Читать книгу Honeymooner - Ulrike Meiss - Страница 5
Die Hochzeit
ОглавлениеSamstagmorgen, 5:37 Uhr.
Olivia öffnete die Augen und war glücklich. Sie war schon früh ins Bett gegangen und fühlte sich vollkommen ausgeschlafen und entspannt. Vorsichtig drehte sie den Kopf nach rechts und nach links, dann legte sie ihn in den Nacken und auf die Brust. Zufrieden stellte sie fest, dass sie keine Schmerzen hatte. Es hatte sich also gelohnt, die Halskrause konsequent zu tragen und an diesem wichtigen Tag würde sie darauf verzichten können. Sie öffnete das Fenster, atmete die frische Luft tief ein und verkroch sich nochmal unter die kuschelige Decke. Bis dass der Wecker um acht Uhr klingeln würde, könnte sie ja noch etwas träumen, dachte sie sich und schlief wieder ein.
Das Klopfen an der Tür passte so überhaupt nicht zu den Klängen von Nana Mouskouris „Guten Morgen, guten Morgen, guten Morgen Sonnenschein“, das fröhlich aus dem Musikwecker dudelte. Olivia rieb sich die Augen und murmelte: „Jahaa, ich bin wach“ in Richtung Tür.
„Frühstück ist fertig, duschen kannst du hinterher“, flötete ihre Mutter durch die geschlossene Tür und Olivia fühlte sich wie an ihrem zehnten oder elften Geburtstag.
Wie schön war das, sich zuhause bei Mutti so geborgen zu fühlen. Schnell schaltete sie den Wecker aus, in dem die griechische Sängerin zum wiederholten Male die Sonne aufforderte, nicht traurig darüber zu sein, dass ihr die Nacht verborgen bleiben würde. Nachdem sie sich die Zähne oberflächlich geputzt und mir der Haarbürste noch eben durch ihre Locken gefahren war, huschte Olivia ins Esszimmer, setzte sich in ihrem übergroßen T-Shirt an den Tisch und strahlte ihre Mutter an. Die beiden Frauen genossen das ruhige Frühstück und besprachen gerade den Ablauf der nächsten Stunden, als das Telefon klingelte.
„Geh ruhig dran“, grinste ihre Mutter sie an und Oli nahm den Hörer ab.
„Olivia Bärg bei Marlies Kösse“, meldete sie sich.
„Musstest du überlegen oder hast du heute Nacht geübt?“, lachte Lothar. „Ich wollte mal hören, ob meine Frau sehr aufgeregt ist.“
„Nö, aufgeregt bin ich noch nicht. Und üben musste ich auch nicht, schließlich habe ich schon lang genug darauf gewartet, eine Ehefrau zu sein. Und heute Nachmittag ist es perfekt!“, jubelte Olivia in den Hörer. Mit dem Hinweis auf all die Dinge, die noch erledigt werden müssten, wimmelte Olivia ihren Lothar dann ziemlich knapp ab. Sie hauchte noch einen Kuss ins Telefon und trank dann gut gelaunt ihren Kaffee aus.
Während Olivia sich unter der Dusche aalte, räumte Marlies den Frühstückstisch ab und bereitete alles vor, um später einige Brötchen zu belegen. Sie hatten sich überlegt, dass so ein schneller Snack zwischendurch allen, die vor der Trauung ins Haus kommen würden, als Mittagessen genügen sollte. Eigentlich waren bis auf einige Helfer ohnehin alle Gäste zur Trauung um vierzehn Uhr in der Kirche eingeladen.
Die erste, die eintraf, war Christa, eine Freundin von Marlies, die für Olivia schon immer wie eine Tante war. Die drei Frauen waren sich schnell einig, dass es angesichts der Tagestemperatur wohl am Günstigsten sei, wenn man die Brötchen nur aufschneiden und mit Butter bestreichen würde. Auf zwei großen Tabletts konnten die dann im kühlen Keller lagern, Wurst und Käse würde Christa dann erst darauf legen, wenn sie serviert würden.
Über das Geschnatter und die Brötchen-Bestreicherei war es für die Braut Zeit geworden, sich fertig zu machen. Mit Hingabe knetete und föhnte sie ihre Lockenpracht in Form. Dann wurde fast zeremoniell die schicke Spitzenunterwäsche angelegt. Das blaue Strumpfband fand sie zwar etwas albern, aber sie selbst hatte sich nun mal diese Traumhochzeit mit allem Pipapo gewünscht. Sie stieg in den ersten Petticoat und schloss den Reißverschluss. Bereits jetzt fühlte sie sich, wie eine Prinzessin. Mit Mutters Hilfe wurde der zweite Petticoat über den Kopf angezogen. Die Verkäuferin im Laden für Brautmoden hatte ihnen empfohlen, es so zu machen, damit das Kleid dann auch richtig schön fällt. Gemeinsam mit ihrer Freundin Christa raffte Marlies dann das Brautkleid zusammen und stülpte es der wartenden Olivia über den Kopf. Während sie sich ihre Haare wieder zurecht wuschelte, steckte ihre Mutter jeden einzelnen der fünfundzwanzig kleinen Kugelknöpfe von der Taille bis hinauf an den Stehkragen durch die entsprechende Schlaufe und Christa zupfte den weiten Rock in Form. Vorsichtig stieg Olivia in die weißen Pumps und lief ins Schlafzimmer, um sich entzückt vor dem Spiegel zu drehen.
„Wow, du siehst phantastisch aus!“ Peter stand in der Tür und war offensichtlich völlig ergriffen. Olivia lachte, drehte sich nochmal übermütig im Kreis und fragte ihn dann, wieso er überhaupt da sei. Eigentlich sollte er doch bei Lothar sein und aufpassen, dass dieser rechtzeitig an der Kirche wäre. Ganz vorsichtig umarmte Peter die Freundin und erklärte ihr, dass er Steve begleitet habe, um ihm den Weg zu zeigen.
Steve war ein guter Freund von Peter und Lothar. Ein kleiner, dicker, immer lächelnder Mann Mitte vierzig. Er hatte amerikanische Wurzeln und war sehr stolz darauf, etwas Besonderes zu sein. Sein langes, graues Haar fiel ihm in weichen Wellen auf die Schultern und der viele Schmuck, den er trug, gab ihm ein verwegenes Aussehen. Er hatte seine uralte, liebevoll gepflegte, dunkelblaue Mercedes-Limousine als Brautauto angeboten und das verliebte Paar hatte ihn dann gleich zum Chauffeur ernannt.
Dafür hatte sich Steve auch extra schick gemacht: Er trug einen cremefarbenen Nadelstreifenanzug mit einem schwarzen Hemd. Die breiten, goldenen Ketten machten eine Krawatte überflüssig. Dazu hatte er sich für ehemals weiße, mittlerweile eher hellgraue Cowboystiefel und einen hellen Al Capone Hut mit schwarzem Band entschieden. Olivia musste sich richtig anstrengen, um ihrer Mutter glaubhaft zu erklären, dass Steve ein gewöhnlicher, hoch anständiger LKW-Fahrer und kein Zuhälter war.
Der beauftragte Florist hatte ein wunderschönes Bouquet auf der Motorhaube des Mercedes befestigt und Steve den dazu passenden Brautstrauß (wie gewünscht aus tief violetten Orchideen und füllendem Grün) direkt mitgegeben. Etwas unbeholfen stand Steve nun im Flur, und war sichtlich erleichtert, den Strauß an Olivia weitergeben zu können. Für die wurde es Zeit, sich den Schleier aufstecken zu lassen. Sie legte den Brautstrauß auf den Tisch, nickte Steve noch einmal lächelnd zu und verschwand nach einer flüchtigen Umarmung von Peter im Schlafzimmer.
Sie konnte deshalb nicht hören, dass ihre Mutter Steve mit zwei belegten Brötchen versorgte und ihn dann gemeinsam mit Peter zur Kirche schickte. Marlies war froh, dass alles so klappte, wie sie es sich vorgestellt hatte, schließlich hatte sie noch eine Überraschung für ihre Tochter.
Lautes Stimmengewirr ließ Olivia unruhig werden und sie war erleichtert, dass das mit einem Myrrhe-Zweig besteckte, am Schleier angenähte Krönchen, das schon ihre Mutter zur Hochzeit getragen hatte, endlich mit unzähligen Haarnadeln auf ihrem Kopf befestigt war. Sie legte sich die sechs Meter Tüllstoff in den Arm und trat in den Flur. Dominik, ihr fünfjähriges Patenkind und seine vierjährige Schwester Myriam waren von ihren Eltern gebracht worden, damit sie gemeinsam mit der Braut zur Kirche fahren konnten, wo sie den Schleier tragen sollten. Die beiden Kleinen sahen sie an und sofort entbrannte ein Streit darüber, ob ihre liebe Oli wie eine Prinzessin oder doch eher wie eine Puppe aussah. Olivia begrüßte die Kinder und versuchte halbherzig, den Streit zu schlichten.
Sie blickte suchend umher und wurde nervös, weil sie Steve nirgends entdecken konnte. Wo war der Kerl denn abgeblieben? Hatte er es etwa gewagt, nochmal eben zum Kiosk zu fahren, um Zigaretten zu holen? War der eigentlich total bescheuert?
Die Aufregung, die sie nun doch gepackt hatte, ließ sie zornig werden.
„Ich habe ihn zur Kirche geschickt“, erklärte Marlies ihrer Tochter. Olivia war kurz davor, ihre Fassung zu verlieren.
„Aber... wie soll ich denn...“, fing sie an zu stottern. Wortlos schob Marlies sie sanft zur offenen Haustür.
Olivia war überwältigt.
Heimlich hatte ihre Mutter eine weiße Kutsche, gezogen von zwei wunderbaren, stolzen Schimmeln, organisiert. Aufgeregt sprang Dominik um die Pferde herum.
„Schau mal Oli, wie im Märchen“, rief er. Myriam hatte Angst vor den großen Tieren, sie presste sich dicht an Olivias Beine.
Die gesamte Nachbarschaft hatte sich auf der Straße versammelt.
„So, hopp hopp, rein in die Kutsche, nicht dass es dem Bräutigam langweilig wird.“ Marlies klatschte fröhlich in die Hände und begann, die Kinder in die Kutsche zu heben. Christa drückte Olivia den Brautstrauß in die Hand und vier Hände halfen mit, die Unmengen Stoff und Spitze im Inneren der Kutsche zu platzieren. Die kleine Tür wurde geschlossen und Olivia beobachtete, wie ihre Mutter und Christa zu Christas Wagen eilten. Die Nachbarn machten murrend Platz, um direkt nachdem das Auto um die Ecke verschwunden war, gespannt auf die Abfahrt der Kutsche zu warten. Einen Moment später ließ der Kutscher die Peitsche schnalzen, grüßte noch einmal mit seinem Zylinder in die Runde und die Pferde liefen los.
Der direkte Weg wäre wohl zu kurz gewesen, die gewählte Route gab jedenfalls der halben Ortschaft die Gelegenheit, festzustellen, dass Olivia übers ganze Gesicht grinste. Hätte sie keine Ohren, würden sich wohl ihre Mundwinkel am Hinterkopf getroffen haben.
Alle drei hatten einen Heidenspaß dabei, den Passanten an der Strecke zuzuwinken. Sie hätten noch stundenlang weiter durch den Ort fahren können, aber die Kutsche bog in die Kirchstraße ein. Der Kutscher zog die Zügel an, so dass die Pferde genau vor dem Hauptportal der Kirche zum Stehen kamen. Mit einem gekonnten Satz sprang der Kutscher von seinem Sitz, öffnete die Tür und reichte Olivia die Hand. So elegant es ihr mit dem weiten Rock aus Tüll und Spitze möglich war, trat Olivia über die wackelige Treppe aus der Kutsche. Strahlend schaute sie in die Menge.
Wer war da alles gekommen. Mitschüler, Vereinskameraden, Freunde aus der Jugend, die sie längst aus den Augen verloren hatte. Ehemalige Arbeitskollegen von Lothar, seine Nachbarn von früher, alle drängten sich gemeinsam mit den geladenen Gästen um Lothar, der mit seinem Trauzeugen Peter ungeduldig auf die Ankunft seiner Frau gewartet hatte.
Inzwischen war Dominik aus der Kutsche geklettert und der freundliche Kutscher hatte Myriam auf die Straße gehoben. Die beiden Kinder waren so stolz, den langen Schleier tragen zu dürfen, dass sie alles, was ihnen gesagt wurde, widerspruchslos taten.
Während der Pfarrer das Brautpaar begrüßte, nahmen alle Gäste ihre Plätze in der Kirche ein. Olivia hatte sich gewünscht, nicht in eine leere Kirche einziehen zu müssen. Nun war alles so, wie sie es sich schon in Kindertagen vorgestellt hatte.
Der Organist begann zu spielen und Arm in Arm betraten Lothar und Olivia hinter dem Pfarrer und seinem Messdiener die Kirche. Ab und an musste Olivia den Schritt etwas verlangsamen. Sie hatte Angst, dass Dominik und Myriam vor lauter Staunen stehenbleiben und ihr dann den Schleier vom Kopf reißen würden. Aber es ging alles gut. Am Ende des Mittelganges stand die Mutter der Beiden und nahm sie in Empfang, als das Paar die Stufen zum Altarraum empor schritt, zu den Stühlen, die schräg zu den Gemeindebänken dort platziert worden waren. Es war Olivia wichtig, mit dem Gesicht zu den Gästen zu sitzen.
„Läuft doch alles prima, oder?“, raunte Lothar ihr zu. Olivia nickte, strahlend vor Glück.
Wie besprochen, war die Ansprache des Pfarrers kurz gehalten und er kam zügig zur Trauung. Olivia war überrascht, dass ihre Stimme nicht wegblieb und gab alle Antworten laut und deutlich. Auch beim Anstecken der gesegneten Trauringe gab es keine Schwierigkeiten, sie passten genau und rutschten einwandfrei auf die Ringfinger.
Zum Credo sang Theresia, eine von Olivias ältesten Freundinnen mit einer begnadeten Stimme, aber Olivia konnte sich nicht darauf konzentrieren. Jetzt ist es besiegelt, wir sind verheiratet. Jetzt haben wir den Grundstein für unsere eigene Familie gelegt, ging es ihr durch den Kopf.
„Das frisch vermählte Ehepaar Bärg würde sich freuen, wenn alle, die sich hier versammelt haben, sich in der Waldhütte zu Kaffee und Kuchen einfinden würden. Diejenigen, die mit einem Auto hier sind, können sich gerne dem Brautwagen anschließen und einen Corso bilden“, verkündete der Pfarrer und sprach dann den Schlusssegen. Zu den Klängen von Olivias Lieblingskirchenlied „Großer Gott, wir loben dich“ begann der Auszug.
Während Lothar und Olivia natürlich hinter Pfarrer und Messdiener aus der Kirche schritten, waren einige Gäste bereits aus den Seitentüren der Kirche nach draußen geeilt, um das Paar mit einem Reisregen zu empfangen. Es folgte eine Unmenge an Glückwünschen und Umarmungen. Jeder wollte die Braut küssen und es war ein heilloses Durcheinander.
Mühsam schoben sich Olivia und Lothar zu Steve, der geduldig etwas Abseits im geschmückten Wagen wartete.
„Mensch Meier, ich hätte nicht gedacht, dass heiraten so anstrengend ist“, stöhnte Lothar, als er sich auf den Rücksitz fallen ließ. Olivia antwortete ihm kichernd, er solle erst mal die Feier abwarten, danach hätte er dann wohl wirklich einen Grund zum Stöhnen. Mit gespielter Ergebenheit kurbelte Lothar die Seitenscheibe herunter und winkte grinsend den Leuten zu, die am Straßenrand standen. Auch Olivia öffnete Ihr Fenster. Vorsichtig, um Krönchen und Schleier nicht zu gefährden, streckte sie den Kopf aus dem Fenster und freute sich, eine sehr lange Autoschlange hinterherfahren zu sehen. Alle hupten, es war ein nicht zu überhörendes Getöse, bis sie an der Hütte angekommen waren.
Schnell füllten sich Bänke und Tische und gedämpftes Murmeln machte deutlich, dass die vielen verschiedenen Kuchen, die alle von Freunden und Familienmitgliedern gebacken worden waren, sehr gut ankamen. Besonderen Anklang fand, ganz wie erwartet, die dreistöckige Hochzeitstorte, die Marlies erst am Freitagabend mühevoll zusammen gesetzt hatte. Sie hatte sogar darauf geachtet, dass das kleine Brautpaar, das die Torte krönte, ihrer Tochter und dem neuen Schwiegersohn etwas ähnlich sah.
Olivia und Lothar bemühten sich, allen Gästen gerecht zu werden und beide setzten sich mal hier hin, mal dorthin. Zwischen den Gesprächen flogen immer wieder liebevolle Blicke zwischen ihnen hin und her. Die Zeit verging wie im Flug und Olivia erschrak fast ein bisschen, als sie auf die Uhr schaute und feststellte, dass es schon fast achtzehn Uhr war.
Sie nahm eine Tasse und klopfte mit einer Kuchengabel an den Rand, bis sich das Gemurmel legte und die Gäste neugierig zu ihr schauten.
„Liebe Gäste“, hob sie zu ihrer kleinen, überhaupt nicht vorbereiteten Rede an. Sie war glücklich, dass Lothar sich zu ihr gestellt und sie beruhigend in den Arm genommen hatte. „Zunächst möchten wir beide uns ganz herzlich dafür bedanken, dass ihr alle zu unserer Trauung und dann auch noch mit hierher gekommen seid. Ihr habt alle dazu beigetragen, diesen Nachmittag für uns unvergesslich zu machen!“ Lothar nickte zustimmend und war froh, dass seine Frau ihm die Pflicht, eine Rede halten zu müssen, abgenommen hatte. „Sicher wartet jetzt die ein oder andere unter euch schon darauf, meinen Brautstrauß fangen zu können“, fuhr Olivia fort, „aber da muss ich euch enttäuschen. Ich möchte auf diese Tradition gerne verzichten, da ich mit dem Strauß etwas ganz besonderes vorhabe.“ Das Gemurmel wurde etwas lauter und so konnte nicht jeder hören, wie Olivia leiser fortsetzte: „Ich bin mir ganz sicher, dass mein Papa, der heute nicht bei uns sein kann, irgendwie diesen herrlichen Tag mitbekommen hat und bei mir ist. Als Zeichen meiner Verbundenheit und auch als Danke schön möchte ich ihm meinen Brautstrauß gerne aufs Grab stellen.“ Ein Raunen ging durch die Menge und einige der Gäste hatten, wie auch Marlies und Olivia selbst, Tränen der Rührung in den Augen.
„Deshalb werden wir jetzt zum Friedhof fahren“, nahm Lothar ihr das Wort ab. „Wir würden uns freuen, wenn ihr hier noch ein bisschen weiter feiert und Spaß habt. Diejenigen von euch, die eine schriftliche Einladung bekommen haben, sollten sich dann in etwa einer Stunde in der Begegnungsstätte in der Seestraße eingefunden haben, damit wir dort dann zu Abend essen können. Wer den Weg nicht kennt, hält sich bitte an meine liebe Schwiegermutter.“ Er lachte zu Marlies herüber und die nickte eifrig zur Bestätigung. „Nochmal vielen Dank für alles!“, rief er, nahm Olivias Hand, forderte sie auf, den Brautstrauß mitzunehmen und zog sie aus der Hütte. Steve warf ihm im Vorbeigehen den Autoschlüssel zu und das Brautpaar beeilte sich, zum geschmückten Mercedes zu kommen. Langsam, damit sich der Schmuck nicht im Fahrtwind auflöste, fuhren sie zum Friedhof.
Die meisten der anderen Besucher schauten verdutzt, eine weiße Braut mit Schleier sah man nicht allzu oft an diesem Ort. Aber Olivia schenkte ihnen keinerlei Beachtung. Liebevoll, fast zärtlich arrangierte sie den wunderschönen Strauß aus Orchideen in der vorhandenen Steckvase. Dann hockte sie sich an das Grab und hielt lautlos Zwiesprache mit ihrem Vater. Lothar stand die ganze Zeit daneben. Er konnte damit nicht wirklich etwas anfangen, respektierte aber natürlich Olivias Einstellung und wollte ihr gerne die Zeit geben, die sie brauchte.
Nach einigen Minuten drehte sich Olivia um und bat um seine Hand, damit sie besser aufstehen konnte. Er war erfreut, dass sie lächelte.
„Alles ist gut!“, sagte sie nur, ließ sich in den Arm nehmen und küsste ihren Ehemann leidenschaftlich. Beschwingt verließen sie Hand in Hand den Friedhof und dieses Mal grüßte Olivia jeden, der verwundert zu ihnen hinüber schaute, mit einem besonders herzlichen Lachen.
Die Tafel war festlich geschmückt und das Buffet fertig aufgebaut, alle Gäste hatten sich bereits in der Begegnungsstätte versammelt als Lothar den Wagen auf dem extra reservierten Parkplatz abstellte. Erneut wurden die frisch Vermählten mit einem großen Hallo begrüßt. Sie ließen sich gerne zu ihren Plätzen am Kopf der Tafel begleiten und bevor sie sich setzten ergriff Lothar das Wort: “Ich wiederhole mich ungern, deshalb sage ich nicht nochmal, dass wir uns freuen, dass ihr da seid.“ Lautes Gelächter war die Antwort. „Außerdem geht es euch sicherlich ähnlich wie mir, ich habe richtig Hunger. Das Buffet ist eröffnet, die Getränke stehen auch da, lasst es euch schmecken! Sollte irgendjemand irgendetwas vermissen...“, er machte eine kleine Pause, zwinkerte Olivia zu und beendete seine Rede mit: „... dann hat derjenige Pech gehabt!“ Wie alle anderen laut lachend, setzte Olivia sich hin und Lothar eilte zu der langen Reihe von Tischen, auf denen das Essen aufgebaut war.
Es dauerte nicht lange, dann kam er mit einem gut gefüllten Teller zurück zum Tisch. Mit einem wohligen Brummen ließ er sich auf den Stuhl fallen und begann, seinen Hunger zu stillen. Olivia wollte nichts essen. Sie begnügte sich damit, die einzelnen Köstlichkeiten bei Lothar zu probieren. Rundherum glücklich saß sie da und beobachtete ihre Gäste, die sich reichlich mit Speisen und Getränken bedienten.
Die Gespräche wurden lauter, auf dem Tisch waren die Teller verschwunden und Tomas, Olivias Bruder, kam zu ihr.
„Jetzt Musik?“, fragte er knapp und mit ihrer Zustimmung legte er das Band ein. Es erklang der Hochzeitswalzer. Olivia wollte ganz traditionell den Tanz mit Lothar eröffnen, doch der sträubte sich. Alles Bitten und der Hinweis, man habe doch extra für die Hochzeit zwei Tanzkurse gemacht und er könne das wirklich gut, half nichts. Lothar befürchtete, er könne sich blamieren und blieb deshalb stur. Olivia kämpfte mit den Tränen. Tomas weigerte sich ebenfalls, es ginge nicht, dass der Bruder den Hochzeitstanz mit seiner Schwester macht. Peter hatte die Diskussion beobachtet und rettete die Situation.
„Als Trauzeuge muss ich den Bräutigam bei den wichtigen Dingen wohl vertreten“, meinte er, verbeugte sich formvollendet vor Olivia und bat sie um diesen Tanz. Während er Olivia am Tisch vorbei zur Tanzfläche führte, rief er Tomas zu, er möge die Musik bitte erneut starten und dann tanzten sie den Walzer.
Bald schlossen sich andere Paare an und schließlich wurde die Braut von Tanzpartner zu Tanzpartner weiter gereicht. Sie fühlte sich leicht, fast schwebend und vergaß, dass Lothar sie so rüde versetzt hatte.
Erneut stand Tomas vor ihr und klatschte ab, um den nächsten Tanz, einen langsamen Walzer, mit seiner Schwester zu tanzen. Die Hälfte des Stückes war verstrichen, als er sie etwas enger an sich heran zog.
„Eine Tradition fehlt noch“, flüsterte er mit verschwörerischer Miene. „Die Anderen warten schon draußen, du wirst jetzt entführt!“
Olivia schaute sich nervös um. Lothar war in ein Gespräch mit einigen Verwandten verwickelt und schien sich nicht um seine tanzende Frau zu kümmern. Möglichst unauffällig verließ Olivia den Raum gemeinsam mit Tomas durch den Seiten-ausgang in den Garten. Auf dem Parkplatz warteten einige ihrer Freunde. Bemüht, leise zu bleiben, stiegen sie in zwei, am Rand abgestellte Autos und fuhren in die Ortsmitte, wo sie einige Lokale kannten, die so spät abends noch geöffnet haben würden.
Beim Griechen stand der Wirt selbst hinter der Theke. Ein Applaus ertönte, als die kleine Gruppe den Gastraum betrat. Dimitrios wollte es sich nicht nehmen lassen, eine Lokalrunde zu geben. Ausgelassen wurde mit jedem angestoßen und der Ouzo auf Ex getrunken. Natürlich sollte Lothar auch etwas zum Auslösen haben, also wurde eine zweite Runde bestellt, die dann der Bräutigam bezahlen sollte. Die Gläser waren geleert und die Entführer wollten gerade mit ihrem „Opfer“ in das nächste Lokal ziehen, da standen Lothar, Peter und Steve in der Tür.
„Ihr hättet die Autos weniger auffällig parken sollen“, grinste Lothar, nahm die Glückwünsche des Wirtes entgegen und bestellte eine weitere Runde des griechischen Anis-Schnapses. Er nahm seine Frau in den Arm und erklärte stolz, dass er sie nicht aus den Augen gelassen hätte, auch wenn er sich unterhalten hat. Völlig verhindern konnte er die Entführung nur deshalb nicht, weil die Verwandten ihn nicht sofort hatten gehen lassen. Olivia freute sich, alles war genau so, wie sie es sich wieder und wieder in den schillerndsten Farben ausgemalt hatte.
Die zurückgebliebenen Hochzeitsgäste waren gerade im Aufbruch begriffen, als die jungen Leute von ihrer Tour zurück kamen. Froh darüber, dass man sich nun doch noch persönlich vom Brautpaar verabschieden konnte, löste sich die Gesellschaft gut gelaunt auf. Alle hatten daran gedacht, früh genug auf alkoholfreie Getränke umzusteigen und so mussten keine Taxen organisiert werden. Diejenigen, die in der Nähe wohnten, fuhren nach Hause, die anderen in die Pension, in der entsprechende Zimmer reserviert waren. Sie würden ihren Heimweg am Sonntag nach einem gemütlichen Frühstück antreten.
Bereits vor Weihnachten, beim Gestalten der Einladungen, hatten sich Olivia und Lothar Gedanken gemacht, was sie sich zur Hochzeit wünschen sollten. Da sie schon seit einigen Jahren zusammen lebten, war ihr Hausstand eigentlich vollständig. Beide fanden es albern, sich etwas zu wünschen, was sie eigentlich gar nicht haben wollten, nur um eine Wunschliste schreiben zu können. Zudem waren sie sich sicher, dass es niemanden geben würde, der die Schlagbohrmaschine auswählt, die Lothar so gern gehabt hätte. Schnell war deshalb der Entschluss gefasst, nur um Geldgeschenke zu bitten. Olivia hatte eine hübsche Kiste gebastelt und ein Schildchen darauf befestigt, auf dem zu lesen war, dass jeder, der ihnen etwas schenken möchte, den entsprechenden Betrag -mit oder ohne Namen- bitte einwerfen möge. Auf den Einladungen hatten sie geschrieben, dass sie auf einige größere Anschaffungen sparen und sich diesbezüglich über einen Zuschuss freuen würden. Die Kiste stand auf einem kleinen Tisch nahe der Tür und die Gäste, die sich für eine ausgefallene Präsentation ihres Geldgeschenkes oder auch ein anderes Geschenk entschieden hatten, hatten diese einfach dazu gestellt. So war die Tischplatte gut bedeckt mit einem Geldbäumchen, einem Kaktus aus einer Gurke, gespickt mit Münzen als Stacheln, einem kleinen See, auf dem Geldschiffchen schwammen, einer Wäscheleine, behangen mit Hemden aus geschickt gefalteten Geldscheinen und diversen, in buntes Papier verpackte Kartons. Die gebastelte Sparkiste war gefüllt mit Umschlägen und einzelnen Scheinen. Offensichtlich hatten sich die Gäste nicht lumpen lassen und das Paar reich beschenkt.
Marlies und Christa waren als Letzte noch nicht gegangen. Sie halfen beim Einladen der Geschenke ins Brautauto und versicherten Olivia und Lothar, dass sich genügend Helfer angesagt hätten, um am Vormittag den Raum aufzuräumen. Das frisch gebackene Ehepaar könne gerne den Rest der Hochzeitsnacht genießen und dann richtig ausschlafen. Während Lothar den Blumenschmuck von der Motorhaube montierte und vorsichtig auf die Rücksitze legte, bedankte sich Olivia nochmal bei ihrer Mutter für die wunderschöne Feier. Mit herzlichen Umarmungen verabschiedeten sich die Vier voneinander und fuhren nach Hause.
Olivia und Lothar wohnten ungefähr zwanzig Kilometer entfernt in einem kleinen Ort im Odenwald. Während der gesamten Hochzeitsvorbereitungen hatten sie penibel darauf geachtet, dass niemand die Gelegenheit bekam, an einen Schlüssel zu kommen. Zu viele ausgeartete „Streiche“ hatten sie im Bekanntenkreis mitbekommen, von derlei Scherzen wollten sie lieber verschont bleiben.
Nun fuhren sie mit einem guten Gefühl gen Heimat. Sie waren erschöpft und hingen ihren Gedanken nach, so verlief die Fahrt vollkommen wortlos.
Lothar musste den Wagen neben dem Vorgarten an der Straße parken, da die Einfahrt noch von dem VW-Bus belegt war. Er stieg aus und kam zur Beifahrerseite.
„Über die Schwelle tragen muss ich dich jetzt aber nicht, oder?“, fragte er, während er Olivia dabei behilflich war, einigermaßen elegant auszusteigen.
„Nein, nein“, wehrte sie ab, „lass uns jeder was von dem ganzen Zeug nehmen, dann brauchen wir nur zweimal gehen und der Wagen ist leer.“ Insgeheim war sie zwar ein wenig enttäuscht, aber auch sie war müde und so fiel es ihr nicht schwer, Verständnis für Lothar aufzubringen. Eigentlich hatte er ja Recht und dieser Brauch war ziemlich kitschig und nicht mehr zeitgemäß.
Sie brachten alle Geschenke und den Blumenschmuck ins Wohnzimmer. Auspacken wollten sie, wenn sie ausgeschlafen und wieder frisch waren. Noch ehe Olivia sich aus dem üppigen Kleid gepellt hatte, lag Lothar schon im Bett und war eingeschlafen. Die junge Frau hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, hängte Kleid, Petticoats und Schleier ordentlich auf Bügeln an den Kleiderschrank, legte sich neben ihren Ehemann und schlief ebenfalls sofort ein.
Es war schon nach zwölf Uhr, als die Beiden ihr gemütliches Frühstück beendeten und sich den Geschenken widmeten. Mit großem Erstaunen betrachteten sie, begleitet von lauten Lachern, was einige ihrer Freunde und Verwandten ihnen zugedacht hatten. Der unfassbar hässliche, wenngleich sicher wertvolle Kristallkrug von Lothars Schwester war vielleicht ein Familienerbstück. Das Handtuchpaket von Freunden war ok, verschiedene Blautöne in graphischen Mustern kombiniert, schön flauschig, Olivia freute sich darauf, sie zu gebrauchen. Wirklich ausgefallen war der umfangreiche Ratschenkasten, den ein Onkel liebevoll eingepackt hatte. Ob er damit zum Ausdruck bringen wollte, dass bei ihnen die ein oder andere Schraube locker wäre? Ungeachtet dieser Überlegung war Lothar begeistert, dieses qualitativ sehr hochwertige Teil fehlte tatsächlich noch in seiner Werkzeugsammlung. Weit weniger Entzücken löste die Bettwäsche aus. Kleine, zartrosa Blüten auf hellgrünem Grund und dazu Spannbettlaken in beige trafen vielleicht den Geschmack der Kusine, die für dieses Geschenk verantwortlich war, nicht aber den von Lothar und Olivia. Sie befürchteten, in diesem Muster eher Alpträume zu bekommen als darin gut schlafen zu können und beschlossen, das Paket ungeöffnet in den Schrank zu packen. Die beiden mussten lachen, denn auch die typischen Hochzeitsgeschenke, wie Kuchenplatte, Blumen-vase, Fondue-Set und Bowle fehlten nicht. Die meisten hatten jedoch ihrer Bitte entsprochen und sich zudem sehr großzügig gezeigt. Fast dreitausend Euro waren zusammen gekommen und Olivia und Lothar überschlugen, dass sie damit die Schlagbohrmaschine, eine Gefriertruhe und einen neuen Wäschetrockner kaufen konnten und immer noch Geld übrig wäre, das sie in den VW-Bus stecken wollten.
Nachdem sie alles weggeräumt hatten, rief Olivia ihre Mutter an. Sie wollte sich erkundigen, ob es noch etwas zu helfen gab. Marlies verneinte. Sie berichtete, dass es gar nicht lange gedauert hatte, bis der Raum aufgeräumt war. Die Abnahme in der Begegnungsstätte und auch in der Waldhütte hatte schon stattgefunden, beides war reibungslos verlaufen.
Olivia erzählte von ihrem Vormittag und beschrieb jedes einzelne Geschenk ausführlich. Sie diskutierten noch etwas über Geschmack und die Leute, die welchen haben, oder eben auch nicht. Dann verabschiedete Olivia sich, da sie gemeinsam mit Lothar das Auto zu Steve zurück bringen wollte.
„Na, hattet ihr eine schöne Hochzeitsnacht?“, begrüßte Steve die beiden zwinkernd, „Details müsst ihr mir jetzt aber nicht berichten, sonst hab ich gleich Mühe, die Bilder wieder aus meinem Kopf zu bekommen.“ Er lachte laut über seinen anzüglichen Humor. „Gut, dass ihr da seid“, fuhr er fort, „ich muss nämlich langsam los. Ein Kollege hat sich krank gemeldet und ich muss jetzt seine blöde Nachttour übernehmen. So wie der immer rum fährt, muss ich den LKW erstmal umräumen, damit ich mich wohl fühle.“ Olivia und Lothar bedauerten ihn ein bisschen, beteuerten, dass sie ihn auf keinen Fall aufhalten wollten und verabschiedeten sich.
Auf dem Nachhauseweg hatten sie kurz angehalten, um sich Pizza zu holen. Obwohl sie müde waren, überlegten sie nach dem Essen, wo sie in Frankfurt einige außergewöhnliche Reisebüros finden würden. Beide waren nicht gerade die Spaziergänger vor dem Herrn, kurze Wege bei einer größtmöglichen Auswahl wären deshalb perfekt.