Читать книгу Die falsche Witwe - Ulrike Schmitzer - Страница 8

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»Mutti, ich bin echt müde, ich komme gerade aus Kanada und der Flug hatte totale Verspätung. Ich komme morgen direkt zum Begräbnis, so wie wir das ausgemacht haben. Ich hab geglaubt, Tante Anna hat dir mit der ganzen Organisation geholfen. Die kann das ohnehin viel besser als ich. Ich bin echt k.o.«

Sie druckst herum. Ich soll unbedingt vorher kommen, sie müsse mir etwas sagen, das man nicht am Telefon besprechen kann.

»Ich werde sehen, ob ich es früher schaffe«, antworte ich. Dann ruft auch noch Tante Anna an.

»Ich muss jetzt wirklich schlafen«, sage ich zu ihr. »Bitte erzähl mir das alles morgen, wenn ich da bin.«

»Aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.« Ich bin zu erschöpft, um nachzuhaken. »Ich hab nichts schönes Schwarzes«, sage ich mit vor Müdigkeit heiserer Stimme.

»Das wird deine kleinste Sorge sein«, antwortet sie.

Ich komme zu spät. Die Deutschen haben wieder die Autobahn verstopft. Ein Unfall auf der Gegenfahrbar, die Gaffer auf meiner Spur. Tante Anna sieht mich mit dem Auto kommen, rennt mir mit einem schwarzen Kleid entgegen.

»Na endlich«, sagt sie. Ich ziehe mich im Auto noch schnell um. Ich schwitze und laufe durch den Friedhof. Bei der Aussegnungshalle deutet mir Mutter, wohin ich mich zu stellen habe. In die dritte Reihe. Anna steht neben Mutter in der zweiten Reihe. Großmutter ganz vorne. Die Trauerlinie muss eingehalten werden. Erst jetzt bemerke ich den Sarg, die vielen Blumen und das Foto vom Onkel. Ein paar Trauergäste geben uns der Reihe nach die Hand und nicken mit dem Kopf. Mein Beileid. Beileid. Danke. Sie nehmen sich einen Partezettel vom Stoß. Ich trete aus der Reihe und nehme mir auch einen. Es ist ein altes Foto, ich hätte ein Neueres genommen. Der Onkel sieht sehr jung aus. Aber was ist da passiert? Da steht ein falscher Name! Ich kann es nicht fassen, sie haben einen falschen Namen gedruckt. Ich stoße Großmutter an, doch sie nickt nur. »Das stimmt schon so«, sagt sie. »Ich erklär dir das später.« Ich suche Mutters Blick und sie nickt mir zu. Wir müssen gehen, der Sarg wird auf einen Wagen gehoben und wir gehen schweigend hinter ihm her. Mein Herz klopft laut. Mir wird übel. Was steht da für ein Name? Josef Lienbacher. Wer soll das sein? Der Onkel hieß Franz Maier.

Die Trauergäste sind weg.

»Wieso sagt denn niemand was?«, frage ich. »Da steht ein falscher Name und niemand sagt was.«

Sie haben alle ihr Schnitzel gegessen, ein paar haben sich nach meiner Arbeit erkundigt. Der Silberbauer hat nur den Kopf geschüttelt und gesagt, »was es alles gibt«. Und seine Frau hat mir zugezwinkert und gemeint, »Hauptsache, es macht dir Freude. Das ist das Wichtigste.« Tante Anna fährt mit ihrer Familie nach Hause.

Großmutter nimmt in der Küche das schwarze Netztuch vom Kopf.

»Setz dich«, sagt sie zu meiner Mutter und räumt Teller auf den Tisch. Für mich auch einen, obwohl sie mich sonst keines Blickes würdigt.

»Ich kann jetzt nichts mehr essen«, sagt Mutter.

»Aber ein kleines Nachtmahl stell ich euch schon hin. Eva, du wirst schon was essen wollen«, sagt sie.

»Was ist das für ein Name?«, sage ich ungeduldig.

Mutter schaut mich böse an.

»Das ist sein Name«, antwortet Großmutter.

»Aha, und seit wann?«, frage ich.

»Immer schon«, sagt sie.

Der Onkel sei ihr Mann gewesen. Ihr rechtmäßiger Ehemann. Sie hätte ihn verstecken müssen. Deshalb der neue Name. Alles sei gut gegangen bis zu diesem Tag im Wirtshaus. Bis zur Anzeige vom Krallinger.

»Alles Schlechte hat auch sein Gutes«, sagt sie. Er habe ihr damit erspart, sich entscheiden zu müssen, unter welchem Namen sie ihn begräbt. »Als ob er seinen Tod vorausgeahnt hätte«, sagt sie.

»Dann war er also doch mein Vater. Ich hab’s immer gewusst.« Das ist das Einzige, was meine Mutter an diesem Abend sagt.

Großmutter schweigt.

Mutter nimmt den Autoschlüssel von der Kommode, wo sie ihn immer hinlegt und geht grußlos. Ich küsse Großmutter auf die Wange und laufe ihr nach.

»Fahr du das Auto heim, ich geh ein Stück«, sagt Mutter und drückt mir den Autoschlüssel in die Hand.

»Ich hab ihn verstecken müssen«, hat Großmutter gesagt.

»Sie hat uns die ganze Zeit belogen. Beide haben uns die ganze Zeit belogen. Wie konnten sie nur so egoistisch sein? Die haben sich doch einen Dreck darum gekümmert, was mit uns ist. Wir sollten sie klagen, nicht die anderen! Wegen seelischer Grausamkeit sollte sie jetzt vor Gericht stehen. Was habe ich mir immer Gedanken gemacht, wie unser Papa gestorben ist, ich hab ihn auf einem eisigen Feld liegen sehen, in einem dreckigen Graben, von Laub zugeweht. Ich hab mindestens tausend verschiedene Szenarien für seinen Tod erfunden. Als Kind hab ich jeden Abend beim Einschlafen eines entwickelt, und oft habe ich ihn in letzter Sekunde vor dem Tod gerettet, oder er starb in meinen Armen und küsste mich noch ein letztes Mal auf die Stirn, ich habe ihn in einem riesigen Lazarett gefunden, wo er seit Jahren ohne Gedächtnis und Identität vor sich hin vegetierte und ihn keiner kannte, doch dann kam ich und als er mich sah, konnte er sich an alles erinnern, er lachte mich an und alles wurde gut.«

»Davon hast du nie was erzählt«, sagt Anna, als Eva ihren Redefluss unterbricht.

»Natürlich habe ich nie etwas davon gesagt. Das war meine geheime Welt mit Papa. Du hättest mich sowieso nur ausgelacht.«

»Vielleicht«, räumt Anna ein.

»Hattest du nie solche Fantasien?«, fragt Eva.

»Nein«, sagt Anna.

»Ich weiß nicht, ob ich ihr das je verzeihen kann. Ich bin echt sauer. Und das Ärgste ist, dass sie es uns nie gesagt hätten. Was, wenn sich eine von uns zwei auf die Suche nach unserem Vater gemacht hätte. Wenn wir wie so viele auf Spurensuche gegangen wären und sein Schicksal genau erforscht hätten? Was hätte sie dann gemacht?«

»Sie haben schon dafür gesorgt, dass wir nie auf die Suche gehen werden. Sie haben uns schon so erzogen, dass wir nicht suchen.«

»Ich könnte das meinen Kindern nie antun«, sagt Anna.

»Du belügst deine Kinder doch auch«, sagt Eva.

»Wann bitte belüge ich meine Kinder?«, fragt Anna gereizt.

»Jeder Erwachsene belügt seine Kinder«, weicht Eva aus.

»Aber doch nicht bei so was. Nicht bei so was! Bei irgendwelchen belanglosen Kleinigkeiten, bei Banalitäten, die den Alltag erleichtern. Oder beim Christkind, beim Nikolaus, was weiß ich – um ihnen ein Stück Kinderglück zu erhalten. Aber sie hat uns ins Unglück gestürzt. Sie hat uns Kindern einen Verlust beschert, den wir nie erleiden hätten müssen.«

»Ich weiß noch, wie herzzerreißend du geheult hast. Ich habe mich damals noch gewundert, denn du hast erst zwei Tage später losgeheult. Als sie uns sagte, dass er tot ist, hast du gar nichts gemacht.«

»Das weißt du noch?«, fragt Anna überrascht.

»Ich war älter als du. Du hast so ein Theater gemacht, als sie seine Schuhe für den Garten angezogen hat. Du hast so lange geschrien, bis sie sie wieder ausgezogen hat.«

»Echt? Ich kann mich überhaupt nicht mehr erinnern.«

»Dafür hast du mich«, sagt Eva.

»Dann war er also unser Vater. Mein Gott, ich wäre viel netter zu ihm gewesen. Weißt du noch, wie ich ihn angebrüllt habe, hochpubertär, dass er mir gar nichts anzuschaffen hat. Dass es ihn überhaupt nichts angeht, mit wem und wie lange ich fortgehe.«

»Er ist immer hinausgegangen. Wenn es brenzlig wurde, ist er aus dem Zimmer gegangen«, sagt Eva.

»Deswegen. Vielleicht hatte er Angst, sich nicht mehr beherrschen zu können, zu viel zu sagen. Damals hat es mich wahnsinnig gemacht. Ich dachte immer, dass ihm alles egal war.«

»Du warst ihm sicher nie egal. Wenn ihn jemand auf die Palme brachte, dann warst das doch immer du«, sagt Anna.

»Das stimmt. Weißt du noch, wie er herumgebrüllt hat, als ich mit dem Vespa-Roller los bin?«

»Da warst du doch erst 14!«, erinnert sich Anna.

»Glaubst du, dass es das alles wert war? Unsere Trauer, unsere Tränen? Und dass wir ihn immer als Fremden betrachtet haben? Warum hat sie das bloß getan?«

»Das musst du sie fragen. Für mich gibt es keine Entschuldigung«, sagt Anna.

Die falsche Witwe

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