darauf machen. Arthur hatte zwar ein Handy, verwendete es aber die meiste Zeit nicht und hatte es daher auch jetzt auf lautlos gestellt. Josef hatte mehrfach erfolglos versucht, Arthur telefonisch zu erreichen. Um ihm dennoch möglichst rasch die traurige Nachricht zu übermitteln, rief Josef Mischa an. Arthur war bestürzt über Aldos Tod. Sie waren einander zwar nie besonders nahegestanden, doch anders als zu seiner Mutter und seiner Halbschwester hatte er zu Aldo stets ein unbelastetes Verhältnis gehabt. Mischa fasste Arthur bei den Schultern und schilderte, was vorgefallen war. Arthur schluckte hart, als Mischa ausgeredet hatte. Doch seine Augen blieben trocken. Der Rausch des erfolgreichen Konzerts und das Hochgefühl, das er empfunden hatte, während er am Schlagzeug saß, waren mit einem Schlag dahin. Arthur überlegte einen kurzen Augenblick, ob er sich mit dem Auto auf den Weg nach Hause machen sollte, aber er konnte sich nicht entschließen. Zu groß waren die Enttäuschung und Entrüstung über seine Mutter und Erika. Nach seiner missglückten Rede bei der Hochzeit hatte er zu viel an Demütigungen aus dieser Ecke über sich ergehen lassen müssen. Trotzdem hätte er in dieser Situation einen Anruf von einer der beiden erwartet. Doch das Telefon blieb stumm, und nach einigen Stunden verwarf er dann endgültig den Gedanken, nach Graz zu fahren.
Das Telefon blieb auch in den nächsten Tagen stumm. Nicht einmal eine Parte wurde ihm zugesandt. Josef, der die Traueranzeige bei Steffi gesehen hatte, war empört, dass Arthur darauf nicht genannt war. Sein Freund wurde seit Erikas Hochzeit von der Familie ausgegrenzt. Rücksichtsvoll verschwieg Josef, dass Arthurs Name auf der Parte fehlte. Offenbar hatte man Angst, dass dieser beim Begräbnis erneut die Familie blamieren könnte. Daher erhielt er weder eine Nachricht noch eine offizielle Mitteilung, wann und wo nun das Begräbnis von Aldo stattfinden sollte.
Die Gefahr einer erneuten peinlichen Entgleisung Arthurs beim Begräbnis war zumindest die offizielle Erklärung von Sophie Knie, warum ihr Sohn nicht eingeladen war. Der eigentliche Grund war ein ganz anderer. Nachdem Sophie den ersten Schock über Aldos Tod überwunden hatte, ging sie daran, mit ihrer Tochter seine Unterlagen zu durchstöbern. Zu beider Entsetzen konnten sie unter den Papieren kein Testament finden. Zuletzt fand sich im Safe eine handschriftliche Notiz von Aldo, auf der in schöner Kurrentschrift zu lesen stand, dass sie sich im Falle seines Ablebens mit seinem Freund und Notar, Dr. Gabriel Hörtnagel, in Verbindung setzen sollten. Dieser Aufforderung folgte Sophie prompt am nächsten Tag und tauchte nach einem kurzen Telefonat in Begleitung von Erika in der Kanzlei auf. Dr. Hörtnagel mochte Sophie nicht besonders, denn er traute ihr nicht über den Weg. Obwohl sich die beiden seit Jahrzehnten kannten, siezten sie einander. Dr. Hörtnagel war trotzdem stets auf höchste Korrektheit und Freundlichkeit bedacht. Er informierte Sophie, dass das offizielle Erbverfahren erst in einigen Tagen gestartet werden könne, da er erst durch das Verlassenschaftsgericht mit der Verwaltung des Nachlasses beauftragt werden müsse. Als Freund und Rechtsanwalt des verstorbenen Aldo könne er ihr allerdings mitteilen, dass ein Testament existiere. Den vollen Inhalt könne er noch nicht darlegen, doch so viel könne er sagen, dass Aldo darin verfügte, dass sein Besitz zwischen Sophie, Erika und Arthur aufgeteilt werden sollte.
Sophies Empörung war klar auf ihrem Gesicht abzulesen. Das konnte wohl nicht wahr sein, dachte sie, der alte Depp hatte ihr schönes Geld ihrem missratenen Sohn vererbt! Im nächsten Augenblick hatte sie sich jedoch wieder im Griff. Sie war zu klug und zu durchtrieben, um in der Kanzlei von Dr. Hörtnagel einen Skandal zu provozieren. In ungewohnter Schärfe schnitt sie Erika das Wort ab, die eben begonnen hatte, sich über diese unerhörte Nachricht zu echauffieren. Solange sie nicht alle Möglichkeiten geprüft hatte, ob es nicht einen Ausweg aus dieser unangenehmen Situation gebe, durfte Arthur nichts von dem Testament wissen. Überhaupt war es wohl das Beste, wenn er erst gar nicht in Graz auftauchen würde.
***
Es war Josef, der eine Lösung für die vertrackte Situation fand, die dazu führte, dass Aldo Knie gleich zweimal begraben wurde. Nachdem er sich bei Max Rett über alle Einzelheiten des Begräbnisses informiert hatte, machte er sich auf den Weg zum Friedhof. Die Totengräber spürte er nach wenigen Minuten in dem nahegelegenen Gasthaus auf. Durch seine umgängliche Art hatte Josef leichtes Spiel. Bei einigen Gläsern Wein wurden die wesentlichen Dinge geregelt, und die vier schwarz gekleideten Herren hätten fast das nächste Begräbnis versäumt, da man mit Josef seinen Spaß hatte.
Nachdem die Totengräber wieder ihrer Arbeit nachgegangen waren und Josef im Gasthaus alleine zurückgelassen hatten, suchte dieser den Priester auf, der die Einsegnung von Aldo Knie vornehmen sollte. Pater Severin war schon ein deutlich härterer Brocken, aber nach einer Stunde intensiven Gesprächs und zwei Flaschen Messwein hatte Josef auch den Geistlichen so weit. Nun mussten noch Blumen und die Musik organisiert werden. Dafür war Steffi zuständig, er konnte sich doch nicht um alles kümmern. Dass Arthur verlässlich am Tag des Begräbnisses in Graz auftauchen würde, war Mischas Aufgabe, aber auf den konnte man sich immer verlassen.
Trotzdem war diese Aufgabe schwieriger als gedacht. Mischa benötigte mehr als eine Stunde, bis er Arthur überredet hatte, nach Graz zu fahren, um Aldo die letzte Ehre zu erweisen. Durch Josef war Mischa über den Zeitablauf des offiziellen Begräbnisses informiert. Er musste Arthur hoch und heilig versprechen, dass sie am Friedhof erst auftauchen würden, nachdem die letzten Gäste das Grab längst verlassen hatten. Dann wollte Arthur alleine von Aldo am offenen Grab Abschied nehmen. Doch es sollte ganz anders kommen.
Als Arthur mit Mischa die Aufbahrungshalle betrat und dort Aldos Sarg sah, wollte er auf der Stelle kehrt machen, denn er dachte, seine Familie würde jeden Moment erscheinen. Doch Mischa beruhigte ihn und klärte mit wenigen Worten die Situation auf.
Arthur war wirklich sehr gerührt. Alle seine Freunde waren bei dem durch Josef arrangierten Begräbnis zugegen. Nachdem die offiziellen Gäste sich zum Leichenschmaus begeben hatten, wurde der Sarg von den Totengräbern wieder nach oben gezogen. Steffi und Josef waren nach dem Begräbnis aus dem langen Trauerzug ausgeschert und über die Straße und den vorderen Eingang des Friedhofs zur Grabstelle zurückgekehrt. Der protzige Eichensarg war bereits geborgen, als die beiden eintrafen. Josef half tatkräftig mit, den Sarg wieder auf das mit schwarzem Stoff verzierte Wägelchen zu verfrachten und zurück in die Aufbahrungshalle zu transportieren. Dort wurde der Sarg ein zweites Mal für die Verabschiedung aufgestellt und mit Blumen verziert. Sisi Braunschweiger sang a cappella eine Ballade aus der aktuellen CD, während Arthur die Halle betrat. Er blieb regungslos mitten im Raum stehen bis die Musik verhallt war. Dann, vielleicht eine Minute später, verließ ihn die Anspannung, und er hatte sich wieder im Griff. Wie selbstverständlich ging er auf das Rednerpult zu, stellte sich vor die kleine Trauergemeinde und begann mit seiner Rede. Kein Zucken durchfuhr seinen Körper, keine Kraftausdrücke sprudelten ungewollt aus seinem Mund. Es war eine schöne Rede, in der er auf würdige Art und mit fester Stimme von Aldo Abschied nahm. Alle waren von der Situation so ergriffen, dass niemandem das Fehlen des spastischen Zuckens und der hervorgestoßenen Schimpfworte auffiel. Nur Mischa blickte aufmerksam auf seinen Freund. Arthur sah nicht nur blendend aus, sondern war auch ein hervorragender Redner.
Nach der Verabschiedung in der Aufbahrungshalle wurde der Leichnam von Aldo Knie auf den Friedhof gekarrt und der Sarg ein zweites Mal in das dunkle Erdreich hinuntergelassen. Letzte Abschiedsworte wurden gesprochen, die Personen der versammelten Trauergesellschaft schritten einzeln über den groben Holzbalken, der zum offenen Grab führte und warfen jeder eine rote Rose auf den Sarg und ein Schäuflein Erde hinterdrein. Sisi Braunschweiger musste sich danach vor lauter Rührung gleich eine Zigarette anzünden und nahm einen tiefen Zug, bevor sie Arthur in die Arme schloss.
Während die feine Grazer Gesellschaft im Gasthaus Erzherzog Johann den Leichenschmaus einnahm, fuhren Arthur und seine Freunde zu einer Buschenschank auf den nahegelegenen Ruckerlberg. Einige Zeit, bis es Josef zu eng wurde, saß Arthur neben ihm auf der Bank und nahm den Wein in kleinen Schlucken zu sich. Die Rührung und die mehrfachen Dankesbekundungen waren Josef bald zu viel, und er stand auf, um sich um Wein zu kümmern. Mit der zunehmenden Menge an Alkohol löste sich die gedrückte Stimmung ein wenig, und die Zusammenkunft endete schließlich in einem ausgewachsenen Besäufnis.
Obwohl Arthur weder eingeladen noch von seinen Verwandten über Aldos Tod informiert worden war, mokierten sich Sophie und Erika über seine Abwesenheit. Sie fanden starke Zustimmung unter den Familienmitgliedern, denn zu diesem Zeitpunkt war niemand über die wahren Hintergründe von Arthurs Fernbleiben informiert.
***
Viele Nachmittage saß Sophie Rett mit dem jungen Rechtsanwalt Steinbeißer, der sich nach Josefs Schlägerei mit Dominic Sabrinović hervorgetan hatte, zusammen und erörterte die rechtlichen Möglichkeiten. Wie sich in weiterer Folge herausstellte, hatte Aldo in seinem Testament verfügt, dass seine Frau und seine Tochter lediglich mit ihren Pflichtteilen bedacht werden sollten. Den Rest seines Vermögens, fünfzig Prozent, vermachte er Arthur. Den Grund dieser letzten Willensentscheidung hatte er nicht schriftlich niedergelegt. Doch Dr. Hörtnagel wusste, dass Aldo sein Vermögen letztlich zu gleichen Teilen an Arthur und Erika vermacht wissen wollte. Nur so konnte verhindert werden, dass Sophie Arthur mit einem Trick von der Erbfolge ausschloss. Der alte Aldo war vielleicht kein besonders warmherziger Mensch gewesen, aber er war ein Gentleman, der sein Leben stets nach dem Prinzip der Fairness gelebt hatte.
Sophie und Erika waren entsetzt und wütend zugleich. Doch so leicht wollte Sophie das Spiel nicht aufgeben. Sie war sicher, dass Arthur von dem Testament nichts wusste. Irgendwie musste man ihn dazu bringen, für ein „großzügiges“ finanzielles Angebot einen generellen Erbverzicht zu unterzeichnen. Sie wusste Arthurs Verhalten richtig einzuschätzen. Ihrem Sohn war Geld nie wichtig gewesen, abgesehen davon wusste sie, wie tief verletzt Arthur sein konnte und dass er nach Streitigkeiten üblicherweise in eine lange Trotzphase eintrat. Es gab daher durchaus einen Hoffnungsschimmer, ihn zur Unterzeichnung eines Erbverzichts zu überreden, man musste es nur geschickt einfädeln.
Mag. Steinbeißer wurde damit beauftragt, mit Arthur Kontakt aufzunehmen, um ihm ein Angebot zu unterbreiten. Arthur musste damit rechnen, dass Aldo ihn in seinem Testament nicht berücksichtigt hatte. Daher ersann Sophie Knie folgende Finte: Mag. Steinbeißer sollte Arthur erklären, dass man aufgrund steuerlicher Vorteile im Zuge der Erbschaftsangelegenheit von Aldo Knie auch gleich das Erbe von Sophie regeln wolle. Im Falle des Ablebens von Sophie würde Arthur als leiblichem Sohn zumindest ein Viertel der Erbmasse als Pflichtteil zustehen. Auf Basis der vorhandenen Vermögenswerte errechnete man Arthurs Pflichtteil. Sophie erschrak, als sie auf dem Taschenrechner von Mag. Steinbeißer die Summe erblickte und befahl, diese durch zehn zu dividieren. Sie spekulierte, dass Arthur sicher keine Ahnung hatte, von welchen Werten hier die Rede war.
Arthur hatte sich ausbedungen, bei dem Gespräch Mischa als Berater hinzuzuziehen. Mag. Steinbeißer fragte ihn am Telefon, ob er nicht mündig genug sei, um seine privaten Angelegenheiten alleine zu regeln. Doch Arthur ließ sich auf keine Debatte ein. Er wusste, auf Mischa war in solchen Situationen Verlass. Nur mit Widerwillen stimmte Mag. Steinbeißer dem Beisein von Mischa bei den Verhandlungen zu. Ein Termin in Graz wurde vereinbart und wenige Tage später saßen Arthur und Mischa auf teuren, drehbaren Ledersesseln an einem Glastisch im klimatisierten Besprechungsraum.
Mag. Steinbeißer wurde der Besuch gemeldet. Doch dieser ließ sich Zeit. In aller Ruhe ging er nochmals seine Strategie durch. Mit der Drohung, dass Sophie bereits eine Enterbung von Arthur erwog, wollte er diesen unter Druck setzen, das Angebot anzunehmen. Gegen den Erhalt einer Summe von 350.000 Euro sollte er einen Erbverzicht zugunsten seiner Schwester unterzeichnen.
Nach einer künstlichen Wartezeit von einer halben Stunde betrat Mag. Steinbeißer geschäftig den Raum. Die übliche unnötige Nachfrage bezüglich der Anreise der Gäste quittierte Arthur mit: „Blödes, ver…. ʞʞ##Ȋ!“ Mag. Steinbeißer lächelte säuerlich und kam rasch zur Sache. Umständlich und mit zahlreichen juristischen Fachausdrücken erklärte er Arthur die Situation. Zum Abschluss ließ er das vorbereitete Schreiben über den glatten Tisch zu Arthur gleiten. Einen dicken silbernen Kugelschreiber schob der gut gekleidete Anwalt bis zur Mitte des Tisches. Arthur hätte nur zugreifen müssen, um zu unterzeichnen. Als Zeichen des Entgegenkommens würde Arthurs Mutter die genannte Summe ehebaldigst an ihn überweisen. Es sei doch viel besser, sich mit einem etwas geringeren Betrag zu begnügen, dafür aber sofort über eine beachtliche Summe zu verfügen, schloss der Anwalt seine Überzeugungsrede.
Arthur war schon geneigt, dem Vorschlag zuzustimmen, doch Mischa unterbrach das Gespräch und erklärte dem Anwalt höflich, dass Arthur das Angebot prüfen und in angemessener Zeit der Rechtsvertretung von Sophie Knie eine Antwort zukommen lassen würde.
Mischa war sofort klar, dass bei diesem Angebot etwas faul war. Der Anwalt der Band wurde mit der Sache betraut. Er war Experte für Vertragsrecht und ließ sich von Aldos Notar die Unterlagen vorlegen. Arthur fiel aus allen Wolken, als er von dem Testament hörte. Gleichzeitig bedauerte er, dass er Aldo zu Lebzeiten nicht besser kennengelernt hatte. Der Gesamtwert der Hinterlassenschaft betrug fast dreizehn Millionen Euro, der Erbanteil, der Arthur zustand, belief sich daher auf mehr als sechs Millionen. Entweder musste Sophie Knie auf das schöne Anwesen verzichten oder ihrem Sohn den genannten Betrag auszahlen. Beide Varianten machten ihr wenig Freude. Auf ihren Wohnsitz zu verzichten, war für sie unvorstellbar, daher einigte man sich auf die Auszahlung der sechs Millionen. Einer Begegnung mit Arthur wussten Sophie und Erika auszuweichen. Dass dieser nicht zu ihren und Erikas Gunsten auf sein Erbe verzichtet hatte, war im Anschluss bei zahlreichen Gesprächen in der Familie Knie Thema Nummer eins. Mehrheitlich schloss man sich bei den Knies Sophies Haltung an.
Arthur war nun um mehrere Millionen reicher und um eine Familie ärmer.