Читать книгу Wenn wir die Masken fallen lassen - Ulrike Quast - Страница 6

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Er begegnete ihr. Robert begegnete Katharina. In dem Moment, zu dem Zeitpunkt, als er niemanden kennen lernen wollte. Ein Zufall? Später, als er sich erinnerte, glaubte er nicht mehr daran. Diese Begegnung war vorherbestimmt.

So stand er an jenem späten Vormittag auf dem Bahnsteig in L. Hier hatte er vorerst abgeschlossen. Seine Gastprofessur an der hiesigen Hochschule für Musik war beendet. Vorläufig. Denn Robert wollte wiederkommen. Um die Verlängerung seines Vertrags hatte er bereits gebeten. Nur ein paar Details waren noch zu klären. Doch darum würde er sich später kümmern. Nach dieser Reise. Nach seiner Rückkehr. Roberts kurzer Rückkehr in sein altes Leben. Er hatte sie lange hinausgezögert. Auch noch am Tag zuvor. Die Einladung einiger Musikerfreunde nach seinem Konzert kam ihm da gerade gelegen. Sie feierten bis weit nach Mitternacht. Frühmorgens war er dann zu Fuß in seine Pension gelaufen. Das Packen seiner Reisetasche musste Stunden gedauert haben. Jetzt stand die Tasche neben ihm auf dem Bahnsteig. Obenauf lag der Koffer mit seinem Saxophon. Robert trug alle Dinge bei sich, die er in den nächsten beiden Wochen brauchen würde.

Hier hatte er schon mehrmals gestanden. Hier, auf dem Bahnsteig in L. Genau an dieser Stelle. Am Scheitelpunkt zwischen seinen Welten. An diesem Punkt war er gleichzeitig hier und dort. Dort – in seiner Vergangenheit, in die ihn diese Reise noch einmal führte. Hier – in seiner Zukunft. In seinem neuen Leben, in dem er längst noch nicht angekommen war.

Doch würde er jemals ankommen? Würde er dort wirklich abschließen können? – Fragen. Sie drängten sich auf. Sie schoben sich in Roberts Gedankenwelt. Tag für Tag. Und sie durchbrachen die unruhige Stille der Nacht. Dann fühlst du diesen Stich in der Brust. Als ob es dein Herz durchzuckt. Es spaltet. Er, Robert F., lebte mit einem gespaltenen Herzen. Eine Hälfte schlug in seiner Vergangenheit. Eine Hälfte schlug hier, in seiner Zukunft. Obwohl es einem mitunter so vorkommt, als schlüge das Herz überhaupt nicht mehr. Dann ist da dieses taube Gefühl, dann spürst du gar nichts. Doch wenn er spielte, wenn er seinen Atem hemmungslos in das Saxophon blies, fühlte er sich ganz. Er war eins mit der Musik, eins mit sich selbst. Meistens stellte sich dann dieser Groove in ihm ein. Als taumelten die Sinne vor Glück. Und so pendelte Robert im Auf und Ab seiner Seelenzustände.

„Ich war gestern in Ihrem Abschlusskonzert. Es war großartig! Ich…. bin noch ganz erfüllt von der Musik. Ihrer Musik. Danke.“ – Sie stand plötzlich vor ihm. Hochgewachsen. Hell leuchtende Haare. Mit Augen, die du siehst und nicht vergisst. Augen, die in das Leben eintauchen. In denen sich das Leben widerspiegelt. „Ich bin Katharina“, stellte sie sich vor. Ihr Lächeln war ansteckend. – „Robert. Ja, schön, dass es Ihnen gefallen hat…. Hab ich Sie nicht gesehen? – Ne, wahrscheinlich nicht…. Ich schließe auch meistens die Augen, wenn ich spiele.“

„Sie sahen aus … So … Ich weiß nicht. Na, jedenfalls nicht von dieser Welt.“

„Kennen Sie das? Das ist wie ein Rausch… Aber ich war auch ziemlich gut drauf gestern.“

„Hm, waren Sie…. Und … Ihre Blumen? Sie haben sie wohl vergessen?“

„Welche Blumen? … Ach, die Rosen. Die hab ich meiner Wirtin geschenkt…. Zum Abschied.“

„Kommen Sie denn nicht wieder?“

„Doch…. Ich denk‘ schon.“

Da war es wieder. Ihr Lächeln, das die trüben Gedanken vertrieb. Ein Lächeln – wie eine Morgendämmerung. Oder wie eine rosa Mohnblume. Sind Mohnblumen nicht leuchtend rot?

„Und … was machen Sie so? … Ich meine, wenn Sie nicht gerade auf Bahnsteigen rumstehen.“

„Ich? … Seelen flicken. Jedenfalls …. versuch‘ ich‘s. Ich bin Psychologin…. Oh, kommen Sie. Schnell!“

Der Zug war inzwischen eingefahren. Er stand schon eine Weile lang da. Der Schaffner riss die Wagentür auf und rief Robert und Katharina zu: „Beeilen Sie sich.“ Die beiden stiegen hastig ein. Als sie das Abteil betraten, fuhr der Zug auch schon los. Es gab noch genügend freie Plätze und das wenige Gepäck war schnell verstaut. Robert setzte sich auf einen Fensterplatz. Er saß Katharina gegenüber. So konnte man reden. So konnte man fast gleichzeitig ihre Augen sehen und aus dem Fenster schauen. Draußen ziehen Bilder vorüber: Häuser tauchen auf und rücken in die Ferne. Felder leuchten goldgelb. Weite Rapsfelder, die den Horizont berühren. Ein paar Wolken driften am Himmel vorbei. An den Straßenrändern stehen blühende Bäume. Telefonmasten überbrücken Entfernungen. Wie weit sie wohl reichen?

„Wie weit fahren Sie denn?“, fragte Katharina. – ‚Ob sie Gedanken lesen kann?‘ … „Nach K., in meine alte Heimat.“ – „Aber … Dann geh‘n Sie wohl zurück?“ – „Nein, nur für kurze Zeit. Eigentlich will ich wiederkommen … Jetzt, wo ich Sie kenne…“ – „Aha. Sie kennen mich also. … Das geht aber schnell bei Ihnen.“ – „Manchmal schon…. Und? … Fahren Sie auch nach K.?“ – „Nein. Aber ganz in Ihre Nähe. … Ich mache eine Fortbildung – Hypnosetherapie.“ Robert blickte Katharina irritiert an: „Das ist doch Manipulation, oder?“ – „Manipulation? …. Wie kommen Sie denn darauf.“ – „Na? Und? … Manipulieren Sie nun?“ – „Nein.“ Katharina lachte. „Also, wirklich!…. Sie haben doch nicht etwa Vorurteile?“ – „Na gut. Soll ich ehrlich sein? Ihr Psychologen redet einem doch so lange ein, dass man verrückt ist, bis man‘s selber glaubt. Und ihr könnt Gedanken lesen. …. Oder etwa nicht?“ – „Ich? Natürlich nicht…. Aber … hinter der Fassade … Dort schau‘ ich schon ab und zu mal nach.“

Robert wurde plötzlich still. Die Welt hinter der Fassade. Das andere, das unsichtbare Ich. Er hatte es erfahren. Eines Tages offenbarte es sich. Obwohl es ihm lange verborgen blieb. Weil er es ignorierte. Weil sich das Leben für Robert eher draußen abgespielte. – Seelenpiss. Das war früher nie seine Sache. Bis er sich auf eine Reise nach Innen begab. Unwillkürlich musste er nun an sie denken. Sie, die er begraben hatte. Ganz tief unten im Gedächtnis. Bei den Lebensirrtümern, die man am liebsten ungeschehen macht. Post-phalliatische Amnesie. Oder besser: Man geht an den Ausgangspunkt des Geschehens zurück. Klappe, die zweite. Als ob bereute Lebensentschlüsse mit einem verpatzten Rollenspiel zu vergleichen sind! Oder mit einem Fehlstart.

Obwohl. Es gab Hinweise. Lange schon. Hinweise seiner Freunde. Seine eigenen Bedenken. Signale, die von ihr ausgingen. Die er nicht hätte wegwischen sollen. Ihre allzu kompromisslose Art, die Welt zu betrachten. Ihre Mitmenschen zu verurteilen. Diese Prinzipienreiterei. Und die Heimlichkeiten. Robert hatte manchmal das Gefühl, dass sie ihm etwas verschwieg. Etwas, das mit ihr und ihrer Vergangenheit zu tun hatte. Etwas, das auch ihn anging. All das waren Anzeichen, die er hätte ernst nehmen sollen! Er säße nicht in diesem Zug. Er hätte nicht diese Entscheidung getroffen. Eine Entscheidung, die sein altes, sein gewohntes Leben umstoßen würde. Sein Leben wäre ohnehin ganz anders verlaufen.

Eine Stimme riss Robert aus seinen Gedanken: „Ihre Fahrkarten, bitte.“ Als Katharina dem Schaffner ihre Bahncard reichte, sah Robert ein großes B hinter ihrem Vornamen. B – wie „begegnen“. Robert kramte in seiner Tasche. Schließlich hielt er sein Notizbuch in der Hand und blätterte darin. Dann zeigte er Katharina eine Skizze: Farbige Linien, die zusammentreffen. Die sich in einem Punkt berühren. Ein Moment der Begegnung. Dann strömen die Linien in verschiedene Richtungen auseinander. Darunter waren unleserliche Worte gekritzelt.

„Hier…. Sehen Sie mal. Das sind wir.“ – „Oh, tatsächlich?… Wie deprimierend…Haben Sie mal einen Stift?“ Robert zog für sie einen Bleistift aus der Jackentasche. Katharina nahm ihn und malte zwei Linien, die sich einander nähern. Der Platz in Roberts Notizbuch reichte nicht aus, und sie skizzierte auf der Fensterbank weiter: „So…. Das gefällt mir schon besser… Man trifft sich nämlich immer zweimal im Leben…. Die Dualität der Ereignisse. Wissen Sie?“ Robert nickte vielsagend. „Dass ihr euch im Westen auch damit beschäftigt…“ – „Na, da hoffe ich mal, dass ich Ihr Weltbild nicht erschüttert hab‘. … Aber Sie lächeln ja noch. … Dann… Warte mal. … Ich möchte dir noch was zeigen.“ Es fiel ihm auf, dass er sie plötzlich duzte. Sie schien jedoch nichts dagegen zu haben.

Robert blätterte wieder in seinem Buch. Er wies auf eine mit Bleistift beschriebene Seite: „Hier, sieh mal. Du kannst es gern lesen.“ Die Sätze hatte er erst gestern notiert. Nun schaute er Katharina zu, wie sie las. Es war merkwürdig, dass er einer wildfremden Frau so einfach seine Aufzeichnungen anvertraute.

„Klänge schweben durch den Raum. Sie erzählen Geschichten. Geschichten, die sich, kaum dass sie da sind, wieder verflüchtigen. Manche Klangfolgen erscheinen wieder. Tänzelnd bewegen sie sich aufeinander zu. Im Wechseltakt. Bis sie, eine in die andere, überfließen. Bis sie verschmelzen. – Ein letzter Tanz. Eine letzte Umarmung. Dann strömen sie wieder auseinander. Sie driften davon. Später der Moment des Umkehrens. Plötzlich. Motive steuern erneut aufeinander zu. Sie versinken ineinander. Sie werden eins. Das Weiche, Fließende und das Harte, Abgehackte. Ein Wechselspiel. Immer wieder.“

„…Und das Schöne dabei ist … Du weißt vorher nie, wohin es dich lenkt. Du folgst einfach den Impulsen in dir. Und jeder Impuls führt dich zum nächsten. … In der Musik wie im Leben.“ – „Dann sind wir nur zufällig hier?“ – „Vielleicht… Vielleicht nicht… Da ist ja auch noch die Bestimmung. Die Vorherbestimmung.“ – „Und? Glaubst du an Zufälle?“ – „Na, klar. … Obwohl… Meinst du, dass wir uns heute wirklich nur zufällig begegnet sind?”

Wenn wir die Masken fallen lassen

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