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Die Hochzeit

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Arthur stand ein wenig abseits von der Gesellschaft und blickte in den Garten. Hier hatte er seine Kindheit verbracht, und er kannte jeden Winkel dieses kleinen Reichs. Das Haus, ein zweistöckiger Barockbau, lag direkt an der Straße. Um es betreten zu können, musste man mehrere Stufen einer Steintreppe überwinden. Die geräumige Vorhalle erstreckte sich quer über die gesamte Gebäudebreite. Auch hier gab es eine Treppe, von deren Absatz man durch eine Glastüre auf einen kleinen Balkon gelangte. Von dort aus hatte man einen herrlichen Blick in den Garten. Das WC und dieser Balkon waren Arthurs Gefängnisse gewesen. Seine Halbschwester Erika oder Kaa, wie Arthur sie seit seiner Kindheit nannte, hatte sie genutzt, um Arthur, wenn Gäste da waren, wegzusperren. Stundenlang hatte er dann frierend und verzweifelt bettelnd vor dieser Glastüre gestanden und mit den kleinen Fäusten gegen die Scheibe getrommelt.

Links vom Vorraum ging es in den Salon. Auf der rechten Seite war die geräumige Küche untergebracht. Die Flügel der beiden Küchenfenster waren weit geöffnet, und man konnte im Inneren die Angestellten des Catering Services „Sonny & Tubbs“ bei ihrer Arbeit beobachten. Die jungen Damen und Herren steckten in weißen Hemden und schwarzen Hosen, um den Hals trugen sie breite, knallrote Krawatten und um die Hüften dunkelgraue Schürzen, die bis zu den Waden reichten. Zwischen ihnen agierte ein Koch mit weißer Kochhaube. Die ganze Mannschaft wurde von einem geschäftigen Herrn mit kahl geschorenem Kopf beaufsichtigt. Mit strenger Miene schritt er umher und verteilte seine Befehle.

Wo Arthurs Blick auch hinfiel, jeder Baum und jeder Strauch war mit irgendwelchen Erinnerungen an seine seltsame Kindheit verbunden. Es hatte sich fast nichts verändert seit damals. Alles stand noch an der Stelle, wo es seinem Gedächtnis entsprechend hingehörte, und er hatte ein fabelhaftes Gedächtnis.

Im schattigen Garten drängte sich die Hochzeitsgesellschaft. Um den Rasen zu schonen, waren rote Teppiche aufgelegt. Die Bäume waren mit Lampions und bunten Luftballons geschmückt. Entlang der Gebäudefront erstreckte sich auf der Gartenseite eine Terrasse. Etwa auf der Höhe der Küche hatte man eine Bühne errichtet. Dort hatten vor wenigen Minuten vier Musiker Platz genommen. Die Mitglieder des Streichquartetts rückten ihre Pulte zurecht und stimmten ihre Instrumente. Es war einer der wenigen schönen Sommertage dieses Jahres. Die Musiker in ihren schwarzen Anzügen litten unter der Hitze. Auf der Glatze des ersten Geigers glitzerten die Schweißperlen.

Arthur stand im Schatten unter einem der Apfelbäume und atmete erleichtert durch, als die Hitze durch einen leichten Windhauch etwas gemildert wurde. „HALLO!“ Er hörte Josefs laute und unverkennbare Stimme. Er drehte sich um und sah Josef über den Rasen schlendern. In der Hand hielt dieser eine kleine rote Kamera. Ohne die Kamera ging Josef nicht aus dem Haus, alles und jeder wurden damit zwanghaft abgelichtet. Seine Spezialität war das Schießen von Gruppenbildern, dafür arrangierte er dann immer mit launigen Worten die verschiedenen Personen. Soweit verfügbar wurden diese mit Kopfbedeckungen und Requisiten ausgestattet. Dann wurde die Kamera auf einem kleinen Stativ in Position gebracht und so eingestellt, dass mit dem Selbstauslöser drei Fotos von der meist dümmlich grinsenden Gesellschaft geschossen werden konnten.

Josefs Styling war abenteuerlich. Er trug eine weiße Hose, ein schwarzes Hemd, auf dem bunte Spielkarten aufgedruckt waren, ein hellblaues Jackett und, dazu passend, rote Raulederschuhe. Er musste in der Küche gewesen sein, denn er hatte eine Kochmütze auf. Sein rundes Gesicht war durch die Hitze und durch zahlreiche Schnäpse gerötet. Die Kochmütze versteckte das etwas schüttere Haar. Offensichtlich dachte er, die steife Gesellschaft könne etwas Auflockerung vertragen.

Die Musiker stimmten Mozarts Kleine Nachtmusik an. Nicht schon wieder, dachte Arthur, ließ sich aber dann von den unvernichtbaren Melodien bezaubern. Auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln, denn er dachte an ein Erlebnis mit Josef. Dieser wusste über Mozart nicht mehr, als dass es ein Konfekt gab, das nach ihm benannt war. Arthur hatte bei einem Gespräch erwähnt, dass sich seine Verwandten wöchentlich zum Quartettspielen trafen. Josef fragte ungläubig: „Wos, de spüln Koatn?“ Arthur hatte Mühe sich das Lachen zu verbeißen. Er stellte sich die Mitglieder der Familie Knie vor, wie sie in dem geräumigen Salon saßen, jeder mit einem breiten Fächer Quartettkarten in der Hand. "Mein Cello ist 1730 gebaut." „Schwach, ich habe ein Cembalo aus 1650, was hast du, Kaa?" "Eine vergoldete Querflöte aus dem Jahre 1912." In Arthurs Vorstellung reckte sie dabei ihren dünnen Hals, und natürlich gewann sein besserwisserischer Cousin Heinrich mit einer Laute aus dem frühen 16. Jahrhundert.

Nun wird er zwangsläufig in den Genuss eines Streichquartetts kommen, dachte Arthur. Doch Josef sollte sich wenig später ungewollt dieser Darbietung entziehen.

Am Ende der Terrasse stand Arthurs Cousine Steffi. Von all seinen Verwandten war sie Arthur die liebste. So sehr man sie mochte, so wenig konnte man verstehen, was dieser egoistische Vollidiot an ihrer Seite zu suchen hatte. Dominic Sabrinović war groß gewachsen und nicht unattraktiv. Damit waren die positiven Attribute bereits aufgebraucht. Gleichzeitig war er ein Wichtigtuer und immer auf seinen Vorteil bedacht. Es gab kein Geschäft und keine zwischenmenschliche Begegnung, bei denen er nicht peinlich darauf achtete, seine Interessen zu wahren.

Dominic stammte aus gutem Hause und war mit überdurchschnittlicher Intelligenz gesegnet. Doch seine Arroganz und Bequemlichkeit behinderten ihn auf seinem Ausbildungsweg. Während seine Semesterkollegen in den Hörsälen saßen oder lernten, genoss Dominic das Leben, ging seinen sportlichen Hobbys nach und ließ den Lieben Gott einen guten Mann sein. Einer seiner Studienkollegen hatte ihn einmal recht treffend einen leistungsbewussten Nichtsleister genannt. Nachdem er nach zwanzig Semestern noch immer nicht den ersten Studienabschnitt absolviert hatte, beschloss sein Vater, dem Sohn eine Berufskarriere ohne Studium zu verschaffen. Landesrat Norbert Sabrinović verfügte über ausgezeichnete Kontakte zu vielen Entscheidungsträgern in den unterschiedlichen Landesorganisationen. Unter anderem war er mit dem Landespolizeidirektor eng befreundet. Landesrat Sabrinović beschaffte seinem Sohn also einen Platz in der Polizeischule. Nach anfänglichem Aufbegehren fand sich Dominic bald in seine neue Rolle. Wäre der Posten eines Straßenpolizisten nicht mit Wochenenddiensten verbunden und schlecht bezahlt gewesen, hätte ihm diese Tätigkeit durchaus auf Dauer gefallen. Er genoss seine kleine Machtposition und es machte ihm Freude, wenn er Bürger, die das Gesetz, wenn auch nur geringfügig, übertreten hatten, zurechtweisen und abstrafen konnte.

Dominic verkaufte sich vollmundig als Naturschützer. Seine Aktivitäten für den Naturschutz reduzierten sich allerdings darauf, dass er sich vegetarisch ernährte. Fleischfresser, wie er die meisten seiner Mitmenschen geringschätzig nannte, waren seiner Ansicht nach Menschen zweiter Klasse. Seine Ablehnung begründete er mit den Missständen bei der Massentierhaltung. Das reichte in seinen Augen, um als Naturschützer und Tierfreund angesehen zu werden. In Wahrheit war sein ökologischer Fußabdruck alles andere als klein. Öffentliche Verkehrsmittel verachtete er, Fahrrad fuhr er nur für sportliche Zwecke und für die tägliche Fortbewegung besaß er einen protzigen Geländewagen. Wenn er nicht mit dem Moto-Cross-Rad im Wald die Luft verpestete, lauerte er, gut getarnt, Paintballpistole im Anschlag, seinen Freunden im Gelände auf.

Dominic war also ein Sportfreak. Doch er wusste wohl zwischen „gehobenen“ und „niedrigen“ Sportarten zu unterscheiden. So wäre es ihm nie eingefallen, sich in einem Park unter die „kickenden Proleten“ zu mischen. Daher war es klar, dass er sich bei nächster Gelegenheit über Arthurs neue Leidenschaft abfällig äußerte. Süffisant grinsend, mit unnötig erhobener Stimme sagte er bei einer der Familienzusammenkünfte: „Arthur, ein bisschen prolo ist das aber schon, was du da machst, oder?!“ Mit dieser Bemerkung fuhr Dominic an diesem Abend seinen einzigen Lacherfolg ein. Arthur war Demütigungen durch seine Familie gewohnt. Sie gehörten zu seiner Lebensgeschichte. Bei jedem anderen hätte er sich daher mild lächelnd abgewendet und sich sein Teil gedacht. Aber Dominic fand er so unglaublich blöd und arrogant, dass er ihm etwas Derartiges nicht zugestand. Verärgert hatte Arthur damals die Abendgesellschaft verlassen. Seitdem hatte er auch Steffi nicht mehr gesehen.

Bei der Polizei war Dominic vor wenigen Monaten der Kriminalabteilung zugeordnet worden. Damit war seine Überheblichkeit noch weiter gestiegen. Dominic bezog kein schlechtes Gehalt und wurde außerdem von seinen Eltern nach wie vor finanziell unterstützt. Trotzdem lebte er weit über seine Verhältnisse. Wie um alles in der Welt war Steffi nur an diesen Ungustl geraten, fragte sich Arthur zum x-ten Mal, als er sie ansah.

Was geht in diesen Frauenköpfen vor? Arthur war seit seiner Pubertät absolut erfolglos bei der Suche nach einer Frau. Wie ging das zu, dass dieser menschenverachtende Kretin eine so hübsche und nette Freundin hatte und er selbst bei jeder abblitzte. Diese Tatsache versetzte seinem ohnehin angegriffenen Selbstbewusstsein einen empfindlichen Schlag. Arthur stand mit seiner Einschätzung bezüglich Dominic übrigens nicht alleine da: Seine ganze Familie teilte diese Ablehnung.

Josef war sofort nach dem Betreten des Hauses damit beschäftigt gewesen, sich in der fremden Umgebung umzusehen. Wie es so seine Art war, sondierte er das Terrain. Überall dort, wo man keine Gäste haben wollte, hatte er bereits seine Nase hineingesteckt. Im ersten Stock hatte ihn Frau Magister Sophie Knie, Arthurs Mutter, aus einem der Schlafzimmer verscheucht. Dort hatte sich Josef samt Gewand auf eines der Betten gelegt, um die Weichheit der Matratzen zu testen und um die Stuckdecke mit seiner Kamera abzulichten. Ein zweites Mal erwischte Frau Knie Josef im Salon. Sie überraschte ihn, als er auf dem teuren Steinway-Flügel herumklimperte. Schon etwas enerviert und merklich unhöflicher forderte sie ihn auf, sich endlich den Gästen im Garten anzuschließen. Doch Josef begegnete Einwänden und Aufforderungen stets völlig ungerührt. Er stellte sich daher neben den Ausgang und wartete, bis die Luft rein und Frau Knie nervös anderen Beschäftigungen nachgegangen war. Dann huschte er zurück in den Salon und schlug am Flügel im Vorbeigehen mit seiner breiten Tatze wieder einige Tasten an. Vorsichtig lugte er um die Ecke und blickte zur Treppe, bevor er den Vorraum überquerte und der Küche einen Besuch abstattete.

In der Küche fühlte er sich deutlich wohler. Dort waren wenigstens normale Leute, mit denen man sich vernünftig unterhalten konnte. Von einem der Tabletts nahm er sich Gläser und aus dem Kühlschrank eine Flasche Wein, die er routiniert entkorkte, denn er wollte den Kellnerinnen einen ausgeben. Als Gast dieses feinen Hauses hatte er wohl das Recht dazu. Nach dem Zuprosten musste natürlich die Küchenmannschaft für eines seiner legendären Gruppenfotos arrangiert werden. Mit einer raschen Bewegung riss er dem Koch seine Haube vom Kopf und setzte sie sich auf. Dann begann er, die Personen aufzustellen. Gleichzeitig griff er wahllos nach verschiedenen Gegenständen wie Kochlöffel, Mixer, Tranchiergabel, Schöpfkelle, Nudelzange und Korkenzieher und verteilte sie an die versammelte Mannschaft. An der Wand entdeckte er einen langen Knoblauchzopf, den er sich wie ein Hawaiimädchen die Blumenkette, um den Hals hängte. Dann zog er aus dem Messerblock ein riesiges Messer, mit dem er gefährlich herumfuchtelte. In seinem unverkennbaren Kärntner Dialekt kommandierte er die ganze Mannschaft herum: "Do kumm hea! Des Chefale heart hetzt a kuaz zan oabeitn auf. Do kumm hea!" Selbst der junge, strenge Aufseher hatte keine Chance, sich Josef zu entziehen. Auf dem Küchentisch wurde mit Hilfe des Stativs die Kamera platziert. Mit wenigen geübten Handgriffen war alles eingestellt. Die ersten beiden Fotos waren bereits geschossen, als Frau Knie den Raum betrat. Arthur musste sehr lachen, als ihm Josef einige Wochen später das Foto zeigte. Die eine Hälfte der Küchentruppe stand da mit erhobenen Küchengeräten und grinste dämlich, die andere war durch die wütende Hausfrau verdeckt. In dem Moment, in dem der Selbstauslöser das dritte Foto schoss, hatte sich Arthurs Mutter zufällig in Richtung des Küchentischs umgedreht. Das strenge Gesicht der Hausfrau war durch die Bewegung und ihren Ärger zu einer kasperlartigen Fratze verzerrt.

Nach einer Schrecksekunde wurde die Versammlung schnell aufgelöst. Josef traf ein wütender Blick. Der Chef der Cateringtruppe wurde sich schlagartig wieder seiner Verantwortung bewusst und brachte mit leisen, aber bestimmten Befehlen seine Leute in Bewegung. Frau Magister Knie nahm Josef das Messer aus der Hand und steckte es mit einer heftigen Bewegung in den Messerblock zurück. Gegen den drohenden Verlust der Kochhaube und des Knoblauchzopfes konnte er sich geschickt wehren. Josef stammelte seine Standardfloskel: „Des is oba hetzt a nit in Oadnung, guate Frau!“ Kurz überlegte Frau Knie, ob sie sich auf eine Diskussion einlassen sollte. Aber dann entschied sie sich, diesen schrecklichen Menschen nur möglichst rasch aus ihrem Haus zu verbannen und in den Garten zu schicken. Warum hatte Arthur diese Person überhaupt eingeladen? Konnte ihr Sohn nicht einmal das machen, was man von ihm erwartete? Sie expedierte Josef unsanft aus dem Haus, was bei der Gesellschaft im Garten nicht unbemerkt blieb. Ohnehin war er bereits zuvor in der Kirche unangenehm aufgefallen.

Die Hochzeit von Erika Knie mit Reinhold Stemmberger war lang und umständlich gewesen. Die Trauungszeremonie wurde durch den integrierten Gottesdienst und zahlreiche Musikstücke auf Opernlänge gebracht. Josef hatte seit seiner kurzen Schulzeit keine Kirche mehr von innen gesehen. Das ständige Aufstehen und Niedersetzen verwirrte ihn, außerdem machte ihn diese kreischende Frau mit ihrer hohen, zitternden Stimme nervös, die etwas in einer unverständlichen Sprache sang. Bevor man in die Kirche einzog, stellte sich Arthurs Cousin Heinrich auf die oberste Stufe der Treppe zum Eingang und erinnerte die Hochzeitsgesellschaft daran, auf das Fotografieren während der Zeremonie zu verzichten; die Hochzeit werde nämlich von zwei professionellen Fotografen dokumentiert.

Josef überhörte den Hinweis und fotografierte laufend und ziellos wie ein japanischer Tourist. Aus Langeweile begann er, den Stapel der kleinen Gesangsbücher in der Kirchenbank abzulichten. Als die Hochzeitszeremonie mit der eigentlichen Trauung dem Höhepunkt zustrebte, wollte Josef natürlich von seinem Platz aufstehen, um eine bessere Sicht auf das Geschehen zu erlangen. Arthur ermahnte ihn mit gedämpfter Stimme und Mischa half, ihm die Kamera zu entwenden.

Nach dem Vaterunser und den Worten von Pater Benedikt: "Der Friede des Herrn sei allezeit mit euch!", reichten sich die katholischen Schäfchen in ihrem Umkreis gegenseitig die Hände und murmelten dabei: "Der Friede sei mit dir." Josefs Aufmerksamkeit hatte in den letzten Minuten stark gelitten, daher hatte er auch nicht mitbekommen, was da gesprochen wurde, außerdem war die Floskel durch den Nachhall in dem hohen Kirchenschiff kaum verständlich. Als ihm reihum die Hände entgegengestreckt wurden, freute er sich und stellte sich mit seinem Namen vor: "Josef Schuster, Schuster, hallo, Josef Schuster." Arthur und Mischa hatten ihren Spaß an der Situation.

Nach der Wandlung und dem Agnus Dei erhoben sich zahlreiche Gäste und stellten sich in einer langen Schlange vor dem Altar an. „Gibt es dort etwas zu essen?", wollte Josef von Arthur wissen. Dieser bejahte und war wenig erstaunt, als sich Josef ganz selbstverständlich unter die Abendmahlgesellschaft mischte. Noch weniger überrascht war er über den verzweifelten Gesichtsausdruck von Josef, der mit Verrenkungen seiner Zunge versuchte, die Hostie wieder vom Gaumen zu lösen.

Durch sein Gejohle und die Anfeuerungsrufe beim Reiswerfen, an dem er sich ausgiebig beteiligte, war Josef dann spätestens allen Hochzeitsgästen bekannt. Obwohl er eindeutig als Fremdkörper in der noblen Grazer Gesellschaft erkennbar war, ließ er sich von dieser Tatsache nicht beirren. Er ruhte viel zu sehr in sich, um sich von diesem scharfen sozialen Kontrast beeindrucken zu lassen. Auch hatte er seine Kontaktfreudigkeit nicht verloren und genausowenig seine Begabung, innerhalb kürzester Zeit wesentliche Informationen zusammenzusammeln und Stimmungen aufzusaugen. So wusste er längst, dass Dominic allen unsympathisch war und ihn die meisten Gäste im Stillen ablehnten. Und natürlich hatte er aufgeschnappt, dass dieser glatzköpfige Angeber bei der Kriminalpolizei tätig war. Josef hatte da vor einigen Wochen einen unangenehmen Zwischenfall bei einer Verkehrskontrolle erlebt, bei dem sich herausgestellt hatte, dass er betrunken unterwegs war und außerdem über keinen Zulassungsschein verfügte.

Auch wenn dieser Dominic noch weniger sein Fall war als die meisten anderen Personen in der Gesellschaft, war Josef dennoch überzeugt, dass er mit seiner direkten Art diese Nuss würde knacken können. Wenn er schon einen Polizeibeamten privat kennenlernen musste, so sollte dieser wenigstens etwas für ihn tun! Bis an den Punkt, an dem er sein Problem hätte vorbringen können, gelangte er aber nicht. Kurz und unwirsch wurde er von Dominic abserviert. Josefs Methode, mit fremden Personen rasch ins Gespräch zu kommen, funktionierte heute nicht, was ihn zunehmend verunsicherte. Die hübsche Steffi blickte ihn mit ihren dunklen Augen mitleidig an. Das fasste Josef leider als Aufforderung auf. Kurzerhand ließ er Dominic stehen und forderte Steffi auf, ihn an die noch nicht geöffnete Bar zu begleiten.

Josef hätte sich eigentlich denken können, dass Dominic eine Annäherung anderer Männer an Steffi alles andere als lustig finden würde. Josef nahm Steffi beim Arm und drehte sich bereits zur Bar, als ihm durch einen sachten Schlag von Dominic die Kochhaube vom Kopf flog. Josef drehte sich um und sagte seinen Standardsatz: „Des is oba hetzt a nit in Oadnung, Herr Inspekta!“ „Hau ab, du Kärntner Depp!“, stieß Dominic wütend hervor. Josef konterte in seinem breiten Dialekt: „Schen redn, a die Herrn von da Polizei miassn schen redn, des is nit in Oadnung! Do stöll ma mia oba glei a Strofzettale aus. Amol Depp, des kostat mindestens a Flaschale!“ Dominic konterte phantasielos: „Du Oasch, schleich di jetzt!“ „Herr Inspekta Dominitsch! Nit scho wieda! Oba des mocht uns nix aus, des Schimpfn. Des kenn ma mia jo scho. Do werma mia glei auf zwa Flaschalan aufigehn, oda? No amol, i hob g’sogt, SCHÖN SPRECHEN!“ „Du verdammter Idiot, halt einfach dein Maul!“, fauchte nun Dominic und begann, die Fassung zu verlieren. Josef lachte, schaute dann bemüht streng und meinte: „Den Inspekta-Titel bist hetzan a no los! Den homma mia da hetzan weggenommen, den konnst da hetzt aufsteckn!“ So ging das noch einige Zeit dahin. Josef war bereits bei einer Strafhöhe von einer ganzen Kiste Wein angelangt, als Dominic endgültig die Geduld riss. Er begann, Josef zu schubsen, und innerhalb weniger Augenblicke waren die beiden in eine Handgreiflichkeit verwickelt. Sofort waren sie von einer Traube von Gästen umringt. Leider wusste Josef nichts von den unzähligen Stunden, die Dominic in die Verbesserung seiner Kickboxtechnik investierte. So lag er nach wenigen Sekunden nach einem gezirkelten Tritt mit ausgerenktem Kiefer bewusstlos auf dem Boden.

Steffi packte Dominic am Arm und schrie ihn an: „Spinnst du? Drehst du jetzt völlig durch?“ Er versuchte, sich zu verteidigen und ärgerte sich gleichzeitig, dass dieser besoffene Blödian nicht einmal einen Tritt unverletzt überstehen konnte. Dass er in der Familie der Gastgeber keine hohen Sympathiewerte hatte, war ihm stets durch seine mangelnde Sensibilität entgangen. In der Situation dämmerte ihm aber, dass er den Bogen überspannt hatte. Steffi kniete am Boden und versuchte, dem bewusstlosen Josef irgendwie zu helfen. Doch da wurde sie bereits von Heinrich professionell beiseite gedrängt. Gemeinsam mit einem befreundeten Unfallchirurgen besah sich dieser die Bescherung. Die Pupillenreaktion war unauffällig, Herz und Atmung funktionierten regelmäßig und die Blutung der aufgeschlagenen Lippe war nicht weiter schlimm. In dem leicht geöffneten Mund konnte man die blutigen Zähne erkennen. Der rechte obere Schneidezahn war seltsam nach innen gebogen. In wenigen Augenblicken hatte man Josef auf ein Tischtuch gelegt und trug ihn zur Straße. Kurze Zeit später fuhr bereits die Rettung vor. Die Kollegen im Landeskrankenhaus waren schon informiert, als die Sanitäter mit dem Bewusstlosen eintrafen.

Umsichtig stellte sich ein junger Rechtsanwalt zur Verfügung, um einen Polizeieinsatz und daraus resultierende Rechtsfolgen zu verhindern. Die Kollegen von Oberarzt Dr. Heinrich Knie hatten bereits strikte Weisung erhalten, die Verletzungsursache erst zu protokollieren, wenn der Rechtsanwalt Josef ein Angebot unterbreitet haben würde. Er sollte Josef durch die Überweisung einer noch nicht festgelegten Summe überzeugen, auf einen Rechtsstreit zu verzichten. Im Vertuschen von Skandalen hatte Familie Knie Erfahrung. Die einzelnen Akteure mussten sich gar nicht koordinieren und absprechen. Auch eine besondere Erörterung der Situation, um mögliche Konsequenzen zu analysieren, war nicht notwendig. Die einzelnen Maßnahmen gingen logisch und ohne unnötige Anweisungen ineinander über. Skandale und ärgerliche Rechtsstreitigkeiten mussten um jeden Preis verhindert werden, da waren sich alle Familienmitglieder, ausgenommen Arthur, einig.

In vorauseilendem Gehorsam hatte sich der junge Rechtsanwalt bereits eine Strategie zurechtgelegt, wie er Josef unter Druck setzen könnte, um die Summe, die diesen zum Schweigen oder zum Lügen bringen sollte, zu verkleinern. Während Magister Steinbeißer im Geiste an den ersten Sätzen feilte, die er an Josef richten wollte, lag dieser noch weggetreten auf der Trage. Josef erwachte, während sein Schädel geröntgt wurde. Er setzte sich abrupt auf, stieß sich seinen Kopf an dem Röntgengerät und meinte noch etwas benommen: „Des is oba hetzt a nit in Oadnung . . .“ Nachdem er wieder völlig bei Sinnen war, mussten die Aufnahmen gleich wiederholt werden. Um sicherzugehen, dass sein Kopf keinen Schaden genommen hatte, wurden noch eine Computertomographie und ein MRT gemacht. Sein Kiefer wurde eingerenkt, was eindeutig der schmerzhafteste Teil der gesamten medizinischen Behandlung war. Mit dem ausgeschlagen Zahn war nichts mehr zu machen, der musste extrahiert werden. Da er nur noch lose an einem Schleimhautfetzen hing, würde die Prozedur nicht besonders unangenehm sein, und auch eine Überstellung in die Zahnklink sollte sich durch Josefs Eigeninitiative erübrigen. Der behandelnde Arzt bewegte mit seinen Gummihandschuhen den Zahn vorsichtig hin und her. Er war unsicher, was er veranlassen sollte. Während er sich wegdrehte, fasste sich Josef ein Herz, griff in seinen Mund und kippte den Zahn nach innen weg. Stolz wie ein Volksschulkind, das eben seinen ersten Zahn verloren hat, streckte er dem Arzt die Trophäe entgegen.

Magister Steinbeißer wurde erst zu Josef vorgelassen, als der in seinem Sonderklassezimmer lag. Er scherzte bereits mit den Schwestern, als der junge Herr eintrat. Dass die ganze Sache so groß aufgebauscht und extra für ihn ein Rechtsanwalt bereitgestellt wurde, überraschte ihn. Es war doch nur eine kleine Schlägerei gewesen, die blöderweise im Krankenhaus geendet hatte. Nichts wäre Josef ferner gelegen, als nun einen Prozess anzustreben. Er hatte Arthur zugesagt, zu dieser Hochzeitsfeier zu kommen und sich gut zu benehmen. Er hatte auch zugesagt, keinen Unsinn zu machen, seinen Alkoholkonsum auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren und nicht negativ aufzufallen. Das war leider alles gründlich danebengegangen, stellte Josef mit einem ungewöhnlichen Anflug von Selbstkritik fest. Die ganze Aufregung tat ihm ein wenig leid, insbesondere, weil er Arthur keine Schwierigkeiten bereiten wollte. Aber warum hatte ihn der nicht gewarnt, was ihn da erwarten würde? Wenn er gewusst hätte, was das für Menschen in Arthurs Familie waren, er wäre nie und nimmer dieser Einladung gefolgt. Josef konzentrierte sich wieder auf die Worte des Anwalts. Natürlich war er über Dominic verärgert. Er selbst hatte Mist gebaut, sich geprügelt und dabei einen Zahn verloren. Selber schuld! Der Rechtsanwalt redete auf Josef ein und erwähnte etwas von schwerer Körperverletzung und Rechtsfolgen, die daraus erwachsen könnten. Er ließ bereits die Information einfließen, dass die Rechtsfolgen auch für Josef recht unangenehm werden könnten, da der Täter der Sohn eines hohen Landespolitikers sei. Es wäre daher nicht auszuschließen, dass Josef wegen seines Benehmens auf dem Hochzeitsfest eine Gegenklage zu erwarten hätte. Es wäre daher ratsam, sich außergerichtlich zu vergleichen. Josef verstand die Welt nicht mehr. Warum um alles in der Welt sollte er rechtlich belangt werden, wenn ein anderer ihm einen Zahn ausgeschlagen hatte? Seit er dieses seltsame Haus betreten hatte, funktionierten bestimmte Sachen nicht mehr. Die Menschen, mit denen er den heutigen Tag verbracht hatte, verhielten sich nicht so, wie er das von seinem Umfeld gewohnt war. Der Anwalt machte schließlich den Vorschlag, dass Josefs Zahn kostenfrei durch ein Implantat ersetzt und gleichzeitig eine Entschädigungszahlung von fünftausend Euro in bar geleistet werden würde. Der Anwalt war recht erstaunt, dass Josef ohne nachzudenken auf diesen Handel einging. Er verlangte allerdings von Josef, für die Krankengeschichte zu Protokoll zu geben, dass er im angeheiterten Zustand von der Treppe gestürzt sei und sich den Zahn ausgeschlagen habe. Die Kosten für Krankenhausaufenthalt und Behandlung waren bereits durch die Kontakte von Heinrich abgedeckt. Der Anwalt war erleichtert und brüstete sich etwas selbstgefällig, dass er die Sache so rasch und gut auf die Reihe bekommen hatte.

Da Josef aber mittlerweile schon alle und jeden in seiner Umgebung über den Tathergang informiert hatte, war Mag. Steinbeißer nun eine gute Stunde damit beschäftigt, sicherzustellen, dass der wahre Sachverhalt nicht ans Licht käme.

Arthur hatte erst bemerkte, dass etwas nicht stimmte, als Josef bereits am Boden lag. Zornig drängte er sich durch den Kreis der Umstehenden. Aber Heinrich Knie hatte umsichtigerweise Dominic schon freundlich, aber bestimmt aufgefordert, das Fest zu verlassen. So konnte ein weiterer Eklat verhindert werden.

Mittlerweile stand Dominic auf der Straße vor dem Haus und wartete auf Steffi, die sich aber nicht blicken ließ. Langsam dämmerte es ihm, dass der Tritt nicht nur für sein Opfer Folgen haben könnte. Als ausgebildeter Kickboxer einem gut zehn Jahre älteren, kampfunerprobten Gegner fast den Schädel eingeschlagen zu haben, würde vor einem Richter nicht gut aussehen, soviel war klar. Da würde es kaum etwas helfen, wenn er zu seiner Verteidigung sagen konnte, dass er diese kultivierte Gesellschaft von einem schrecklichen Menschen befreit hatte. Falls er wegen Körperverletzung schuldig gesprochen werden würde, hätte dies auch ein Disziplinarverfahren zur Folge. So eine Scheiße, was hatte er da angerichtet, und wo blieb Steffi, zum Teufel? Er rief seinen Vater an, um ihn über die Geschehnisse zu informieren. Soviel hatte er gelernt, in heiklen und unangenehmen Situationen ging es um das richtige Krisenmanagement und dabei spielte Zeit nicht selten eine wichtige Rolle. Wenige Minuten später klingelte bei Heinrich das Mobiltelefon. Dieser konnte Landesrat Sabrinović aber versichern, dass man die Lage im Griff hätte.

Steffi blickte unsicher auf Arthur. Als Kinder hatten sie sich gut verstanden. Sie fühlte sich schuldig, dass Dominic Arthurs Freund k.o. getreten hatte. Gleichzeitig sickerte es in ihrem Hirn langsam durch, dass Dominic vielleicht tatsächlich nicht ganz normal war. Bislang hatte sie entweder zu den Bemerkungen über ihn geschwiegen oder versucht, ihn zu verteidigen. Sie vermutete richtig, dass er auf der Straße stand und auf sie wartete, doch sie hatte keine Lust hinauszugehen, um sich seine Rechtfertigung anzuhören.

Es dauerte keine halbe Stunde, bis Heinrich den Rückruf aus dem Krankenhaus bekam. Souverän stellte er sich auf das Podest, auf dem das Streichquartett mit „Rosen aus dem Süden“ versuchte, das etwas verunsicherte Publikum abzulenken, und schaltete das Mikrophon ein. Mit dem Mittelfinger klopfte er vorsichtig darauf, bevor er mit wenigen Worten Entwarnung gab. Niemand sei ernsthaft verletzt worden, und alles Übrige werde garantiert geklärt. Dann wünschte er allseits gute Unterhaltung und ein schönes Fest.

Von der Bühne schritt er direkt auf das Partyzelt zu, unter dem Arthur mit Mischa saß. Er musterte die beiden Männer mit einem abschätzigen Lächeln, dann riss er sich innerlich am Riemen und setzte eine ernste Miene auf. Bevor er zu Wort kam, musste er sich allerdings eine Schimpftirade von Arthur anhören: „So eine #☹ʞ☠ⅎ, verdammter †¿#‘#, was ist mit diesem Dominic los – ⅎ#ʞ☹☠!, b!öde ¿ⅎ#☠ⅎ, …!“ Mehrfach versuchte er, Arthur zu unterbrechen, bevor er endlich über den Zustand von Josef eingehend berichten konnte. Arthur und Mischa wollten sogleich aufbrechen und Josef im Krankenhaus besuchen, oder besser, von dort gleich abholen. Heinrich erklärte erneut den Stand der Dinge und meinte, dass Josef gut versorgt sei und nun Ruhe brauche. Ein Besuch sei völlig sinnlos und würde in der Situation niemandem helfen. Sobald er sich sicher war, dass er seinen Cousin ausreichend beruhigt hatte, entfernte er sich und ließ die beiden etwas isoliert an ihrem Tisch zurück.

Arthur fühlte sich von der Gesellschaft ausgestoßen und gedemütigt. In diesem Moment hasste er den Großteil seiner Familie, wie er sie die meiste Zeit als Kind gehasst hatte. Wie gesagt, Demütigungen war er gewohnt, aber diese Situation war fast zu viel für ihn. Er war ehrlich wütend. Wütend über sich, wütend darüber, dass er überhaupt hier hergekommen war, wütend über Erika, die in übertriebener Art und Weise ihre Hochzeit zelebrierte und wütend über seine Mutter, die das ganze Theater mitgetragen, nein, noch verstärkt hatte. Mit Abscheu erinnerte er sich zurück. Vor einigen Wochen, an einem Sonntag, war er zuhause auf Besuch gewesen. Er hatte sich ein Herz gefasst und seine Halbschwester gefragt, ob er zu seiner Unterhaltung zwei Freunde einladen dürfe. Seine Mutter hatte geätzt: „Das sind sicher wieder so ungehobelte Fußballproleten.“ Mischa war Arthurs Bandkollege und alles andere als ein Prolet. Er spielte hervorragend Gitarre und war kurz davor, sein Tontechnikstudium an der TU Graz abzuschließen. Durch Mischas Kontakte hatte Arthur im Musikgeschäft Fuß gefasst und spielte nun schon seit einiger Zeit in verschiedenen Bands als Schlagzeuger. Mit steigendem Erfolg hatte er sich nach oben getrommelt, allerdings wurde dieser Erfolg in der Familie Knie totgeschwiegen. Zu seiner Verteidigung hatte Arthur Mischas fast abgeschlossenes Studium ins Treffen geführt. Nähere Informationen über Josef, den er tatsächlich vom Fußballplatz kannte, hatte er unter den Tisch fallen lassen. Erst nach einer langen Diskussion und nur durch die Unterstützung einer zufällig anwesenden Cousine hatten dann schließlich Erika und seine Mutter einer Teilnahme von Arthurs Freunden zugestimmt. Mit Ungeduld und sichtlichem Widerwillen hatte man sich Josefs und Mischas Kontaktdaten notiert. Einige Tage später waren die protzigen, in Goldschrift verfassten Einladungen zur Hochzeit von Erika Knie mit Reinhold Stemmberger bei Mischa und Josef eingelangt.

Am wütendsten war Arthur über diesen Idioten, der seinen Freund unsanft aus diesem Fest getreten hatte. Er hatte sich nach der kurzen Ansprache seines Cousins ein wenig beruhigt. Davor war er ehrlich besorgt gewesen, dass Josef durch die Schlägerei einen ersthaften Schaden erlitten haben könnte. Es war alles so schnell gegangen. Der Rettung nachzufahren war nach dem bisherigen Alkoholkonsum nicht ratsam. Daher hatte Arthur zuerst nach Mischa gesucht und sich mit ihm dann gemeinsam an einen Tisch gesetzt. Durch die gute Nachricht, dass Josef außer Gefahr war, und die steigende Wirkung des Alkohols begannen sich die beiden etwas zu beruhigen. Aber Arthurs Wut und Enttäuschung waren keineswegs verflogen und er machte sich noch durch einige unflätige Bemerkungen Luft. Den Rest des Abends verwendete er, um sich einen ordentlichen Rausch anzutrinken.

Das Trinken, die Geradlinigkeit und die Begeisterung für Fußball waren die Dinge, die ihn mit Josef verbanden. Und in puncto Trinken wurde Josef an diesem Abend würdig durch Arthur und Mischa vertreten. Arthur und Josef kannten sich wie gesagt vom Fußballplatz. Sie hatten sich angefreundet, nachdem Josef von der Maschinenfabrik Springer in Kärnten zu den Andritzer Werken in Graz gewechselt hatte. Josef war als Schlossermeister eine gefragte Arbeitskraft. Bei Andritz arbeitete er sich über die Jahre etwas nach oben und verdiente in der Zwischenzeit recht anständig. Allerdings musste er einen nicht unerheblichen Teil seines Gehalts als Alimente an seine beiden Exfrauen abführen. Aus den vorangehenden Beziehungen hatte er zwei Kinder, die er zwar nicht zu Gesicht bekam, aber für die er fleißig zahlte. Josef konnte sich über Ungerechtigkeiten furchtbar aufregen, so auch über das geltende Scheidungsrecht. Sein Gerechtigkeitssinn war ursprünglich auch seine Motivation gewesen, für den Betriebsrat bei Andritz zu kandidieren. Als Arbeitersohn trat er selbstverständlich für die orange Fraktion an. Seit der letzten Wahl war er nun gemeinsam mit weiteren vier Kollegen Mitglied des Betriebsrates. Doch er hatte das Spiel bald durchschaut und musste sich eingestehen, dass er es nun zwar deutlich bequemer hatte als vorher, aber dass die Möglichkeiten eines Betriebsrates deutlich stärker eingeschränkt waren, als er ursprünglich angenommen hatte. Außerdem registrierte er, dass nicht nur sozial Schwachen in einer Zwangslage geholfen wurde, sondern dass durchaus auch Tachinierer und Opportunisten in den Genuss der gewerkschaftlichen Hilfe kamen. Nach einiger Zeit hatte er desillusioniert festgestellt, dass er der Gerechtigkeit nur in einem sehr bescheidenen Maße zum Sieg verhelfen konnte. Auch wenn er sich selbst keine Vorteile durch seine Position verschaffte, war die Arbeit aber zumindest einfacher und angenehmer, als tagtäglich im Schichtbetrieb der Produktion zu arbeiten. Er versuchte also, seine Arbeit so gut wie möglich zu machen und genoss gleichzeitig die Vorteile, die die Stellung eines Mitglieds im Betriebsrat mit sich brachte.

Die erste Begegnung zwischen Arthur und Josef war unspektakulär verlaufen. Sie hatten sich zufällig am Fußballplatz in der sogenannten „Gruabn“, dem Heimspielort des Fußballclubs Sturm, getroffen. Josef war ein wenig beleidigt gewesen, da Arthur den selbstgebrannten Schnaps abgelehnt hatte. Auch Arthurs Erscheinungsbild hatte ihn irritiert. Es war damals noch unschwer zu erkennen, dass dieser aus besserem Hause stammte. Aber nachdem Sturm an diesem Abend mit 3:0 vom Feld gegangen war, hatte Josef generös über die Klassenunterschiede hinweggesehen. Beim Nachhauseweg hatte er Arthur das erste Mal zum Lachen gebracht. Mit der Straßenbahn waren sie von der „Gruabn“ zum Hauptplatz gefahren. Beide waren nach dem Match hungrig gewesen. Josef hatte vorgeschlagen, beim besten Würstelstand von Graz einen Imbiss zu nehmen. Seiner Meinung nach waren dort die „geilsten“ Käsekrainer der Stadt zu bekommen. Am Würstelstand war ihnen der stadtbekannte schwarze Verkäufer der Zeitschrift „Megaphon“ begegnet. Josef stattete der Innenstadt selten einen Besuch ab und war diesem Menschen noch nie zuvor begegnet, der mit seinem monotonen „Megga-foon, Megga-foon, Megga-foon, …“, die Zeitung zum Verkauf anbot. Während des Verzehrs der Würstel hatte Josef den erfolglosen Verkäufer beobachtet und dem wiederkehrenden Ruf „Megga-foon“ gelauscht. Mitfühlend hatte er in seine Hosentasche gegriffen, ein Zweieurostück herausgeholt und sich dann fragend an Arthur gewandt: „Heast, wülst du nit a a Negafon kafn?“ Lachend hatte Arthur Josef das nötige Kleingeld gegeben. Erst beim Betrachten der Zeitschrift hatte Josef seinen Irrtum bemerkt und ebenfalls schallend gelacht. Beim nächsten Match waren sie schon die besten Freunde.

***

Das Fest nahm seinen Lauf. Noch einmal gesellte sich Heinrich zu Arthur und Mischa. Er teilte den beiden Freunden mit, dass Josef mit einem Zahnverlust davongekommen sei, aber wegen der schweren Gehirnerschütterung und der langen Bewusstlosigkeit noch 24 Stunden beobachtet werden müsse und daher erst übermorgen entlassen werden könne. Auch Steffi kam schüchtern an den Tisch. Sie wollte sich entschuldigen, doch Arthur nahm ihre Entschuldigung nicht an. An den Geschehnissen war sie wahrlich nicht schuld.

Mit Tränen in den Augen verließ sie vorzeitig das Fest. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Dominic volle drei Stunden auf sie warten würde. Durch seinen Vater war er über Josefs Zustand informiert worden. Da sich die Aufregung damit etwas gelegt haben musste, überlegte er kurz, den Garten wieder zu betreten, besann sich aber dann eines Besseren und beschloss, außerhalb des Anwesens auf Steffi zu warten. Seine Anrufe und SMS‘ hatte sie nicht beantwortet. Er war daher zusätzlich verunsichert und steigerte sich zunehmend in Enttäuschung, Eifersucht und Wut hinein. Hätte er diesen Kärntner Trottel vor sich gehabt, wäre er schwer in Versuchung gekommen, nochmals zuzutreten. Dieser blöde Bauer war schließlich an allem schuld.

Steffi und Dominic waren beide nicht in der besten Stimmung für eine Konfliktbewältigung. So ging die Unterhaltung sofort in einen Streit über, weshalb Steffi sich nach wenigen Augenblicken entschied, ein Taxi zu bestellen und die Nacht bei ihren Eltern zu verbringen. Nachdem Arthur und sein Freund ihre Entschuldigung nicht angenommen hatten, stand ihr Entschluss fest, am nächsten Tag Josef im Krankenhaus zu besuchen. Sie wusste, dass dieser Vorsatz nicht umzusetzen wäre, wenn sie in der gemeinsamen Wohnung übernachten würde. Dominic wollte gerade grob werden, da tauchte glücklicherweise ein Paar auf der Treppe des Hauses auf. Der Mann erkannte Dominic wieder, erfasste die kritische Situation und forderte ihn auf, Steffi in Ruhe zu lassen. Dominic war rasend vor Zorn und brüllte unbeherrscht herum. Doch dann drehte er sich unvermutet um, sprang in seinen Land Rover Defender, schlug krachend die Tür zu, ließ den Motor aufheulen und verließ auf quietschenden Reifen den Parkplatz.

In diesem Moment lief drinnen das Hochzeitsfest von Erika Knie-Stemmberger auf seinen Höhepunkt zu. Das Streichquartett spielte einen Tusch, und Arthurs Cousin Heinrich stellte sich auf die Bühne, um eine Rede zu halten. Wortreich gratulierte er seiner Cousine und ihrem Angetrauten.

Während Heinrich sich in Selbstdarstellung übte, strebte Arthur der Bühne zu. Er hatte getrunken, das war schwerlich zu übersehen. Und das Trinken hatte ihn versöhnlich gestimmt. In seinem Rausch hielt er es für seine Pflicht, ebenfalls einige Worte an seine Halbschwester und ihren Ehemann zu richten. Vor der Bühne zweigte er ab und näherte sich dem Redner von hinten. Heinrich hatte seine Rede beendet und wollte eben den Tontechniker herbeirufen, da stand Arthur auch schon hinter ihm und griff nach dem Mikrofon. Heinrich stutzte und wollte noch etwas sagen, doch Arthur drängte ihn von der Bühne. Heinrich stand unschlüssig und überlegte, ob er Arthur nicht besser das Mikro entwenden sollte, doch dieser behielt es fest in der Hand. Heinrich, noch beeindruckt von der Schlägerei, blieb stehen, wo er war, und Arthur begann zu reden: „Sehr geehrte Festgäste, liebe Erika, liebe Kaa, lieber Reinhold, liebe Mutter. Danke Aldo, dass du dieses Fest möglich gemacht hast!“ Ein plötzliches Zucken durchfuhr Arthurs Körper, er drehte den Kopf ruckartig zur Seite und sein Mund verzerrte sich für einen flüchtigen Moment zu einer Grimasse. Er setzte fort: „Danke an das Streichquartett. AFFENGEIL! Ich bin dankbar, dass dieser Zwischenfall glimpflich ausgegangen ist. So ein Idiot! ☹☠†#ⅎⅎ!“ Wieder zuckte Arthur kurz zusammen. Gleich darauf entspannte er sich wieder. „Liebe Kaa, ich freue mich, und ich wünsche euch alles Gute, mögen eure Wünsche in Erfüllung gehen. So eine Ehe ist ja immer auch ein Wagnis. Das Leben hat so viele Überraschungen und Widrigkeiten für uns parat, auf die wir nicht immer vorbereitet sind. Und ich weiß, wovon ich spreche.“ In der Zwischenzeit hatte sich Sophie Knie einen Weg durch die Gäste gebahnt und blickte Arthur fassungslos an. Arthur nahm ihren Blick auf und setzte erneut zum Reden an: „Liebe Mutter!“ Wieder durchfuhr ihn ein Zucken, und er konnte dem inneren Drang nicht widerstehen: „Liebe Frau #☹ʞ☠ⅎ, †¿#☠☠#!; Mutter ⅎ#ʞ☹☠, Pardon“, Kaa – ☹☠†#ⅎⅎ, Reinhold – ¿ⅎ#☠ⅎ – Pardon, ich kann nicht anders“, stammelte Arthur. Weiter kam er nicht, denn Heinrich war aus seiner Starre erwacht und rang ihm das Mikro aus der Hand. In der Zwischenzeit war auch der Tontechniker an seinem Schaltschrank angelangt und schaltete den Ton aus. Die restlichen unflätigen Schimpfwörter, die aus Arthurs Mund kamen, waren nun nicht mehr durch den Lautsprecher verstärkt.

Arthur Rett - Aufstieg und Fall eines Helden

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