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Ich gehe nicht mehr in die Schule, sagt Eva. Die Mutter öffnet die Türe so laut wie man eine Türe nur öffnen kann. Sie stürmt ins Zimmer, reißt ihr die Decke weg und macht das Fenster auf. Eva ist eiskalt.

»Aufstehen«, sagt sie und verschwindet auch schon wieder.

»Ich gehe nicht in die Schule«, sagt Eva. Sie sagt es so leise, dass es die Mutter nicht hören kann.

»Doch«, sagt die Mutter und steckt den Kopf durch die Tür, »und ob du gehst«.

Eva hat in der Schule erzählt, dass ihr Vater noch im Krieg ist und alles wieder aufbaut, was die anderen zerstört haben. Er ist ein Held und hat einen Preis bekommen, weil er so schöne Häuser und Brücken baut. Das könne sie sogar beweisen, weil sie einen, sogar viele Briefe von ihm habe, hat Eva gesagt. Und sie könne auch die vielen Bilder mitbringen, die in den Kuverts von ihrem Vater waren. Eva hat aber keine Briefe. Und sie hat keine Bilder. Sie hat gar nichts. Sie hat die anderen jetzt schon zwei Wochen hingehalten. Du lügst doch, hat Elfi gesagt. Eva hat sie geschlagen, bis Elfi sich gekrümmt hat. Die Lehrerin hat nichts bemerkt.

»Ich habe Bauchweh«, sagt Eva zur Mutter.

»Warum du immer Bauchweh hast«, sagt die Mutter und hilft ihr in die Jacke. »Aber du gehst jetzt, und wenn es nicht besser wird bis zehn Uhr, kommst du wieder.«

Eva lässt sich auf dem Weg viel Zeit und überlegt, was ihr alles zustoßen könnte, bevor sie bei der Schule ankommt. Sie könnte sich auf die Zugschienen legen, dann müssten sie ihre Körperteile für das Begräbnis zusammensuchen. So wie bei Ullas Schwester. Sie könnte vom Traktor überrollt werden. Sie könnte aber auch in den Fluss stürzen und erst nach der Grenze in Freilassing aus der Salzach gezogen werden, nachdem die Fische bereits ihr Gesicht zerfressen haben.

Eva kann nicht wissen, dass sich heute niemand für sie interessieren wird. Die Lehrerin wird einen Brief bekommen und sie wird weinen und die Kinder werden in der Pause nur mehr über sie reden. Die Lehrerin wird noch ein paar Tage da sein und dann werden sie eine neue Lehrerin bekommen. Niemand wird Eva mehr nach ihrem Vater fragen. Sie wird die Einzige sein, die ihn nicht vergessen hat.

Ein paar Tage später macht sie noch einen Versuch. Die Mutter ist gut gelaunt. Sie hat von irgendjemandem ein ganzes Glas Schweinefett bekommen und das macht sie glücklich. Eva setzt sich zu ihr auf die Eckbank und fragt, was sie schon die ganze Zeit fragen wollte:

»Du, Mama, warum ist der Papa fortgegangen?«

Weil sie so gut aufgelegt ist und die Küche noch nach dem gerade gebratenen Schweinefett riecht, antwortet sie geduldig.

»Der Papa hat sich freiwillig gemeldet. Er ist in den Krieg gegangen, das weißt du doch.«

»Wann kommt er denn wieder?«, fragt Eva.

»Der Papa kommt gar nicht wieder«, sagt die Mutter und verscheucht sie von ihrem Platz auf der Eckbank, weil sie ausgerechnet jetzt den Polsterbezug abklopfen muss.

»Weil ich nicht brav war?«, fragt Eva und spürt, wie ihr die Tränen in die Augen steigen.

»Nein, das hat gar nichts mit dir zu tun, Eva, das ist einfach der Krieg.«

»Warum kommt er dann nicht wieder?«, fragt sie noch einmal.

Die Mutter sagt nichts. Und auf einmal spürt Eva eine unheimliche Wut, auf sie, auf den Krieg, auf den lieben Gott.

»Weil er tot ist!«, schreit Eva. »Tot! Tot! Tot! Tot!«

Die Mutter packt sie an den Schultern und schüttelt sie ganz fest.

»Ruhe«, befiehlt sie, »sei endlich ruhig«.

Aber Eva kann noch viel lauter schreien. Anna kommt herein, bleibt in der Tür stehen. Sie wird ihre Schwester nachher bitten, ihr diesen Schrei beizubringen. Eva spürt ein festes Brennen auf ihrer Wange. Die Mutter zieht die Hand wieder weg. Sie ist noch ganz nah bei ihrem Gesicht, die Mutter schaut ihr tief in die Augen.

»Du stinkst aus dem Mund«, sagt Eva plötzlich ganz ruhig und wischt ihre Tränen mit dem Handrücken ab.

»Du«, sagt Eva. Der Onkel dreht sich langsam vom Holzhacken um.

»Wie heißt das?«, fragt er und hebt ein neues Holzscheit hoch.

»Bitte«, sagt Eva automatisch. Der Onkel schlägt zu, die Holzscheite springen auseinander.

»Das meine ich nicht«, sagt er. »Du sollst mich Onkel nennen.« Er bückt sich wieder.

»Hm«, sagt Eva. Er wartet, bevor er wieder die Axt schwingt.

»Also«, sagt er auffordernd. Eva sagt nichts. Sie sieht ihn an und sagt nichts. Sie kann nicht »Onkel« zu ihm sagen.

Sonst falle ich auf der Stelle tot um. Weil ich lüge, denkt sie. »Egal, nicht so wichtig«, sagt sie und läuft davon.

Anna hat damit kein Problem. Sie ruft ihn dauernd »Onkel«. »Wie soll ich denn sonst sagen?«, fragt sie. Er ist doch der Onkel. Manchmal sagt sie sogar »lieber Onkel«. Er greift ihr dann auf den Kopf und fragt: »Was ist denn mein Engel?« Aber Anna ist kein Engel. Und seiner schon gar nicht.

Eva braucht Anna als Verbündete. Sie muss sie für ihre Mission einsetzen.

»Anna«, sagt Eva, »du bekommst einen Geheimauftrag.«

»Spielen wir wieder Spione?«, fragt Anna.

»Du bekommst eine verschlüsselte Botschaft. Du gehst zum Onkel. Du wirst ihn fragen, warum er sich verstecken muss.«

»Das ist doch blöd. Wenn er ein Spion ist, wird er mir das doch sicher nicht sagen.«

»Ok, du fragst ihn, was er im Krieg gemacht hat«, sagt sie.

»Er war Soldat. Das ist langweilig. Ich mag dein Spiel nicht. Ich geh in den Hof Ball spielen. Kommst du mit?«

Eva setzt sich zum Onkel auf die Holzbank.

»Warst du im Krieg?«, fragt sie ihn. Er lässt sich viel Zeit mit einer Antwort, sieht nicht von der Zeitung auf.

»Natürlich. Alle Männer waren im Krieg. Ich war Soldat.«

»Macht man im Krieg schlimme Sachen?«, fragt Eva. Der Onkel blättert in der Zeitung.

»Weißt du, im Krieg gelten andere Gesetze.«

»Was heißt das?«

»Da machen viele Menschen etwas, das sie im normalen Leben nie tun würden«, sagt er. »Darüber sollte sich so ein Lockenkopf wie du keine Gedanken machen.«

»Kann man dafür auch später noch bestraft werden?«, fragt sie und sie sieht, wie sein linkes Auge zu zucken beginnt. Er spürt es nicht, sonst würde er sich kratzen.

Die falsche Witwe

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