Читать книгу Baltrumer Bitter - Ulrike Barow - Страница 6
Montag
ОглавлениеEr holte aus und schlug zu. Klara Ufken prallte zurück und schrie auf. Entsetzt schaute sie ihren Kollegen Frank Visser an, dann ihre Hand, die wie automatisch dem Schmerz zur brennenden Wange gefolgt war. Blut. Ein schmaler Streifen Blut klebte an ihrer Handfläche, daneben ein kleiner, platter schwarzer Körper.
»Entschuldigung, da war eine Mücke. Ich dachte, bevor sie sticht …«
Sie schluckte. Bloß nicht heulen. Er würde sich nur wieder über sie lustig machen. Sie musste die nächsten vier Tage mit ihm aushalten. Mit ihm eine Miniwohnung teilen. Hoffentlich war die versprochene Couch im Wohnzimmer beschlafbar. Die Nächte mit ihm im Schlafzimmer zu verbringen, das mochte sie sich nicht vorstellen. Wenigstens wirst du mir mit einem Mann nicht untreu, hatte ihre Freundin Sonja vor ihrer Abreise lachend gesagt. Aber Klara hatte den winzigen Restzweifel in Sonjas Stimme gespürt.
Nein, sie würde ihr nicht untreu werden. Nicht mit Frank Visser.
»Schon gut. Danke. Wäre bestimmt jetzt kein Highlight, mit einem dicken Mückenstich herumzulaufen. Schau, die Fähre kommt.« Sie sah, wie sich die Baltrum I ihren Weg durch die schmale Hafeneinfahrt suchte.
Am Anleger wimmelte es von Menschen. Einige warteten ungeduldig, andere luden ihre Koffer aus den Autos und verstauten sie in silberfarbenen Containern. Fröhliches Kinderlachen mischte sich mit nervösem »Mach ma schneller, Horst. Dat Schiff is schon da.« Über der ganzen Szene lag ein tiefblauer Himmel und kein Lüftchen regte sich.
Als die Fähre in der Hafeneinfahrt drehte und die Besatzung die dicken Festmacherleinen aufnahm, fragte Klara: »Hast du schon Fahrkarten gekauft?«
Frank Visser verschwand in dem kleinen Schalterhäuschen und Klara zog schnell ein Taschentuch aus ihrem großen Umhängebeutel. Einmal über die Augen. Die Tränen rauswischen. Eigentlich hatte sie mit Sonja ein paar Tage am Baggersee abhängen wollen. Alles war geplant gewesen, dann war Klaras Chef mit dem Wunsch an sie und Frank herangetreten, sie möchten auf die Insel fahren.
»Nutzt eure Chance«, hatte er mit leuchtenden Augen gesagt. »Ich muss mich um das Bensersieler Projekt kümmern.« Sie hatte nicht ablehnen können. Nicht, wenn sie die Stufen auf der Karriereleiter weiter hochklettern wollte. So hatte sie zugesagt.
»Ich habe die Karten. Mensch, der Chef lässt sich unsere Reise ganz schön was kosten«, stellte Frank schmunzelnd fest und wedelte mit den Tickets.
»Das dürfte wohl der kleinste Teil der Investitionen sein. Aber es wird sich lohnen«, antwortete sie dem Kollegen. »Wenn wir gut sind. Und das werden wir sein.«
Nach ihrer Ankunft auf Baltrum luden sie ihr Gepäck auf die Wippe, die für sie am Hafen bereitstand, und folgten der Wegbeschreibung ihrer Vermieterin ins Westdorf. Mit ihnen zog eine große Zahl neuer Gäste über die Hafenstraße. Dort, wo sich die Straße am Nationalparkhaus gabelte, bogen sie links ab, gingen am Witthus vorbei und dann gleich wieder rechts. Nach gut zehn Minuten hatten sie es geschafft. Klara sah eine sympathisch lächelnde Frau mit einer dunklen Kurzhaarfrisur am Gartentor stehen. Das musste Frau Steenken sein.
Klara atmete tief durch. Die Hitze war fast unerträglich. Und das auf einer Insel. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie es im Süden der Republik aussah. Dort konnte man bestimmt fast nicht mehr auf die Straße, ohne einen Hitzschlag zu bekommen. Ihre Füße schmerzten. Stöckelschuhe waren keine gute Entscheidung gewesen.
Sie hoffte, dass Frank nicht wieder einen auf übertrieben superfreundlich machen würde, denn ihre Vermieterin erschien ihr dem ersten Eindruck nach durch und durch patent und bodenständig. Und genau so musste man die erreichen.
»Frank Visser. Wir haben bei Ihnen eine Wohnung gemietet. Das ist Klara Ufken. Schön warm haben Sie es hier.«
Glück gehabt. Ganz normal, die Begrüßung. Kein Gesülze von wegen »schönes Anwesen« und so. Die Klippe war umschifft. Nun kam die nächste. Mit leichtem Herzklopfen folgte sie der Frau in den ersten Stock. Würden Frank und sie sich zumindest zeitweilig aus dem Wege gehen können? Vor allen Dingen nachts?
Frau Steenken öffnete eine Tür und ließ sie eintreten. »Hier ist das Wohnzimmer mit einer Küchenzeile. Dahinter links befinden sich das Schlafzimmer und die Dusche. Wenn Sie möchten, können Sie gerne morgens bei mir frühstücken. Müsste ich nur vorher wissen. Kurtaxanmeldungen liegen auf dem Tisch.«
Klara bedankte sich und registrierte erfreut, dass im Wohnzimmer ein großes Schlafsofa stand.
»Frank, holst du unser Gepäck? Ich muss mich dringend inselfertig machen.«
Er nickte und ging raus. So was machte er, trotz der überheblichen Sprüche, die er gerade im Beisein von Geschäftsfreunden nicht lassen konnte.
Klara warf einen Blick ins Schlafzimmer und in die Dusche. Es war okay. Nicht neu, aber alles sauber. Da hatte sie schon in weitaus schlimmeren Unterkünften übernachten müssen. Die Wände waren frisch tapeziert. Die Vorhänge passten farblich zur Bettwäsche. Das Badezimmer mit seinen grauen Fliesen – na ja. Sie schob die Gardine zur Seite und schaute aus dem Fenster. Hinter der Strandmauer sah sie das Meer, das fast wellenlos in der Sonne glänzte.
*
Margot Steenken war zufrieden. Es hatte nicht mal einen halben Tag gedauert, bis sie ihre Wohnung nach einer kurzfristigen Absage wieder vermietet hatte.
Stadtmenschen, hatte sie spontan gedacht, als das junge Paar bei ihr aufgetaucht war. Er: Anzughose in dunklem Blau, mit Bügelfalten, zu einem dezent gestreiften Blazer und sie: Stöckelschuhe und kleines Kostüm. Solche Typen sah man hier ansonsten nur, wenn das Ausflugsschiff von Norderney anlegte. Auf Baltrum trugen die Urlauber bei diesem Wetter kurze Hose, T-Shirt und Sandalen. Die beiden haben unterschiedliche Namen, überlegte Margot Steenken. Scheinen wohl nicht verheiratet zu sein. Oder vielleicht doch. Das weiß man heutzutage ja nicht mehr so genau. Ihr Bauchgefühl sagte im Moment gar nichts. So entschied sie, dass es völlig egal war, wie die zwei miteinander verbandelt waren.
Schließlich lebten sie nicht mehr in den Sechzigern, als es noch verboten gewesen war, unverheiratete Paare zusammen in einem Doppelzimmer schlafen zu lassen. Damals hatte es den sogenannten Kuppelparagrafen gegeben. Ihre Mutter hatte immer ganz genau hingeschaut, wer ihre Zimmer bezogen hatte. Allerdings dann so manches Mal ein Auge zugekniffen. Hauptsache, das Geld landete zum Schluss auf dem Konto. Die Winterzeit ohne Einnahmen war lang genug.
Margot nahm ihren Badeanzug aus dem Schrank und steckte ein Handtuch in die Tasche. Zeit, schwimmen zu gehen. Das Wasser begann zwar gerade wieder abzulaufen, aber es würde reichen für ihre tägliche halbe Stunde. Seit vielen Jahren machte sie das nun schon, sobald die Temperatur es erlaubte. Sie war im Frühjahr die Erste und im Herbst die Letzte, die ihre Baderunde genoss. Gut für die Seele und für den Körper, behauptete sie stets, wenn ihre Freundinnen sie wieder einmal mit ihrer Leidenschaft aufzogen.
Im Garten saß Hilda. Den Stall mit den Meerschweinchen hatte sie unter den großen Sonnenschirm geschoben. Ebenso ihre Liege. Margot fragte ihre Tochter nicht, ob sie mitkommen wolle. Sie wusste genau, dass Hilda nur den Kopf schütteln würde. Wasser machte ihrer Tochter Angst, seit sie als Kind einmal davon zu viel geschluckt hatte. Eine große Welle war damals über sie hinweggerollt. Noch heute erfasste Margot Steenken das Grauen, wenn sie an den Moment zurückdachte, als das kleine, vor Angst verzerrte Gesicht immer wieder aus dem Wasser aufgetaucht war, nur um gleich darauf wieder vom Meer verschluckt zu werden. Es hatte in Wirklichkeit wohl nur ein paar Sekunden gedauert, bis Arnold seine Tochter gepackt und sicher im Griff gehabt hatte, aber sie würde diesen Anblick nie in ihrem Leben vergessen.
Auf der Straße sah sie kaum einen Menschen. Es war einfach zu warm fürs Spazierengehen.
Sie stellte ihr Fahrrad bei der Mehrzweckhalle ab und machte sich auf den Weg zum Badestrand. In Höhe der Strandkorbvermietung hörte sie plötzlich ihren Namen. »Hey, Margot. Na, ruft das Wasser?« Sie legte die Hände über die Augen und suchte den Strand nach dem Besitzer der Stimme ab.
Da war er. Im Strandkorb Nummer 241. Knut Ohlenberg. Nebst Claudia, Mark und Kevin. Gäste der ersten Stunde in ihrem Haus. Genauer gesagt waren die Eltern von Knut Ohlenberg bereits Gäste in ihrem Haus gewesen, als der noch ein kleiner Junge gewesen war. Jetzt kam auch er regelmäßig im Juli mit seiner Familie aus Fröndenberg für vierzehn Tage an die Nordsee.
»Na, Haus wieder voll?«, fragte er neugierig.
Sie nickte. »Gerade ist die Wohnung bezogen worden.« Sie hatte Ohlenbergs beim Frühstück erzählt, dass sie neue Gäste erwartete. Ohlenbergs wollten immer alles ganz genau wissen.
»Dann werden wir sie spätestens morgen beim Frühstück kennenlernen«, sagte Knut vergnügt.
»Haben die Kinder?«, fragte Kevin neugierig.
»Ein junger Mann und eine junge Frau. Keine Kinder. Scheinen nett zu sein«, fasste Margot für Ohlenbergs zusammen. »Jetzt muss ich aber los. Das Wasser wartet nicht auf mich. Wir sehen uns.«
Claudia Ohlenberg hatte derweil ihre Haltung im Strandkorb nur unwesentlich verändert. Jetzt schob sie ihre Sonnenbrille über die wasserstoffblonden Haare und stand auf. »Warte, ich komme mit.«
Margot musste sich zwingen, nicht aufzustöhnen. Sie hatte keine Lust, im Doppelpack ihre Runden zu drehen. Sie hatte über die Jahre ihren eigenen Rhythmus entwickelt, den wollte sie beibehalten. So konnte sie am besten abschalten.
»Mama, Mama, wir wollten doch ein Eis kaufen. Das hast du uns versprochen«, jaulte Mark. Er griff nach einer Plastikschaufel und begann, seine Mutter mit erstaunlicher Schnelligkeit mit Sand zu bewerfen.
Knut lachte aus vollem Hals. »Los, Kevin, mach mit«, rief er vergnügt. Aber Kevin schüttelte trotzig den Kopf.
»Ich will lieber mit dir auf die Schaukel«, maulte er und rammte mit seinem roten Minibagger den rechten großen Zeh seines Vaters.
Margot nutzte den allgemeinen Aufruhr. »Ich muss los«, rief sie winkend zurück. »Kannst ja nachkommen.«
Sie zog ihre Sandalen aus und lief durch den warmen Sand bis zum DLRG-Wachturm. Die Männer und Frauen in den orangefarbenen T-Shirts der Wasserwacht hatten es sich gemütlich gemacht, ihre Baywatch-Bojen steckten neben ihnen im Sand. Die Badeflagge war bereits eingeholt worden, die offizielle Badezeit also eigentlich vorbei, aber das störte sie nicht. Genügend Wasser umspielte die Stangen, die den Badebereich eingrenzten.
Sie legte ihre Sachen neben eines der großen Räder, auf denen der hölzerne weiße Turm ruhte. Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln etwas Rundes, Rotes auf sich zukommen, spürte einen Luftzug. Ein Ball flog knapp an ihrem Kopf vorbei. Ein kleines Mädchen lief hinterher, schaute sie um Entschuldigung bittend an.
Der Strand war voll von Menschen in allen Größen und Breiten, angetan mit mehr oder weniger geschmackvollen Badeklamotten. Eine eindeutige Modelinie konnte sie nicht ausmachen, doch ein Trend war eindeutig: je breiter der Mensch, desto bunter und manchmal auch knapper das Tuch. Jeder Strandkorb war besetzt, und an der Wasserkante waren unzählige Strandmuscheln in allen Farben aufgestellt. Sie liebte das bunte Strandleben des Sommers, die Unbeschwertheit der Urlauber und die Wärme des Sandes. Aber ebenso die ruhige Herbstzeit und den Winter, wenn die Stürme über den weiten Sand fegten und Milliarden von Sandkörnern vor sich herschoben. Jede Jahreszeit hatte ihr eigenes Gesicht. Und im Sommer gehörte es einfach dazu, dass mal ein Ball vorbeigeflogen kam.
Vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend überwand sie das große Muschelfeld, dann gab es kein Hindernis mehr. Voller Wohlbehagen ließ sie sich in das warme Wasser fallen.
*
Arnold Steenken schaute auf die Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann war Feierabend für heute. Zumindest im Büro. Zu Hause warteten Hilda und Margot, und seine Frau hatte meist noch den einen oder anderen Auftrag für ihn. In einer Pension war immer irgendwas zu tun. Bis jetzt war der Tag ruhig verlaufen. Sein Kollege lag mit einer Sommergrippe im Bett, so musste er sich dessen Kommentare zum Weltgeschehen seit ein paar Tagen nicht mehr anhören. Sie saßen zwar in getrennten Zimmern, doch die Bürotüren waren häufig geöffnet. Daher bekam er einiges mit, was sich nebenan tat. Er hatte gedacht, er hätte sich in all den Jahren an Georgs Sprüche gewöhnt. Aber jetzt merkte er, wie angenehm die Arbeit ohne das Gerede aus dem Nebenzimmer war.
Trotzdem verstand er sich ganz gut mit Georg. Sie konnten sich aufeinander verlassen. So war Georg immer einer der Ersten, die seine neuen Schnapskreationen probieren mussten. Natürlich erst nach Feierabend.
Noch eine Viertelstunde. Er stand auf. Die Begonie schrie förmlich nach Wasser. Er füllte die lila Plastikgießkanne, die er vor zwei Jahrzehnten von seinem Vorgänger übernommen hatte, zur Hälfte. Ganz ging nicht, seit sie mit der harten, spitzen Ecke eines Aktenordners Bekanntschaft gemacht hatte, der aus dem obersten Regal gefallen war. Zum Glück hatte es nur die Kanne erwischt.
Er schaute aus dem Fenster. Vor der Backstube war nichts los. Waren wohl alle am Strand. Erst am späten Nachmittag, wenn es auf die Abendessenzeit zuging, würden sich die Supermärkte wieder füllen.
»Mist!« Arnolds Hand zuckte zurück. Die Begonie stand unter Wasser, ein kleines Rinnsal lief bereits über die Fensterbank. Er riss die Kanne zur Seite, und das restliche Wasser schwappte auf den Drucker, der mit seinem modernen Design einen erstaunlichen Kontrast zu dem Schreibtisch bildete auf dem die Jahre ihre Spuren hinterlassen hatten.
Die rasch ausufernde Pfütze auf der Fensterbank kannte keinen Halt mehr. Immer schneller tropfte das Wasser über den Rand der Plastikbank zielgenau in seinen Rucksack, der mit geöffnetem Reißverschluss auf den Feierabend wartete. Wütend trat Arnold ihn aus der Gefahrenzone. Um die Briefe zu retten, die ihm seine Frau am Morgen für die Post mitgegeben hatte, kam der Tritt gerade rechtzeitig. Allerdings mit dem Ergebnis, dass sich der gesamte Inhalt des grün-blauen Rucksacks unter seinem Schreibtisch ausbreitete. Seine rote Frühstücksdose machte es sich zwischen den Briefen und zwei Tomaten bequem. Die Flasche Orangensaft gluckerte unter Protest zwischen seinem Fahrradschlüssel und einem angebissenen Schokoriegel hin und her.
Arnold Steenken ließ sich auf seinen Drehstuhl sinken und legte den Kopf auf die Arbeitsplatte. Exakt in diesem Moment klopfte es leise und Thea Holle, Sekretärin des Bürgermeisters, steckte ihr Gesicht zur Tür herein.
»Hallo, Arnold, der Chef möchte dich sprechen.«
Er stöhnte, dann nickte er ergeben. Was blieb ihm anderes übrig.
Thea Holle stand immer noch am gleichen Fleck und musterte ihn spöttisch. »Ganz schön warm heute, nicht?«
Sein Oberhemd klebte durchgeschwitzt an seiner Haut. Der Wunsch, nicht hier, sondern in seinem kühlen Keller zu sitzen, wurde übermächtig. »Wenn der Herr Bürgermeister möchte, bitteschön, ich komme.«
Er folgte Thea Holle über den Flur und stand kurz darauf im Zimmer seines Chefs. »Hallo, Enno, was gibt’s?«
»Setz dich eben«, sagte der Mann mit der Stirnglatze auf der anderen Seite des großen Eichenschreibtisches. Seine Äuglein waren in dem dicken Gesicht fast nicht zu sehen.
Für einen Moment stand Arnold die Gestalt des Bürgermeisters in dessen erstem Wahljahr vor Augen. Damals hatte man ihn noch vorzeigbar nennen können. Nicht nur der weibliche Teil der Insulaner hatte damals Worte wie »charmant« und »gesellschaftsfähig« gefunden, und die eine oder andere hatte ihn wohl auch »gut aussehend« genannt. »Der Typ macht was her«, war der allgemeine Tenor gewesen. Enno Lohmann hatte es damals geschafft, mit überzeugenden, mitreißenden Auftritten die Insulaner für sich einzunehmen. Sie fühlten sich von ihm verstanden. »Den Weg gemeinsam gehen«, war sein Motto gewesen, und die Menschen hatten ihn gewählt.
Nichts davon war geblieben. Die Worte des Bürgermeisterkandidaten hatten sich als hohles Geschwätz erwiesen. Die Insulaner hatten erkennen müssen, dass das einzige Interesse dieses Mannes seiner eigenen Person galt. Allerdings schlug sich diese Einstellung in keiner Weise in seiner äußeren Erscheinung nieder. Lohmanns ehemals blondes, gepflegtes Haar war einem schütteren fettig-grauen Halbkranz gewichen. Er hatte so viele Kilo zugenommen, dass er sich wie eine wandelnde Tonne ausnahm.
»Sag mal, ich habe gehört, ihr habt euch neulich getroffen und wollt eine eigene Partei gründen?«
Das konnte nicht wahr sein! Wer hatte das schon wieder rumgetratscht? Sie hatten beschlossen, nichts davon an die Öffentlichkeit dringen zu lassen, bis die Sache in trockenen Tüchern war. Das fing ja gut an. Er hätte seinen Vorgesetzten jetzt darauf hinweisen können, dass eine Wählergemeinschaft rechtlich gesehen keine Partei war, aber das hätte der sowieso nicht kapiert.
»Woher hast du diese Information?«, fragte er ruhig.
»Stimmt’s oder stimmt’s nicht?«, blaffte der Bürgermeister.
»Entschuldige bitte, aber ich glaube, dass ich darüber jetzt nicht reden möchte. Falls sich etwas tut in der Hinsicht, werden wir natürlich rechtzeitig vor den Wahlen damit an die Öffentlichkeit gehen. Ich sage: falls!«
Enno Lohmann war aufgestanden und stützte sich schwer atmend auf seinem Schreibtisch ab. »Ich will dir mal was sagen: Überleg dir gut, ob es klug ist, den etablierten Parteien mit deiner Wünschelrutentruppe – du weißt, was ich meine: Such ich hier mal was zu meckern, such ich da mal was zu meckern – die Wähler wegzunehmen. Denn genau diese Parteien haben jahrelang dafür gesorgt, dass dein Arbeitsplatz erhalten bleibt, vergiss das nicht.«
Arnold schnappte nach Luft. Was hatten die Parteien mit seinem Arbeitsplatz zu tun? Solch einen Blödsinn hatte er noch nie gehört. Außerdem: Nach fünfundzwanzigjähriger Betriebszugehörigkeit stand ein Rauswurf überhaupt nicht zur Debatte, zumal er Mitglied des Betriebsrates war. »Also ehrlich, Enno. So geht das nicht. Du willst mir doch nicht drohen, oder? Glaubst du wahrhaftig, ich würde mich davon beeindrucken lassen?« Arnolds Stimme hatte sich gehoben. Jetzt lief ihm der Schweiß in kleinen Rinnsalen in den Kragen seines Oberhemdes. Musste er sich das bieten lassen? Was bildete sich dieser Heini ein?
»›Drohen‹ ist nicht das richtige Wort. Ich möchte dich als guter Arbeitgeber nur vor den Folgen unüberlegter Handlungen schützen. Drohen, nein das will ich nicht. Sollte ich je in der Öffentlichkeit hören, dass du das erzählt hast, werde ich nicht sehr erfreut reagieren, das glaube mir. Da wird dann Aussage gegen Aussage stehen.« Der Bürgermeister öffnete ein Fenster mit der Folge, dass weitere heiße Luft das Büro überflutete. Arnold Steenken betete lautlos darum, dass der Mann die Vorhänge zuziehen möge.
Aber so selten, wie der sein Büro nutzte, war es dem vermutlich völlig egal. Wenn man Lohmann suchte, fand man ihn meistens mit seinen Anglerfreunden auf der Buhne. Und wenn er mal an seinem Arbeitsplatz im Rathaus war, verzapfte er nur Blödsinn. Von Verwaltung hatte der Bürgermeister ohnehin keine Ahnung. Und die Fehler mussten dann die Mitarbeiter ausbaden. Leider hatte bis jetzt noch keiner den Vorstoß unternommen, ihn in den Ruhestand zu verabschieden. Dazu fehlte einfach der Nachweis einschneidender Verfehlungen. Und von selber würde der nie im Leben gehen. Dazu genoss er das schöne Leben viel zu sehr.
Arnold wollte nur noch nach Hause. Er konnte keinen Moment länger die Gesellschaft seines Chefs ertragen. »Ich bin nicht nur Gemeindemitarbeiter, sondern auch Privatmann. Und in diesem Land herrscht Demokratie. Nur zur Erinnerung.«
Ein zynisches Lachen folgte ihm, als er die Tür zum Vorzimmer öffnete.
Thea Holle war bereits gegangen. Er schaute kurz in sein Büro, steckte seinen nassen Rucksack und den dazugehörigen Inhalt in eine Plastiktüte und verließ seinen Arbeitsplatz. Morgen würde er wieder da sitzen. Und übermorgen und all die nächsten Tage bis zur Rente. Bis dahin blieben noch einige Jahre.
Er nahm sein Fahrrad aus dem Ständer unterhalb der gläsernen Eingangstür und fuhr die paar Meter Richtung MittendrinFisch. Dort stand ein Briefkasten. Nicht, dass er die Briefe wieder mit nach Hause brachte … Es wäre nicht das erste Mal gewesen.
Woher hatte dieser Kerl nur von der neuen Gruppierung erfahren? Steenken konnte sich nicht vorstellen, dass Anne Vry, Dietrich Schüttenberg oder die anderen, die sich in der letzten Woche bei ihm getroffen hatten, ein Wort davon an die Öffentlichkeit hatten dringen lassen. Aber vielleicht hatten sie zu Hause etwas erzählt – was eigentlich ganz normal war – und so war die Geschichte weitergetragen worden. Natürlich waren sie kein konspirativer Haufen, der etwas zu verbergen hatte. Dann hätten sie sich nicht Wählergemeinschaft Uns Baltrum nennen dürfen. Sie wollten ja die Insulaner von ihren Meinungen überzeugen. In absehbarer Zeit standen die Wahlen für den Gemeinderat an. Dort würden sie sich einbringen.
Am Donnerstag, so hatten sie ausgemacht, wollten sie sich wieder treffen. Diesmal bei Hermanda. Nägel mit Köpfen machen. Und vielleicht eine neue kompetente Person finden, die sich für das Bürgermeisteramt auf der Insel bewarb. Arnold rechnete sich gute Chancen aus, Lohmann ein für alle Mal loszuwerden. Acht Jahre Amtszeit waren mehr als genug. Dieser Mann war eine echte Plage. Obwohl er zugeben musste, dass Lohmann ihn zumindest bei allem, was Arnolds Arbeit anbelangte, normalerweise weitgehend in Ruhe ließ.
Nun war Lohmann durch die Gerüchte, die über die Insel kreisten, offensichtlich nervös geworden. Bis jetzt hatte der Mann sich auf seinem Posten absolut sicher gefühlt, nicht zuletzt durch die Leute, mit denen er sich gerne umgab. Speichellecker, die ihn ständig wie Majestix, den alten Gallier, auf dem Schild ihrer zweifelhaften Werte vor sich hertrugen.
Als Arnold die Gartenpforte zu seinem Grundstück öffnete, stieß er beinahe mit einer jungen Frau zusammen. »Oh, Entschuldigung. Ich hätte Sie fast übersehen. Das fehlte noch, dass ich gedankenlos unsere Gäste über den Haufen fahre. Sie sind doch unser neuer Gast, oder? Ich bin Arnold Steenken.«
Die Frau lachte. »Klara Ufken. Und nein, ich stehe hier nicht, um Ihnen einen Teppich zu verkaufen. Ja, ich bin Ihr neuer Gast. Auf dem Weg zum Strand.«
Er sah in ein fröhliches Gesicht, das von beeindruckend grünen Augen dominiert wurde. Sie schlängelte sich an ihm vorbei auf die Straße und ließ einen Hauch Parfüm zurück, der ihn an die toskanischen Lavendelfelder erinnerte, die Margot und ihn vor Jahren mit ihrem Duft und dem bis ans Firmament reichenden Lila so beeindruckt hatten.
Arnold stellte sein Fahrrad hinter dem Haus ab und ging in den Garten. Kein Mensch war zu sehen. Selbst Hilda, der es eigentlich nie zu heiß sein konnte, hatte offensichtlich kapituliert. Nur die Meerschweinchen standen unter dem Sonnenschirm, waren aber zu träge, um sich zu bewegen.
Er würde duschen und in der erträglichen Kühle seines Kellerraumes verschwinden. Dort wartete seine neueste Kreation auf die Weiterverarbeitung. Im Flur fiel er beinahe über einen Karton, der vor der Garderobe stand. Perfekt. Die neuen Flaschen waren angekommen. Jetzt konnte es losgehen.
Aus der Küche hörte er leises, melodisches Summen. »Hallo, Hilda«, begrüßte er seine Tochter lächelnd. »Na, wie geht es dir? Hast du einen schönen Tag gehabt?«
Hilda nickte kaum merklich. Wenn er nicht so viel Erfahrung mit den Reaktionen seiner Tochter gehabt hätte, wäre es ihm vermutlich gar nicht aufgefallen. Sie hatte ein Spültuch in der Hand und wischte damit über den großen eichenen Küchentisch. Immer und immer wieder.
»Falls du mich suchst: Ich bin im Keller«, sagte er im Hinausgehen. Manchmal machte es ihm nichts aus, an anderen Tagen konnte er es kaum ertragen, sie so zu sehen.
*
Klara Ufken hatte ihr Kostüm gegen eine kurze Hose und ein Top getauscht und war auf dem Weg zum Strand. Was hatte ihre Vermieterin gesagt? Bis zur Inselglocke und dann links halten. Sie lief die Dorfstraße hoch, am Café Tant’ Dora vorbei, und meinte schon den typisch würzigen Geruch des Meeres zu spüren. Sie hatte sich mit Frank für den frühen Abend verabredet und genügend Zeit, sich noch ein paar Stunden in den Sand zu packen, die Augen zu schließen und sich zu entspannen. Morgen würde sie sich mit dem neuen Projekt ihres Chefs beschäftigen.
Der Bauunternehmer Jan Wybrands war auf der Insel kein Unbekannter. Immer wieder kaufte er Häuser von Insulanern, die ihre Immobilie loswerden wollten. Sei es, weil sie die Insel verließen, oder weil sie einfach zu alt waren und die Kinder den Betrieb nicht übernehmen wollten. Dann kam Wybrands’ große Stunde.
Sie lächelte leicht. Erst kürzlich hatte sie an einem Verkaufsgespräch teilgenommen. Zum Schluss hatte ihr Chef das ältere Ehepaar so weit gehabt, dass die wirklich glaubten, er, Wybrands, würde ihnen einen selbstlosen Gefallen tun, wenn er ihr Haus kaufte. Die Leute waren so glücklich darüber, dass sie aus lauter Dankbarkeit auf jede Menge Kohle verzichteten. Klara hatte die Freude ihres Chefs über das Schnäppchen fast körperlich spüren können. Er schien vor Begeisterung zu vibrieren. Sie hoffte, noch viel von dem Mann zu lernen.
Aber dafür mussten Frank und sie diesen Auftrag gut über die Bühne bringen. Da kannte ihr Chef keinen Spaß. Zwei alte Insulanerhäuser waren ihm zum Kauf angeboten worden. Das große Projekt, das er nach dem Abriss der Häuser auf den Grundstücken verwirklichen wollte, bedurfte einiger Vorplanung. Für morgen stand ein Gespräch mit dem Bürgermeister auf dem Programm. Sie sollten ihm unverbindlich auf den Zahn fühlen, hatte der Chef ihnen mit auf den Weg gegeben. Endgültiges würde er dann mit ihm persönlich besprechen.
Beim Frühstück würden sie die Stimmung im Hause Steenken testen. Ob da was ging oder nicht.
Als sie beinahe über eine Hundeleine stolperte, schreckte sie aus ihren Gedanken auf. Am Ende der Leine hing ein lauthals bellender Dackel, der mit einem Bernhardiner auf der anderen Straßenseite Kontakt aufgenommen hatte. Sie umrundete Dackel und Frauchen in einem großen Bogen.
Ihr Telefon klingelte. Sie griff in die Tasche ihrer Shorts, nur um festzustellen, dass das Teil nicht in der Hose, sondern tief in ihrem Beutel unter dem Handtuch und dem Buch vergraben war. Los, verdammt! Wo steckst du?
Als sie das Handy herauszog, schwieg es bereits. Sonja. Sie setzte sich auf eine der Holzbänke neben dem gelben Eispavillon und wählte. Sofort meldete sich ihre Freundin mit der rauen Stimme, in die sie sich auf einer Party spontan verliebt hatte. »Hallo, Schatz. Na, wie geht’s? Was macht der Auftrag?«
»Bis jetzt noch gar nichts. Spiele Urlauberin und erkunde die Gegend. Morgen wollen wir loslegen. Da hat sich der Wybrands ein echt dickes Ding vorgenommen.« Klara lachte. »Wenn wir damit erfolgreich sind, dann ist unsere Hochzeitsreise gesichert.« Im nächsten Jahr wollten sie heiraten. Nur über das Ziel ihrer Hochzeitsreise waren sie sich noch nicht einig. Sonja zog es in die Karibik, sie selbst würde lieber nach Jordanien fahren. Petra, die geheimnisvolle Stadt, das würde sie reizen.
»Wir werden erst einen auf Kultur machen, und uns danach am Strand unter Palmen erholen«, hörte sie ihre Freundin sagen. »Das müsste doch drin sein.«
»Klar, mit Strand fange ich jetzt schon mal an. Allerdings ohne Palmen. Aber immerhin. Mensch, was wäre das schön, wenn du jetzt hier wärest. Und nicht Kollege Frank, diese Flachpfeife«, bedauerte Klara.
»Leider muss ich arbeiten, liebste Freundin. Ich habe meinen Urlaub deinetwegen verschoben, vergiss das nicht. Aber es dauert ja nicht lange. In drei Tagen seid ihr wieder zurück.«
»Wenn alles klappt. Ich hoffe es sehr. Bis heute Abend. Wünsche mir einen Gute-Nacht-Anruf.«
Nachdem Sonja ihr noch etwa dreimal hatte versprechen müssen, abends anzurufen, beendete Klara das Gespräch, überquerte den Marktplatz und sah bald eine mächtige weiße Holzbrücke, die den Fußweg in einiger Höhe überspannte. Lachend blieb sie stehen. Da wies doch tatsächlich ein Verkehrsschild darauf hin, dass das Unterqueren der Brücke nur für Fahrzeuge mit einer Maximalhöhe von 3,7 Metern möglich sei. Ein echter Gag. Ob es auf dieser autofreien Insel tatsächlich Fahrzeuge mit so hohen Aufbauten gab?
Rechts, in einer Senke, sah sie zwei Tennisplätze, das Gras von der Sonne verbrannt. Bis auf ein paar Tauben, die dort vergeblich nach Nahrung suchten, waren die Plätze leer. Kein Wunder, ging ihr durch den Kopf. Mir wäre es jetzt auch viel zu warm, um hinter kleinen, weißen Bällen herzujagen. Ich will nur noch zum Strand.
Sie bog ab, den roten Klinkerpfad entlang, der die Randdünen durchschnitt. Am Strand streifte sie ihre Schuhe ab und fühlte den warmen Sand angenehm unter ihren Füßen.
Klara breitete ihr Handtuch aus, zog sich bis auf den knappen Bikini aus und machte sich mit einem wohligen Seufzer lang. Eigentlich hatte sie sofort zum Wasser gehen wollen, aber nun waren ihr die paar Meter dorthin schon zu viel. Später, dachte Klara. Später. Erst einmal werde ich hier faul rumliegen und an gar nichts denken.
Doch sie merkte schnell, dass das gar nicht so einfach war. Ihr Job ließ sie nicht los und ihre privaten Sorgen rückten ihr unaufhaltsam auf die Pelle. Noch kurz vor ihrer Abreise hatte Klara mit ihrer Mutter wieder eine dieser unsäglich überflüssigen Diskussionen gehabt, die unausweichlich in dem Satz gipfelten: »So werde ich nie Enkel kriegen. Das habe ich nicht verdient.« Spätestens bei diesem Satz haute Klara grundsätzlich ab. Sie konnte den Mist einfach nicht mehr ertragen.
Ihr Vater sah ihre Liebe zu Sonja erheblich gelassener. Aber auch er konnte seine Frau nicht davon überzeugen, dass das Leben der Tochter nicht nur darin Erfüllung zu finden hatte, Enkelkinder für sie in die Welt zu setzen.
Klara sprang auf. Selbst hier am Strand, wo die Luft flirrte vom Lachen der Menschen und der Duft nach Sonnenöl sich mit dem Geruch von Salzwasser und Tang zu einer unvergleichlichen Mischung verband, konnte sie ihre trüben Gedanken nicht verdrängen.
Durfte sie ihr Handy wohl unbeaufsichtigt in ihrer Tasche lassen, während sie schwimmen ging? Sie beschloss, es zu riskieren. Klara wickelte ihre Tasche ins Badehandtuch und wollte schon losgehen, als ihr das Arrangement viel zu auffällig erschien. Es lädt geradezu zum Diebstahl ein, überlegte sie und legte alles wieder hin, als ob sie nur mal kurz drei Meter zur Seite spaziert wäre.
Das Meer hatte sich schon weit zurückgezogen. Eine lange Schlange Menschen watete durch das seichte Wasser auf die vorgelagerte Sandbank. Andere versuchten zu schwimmen und wieder andere lagen auf Luftmatratzen und paddelten wild drauflos. Sie mochte sich dem Strom nicht anschließen. Klara bog rechts ab und lief an der Wasserkante entlang Richtung Osten. Die Sonne brannte unbarmherzig auf ihre blassen Schultern. Warum hatte sie ihr T-Shirt nur in der Ferienwohnung gelassen? Es hätte ihr mehr Schutz geboten als das giftgrüne Top mit den dünnen Trägern. Wenn sie heute Nacht Ruhe finden und nicht vom Sonnenbrand geplagt werden wollte, musste sie umkehren. So schwer es ihr fiel. Denn hier, direkt mit den Füßen im Wasser, ließ es sich eigentlich gut aushalten. Immerhin – der Apotheker, der ihr am Tag vor ihrer Abreise auf die Insel die After-Sun-Lotion verkauft hatte, hatte von größtmöglicher Wirkung gesprochen …
Als sie sich umdrehte, kamen ihr zwei junge Mädchen entgegen. Klara schätzte sie auf fünfzehn oder sechzehn Jahre. In ihre Haare waren bunte Bänder geflochten. Die eine trug ein weites, mit großen roten und gelben Punkten bedrucktes Kleid. Der Saum wand sich, schwer von Sand und Feuchtigkeit, um ihre bloßen Füße. Die andere hatte sich in ein weites, bunt gemustertes Tuch gehüllt. Die Mädchen hatten ihre Arme ausgebreitet und drehten sich immer wieder im Kreis, dann hüpften sie fröhlich über die kleinen Wellen, die am Strand ausliefen. Als sie näher kam, hörte Klara, dass die beiden fröhlich sangen. Sie meinte, das Lied schon einmal irgendwo gehört zu haben. Und zwar vor gar nicht langer Zeit. Aber sie konnte sich nicht erinnern. Klara sah ihnen fasziniert hinterher.
Also, was nun? Links oder rechts? Sollte sie sich den Urlaubern anschließen, die auf dem Weg zur Sandbank waren, oder vernünftig sein? Die große Uhr gleich bei den Randdünen zeigte ihr, dass sie bis zu ihrer Verabredung mit Frank genügend Zeit hatte. Sie konnte nicht widerstehen. Der blaue Himmel, das Wasser, das sich um ihre Füße kräuselte – einfach einladend. Fröhlich querte sie den breiten, mit warmem Wasser gefüllten Priel, dann hatte sie den steilen Anstieg zur Sandbank erreicht. Auf allen vieren kletterte sie hinauf und war bald ganz und gar von nassem Sand bedeckt. Ein guter Grund, sich auf der anderen Seite den Sand von der Nordsee wieder abwaschen zu lassen. Plötzlich war sie glücklich. Frei und unbeschwert. Nichts war mehr von den Gedanken übrig, die sie eben noch geplagt hatten.
*
Frank Visser war sauer. Anstatt mit ihm die Insel zu erkunden, aalte sich seine Kollegin am Strand.
Bei seinem Einstieg in die Firma vor gut vier Monaten hatte er spontan erkannt, dass diese Frau absolut in sein Beuteschema passte. Nicht nur ihr gepflegtes Äußeres, ihre dunkelbraunen, sportlich geschnittenen Haare und der offene Blick gefielen ihm, sondern auch das kleine Grübchen im Kinn, das erschien, sobald sie lachte. Von Anfang an hatte er die Art gemocht, wie sie Dinge anpackte, mit Kunden verhandelte. All das fand er perfekt. Der einzige Knackpunkt war ihre Freundin.
Vor einiger Zeit hatte Wybrands sie schon einmal zu zweit losgeschickt, um einen Auftrag abzuwickeln. Klara hatte Frank dann in einer späten Stunde an der Hotelbar erzählt, dass Sonja zu ihrem Leben gehörte. Sie hatte ihn gebeten, Jan Wybrands zu verschweigen, dass sie eine Lebensgefährtin hatte. Sie war sich nicht sicher, wie ihr Chef darauf reagieren würde. Frank hatte es Klara versprochen.
Trotzdem hatte er gehofft, dass dieser Inselauftrag sie einander etwas näherbringen würde. Besonders der Umstand, dass sie gemeinsam in dieser Wohnung übernachten mussten, hatte ihn vor Beginn der Reise mit großer Zuversicht erfüllt. Als er dann allerdings gesehen hatte, wie sie beim Eintreten mit hoffnungsvollem Blick das Sofa suchte, war sein Optimismus auf ein Minimum geschrumpft.
Frank nahm seine Kamera aus der Reisetasche und ging ins alte Ostdorf. Hier gab es noch einige wenige Insulanerhäuser mit zur Windseite heruntergezogenen Dächern und kleinen Sprossenfenstern. Nautilus las er auf einem Schild an einem der Häuser. Neugierig blickte er durchs Fenster. Die Vielfalt der dort ausgestellten Muschelschalen und Schneckenhäuser erstaunte ihn. Nie hätte er gedacht, dass es diese Tiere in derart unterschiedlichen Größen und Farben gab. Die mächtigste Muschelschale wies wohl einen Durchmesser von über einem Meter auf. Frank hatte bisher immer nur an den Inhalt von Miesmuscheln gedacht, schön mit Tomatensauce und Baguette, dazu ein trockener Weißwein.
Er folgte einem schmalen Weg und fand sich kurz darauf am Rand einer hügeligen Dünenlandschaft wieder. Kein Mensch war zu sehen. Nur zwei Fasane scharrten unbeirrt von seiner Anwesenheit Würmer und kleine Insekten aus dem Moos, das die Dünen bedeckte. Frank schaute ihnen eine Weile zu, dann fotografierte er die beiden Insulanerhäuser, die abgerissen werden sollten. Er versuchte, sich an deren Platz das neue Objekt vorzustellen, von dem es bisher nur eine Zeichnung gab. Für ein mittelgroßes Hotel wäre genug Raum, aber für das, was sie planten, war ein größeres Grundstück dringend nötig. Allein das Schwimmbad mit den Räumen für das Wellness-Angebot würde jede Menge Platz brauchen.
»Ich sage nur: Ein Wellness- und Sporthotel muss das werden. Das Schwimmbad: wettkampftauglich«, hatte sein Vater geschwärmt. »Mit allem, was ein Hochleistungssportler heutzutage braucht. Und dann an die richtigen Stellen ran und Werbung machen. Das bringt’s!« Das Motto dieses Mannes war nun einmal: Wenn schon, dann richtig. Dafür ging der durchaus schon mal über Leichen. Frank grinste. Na ja, der Ausdruck war wohl ein bisschen übertrieben. Aber dass er einen äußerst zielstrebigen Vater hatte, das hatte er bereits bei ihrem ersten Treffen erkannt.
»Einen Vater gibt es nicht«, hatte seine Mutter mehr als zwanzig Jahre lang behauptet. Bis sie Frank vor gut einem halben Jahr die Wahrheit gesagt hatte. Kurz bevor sie gestorben war. Und man konnte von dem Mann halten, was man wollte: Als Frank bei Jan Wybrands auf der Matte gestanden hatte, mit dem abgebrochenen BWL-Studium, hatte der ihn sofort aufgenommen. In seine Familie und in die Firma.
»Wir hängen das nicht an die große Glocke«, hatte sein Vater gesagt. »Verdien du dir erst mal Anerkennung bei mir und den Angestellten, dann sehen wir weiter.«
Frank hatte zugestimmt, und so wusste auch Klara nicht, dass er der Sohn des alten Wybrands war. Sie würde noch früh genug erfahren, dass die Position als rechte Hand des Chefs vergeben war.
Einen Pächter hatte sein Vater für das Luxusobjekt auch schon, obwohl es im Moment nur auf dem Papier und in seinem Kopf existierte. Selbst die eher abgeschiedene Lage am Rande des Ostdorfes konnte ihn nicht abschrecken.
Frank wusste, dass sein Vater nichts unversucht lassen würde, die Pläne umzusetzen. Das war spätestens klar geworden, als er hatte verlauten lassen, dass dann eben als besonderes »Bonbonchen« für die Gäste des neuen Hotels Elektrokarren angeschafft werden müssten. »Das ist genau das, was ich von euch erwarte. Dass ihr bei dem Bürgermeister reingeht, und wenn ihr wieder rauskommt, habt ihr die Unterstützung für die E-Karren-Sache in der Tasche. Klar? Denn wenn der blockiert, wird es ewig dauern, bis der Punkt bei einer Gemeinderatssitzung auf die Tagesordnung kommt.«
Klar. Natürlich. Genau diese Vorgabe seines Vaters würde er erfüllen. Er! Dann musste nur noch die Unterschrift unter den Kaufvertrag. Aber sein Vater hatte nur abgewinkt. »Da mach dir man keine Gedanken drüber«, hatte der gesagt. »Das ist ein Klacks.«
Frank schaute auf die Uhr. Es war Zeit für den Rückweg. Außerdem war ihm warm. Viel zu warm. Über die Hellerwiesen auf der Südseite der Insel kam kein Lüftchen. Wenn überhaupt, war es ab und zu der Hauch eines drückenden Landwindes, der ihm die Schweißperlen auf die Stirn trieb. Sie liefen langsam an seiner Wange herunter und sammelten sich an seiner Hemdöffnung. Hektisch fummelte er in den Taschen seiner leichten Leinenhose, doch die waren leer. Kein Taschentuch weit und breit. Ärgerlich strich er sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Aufrecht hielt ihn einzig der Gedanke, dass sein Arbeitseifer bestimmt belohnt werden würde. Spätestens wenn er seinen Vater dezent darauf hinwies, dass er derjenige gewesen sei, der die Arbeit gemacht habe. Sollte er noch einen Abstecher ins – was stand da auf dem Hinweisschild? – Kluntje machen? Nein, es war einfach zu warm. Er würde in der Wohnung warten, bis seine Kollegin von ihrem Strandausflug zurück war.
Als Frank auf das Grundstück der Steenkens einbog, hörte er eine leise Melodie. Neugierig schaute er über die niedrige Buchsbaumhecke in den Garten. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nie eine so schöne Frau gesehen wie die, die es sich gerade auf der Liege bequem machte. Sie trug ein weißes, mit bunten Blumen bedrucktes T-Shirt und einen langen, dunkelblauen Leinenrock. Ihre bloßen Füße steckten in roten Riemchensandalen und ein schmaler, roter Schal, der um ihre Schulter geschlungen war, wehte leicht hin und her. Er hatte das Gefühl, die Zeit bliebe stehen. Frank wagte kaum, sich zu bewegen, in der Angst, das Bild würde zerplatzen wie eine Seifenblase. Aber das Bild blieb. Auch nachdem er einige Minuten fast reglos gestanden hatte, saß das wunderschöne Mädchen noch immer auf der Liege, schaukelte leicht mit dem Oberkörper und summte ein Lied.
Ganz langsam nahm Frank Visser den Fotoapparat hoch, schaute durch den Sucher, konnte kaum glauben, was er sah, dann drückte er ab. Die Frau musste das leise metallische Klicken gehört haben. Sie lächelte ihn an und winkte.
Vorsichtig machte er Schritt für Schritt auf sie zu, setzte sein nettestes Lächeln auf, immer noch in der Angst, das Bild könnte sich einfach in Luft auflösen. »Hallo, ich heiße Frank, und du? Wohnst du hier?«
Die junge Frau blickte ihn fröhlich an, gab aber keine Antwort. Irritiert wartete er auf eine Reaktion, doch sie sagte nichts.
»Wie heißt du?«, fragte er, plötzlich nicht mehr sicher, ob er sie nicht besser hätte siezen sollen. »Entschuldigung, Frank Visser. Ich bin Gast hier im Haus. Sie auch?«, versuchte er es erneut.
Sie schwieg. Dann stand sie langsam auf, schaute ihn noch einmal an und ging ins Haus.
So etwas war ihm noch nie passiert. Sprachlos starrte Frank Visser auf die blaue Plastikliege, die ausgeblichen von der Sonne in Steenkens Garten stand. Keine Spur war mehr da von dem Sommerwunder, das ihn eingehüllt und bis in sein Innerstes getroffen hatte. Wer war sie? Sie konnte doch nicht einfach gehen. Ihn hier zurücklassen, ohne ein Wort zu sagen. Für einen Moment war sie ihm wie eine Verheißung erschienen, dann war sie davongeschwebt und hatte ihn im Garten stehen lassen. Wo gehörte sie hin? Er würde seine Vermieterin fragen. Spätestens morgen beim Frühstück.
Jetzt war es Zeit zu duschen und auf Klara zu warten. Mal sehen, ob der Abend erfolgreicher werden würde.
*
Sorgsam spülte Arnold Steenken das Haarsieb in dem alten metallenen Waschbecken ab, trocknete es ab und legte es in die Schublade des dunkelbraunen Küchenschrankes. Er schaute sich zufrieden um. Gemütlich hatte er es in seinem Keller. Als Margot zwei Jahre zuvor ihre neue Kücheneinrichtung bekommen hatte, hatte er die alten Schränke abgebaut und in seiner »Giftküche« wieder aufgebaut. Nur die Spüle, die hatte er nicht ersetzt. Sie war eine Erinnerung an die Zeit, als seine Schwiegermutter diesen Raum für die Herstellung und Lagerung ihres Eingemachten verwendet hatte. Er hatte die Frau, die er nie ohne ihre geblümte Kittelschürze angetroffen hatte, sehr gemocht.
Sie hatte ihm oft erzählt, dass es für die meisten Insulaner unvorstellbar gewesen war, in den Jahren des Aufbaus einen Raum im Haus nicht zu vermieten, sondern als Vorratsraum zu nutzen. Doch seine Schwiegermutter hatte an ihrem Vorrats- und Arbeitsraum eisern festgehalten. Und jetzt war es der Ort, an dem er seine Liköre kreierte. Seine große Leidenschaft. Walnusslikör, Honiglikör, Erdbeerlikör – alle Zutaten fein abgestimmt und in Flaschen gefüllt.
Er schnupperte. Sog dann tief das Aroma durch die Nase. Glückwunsch, Arnold, dachte er. Da hast du wieder was Gutes hingekriegt. Heute war seine neueste Schöpfung fertig geworden. Im Jahr zuvor hatte er Sanddorn geerntet, der auf der Insel reichlich wuchs. Er durfte das. Insulaner hatten eine Sondergenehmigung der Nationalparkverwaltung, auch in den Ruhezonen Beeren zu pflücken. Den Sanddorn hatte er zu Saft verarbeitet und vor einigen Wochen mit diversen Kräutern, Kandis und Korn angesetzt. Jetzt musste er nur noch einen Namen für das Getränk finden und auf dem PC einen Aufkleber entwerfen. Er drehte den Schraubverschluss auf die letzte Flasche und stellte sie mit einer liebevollen Bewegung neben die anderen in die Vitrine.
»Arnold, das Abendessen ist fertig. Kommst du?«, hörte er Margots Stimme von oben. Glück gehabt, dachte er. Gerade fertig geworden. Nach dem Essen würde er ein Gläschen spendieren. Seine Frau war stets die Erste, die seine neuen Sorten probierte. Und wenn sie ihr Okay gab, dann gehörte es zu den festen Ritualen, dass er mit seinem Kollegen Georg Hanefeld im Büro einen Feierabendschluck nahm.
»Ich komme«, rief er, während er immer zwei Stufen auf einmal nehmend in die Küche lief.
Hilda saß bereits an ihrem angestammten Platz am Kopfende des massiven Tisches. Die Küche war seit jeher der wichtigste Raum für Familie Steenken. Hier traf man sich, saß mit oder ohne Gäste gemütlich zusammen, löste Probleme und feierte. Hier hatten Margot und er gesessen, als sie die Nachricht erreichte, dass ihre Tochter Hilda am Strand von einem Sandabbruch begraben worden war. Die Kinder hatten an den Randdünen gebuddelt, als sich ein Sandbrett gelöst hatte. Zwei hatten den Unfall nicht überlebt. Hilda hatten die Rettungskräfte nach einer ganzen Weile äußerlich unverletzt herausgeholt. Seitdem sprach sie nicht mehr.
»Hallo, meine Lieben«, sagte er fröhlich. »Ist das eine Hitze! Eigentlich viel zu warm zum Essen. Aber wenn ich diese Gemüsesuppe sehe, vergesse ich glatt die Außentemperatur.« Er setzte sich vergnügt zu seinen beiden Frauen und langte zu. »Ich habe soeben den Likör abgefüllt. Ich glaube, er ist ganz besonders lecker geworden.«
»Na, dann muss ich wohl meines Amtes walten und nachher ein Gläschen zu mir nehmen«, antwortete Margot. »Oder zwei, wenn er mir schmeckt.«
Arnold nickte. »Herzlich gerne. Aber vorher muss ich euch erzählen, was mir im Dienst passiert ist. Ihr werdet es nicht glauben, was der Lohmann von mir wollte.«
Als er seine Geschichte erzählt hatte – den Teil mit der Begonie hatte er wohlweislich ausgelassen – beugte sich Margot mit puterrotem Kopf über den Küchentisch. »Das willst du nicht hinnehmen, oder? Du musst deine Kollegen vom Betriebsrat informieren, das ist doch wohl klar. Erpressung – wo kommen wir denn da hin?!«
Arnold nickte. »Das war echt ein ziemlich starkes Stück. Mal schauen, ob ich was unternehme. Der wird sich schon genug wundern, wenn wir mit unserem Programm um die Ecke kommen. Wenn wir dafür genug Anhänger finden, sieht es nämlich schlecht aus mit seinen Vorstellungen von progressiver Dorfentwicklung. Dann heißt es: ›Zurück zu den Wurzeln‹. Aber was sage ich, du wirst ja dabei sein, wenn wir uns Donnerstag treffen. Das wird einschlagen wie eine Bombe.«
Margot schaute ihren Mann skeptisch an. »Ich lasse mich überraschen. Viele Insulaner sind anderer Meinung als du. Die sehen im Bau von Luxusunterkünften die Zukunft der Insel.«
»Ja, leider. Darum ist es so wichtig für mich, meine Ansichten von Dorfentwicklung in die Öffentlichkeit zu tragen. Wenn man die alten Häuser saniert, können dort doch auch Energieeffizienz und Gemütlichkeit einziehen. Da muss es nicht gleich die Luxusherberge sein. Gäste, die so was wollen, fahren nach Juist. Hier nach Baltrum kommen die Familien, und das ist richtig so.«
»Mir musst du das nicht erzählen, Arnold«, sagte Margot energisch. »Du darfst allerdings eines nicht vergessen: Jeder kann mit seinem Eigentum machen, was er will. Denk an unser altes Haus im Ostdorf. Wenn wir das verkaufen wollten, wäre das unsere ureigenste Sache. Natürlich hätten wir keinerlei Einfluss mehr darauf, was der neue Eigentümer damit macht. Selbst wenn er das Haus abreißen und stattdessen zehn Eigentumswohnungen auf das Grundstück setzen würde. Damit müssten wir halt leben, wenn wir es nicht selbst renovieren könnten oder wollten. So ist das nun mal.«
»Du hast ja recht«, erwiderte Arnold. »Aber genau das sind doch die Aussichten, die mich erschrecken. Dass die Insel über kurz oder lang ihr Gesicht verliert. Ihre Geschichte. Und ihren Charme. Dass sie beliebig austauschbar wird in ihrer Architektur und in ihren Angeboten. Da werden Hotels entstehen, von denen eines aussieht wie das andere, und Eigentumswohnungen, die nur im Sommer für drei Monate vermietet sind. Schau dich im Winter um. Nichts als dunkle Fenster. Das ist doch nicht schön für uns Insulaner. – Fazit: Ich möchte am liebsten das ganze Jahr über Gäste in gemütlichen Ferienwohnungen haben, deren Besitzer auf der Insel wohnen«, erklärte Arnold entschlossen. »Kurz gesagt, ich will das Insel-Flair erhalten.«
Margot schüttelte entschieden den Kopf. »Ich glaube, der Zug ist abgefahren. Die Zeiten sind einfach vorbei.«
»Das wollen wir mal sehen«, murmelte Arnold. Dann nahm er sich ein drittes Mal von der Gemüsesuppe. Seine Tochter lächelte ihn fröhlich an.
»Wo wir gerade über Sanierungen reden: Kommen wir noch einmal auf unser Haus im Ostdorf zurück. Hast du dir endlich Gedanken gemacht, wie es damit weitergehen soll?«, sagte seine Frau. »Seit Onkel Theos Tod haben wir uns nicht gekümmert. Ein altes Haus verfällt schnell, wenn es nicht bewohnt wird. Was tun wir also?«
Arnold schaute sie unangenehm berührt an. »Ich weiß, ich weiß. Die immer gleiche Frage. Aber verkaufen? Bestimmt nicht. Wie soll ich das meinen Uns-Baltrum-Genossen erklären? Renovieren? Du weißt, wie teuer das ist. Wir müssen etwas unternehmen, das ist sicher. Am besten wäre es, wenn wir die beiden Nachbarhäuser gleich mitkaufen und auf den neuesten Stand bringen würden. So könnten wir einen Teil des alten Ostdorfes erhalten. Nur wie wir das bezahlen sollen, das ist mir im Moment noch ein Rätsel. Wir alleine als Familie schaffen das nicht. Aber vielleicht finden sich ja ein paar Leute von der Insel, die da mitmachen. So als Genossenschaft. Wie beim Inselmarkt. Da klappt das doch auch. Ich gebe zu, die Finanzierung zum Erhalt der alten Häuser ist genau die Lücke zwischen Theorie und Praxis. Aber daran müssen wir arbeiten. Ganz zu schweigen von den anderen Problemen, die sich damit auftun. Aber lassen wir das jetzt.« Arnold stand auf. »Was ist? Wollen wir noch ein wenig in den Garten gehen?« Er schob den leeren Glasteller von sich, auf dem sich fünf Minuten zuvor noch eine größere Menge Vanilleeis mit Schokoladensoße getürmt hatte.
Seine Frauen nickten.
»Hilda, räumst du das Geschirr weg?«, fragte Arnold seine Tochter. Er erwartete keine Antwort, wusste aber, dass Hilda seiner Bitte gewissenhaft nachkommen würde. »Mama und ich gehen schon mal vor.«
Kritisch schaute Arnold in den Himmel. Dunkle Wolken hatten sich über dem Wattenmeer aufgetürmt. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie sich entladen würden. Hoffentlich wurde es danach ein wenig kühler. »Ein paar Minütchen haben wir noch, dann sollten wir den Sonnenschirm und die Liegen sicherstellen«, überlegte er laut, »und die Meerschweinchen ins Haus bringen. Aber jetzt hole ich meine neueste Kreation aus dem Keller.«