Читать книгу Baltrumer Maskerade - Ulrike Barow - Страница 8

Sonntag

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Irritiert tastete Hedda Bramlage nach dem Radiowecker. Es konnte doch wohl nicht sein, dass sie schon aufstehen musste?! Doch ein Blick auf die Uhr zeigte ihr, dass sie hochnötig erst ins Bad und dann in die Klamotten steigen sollte. Sonst durfte sie das Frühstück im Hotel abhaken.

Na ja, ganz so schlimm war es nicht. Sie hatte eine gute Stunde, aber mit Anfang sechzig ging eben manches nicht mehr so schnell. Nicht, dass ihre Knochen nicht mehr mitmachten. Sie hatte nur manchmal das Gefühl, dass sie einfach mehr Zeit brauchte, um die Dinge des täglichen Lebens in einer für sie vernünftigen Reihenfolge abwickeln zu können. Früher, als sie in ihrer alten Firma tagtäglich für die Koordination von Arbeitsabläufen zuständig gewesen war, hatte sie nicht einmal darüber nachgedacht. Sie hatte die Handwerker eingeteilt, Arbeitsmaterial bestellt, und keiner der gestandenen Männer hatte widersprochen, wenn sie morgens ihre Arbeitspläne ausgeteilt hatte.

Jetzt lag sie im Bett und überlegte, ob sie erst ihre Zähne putzen und dann duschen, oder das Ganze eher umgekehrt gestalten sollte. Oder ob sie überhaupt aufstehen sollte. Es war einfach so gemütlich unter der kuscheligen Decke. Doch der Tag wartete.

Gähnend stand sie auf. Die Sonne schien durch die bunte Übergardine. Sie öffnete das Fenster und atmete tief ein. Was für eine klare Luft! Mit einem Aroma von Schlick aus dem Wattenmeer, das sich zwischen den Hellerwiesen und dem Festland mit seinen vielen Windrädern ausbreitete. Das Watt war trocken gefallen. Nur in den Prielen stand ein wenig Wasser. Unendlich viele Möwen, die das Watt als Nahrungsrevier nutzten, erfüllten die Luft mit ihren Schreien.

Der Abend zuvor mit Petra war recht nett gewesen. Obwohl sich ihre sonst so taffe Tochter zurzeit in ein nervliches Wrack zu verwandeln schien – was ihren durchaus vorhandenen guten Charakterzügen nicht zum Durchbruch verhalf –, hatten sie es sich gemütlich gemacht. Hedda hatte sogar vorsichtig anfragen dürfen, wie Petra und Jörg sich das mit der Bezahlung der Zimmer für die anreisende Verwandtschaft vorgestellt hatten. Ihre Tochter war ein wenig blass geworden, hatte einen Moment lang an ihrem Wiener Schnitzel rumgesäbelt und dann gesagt: »Die Zimmer übernehmen wir. Die Überfahrt kann jeder aus der eigenen Tasche bezahlen.«

Hedda hatte ihr schweigend zugestimmt. Diese Hochzeit würde schon teuer genug. Da konnten die Gäste ruhig was dazutun. Aber sie kannte ihre Verwandtschaft. Das würde nicht gut ankommen. Jörgs Familie war da lockerer. Überhaupt – das war eine coole Truppe. Nicht so verbiestert wie die eigene. Wenn sie nur an ihre alte Tante Elli dachte …! Den ganzen Tag am Beten, wenn sie nicht gerade mit dem Feldstecher am Fenster saß und die Nachbarn beobachtete.

Petra ist bestimmt schon mit dem Frühstück durch, überlegte Hedda, als sie aus dem ersten Stock die Treppe zum Frühstücksraum hinunterging. Doch als sie ihren Blick über den Saal mit den hellen Holzmöbeln schweifen ließ, entdeckte sie ihre Tochter ganz hinten in der Ecke, vertieft in eine Zeitung. Eine Wolke von Gemurmel hing über dem Raum, obwohl längst nicht mehr jeder Stuhl besetzt war. Viele Gäste hatten ihr Frühstück wohl schon beendet. Kein Wunder bei dem tollen Wetter. Ab und zu klang Kinderlachen durch, und es schepperte leicht, als ein junger Mann in T-Shirt und kurzer Hose den Deckel von der Pfanne mit dem Rührei nahm und auf dem Buffet absetzte.

»Hallo, Petra. Na, genießt du die Ruhe vor dem Sturm?«

Ihre Tochter nickte. »Gleich geht es weiter. Termin beim Friseur.«

Hedda schaute sie prüfend an. Irgendetwas war ungewohnt. Friseur. Das war das Stichwort. Petras Haare waren anders blond als sonst. Hellblond. Sehr hellblond. Zumindest das, was sich unter dem Kopftuch hervorkräuselte.

»Du brauchst gar nicht so zu gucken. Es ist alles okay. Willst du dir keinen Kaffee bestellen? Frau Ahlers schaut gerade zu uns herüber.«

Noch ehe Hedda etwas sagen konnte, stand die Chefin des Hotels neben ihr. »Ich bringe Ihnen heute höchstpersönlich den Kaffee, Frau Bramlage. Meine Bedienung liegt mit Grippe im Bett.«

»Mit viel Milch, bitte, sonst vertrage ich ihn nicht«, erklärte Hedda, dann wandte sie sich Petra: »Und, was liegt sonst noch an?«

»Da fragst du?«

Hedda sah schon wieder das nervöse Blitzen in Petras Augen. Meine Güte, so eine Hochzeit hätte sie selber früher aber lockerer weggesteckt. Wenn sie denn eine gehabt hätte. Petra hatte schon recht. Aber das stand auf einem anderen Blatt.

»Wie gesagt: probefrisieren. Das heißt, probefrisieren ist der falsche Ausdruck. Ich will nur für Freitag vor der Trauung einen Termin.«

»Meinst du nicht, der Mann sollte sich versuchsweise schon mal mit deinen Haaren beschäftigen?« Hedda wusste, dass das so üblich war, seit sie neulich eine dieser Frauenzeitschriften gelesen hatte.

Petra lachte verächtlich. »Ich heiße nicht Amelie und mache aus der Hochzeit keinen gesellschaftlichen Höhe­punkt. Ich werde auch kein Krönchen im Haar tragen oder sonst etwas. Er soll sie nur vernünftig frisieren und das wird er wohl können. Außerdem will ich die Kutsche bestellen. Dann den Brautstrauß mit der Floristin besprechen. Kutsche und Brautstrauß kann ich Gott sei Dank im Ostdorf fast auf einem Weg erledigen.«

Es lag Hedda auf der Zunge, zu fragen, ob der Brautstrauß nicht Sache des Bräutigams sei, aber sie hielt sich zurück. Sollte ihre Tochter man machen.

»Um vier kommt Jörg. Da muss ich natürlich am Hafen sein.«

Natürlich. Wäre komisch, wenn die Braut ihren Bräutigam bereits vor der Hochzeit allein am Hafen stehen lassen würde.

»Darum ziehe ich jetzt mal los. Lass dir das Frühstück schmecken.«

So schnell konnte Hedda Bramlage gar nicht antworten, geschweige denn fragen, ob sie helfen könne, wie ihre Tochter verschwunden war. Dann eben nicht. Genüsslich biss sie in ihr Marmeladenbrötchen.

Auch sie hatte etwas vor. Nämlich ihre Bekanntschaft mit Eberhard erneuern.

*

Als Hedda eine knappe Stunde später etwas atemlos die Bänke auf dem großen Platz vor dem Rathaus erreichte, saß Eberhard bereits da. Mit Erstaunen bemerkte sie, dass ihr Herz plötzlich ziemlich unruhig schlug. War sie zu schnell gelaufen? Oder sollte die Unruhe einen anderen Grund haben?

Er griente, als sie sich neben ihm auf die Bank fallen ließ. »Na, auch nicht mehr die Jüngste!«

Empört schaute sie ihn an, musste dann lachen. Er hatte nicht unrecht. Man gut, dass er ebenfalls die sechzig­ überschritten hatte. Er sah einfach unwiderstehlich aus mit seinem braun gebrannten Gesicht, umrahmt von einem grauen Dreitagebart, seinen blauen Augen, die beim Lachen unglaublich leuchteten, und der Figur, der man die Jahre keinen Zentimeter ansah.

»Wie ist es, gilt dein Versprechen noch, mich mit ins Watt zu nehmen?«

»Ein Insulaner hält, was er verspricht«, antwortete er und stand auf.

Eberhard nahm sein Fahrrad und stapfte energisch los. Sie hatte ein wenig Mühe, ihm zu folgen. Als er es bemerkte, verlangsamte er seine Schritte.

»Warst du schon im Museum?« Er deutete mit dem Kopf auf ein altes Haus, das sich hinter dem Süddeich versteckte.

»Nein, ich bin erst seit drei Tagen hier. Und die habe ich damit verbracht, meiner Tochter zu helfen. Soweit sie es zugelassen hat. Zwischendurch habe ich die Insel erkundet. Und gestern habe ich einen neuen Bekannten im Cobigolf geschlagen.« Sie schmunzelte.

»Tja, so schnell kann’s kommen«, überlegte Eberhard. »Da macht man seine übliche Runde mit dem Fahrrad, und was ist? Da fällt einem glatt eine Frau vor die Füße.«

Das war wirklich ein Schreck gewesen. Sie hatte sich beim Fellinis ein Eis gekauft. Sehr zum Entzücken einer mächtigen Silbermöwe. Als Hedda dem Angriff des imposanten Tieres ausweichen wollte, hatte sie nicht auf den Fahrradfahrer geachtet, der sie gleich unterhalb des Eisladens bei Mindermann überholte. Ihr erstes Zusammentreffen mit Eberhard Mettjes war ein wenig schmerzhaft gewesen.

»Ist sonst nicht meine Art, vor den Männern in die Knie zu gehen«, erklärte sie. »Aber in diesem besonderen Fall blieb mir nichts anderes übrig.«

»So habe ich dich von Anfang an nicht eingeschätzt«, antwortete Eberhard mit einer Wärme in der Stimme, die ihr Inneres beinahe völlig aus dem Ruder laufen ließ.

Sie rief sich zur Ordnung. Du kannst dich in deinem abgeklärten Alter nicht Hals über Kopf in einen wildfremden Mann verknallen, schalt sie sich. Sie wusste es besser: Sie konnte.

Am Hafen angekommen bogen sie links ab, am Häuschen der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger und am Bootshafen vorbei.

»Du solltest deine Hose hochkrempeln und die Schuhe ausziehen.« Eberhard zeigte auf seine bloßen Füße. »Du kannst alles hier liegen lassen, das klaut keiner.«

Sie zögerte einen Moment, dann zog sie entschlossen ihre Lieblingssandalen aus und stellte sie im Gras neben dem Weg ab.

»Auf geht’s.« Er nahm einen Wanderstock, der an seinem Hinterrad festgeklemmt war, und lief los.

Sie folgte ihm und schon bald lag die Weite des Watten­meeres vor ihr. In der Ferne sah sie viele Menschen wie winzige Punkte knapp über dem Wattboden.

»Das sind alles Gruppen, die mit dem Schiff heute Morgen nach Baltrum gekommen sind und nun wieder mit einem erfahrenen Wattführer rüberlaufen nach Neßmersiel.«

»Wie lange …?«

»Gut zweieinhalb bis drei Stunden sind die unterwegs. Je nachdem, wie viel der Wattführer erklärt, wie der Wasserstand ist und so weiter.«

Ganz schön mutig, dachte Hedda. Sie war froh, dass die Silhouette der Insel noch zum Greifen nah war, obwohl sie schon eine ganze Weile keinen Bodenbewuchs mehr gesehen hatte. Stattdessen spürte sie feuchten, riffeligen Sand unter ihren Fußsohlen.

Eberhard bückte sich und strich mit den Fingern über den Boden. Dann grub er etwas aus. »Schau mal, eine Wattschnecke. Davon gibt es an die tausend pro Quadratmeter. Sie dienen vor allem den Wasservögeln als Nahrung.«

»Du kennst dich wirklich gut aus«, wunderte sie sich. »Wissen alle Insulaner so gut Bescheid im Wattenmeer?«

Eberhard lachte. »Nein, das wohl nicht. Ich war viele Jahre Wattführer. Aber dann hat mich die Arthrose erwischt. In den Knien. Mein Arzt hat gesagt, ich solle mir das mit dem Wattwandern gut überlegen. Offene Wanderungen sind für mich Vergangenheit. Ich gehe nur noch mit Gruppen, die sich bei mir anmelden. Nur noch wenige Male im Jahr. Übermorgen laufe ich mit dem Gartenbauverein Ennigerloh. Wenn du mitwillst …«

Hedda schaute ihn prüfend an. »Warum bist du mit mir hier, wenn es eigentlich nicht gut für deine Gelenke ist?«

»Weil ich nun mal gerne im Watt bin. Es ist eine faszinierende Landschaft, die ich dir gerne zeigen möchte. Außerdem macht meinen Knien so ein kleiner Exkurs nichts aus.« Eberhard nahm eine Muschel in die Hand. »Hier, siehst du? Eine Herzmuschel. Sie ist – warte mal – sieben Jahre alt.«

»Woran erkennst du das?«, fragte sie erstaunt. Sie konnte kaum glauben, dass so ein kleines Tier bereits so viele Jahre seinen Feinden hatte entkommen können.

»Du musst nur die Ringe zählen. Es sind Jahresringe. Genau wie bei Bäumen.«

Tatsächlich. Die einzelnen Abschnitte waren klar zu sehen.

»Ich setze sie wieder auf die Erde. Schau, was passiert.«

Hedda traute ihren Augen kaum. Die Muschel buddelte sich mit ihrem Grabefuß in kürzester Zeit wieder in den feuchten Sand. Da hatte natürlich eine Möwe keine Aussicht auf Erfolg. Zumindest bestand eine gewisse Chancengleichheit zwischen Fressen und Gefressenwerden. Das war immer wichtig im Leben, sinnierte Hedda. Dieses Prinzip hatte sie auch versucht ihren beiden Töchtern nahe zu bringen.

Allerdings musste sie zugeben, dass Petra in der Beziehung zu Jörg den dominanten Teil einnahm. Jörg war eher ein Sanfter, der sich alle Dinge mehrmals durch den Kopf gehen ließ, bevor er eine Entscheidung fällte. Der nie mit dem Kopf durch die Wand ging, sich ein … ja, fast kindliches Gemüt bewahrt hatte. Ein Mann, der mit dem auskam, was er durch seine Vorstellungen einnahm. Wenn es einmal nicht so gut lief, zum Beispiel in den Wintermonaten, in denen die Auftritte in den Nordseebädern wegfielen, reichte ihm weniger zum Leben. Dann blieb ihm nur das Honorar von Kindergeburtstagen oder seltenen Gastspielen in den Kinderbespaßungsfabriken unter Dach, die sich inzwischen selbst in den kleinsten Orten etablierten. Wie sagte er immer? »Eine Rutsche, eine Ecke voll mit bunten Bällen, Cola, Eis und ein Hamburger – das reicht, um Kinder von heute glücklich zu machen. Denken zumindest die Betreiber solcher Hallen. Und viele Eltern, nicht zu vergessen.« Seiner Meinung nach fehlte Entscheidendes: Die Fantasie der Kinder zu wecken, und der Wille, sich mit den Kindern zu beschäftigen, sie ernst zu nehmen.

Hedda bewunderte ihren Schwiegersohn für seine Geduld. Sie war zeitlebens ungeduldig gewesen. Wenn nicht alles sofort klappte, konnte sie unangenehm werden. Das hatten ihre beiden Kinder ebenfalls erfahren müssen.

»Jetzt graben wir einen Wattwurm aus«, schreckte Eberhard sie aus ihren Gedanken und zeigte auf eines von Millionen geringelter Sandhäufchen, die den Wattboden bedeckten. Sie ließ sich von seinen spannenden Erklärungen gefangen nehmen und merkte kaum, wie die Zeit verstrich.

»So, da wären wir wieder. Herzlichen Glückwunsch zur ersten erfolgreich absolvierten Wattwanderung.«

Schon hatten sie wieder die Stelle erreicht, an der sie ihre Schuhe abgelegt hatte.

»Ich lade dich zu einem Kaffee im Verhungernix ein. Wie wär’s?«, schlug sie vor, als sie wieder auf der Hafen­straße standen. Sie hoffte, dass er zustimmte und sie noch ein wenig Zeit miteinander verbringen konnten.

Gerade als er antworten wollte, klingelte es in seiner Jackentasche. Er fummelte sein Handy heraus. »Hallo, Hans. Schön, dass du zurückrufst. Gab’s die Sachen im Baumarkt? Nein? Aber eine Leiche? Wo? Aha. Das ist ein Ding. Sachen gibt’s.« Eberhard hörte einen Moment schweigend zu, dann sagte er: »Ich melde mich später über Festnetz«, und verstaute das Telefon wieder in seiner Jacke.

Hedda wartete ungeduldig auf eine Erklärung. Warum sagte er nichts?

Stattdessen schaute er auf seine Armbanduhr.

»Also, was ist nun? Wir trinken Kaffee und du erzählst mir alles über die Leiche.«

Doch Eberhard schüttelte den Kopf. »Geht leider nicht. Ich muss los. Das Mittagessen wartet.«

»Aber über die Leiche wirst du mir wohl kurz noch berichten können, oder?«, versuchte Hedda es erneut.

»Mein Freund Hans wohnt in Bensersiel. Ich hatte ihn gebeten, mir ein paar Dinge aus dem Baumarkt zu besorgen. Das macht er gerne. Er bringt sie dann zum Schiff …«

»Eberhard – die Leiche!?«, hakte sie noch einmal nach. »Frauen sind nun mal neugierig!«

»Die haben sie im Hafenbecken von Bensersiel gefunden. Mehr wusste Hans nicht. Nur, dass der Tote weiße Handschuhe getragen haben soll. Aber du weißt, wie das mit solchen Wahrheiten ist«, fügte Eberhard hinzu. »Jetzt muss ich aber wirklich. Bis später.«

Ehe sie fragen konnte, wann sie sich wiedersehen würden, hatte er seinen Stock am Fahrrad festgeklemmt und fuhr Richtung Nationalparkhaus. Komisch, dachte sie, das ist heute bereits das zweite Mal, dass sich jemand einer Antwort durch Flucht entzieht. Bin ich denn so unerträglich? Und außerdem – wer wartete mit dem Mittag­essen auf ihn? Seine Frau? Hedda hatte ihn tatsächlich noch nicht nach seinem Familienstand gefragt. Das wäre ein Ding … Sie erlaubte ihren Gefühlen heimlich die wildesten Sprünge und Eberhard fuhr womöglich zum Mittagessen im Kreis seiner Lieben!

Nichts da. Sie würde ihrem Überschwang einen Riegel vorschieben. War sowieso lächerlich. In ihrem Alter. Sie würde ins Hotel Sonnenstrand zurückkehren und schauen, ob ihre Tochter das Probefrisieren erfolgreich hinter sich gebracht hatte. Und sich wieder in den Dienst der Hochzeitsvorbereitungen stellen.

Wer wohl der Tote war? Was hatte Eberhards Freund gesagt … der trug weiße Handschuhe? Hedda schien der Magen plötzlich wegzusacken. Trugen Clowns nicht weiße Handschuhe? Trug Jörg bei seinem Auftritt nicht immer weiße Handschuhe? War sein Auftritts-Termin gestern am Festland nicht in Esens gewesen? Und lag Esens nicht in der Nähe von Bensersiel? Oder übernachtete er nur in Esens und sein Auftritt war in Bensersiel? Sie konnte sich nicht erinnern.

Ihre Knie zitterten, als sie das Hotel erreichte. Sollte sie Petra berichten, was sie gehört hatte? Oder machte sie damit nur die Pferde scheu? Bastelte sie sich da reinen Blödsinn zusammen? Langsam ging sie hoch in den ersten Stock und blieb vor Petras Zimmer stehen. Sie hörte die laute Stimme ihrer Tochter. Was sollte sie tun? Hedda klopfte und öffnete vorsichtig die Tür.

Petra telefonierte gerade, winkte sie aber rein. Ihre Tochter sah erbost aus. Sie knallte das Handy auf den Tisch und ließ sich auf ihr Bett fallen. »Dieser Idiot. Dieser verfluchte Idiot …«

»Was ist denn los?«

»Jörg. Er geht einfach nicht ans Telefon. Ich muss doch wissen, wann er kommt! Schließlich steht das Probeessen an. Nicht mal der Chef vom Sturmfrei in Neßmersiel konnte ihn erreichen. Da hat er sich nämlich auch noch nicht blicken lassen. Echt peinlich, dieser Anruf.«

»Er wird bestimmt rechtzeitig da sein«, versuchte sie Petra zu beruhigen. Heddas Stimme hielt, doch die Angst saß ihr im Nacken. Was wäre, wenn doch … wenn Jörg überhaupt nicht mehr käme? Wenn sein Telefon mit ihm im Hafenbecken …? Hedda stöhnte leise auf. Ihr Kreislauf meldete sich. Wie immer, wenn ihr etwas großes Unbehagen bereitete. Was sollte sie machen? Es gab nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie hatte recht mit ihrer Vermutung – dann würde ihr Petra nie verzeihen, dass sie nichts gesagt, nicht reagiert hatte. Oder sie bildete sich alles nur ein. Dann war es unverzeihlich, ihre Tochter dermaßen aufzuregen. Hedda wünschte sich Eberhard herbei. Der hätte bestimmt eine Lösung für ihr Problem.

Hastig stand sie auf. Ein Fehler. Alles drehte sich um sie herum und sie ließ sich wieder in den Sessel sacken. Sie musste hinüber in ihr eigenes Zimmer. Sich beruhigen. Nachdenken. Damit das Drehen in ihrem Kopf ein Ende fände. Konnte sie ihre Tochter alleine lassen? Was, wenn gleich ein Anruf kam? Ein Anruf, der Petras Zukunft zerstörte?

Mühsam erhob sie sich ein zweites Mal. »Ich gehe mal eben rüber. Bin gleich wieder da.« Sie wartete nicht auf eine Antwort, zog den Schlüssel aus ihrer Jackentasche und tastete sich über den Flur. Immer an der Wand lang. Ihr Zimmer lag nur ein paar Schritte weiter.

Gerade als sie aufschließen wollte, hörte sie hinter sich ein fröhliches »Hallo, Frau Bramlage, warten Sie. Ich hätte da noch eine Frage. Wegen heute Abend.«

Frau Ahlers. Bloß jetzt nicht. Hedda konnte nicht klar denken. Geschweige denn Fragen beantworten. »Ich muss mal eben – bin gleich bei Ihnen.« Mit letzter Konzentration drehte sie den Schlüssel im Schloss und drückte die Klinke. Sie wankte in ihr Zimmer und schaffte es gerade noch, hinter sich wieder abzuschließen.

Aufatmend ließ sie sich in den bequemen Ohrensessel fallen. Aber sie konnte die Frau nicht warten lassen. Die Chefin hier hatte genug zu tun. Sie waren nicht die einzigen Gäste. Nur einen Moment noch. Einen kleinen Moment. Sie schloss die Augen, atmete tief durch, ganz bewusst, so wie sie es bei ihrer Physiotherapeutin gelernt hatte.

Als sie wieder aufsah, wurden die zarten gelb-grünen Linien auf den Tapeten wieder Linien und die bunten Blüten des Sommerstraußes auf den Couchtisch bekamen ihre klaren Formen zurück. Nach einer guten Viertelstunde fühlte Hedda sich wieder bereit für das Leben.

Wo war Frau Ahlers? In der Ferne hörte Hedda das Summen eines Staubsaugers. Sie folgte dem Ton und fand die Hotelchefin im Frühstücksraum.

Frau Ahlers stellte den Motor ab. Mit gekonntem Schwung nahm sie die Stühle, die auf einem der Tische gestapelt waren, herunter. »Kommen Sie rein und nehmen Sie Platz. Eine Frage habe ich wegen des Fisches für heute Abend … Frau Bramlage? Was ist mit Ihnen?«

Hedda schien es, als ob sie gerade aus einem tiefen Traum aufwachte. Sie zwinkerte mit den Augen. Vor ihr saß Frau Ahlers und schaute sie erstaunt an. Hedda hatte sich wohl ein wenig zu schnell hingesetzt. Dann war ihr wieder schwindelig geworden.

»Hallo, Frau Bramlage! Soll ich den Arzt holen?«

Nein, bloß das nicht. Das konnte Hedda gar nicht gebrauchen. Und ihre Tochter noch weniger. Ihre Tochter … Sie musste sofort wieder zu ihr. Wenn nun der Anruf bereits …. Hedda versuchte aufzustehen. Vergebens.

»Frau Bramlage!«

Sie hörte die Besorgnis in Frau Ahlers’ Stimme und murmelte: »Kein Arzt. Ich muss Ihnen was erzählen.«

*

Als der Anruf von Birgit Ahlers kam, bemühte sich Kriminal­oberkommissar Michael Röder gerade mit Hilfe seines Kollegen Geerd Ulferts, die Fenster der kleinen Wache zu putzen. Genauer gesagt: Röder hatte sich von seiner Frau Sandra Eimer, Lappen und Reinigungsmittel ausgeborgt, und Ulferts putzte.

»Was sagst du? Ein Toter in Bensersiel?« Erstaunt hörte sich Röder an, was Birgit zu berichten hatte.

»Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß«, versprach er, dann rief er in Esens an. Er sprach mit Marlene Jelden­, einer jungen Kripobeamtin, die er ein paar Wochen zuvor kennengelernt hatte. Sie bestätigte ihm, dass man tatsächlich eine Leiche im Hafenbecken gefunden habe. Auch dass der Mann weiße Baumwollhandschuhe getragen habe.

Näheres konnte die Kommissarin jedoch noch nicht sagen. Weder, wie der Mann hieß, noch Einzelheiten zur Todesursache seien bisher bekannt, erklärte Marlene. »Fakt ist, dass die roten Druckstreifen am Hals auf Erdrosselung hinweisen könnten. Ich hoffe mal, dass wir bald etwas Genaueres erfahren.«

»Hast du wenigstens eine Beschreibung?«, fragte Röder. »Die Gastdame hier macht sich große Sorgen, dass es sich um ihren angehenden Schwiegersohn handeln könnte. Wegen der Handschuhe. Er ist nämlich Clown, musst du wissen. Und er hatte einen Auftritt in Bensersiel.«

Röder hörte ein verknautschtes Lachen. »Tja, man soll keine Möglichkeit außer Acht lassen. Also, zum Mitschreiben: Zwischen fünfzig und sechzig Jahre alt. Blondes, halblanges Haar. Kurze, beige Hose und blaues T-Shirt mit Schalke-Logo. Ich glaube nicht, dass der Mann von Beruf Clown war. Aber wiederum … mit diesem T-Shirt … man weiß es nicht.«

»Ich denke, ich kann Entwarnung geben«, sagte Röder. »Die Beschreibung, die ich bekommen habe, hört sich anders an. Die Dame sprach von einem Mann Ende dreißig mit schwarzen Haaren. Dass er Schalke-Fan sei, hat sie nicht erwähnt. Melde dich, wenn es was Neues gibt.«

Marlene Jelden versprach’s.

Geerd Ulferts schaute Röder neugierig an, während er das Fenster mit einem trockenen Tuch nachrieb. Michael Röder wiederholte, was die Esenser Kollegin berichtet hatte. »Kennst du eigentlich Marlene?«

Geerd, der normalerweise seinen Dienst in Dornum versah und für vier Wochen auf die Insel abkommandiert war, lächelte. »Ich habe sie noch nicht persönlich gesprochen, aber einer meiner Kollegen hat von ihr erzählt. Soll eine tolle Frau sein. Die mischt unsere Jungs am Festland ganz schön auf. Obwohl – ich glaube, sie ist liiert. Aber was heißt das schon?«

»Genau. Wir könnten sie mal auf die Insel einladen«, schlug Röder vor. »Rein dienstlich natürlich. Wäre eine gute Idee, oder?«

In diesem Moment steckte seine Frau ihren Kopf zur Tür herein. »Soll ich euch einen Kaffee machen?«

»Mit Apfelkuchen?«, fragte ihr Mann voller Vorfreude.

Sie nickte. »Natürlich.«

»Immer gerne.« Die beiden Männer antworteten fast gleichzeitig.

»In fünf Minuten sind wir fertig. Ich muss noch mit Birgit Ahlers telefonieren und Geerd das letzte Fenster putzen«, fügte Röder hinzu.

»Zur Not geht’s auch umgekehrt. Geerd telefoniert und du lernst endlich, wie man Fenster streifenfrei sauber bekommt.« Sandra Röder lachte und verschwand.

»Na, da hat dich deine Frau punktgenau geerdet. Aber was soll’s: Besser ein Apfelkuchen auf dem Teller als eine Marlene in Esens«, raunte ihm Ulferts zu, als sie dem Kaffeeduft ins Wohnzimmer folgten. Im schmalen Flur, der den Dienstraum mit der Wohnung des Inselpolizisten verband, empfing Amir sie mit lautem Bellen.

*

Inselfee: Hat jemand von euch Erfahrung, ob jemand von der Insel abends Musik machen könnte?

Dalia: Das fält dir aber spät ein. Als wir da geheiratet haben, waren wir am Strand. Da haben die eiländers gespielt. Frag mal, ob die dass auch drinnen machen. Die sind echt klasse.

Inselfee: Danke für den Tipp.

Dubius: Gar nicht so einfach, alles auf die Reihe zu bekommen, oder?

Inselfee: Das stimmt. Besonders, wenn der Zukünftige später kommt als geplant.

Dalia: Sei nicht sauer. Du wirst dehn dein ganzes Leben an der Backe haben, da kommt das auf ein par Stunden nicht an. Grins.

Petra loggte sich ohne Kommentar aus. Diese Dalia mit ihren Rechtschreibfehlern und den dummen Sprüchen ging ihr gehörig auf den Keks. Aber man konnte sich seine Gesprächspartner in einem offenen Forum eben nicht aussuchen. Sie war froh gewesen, als sie auf baltrum-online das Forum Heiraten auf Baltrum gefunden hatte. Viele wichtige Tipps hatte sie schon daraus entnehmen können. Zum Beispiel, wo sie eine Kutsche herbekam.

Natürlich hätte sie das auch die Standesbeamtin fragen können. Aber so war es eben viel gemütlicher. Außerdem waren ihr die meisten Fragen nach Feierabend eingefallen, da war eine Standesbeamtin nicht mehr ansprechbar. Aber Petras Freunde im Internet schon. Wie Dalia. Doof, aber hilfreich. Die hatte ihr gepostet, dass man heutzutage keine Trauzeugen mehr brauchte. Ein goldener Ratschlag. Denn Jörg und sie hatten gleich drei Personen auf der Liste, die sich um dieses Amt gestritten hatten. Mit bösen Anrufen und allem Drum und Dran.

Dem hatte Petra kurz und schmerzlos einen Riegel vorgeschoben. Zwei von ihnen hatten daraufhin die Teilnahme an ihrer Hochzeit abgesagt: ihr Mitarbeiter Max aus dem Antiquitätengeschäft und Amelie.

Amelie hatte zunächst verzückt auf die Einladung zur Hochzeit reagiert. Das Provinzielle ziehe sie nahezu an, hatte sie erklärt. Doch als ihr von Petra untersagt worden war, ihren Status als Brautführerin für unkontrollierte und überraschende Spielchen und Aktionen zu nutzen, hatte sie bereits sehr verschnupft reagiert. Als sie dann nicht einmal mehr Brautjungfer sein durfte, hatte sie sich geweigert, ›auch nur einen Fuß auf diesen öden Sandhaufen zu setzen‹.

Nur Petras Schwester Inka hatte die Entscheidung mit einem Schulterzucken hingenommen. »Ist vielleicht besser so. Zumal die Trauzeugen alle aus deinem Dunstkreis kamen. Das hätte Jörgs Familie bestimmt nicht gepasst.«

Neun Uhr. Petra musste sich fertig machen, wollte sie rechtzeitig am Schiff sein. Es hatte sich ein wenig abgekühlt. Sie zog zum ersten Mal, seit sie auf der Insel angekommen war, eine lange Hose an. Dazu ihre roten Sneakers. Über ihr T-Shirt warf sie eine leichte Windjacke.

Es war noch hell, als sie den Anleger erreichte. Das Schiff schob genau in diesem Moment seinen weißen, platten Bug um die Hafenmole. Bald darauf lag es fest an der Pier. Ein Mitglied der Besatzung ließ die breite Gangway am Heck herunter, bevor er anfing, die Fahrkarten zu kontrollieren.

Ein Passagier nach dem anderen verließ das Schiff, doch von Jörg keine Spur. Petra schaute sich um. Fast alle Vermieter hatten ihre Gäste bereits gefunden. Langsam leerte sich die Baltrum I. Gäste und Insulaner sammelten sich vor dem Metallgitter, das sie von den Containern mit dem Gepäck trennte. Dann, einige Minuten nachdem der letzte Gast das Schiff verlassen hatte, sah sie, wie sich die Tür der Herrentoilette öffnete, Jörg herauskam und langsam die Treppe zum Ausgang hochstieg.

»Jetzt wird es aber Zeit«, hörte Petra eine energische Stimme vom Oberdeck. »Die Fahrkarte bitte.«

Es wurde wirklich Zeit, wollte sich ihr Zukünftiger nicht einen einfangen, der sich gewaschen hatte, stimmte Petra dem Mann innerlich zu.

Gleich nachdem Jörg die Gangway verlassen hatte, wurde sie eingefahren.

»Hallo, Schatz, sei gegrüßt.« Er lächelte verhalten und stellte seine Tasche ab.

Als er ihr einen Kuss geben wollte, wich sie zurück. Erst einmal hätte sie gern eine Erklärung gehabt, warum sie bei der Ankunft der Nachmittagsfähre vergeblich auf ihn hatte warten müssen. Warum er ausgerechnet als Letzter diese Fähre verlassen hatte. Und warum er den ganzen Tag nicht ans Telefon gegangen war.

»Ich bin mir nicht sicher, ob du im Hotel noch etwas zu essen bekommst«, sagte sie, als sie endlich auch Jörgs Koffer in den Handwagen umgeladen hatten, den sie sich bei Frau Ahlers ausgeborgt hatte.

Jörg schüttelte den Kopf, als er ihr den Griff der Wippe aus der Hand nahm. »Ich möchte nichts essen. Ich habe mir an Bord eine Bockwurst gekauft.«

»Ich dagegen habe mit meiner Mutter das Hochzeitsessen probiert. Zumindest das, was an Zutaten im Hotel bereits vorhanden war. Soll ich dir erzählen, wie es geschmeckt hat?« Petra merkte, wie ihr bei diesem Thema schon wieder die Galle hochstieg.

»Lass mich doch erst einmal ankommen«, bat Jörg und atmete tief durch.

Okay. Das konnte er haben. Würde sie eben warten, bis sie auf dem Zimmer waren.

»Möchtest du gar nicht wissen, wie meine Vorstellungen waren?«, fragte er nach einer kurzen Pause.

»Und – wie waren sie?«

»Richtig schön. Die Kinder waren wieder einmal großartig. Wir haben gemeinsam die Welt erforscht und alle Probleme ganz einfach gelöst.« In Jörgs Stimme lag große Freude.

Petra war hin- und hergerissen. Auf der einen Seite hätte sie ihm am liebsten seine kindliche Welt um die Ohren gehauen, auf der anderen Seite liebte sie ihn genau dafür. Bei ihm zu sein, hieß eine Auszeit zu nehmen aus der irrealen Welt der Computer, den realen Staus auf den Straße, wenn sie ihre Kunden besuchte, und den Schlangen vor Supermarktkassen, wenn sie nur eine Kleinigkeit zum Frühstück brauchte. Bei ihm zu sein, hieß, sich selber nicht so wichtig zu nehmen, andere Blickwinkel auf das Leben zu erfahren und zu lachen.

Es hieß aber auch, selber einen Nagel in die Wand zu hauen, wenn man ein Bild aufhängen wollte. Oder das Auto zum TÜV zu fahren. Dafür war er nämlich ganz und gar ungeeignet.

Sie stimmte in sein Lachen ein. »So hast du also wieder einmal viel Glück verbreitet.«

»Ich denke schon«, überlegte er. »Da war ein kleiner blonder Stups in Bennis Abenteuerland …«

»Warte, bis wir auf dem Zimmer sind. Ich habe eine Flasche Wein oben. Dann können wir es uns gemütlich machen«, schlug sie vor, als sie die Wippe vor dem Hotel­eingang abstellten. »Ich habe ebenfalls viel zu erzählen. Schließlich heiraten wir in einer knappen Woche.«

Petra hob einen von Jörgs Koffern aus der Wippe und merkte nicht, dass sich sein Gesicht für einen Moment verdüsterte. Gleich darauf lachte Jörg freundlich, als Henning Ahlers, der Chef des Hotels, ihm seine Hand zur Begrüßung entgegenstreckte.

»Wo steckt Hedda eigentlich?«, erkundigte sich Jörg, nachdem sie seine Sachen im Zimmer verstaut und den ersten Schluck Rotwein genommen hatten.

»Ich denke, auf ihrem eigenen Zimmer. Beim Abendbrot machte sie mir einen etwas fahrigen Eindruck. Allerdings behauptete sie steif und fest, alles sei in Ordnung. Ich habe es darauf beruhen lassen und mich auf das Essen konzentriert. Es war übrigens recht gut, falls es dich interessiert«, erklärte Petra.

»Hast du nach ihr geschaut, bevor du zum Hafen gegangen bist?«, fragte Jörg.

Die Unruhe in seiner Stimme nervte sie. Sie wollte diesen Abend zu zweit verbringen und nicht zu dritt. »Nein. Warum sollte ich? Wenn sie krank ist, soll sie es sagen.« Petra stand auf und nahm ein Päckchen Kekse aus dem Nachtschrank. »Hier. Probier mal. Die sind echt lecker.«

Doch Jörg reagierte nicht. Fast regungslos saß er auf dem Sofa und starrte auf etwas, das wohl nur er an der Wand sah.

»Ich kann gleich mal nach ihr schauen, wenn dir das lieber ist«, sagte Petra versöhnlich, »aber erst bekommst du von mir meinen Tagesablauf.« Sie berichtete ihm ausführlich, was sie alles organisiert hatte. Den Teil mit den Haaren ließ sie allerdings aus und war heilfroh, dass er überhaupt nicht gemerkt hatte, dass ihre Haarfarbe um einiges heller geworden war, seit sie ihn am Festland zurückgelassen hatte. Typisch Mann. »Und morgen geht es weiter mit der Planung. Dann zu zweit.« Entschlossen schaute sie ihn an.

»Nachmittags habe ich aber eine Vorstellung im Kinderspielhaus. Da komme ich nicht drum herum.« Es fühlte sich warm an, als Jörg ihre Hand nahm und streichelte. »Und abends eine für Erwachsene.«

Tja, leider. Den Termin hatte er im Winter bereits mit der Kurverwaltung abgesprochen. Da war von Hochzeit überhaupt noch keine Rede gewesen. »Ich weiß«, seufzte sie, »das Plakat mit der Ankündigung hängt in allen Schaukästen. Aber dann geht es nur noch um mich und dich.« Eigentlich hätte sie zu gern gewusst, warum er einfach nicht ans Telefon gegangen war. Aber sie mochte die gemütliche Stimmung nicht kaputtmachen. »Prost, mein Schatz«, sagte sie und hob ihr Glas.

»Auf uns«, antwortete Jörg und lächelte.

*

Michael Röder war verwirrt. Das Klingeln hörte nicht auf. Er tastete nach seinem Wecker, drückte ein zweites Mal energisch auf die AUS-Taste, doch es half nichts. Es klingelte einfach weiter.

»Dein Handy«, murmelte Sandra undeutlich.

Verdammt. Es war nicht schön, wenn sie aufwachte, weil er nachts raus musste. Er hatte ihr neulich sogar angeboten, im Sommer im Gästezimmer zu übernachten, aber sie hatte nur gelacht.

»Wenn ich dich nicht jedes Mal wecken würde, wenn es klingelt, würdest du so ziemlich jeden Einsatz verschlafen«, hatte sie geantwortet.

Da meinte man es schon mal gut …

Wo war dies verdammte Handy?

Er stolperte über seine Hose und hätte sich beinahe zu Fall gebracht. Im letzten Moment konnte er sich an der Wand abstützen. Natürlich lag sein Telefon da, wo er es immer abends hinlegte. Auf dem kleinen Beistelltischchen. Aber er brauchte eben eine gewisse Zeit, bis sein Verstand vom Schlaf- in den Hellwach-Modus umschaltete.

»Polizeistation Baltrum. Röder.« Es war gar nicht so einfach, gleichzeitig eine Jacke anzuziehen und zu telefonieren. »Was sagst du? Am Strand? Wir sind unterwegs.« Röder stöhnte. Seit vier Nächten das gleiche Theater. Irgendwelche Rowdys, die den Hals nicht vollkriegen konnten, machten in den Strandkörben die Nacht zum Tage und hinterließen oftmals einen Scherbenhaufen. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Er rief seinen Kollegen Geerd Ulferts an, der in der Dienstwohnung nebenan wohnte, und wiederholte, was Jan Immel, der Leiter des Jugendclubs, ihm gerade erbost erzählt hatte.

»Ich bin sofort bei dir«, sagte sein Kollege knapp.

Es dauerte nicht lange, da saßen sie auf ihren Rädern und fuhren gen Osten am Schwimmbad und weiter am Kiefernwäldchen vorbei. Hin und wieder überholten sie ein paar wenige Urlauber und wichen Kaninchen aus, die, vom Licht ihrer Fahrradlampen aufgeschreckt, planlos über die Straße hoppelten. Vor dem Wasserwerk bogen die beiden Polizisten links ab zum Strand. Schon von weitem hörten sie das Gegröle.

Bei Starks Strandladen, hinter dem sich der Jugendclub befand, wartete bereits Jan auf sie. »Die haben den Vollschuss!«, sagte er aufgebracht. »Sollte mich nicht wundern, wenn die gleich ein Feuerchen machen. Wegen der Gemütlichkeit …«

»Wir schauen uns die Sache mal an«, erwiderte Michael Röder knapp.

Nach ein paar Metern hatten sie den Strand erreicht. Röder und Ulferts knipsten ihre Taschenlampen an. Immer lauter werdende Stimmen führten sie schnell zu einer Strandburg, in der ein paar Jugendliche feierten. Jede Menge Bier- und eine leere Bacardiflasche lagen neben ihnen im Sand.

»Was gibt das hier?«, fragte Ulferts.

»Paadddy!«, war die verschwommene Antwort.

»Ich fordere euch dringend auf, diesen Platz zu verlassen und nach Hause zu gehen. Schlaft euren Rausch aus. Dann werde ich mich nicht erinnern, heute Nacht hier gewesen zu sein«, bot Röder ebenso freundlich wie nachdrücklich an.

Vergeblich. Das war ihm vorher klar gewesen. Aber er wollte sich nicht nachsagen lassen, dass er es nicht im Guten versucht hätte. »Eure Ausweise bitte! Und zügig, meine Herrschaften!«

»Menno. Jede Nacht das gleiche Elend. Wir wollen einfach nur feiern«, maulte einer der Jungs.

»Klar«, sagte Ulferts. »Habe ich Verständnis für. Aber nicht auf Kosten anderer.« Sein Blick fiel auf ein kleines Häufchen Holzstöcke. »Wenn ich das richtig sehe, war das hier zum Beispiel mal ein Strandkorbgitter. Nicht billig, die Dinger. Sollte mich nicht wundern, wenn es genau zu diesem Korb gehörte.« Er zeigte auf einen Korb, in dem ein Pärchen eng umschlungen vor sich hin kuschelte. »Und ganz ehrlich gesagt habe ich nicht mehr die geringste Lust, nachts aus dem Schlaf geholt zu werden, nur weil eine Horde Bekloppter mit der Zeit nichts Besseres anzufangen weiß, als hier Randale zu veranstalten. Also los jetzt. Ausweise.« Seine Stimme war energischer geworden.

»Hab meinen nicht mit.« – »Ich auch nicht.«

Röder langte es. Immer das gleiche Theater. »So, meine Herrschaften. Es reicht. Wir gehen jetzt zur Wache und dann wollen wir mal sehen, ob wir nicht herausfinden, wer eure Eltern sind.«

Schallendes Gelächter war die Antwort. Eines der Mädchen rief: »Wie wollt ihr es zu zweit hinkriegen, uns mitzunehmen? Das möchte ich echt mal erleben. Wir bleiben hier sitzen und fertig.« Sie griff nach einer Flasche Bier, öffnete sie mit einem Feuerzeug und nahm einen tiefen Zug.

»Das dürfte kein Thema sein.« Er nahm sein Handy aus der Tasche. »Spätestens in zehn Minuten habe ich Amtshilfe von der Feuerwehr. Und glaubt mir: Die Jungs haben genau so wenig Bock, sich mit euch zu befassen, wie wir. Das könnte echt unangenehm werden.«

Plötzlich entstand Bewegung in der Runde. Die jungen Leute rappelten sich murrend auf. Es waren die altbekannten Gesichter, die er in den Nächten zuvor schon auseinandergescheucht hatte.

Bis auf eines. Der Mann schien um einiges älter zu sein, soweit Röder es im Licht seiner Taschenlampe erkennen konnte. Ehe er sich versah, hatte der Mann sich umgedreht, war mit einem Satz aus der Strandburg gesprungen und zwischen den Strandkörben in der Dunkelheit verschwunden. Geerd Ulferts schaute seinen Kollegen an, doch Röder winkte ab. »Den kriegst du sowieso nicht. Aber ich habe mir sein Gesicht gemerkt. Der läuft uns bestimmt noch mal über den Weg.« Er wandte sich an die Gruppe. »Wer war das? Kanntet ihr den?«

Die Jugendlichen schüttelten die Köpfe. »Der ist keiner von uns.« – »Der hat sich einfach dazugesetzt.«

»Der war total komisch. Aber er hat den Bacardi mitgebracht. Wenigstens das«, erklärte einer der Jungs.

»Also, meine Herrschaften«, mahnte Ulferts, »ich hätte gerne die Identitätsnachweise und Anschrift auf der Insel. Aber zügig bitte.« Nach und nach rückten die Jugendlichen ihre Ausweise raus. Er machte sich ein paar Notizen. »Ihr könnt euch die Papiere morgen auf der Wache abholen. Dann reden wir auch über Sachbeschädigung. Alkohol bei Jugendlichen und so weiter. Entweder ihr kommt zusammen oder einzeln. Das ist uns egal.«

Und Michael Röder fügte hinzu: »Natürlich dürft ihr gerne eure Eltern mitbringen. Wäre vielleicht sogar ganz angebracht.«

»Worauf du dich verlassen kannst«, rief einer der Jungs und spuckte vor Röder in den Sand. »Meine Mutter ist Anwältin. Wir wohnen hier in der Strandvilla. Wenn die das mitbekommt, was hier abläuft, dann könnt ihr sowas von was erleben …!«

»So, jetzt reicht’s.« Röder nahm den Arm des Jungen. »Ihr anderen macht, dass ihr wegkommt. Aber erst wird aufgeräumt. Nehmt euren Kram gefälligst wieder mit. Und du …«

Ulferts hielt die Taschenlampe auf die Ausweise. »Marc Weber.«

»Und du, Marc, wirst tatsächlich heute noch in die liebevollen Arme deiner Eltern zurückgebracht. Netterweise hast du uns eben verraten, wo ihr wohnt. Solltest du gelogen haben, werden wir dich natürlich gerne in unserer Zelle unterbringen, bis dir die richtige Ferienadresse einfällt.«

»Das dürft ihr gar nicht. Ich bin minderjährig!«, brüllte der Junge zurück.

»Schon mal was von Gefahr im Verzuge gehört? Nun mach hier nicht so einen Aufstand.« Röder schob den Jungen aus der Strandburg und auf den hölzernen Bohlen­weg. Nach ein paar Metern hielt er an. Der Junge war immer langsamer geworden. Dann riss er sich plötzlich los, wankte nach rechts und ließ sich in den Sand fallen. Der Inselpolizist hörte nichts als Würgen.

»Wir sollten die Eltern hierher holen«, überlegte Ulferts­. »Das kann Stunden dauern, bis wir den in der Strandvilla haben. Außerdem – wenn der so weitermacht, müssen wir unter Umständen den Rettungsdienst alarmieren. Für den Fall, dass der uns wegklappt.«

Michael Röder nickte. Manchmal hasste er seinen Job. Da musste er seine kostbare Schlafenszeit damit vergeuden, kotzende Jugendliche wieder auf den richtigen Weg zu bringen. Für nichts und wieder nichts. Morgen Nacht würde er dieselben Typen genau so besoffen wieder vom Strand scheuchen. Und oftmals war es nicht nur eine Truppe, sondern gleich mehrere, die nachts am Strand feierten und Scherben zerbrochener Bierflaschen, Müll und Reste nächtlicher Lagerfeuer zurückließen.

»Na, geht’s wieder?«, fragte er den Jungen und strich ihm leicht über die Haare.

»Scheiße!«, flüsterte der und wischte sich über den Mund.

»Komm, ruf deine Eltern an, dass sie dich abholen.«

Marc schüttelte wild den Kopf. »Die bringen mich um«, schluchzte er. »Wo … wo sind meine Freunde?«

»Deine Freunde, wenn du sie so nennen willst, sind nicht mehr da«, erklärte Röder. »Die haben dich hier mit uns allein gelassen.«

Marc fummelte sein Handy aus der Tasche.

Baltrumer Maskerade

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