Читать книгу Frauenglück - Ulrike Vaube - Страница 4
Die Buchclubdamen
ОглавлениеJutta wäre gerne unserem Buchclub beigetreten. Nicht dass sie nicht zu den anderen fünf Damen gepasst hätte. Auch hatte niemand von uns etwas gegen geschiedene Frauen. Ich wusste, die eine oder andere der Gruppe sympathisierte gar mit Juttas Situation. Zumindest hätte die zu Hause keinen Kerl, der dauernd aus dem Fenster springen wollte, hatte Eva, unsere Reisekauffrau, einmal kommentiert und sich damit lakonisch auf die Depressionen ihres Mannes bezogen. Juttas Problem waren die Bücher. Was wir lesen würden, meinte sie, das wäre ihr viel zu bedrückend. Wir sollten ihr Bescheid sagen, wenn wir mal was Lustiges hätten, dann würde sie gerne kommen.
Nachdem wir die Walser-Reihe abgeschlossen hatten, begannen wir an einer Klavier-Reihe. Die Idee stammte von Frauke, unserer Rechtsanwaltsgehilfin. So lasen wir also ‚Der Klavierspieler‘, ‚Die Pianistin‘ und endeten mit ‚Der Klavierlehrer Ihrer Majestät‘. Bei dieser letzten Buchbesprechung lauschten wir dem wohltemperierten Klavier von Bach. Wir waren stolz darauf, einem Buchclub der gehobenen Klasse anzugehören. Konkret hieß das, jemand aus der Gruppe schlug ein Buch vor, es wurden drei Exemplare angeschafft, die wir sechs uns zum Lesen teilten, und einmal im Monat trafen wir uns, um das Buch zu besprechen. Dabei konnten unsere literarischen Gespräche recht lange dauern. Unser Rekord lag bei einer Stunde und circa fünf Minuten. Und wenn man einmal davon absah, dass die Diskussionen in aller Regel nur von zwei Drittel der Damen getragen wurden, während die anderen andauernd in Themengebiete wie neue Kosmetikreihen, missglückte Friseurbesuche und dergleichen abschweiften, war das eine ziemlich gute Ausbeute. Wir wären Querbeet-Leserinnen, hatte Trudi, unsere Gärtnereiinhaberin, einmal sehr treffend gemeint. Wir hatten nichts gegen Autorinnen wie die Jelinek, wenigstens die meisten von uns nicht. Und auch bei einem zweihundert Jahre alten Weltbild wie das der Sophie von La Roche gelang es uns, Bezüge zur Gegenwart herzustellen. Wir hatten ein paar ausgemachte Uwe-Timm-Fans in der Gruppe, andere hatten eine besondere Affinität zu holländischen Schriftstellern wie Leon de Winter und Maarten ‘t Haart, Walser fanden alle gut, manchmal lasen wir auch etwas ins Deutsche Übersetztes von Coetzee, McEwans oder Hosseini, und gelegentlich warfen wir auch einen Klassiker von Fontane oder Lessing ein, und manchmal durfte es auch Goethe sein.
Zweimal im Jahr nahmen wir uns die Freiheit, Mann und Kinder Take-away- und Tiefkühlkost zu überlassen, um für ein Buchclubwochenende wegzufahren. Dieses Mal hatte Anneliese, unsere Innenarchitektin, ein altes Gehöft am Rande eines malerischen, kleinen Örtchens inmitten von elsässischen Weinbergen angemietet. Außerdem hatte sie von einer Überraschung gesprochen. Die Vermutungen der Damen variierten von einem eigens engagierten Stripper (Eva), über einen Fünf-Sterne-Koch (Trudi), mitternächtlichem Nacktschwimmen der sechs Elfen im örtlichen Feuerwehrsee (Frauke), einer Gastsprecherin zum Thema ‚Der kosmetische Facelift‘ (von unserer Dermatologin Stephanie) bis hin zu einem Überraschungsbesuch unserer Männer (ich). Klaus war in den letzten drei Tagen krank, zu krank für Sex gewesen. Und wie er mitbekam, dass ich dieses Mal wegen der längeren Anfahrt bereits am Freitagnachmittag gehen würde, machte er ein Gesicht, als würden ihm sämtliche Felle davon schwimmen, und im Besonderen das am oberen Ende meiner Beine.
Das Gehöft bestand aus drei eingeschossigen, u-förmig um einen Hof herum gruppierten Häusern. Die alten, schiefen Steinplatten in ihrer Mitte grenzten vor dem linken Haus an ein Blumenbeet, vor dem rechten an ein Kräuterbeet. Im linken Beet wuchsen wie in einem echten Bauerngarten alle erdenklichen Sommerblumen wild durcheinander. Er bot einen so bunten Anblick wie die Farbpalette eines Malers kurz vor dem Feierabend. Wicken, Sommerastern, Margeriten, Kornblumen und Nelken, die einen besonders würzigen Geruch verströmten. Rechts, im Kräuterbeet wucherten Schnittlauch, Petersilie, Basilikum, Minze, Zitronenmelisse, Zitronenverbene und etwas das ein bisschen wie Sellerie aussah, aber eine bizarrere Blattform hatte. Vor dem mittleren Haus standen zwei beige Zement-Töpfe, groß wie Traktorräder, mit rotem Oleander. Die Mitte des Hofes wurde von einer Pergola überdacht. Die quadratische Holzkonstruktion verschwand nahezu gänzlich unter Weinranken. Auch an einem heißen Tag wie heute würden sie an dem langen Holztisch mit seinen zwei Holzbänken im Schatten sitzen. Von dort führten zwei breite Sandsteinstufen zur Poolebene hinab. Das ovale Schwimmbad war nicht groß, nicht länger als sieben Meter, doch zum Plantschen und Abkühlen würde es reichen. Was früher einmal Ställe und was Bauernhaus gewesen war, ließ sich von außen nicht mehr erkennen. Das Gebäude war bis zur Unkenntlichkeit renoviert worden, nur wenn man das Holzfachwerk genauer betrachtete, sah man, dass es sich um Jahrhunderte alte Bausubstanz handelte.
Das Erstaunlichste an den drei Häusern war ihre Inneneinrichtung. Ein jedes war im Stil einer anderen Epoche eingerichtet. In der Mitte lag die mittelalterliche Burg, rechts davon das französische Landhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert und links Mies van der Rohes Feriendomizil. Natürlich schauten wir sechs uns alle drei Häuser an. Es wurden hier die Intarsien eines Wohnzimmerschranks gelobt, dort bewundernd über den Samt eines Sesselbezugs gestrichen, und als Frauke im französischen Landhaus ein Himmelbett entdeckte, klatschte sie vor Freude in die Hände. Wer in welchem Haus übernachten wollte, ergab sich wie von selbst. Eva und Stephanie wählten die Burg. Die Wände waren düster gestrichen, es gab wenige Fenster, dafür einen riesigen, offenen Feuerplatz. Und über allem thronte ein Kronleuchter, der auch Tarzan ausgehalten hätte, wie Eva bemerkte. Trudi und Frauke zogen sich ins französische Landhaus zurück, das Frauke sofort auf den Namen ‚Quartier Français‘ taufte. Durch die dem Hof abgewandten Flügeltüren trat man auf eine rosengesäumte Terrasse mit Sicht auf die Weinberge. Die abschüssigen Rebenreihen in ihrem akkuraten Raster, nur hier und da tanzten ein paar Schösslinge aus der Reihe, würden auf sie eine magische Kraft ausüben, sinnierte Trudi und breitete die Arme aus, gerade so als wollte sie diese Kraft einfangen. Bei ihr als Gärtnerin würde das wohl unter Berufskrankheit laufen, amüsierte sich Frauke.
Anneliese und ich bevorzugten die strengeren Formen der Moderne. In unserem Flügel war das Mauerwerk der Fachwerkgiebelwand des Wohn- und Esszimmerbereichs durch Glas ersetzt worden, sodass wir den Parkplatz zwischen den alten Eichen sehen konnten. Allerdings wurden unsere Autos von einem, direkt vor unserer Nase geparkten, weinroten, alten Rolls-Royce verdeckt.
„Ist außer uns noch jemand hier?“
Ich deutete auf den Wagen.
„Nein, der gehört dem Besitzer. Er lässt ihn mit Absicht dort stehen, damit die Aussicht ein wenig verschönert wird, hat er mir erzählt“, grinste Anneliese.
Wir warfen uns in unsere Badesachen und machten uns frisch. In meinem Fall bedeutete das, die Wimperntusche zu erneuern, die ich so selten auftrug. Wieder einmal war sie rund um die Augen verschmiert. Ich sah aus als hätte ich zu Hause bittere Abschiedstränen vergossen. Aber nichts lag der Wahrheit ferner. Als Anneliese mich abgeholt hatte, war ich mit dem angenehmen Gefühl des Entkommens bei ihr ins Auto gesprungen. Wegen Klaus‘ Grippe, hatte ich vorerst auf die Implementierung des kühnen Plans, den ich auf Juttas Terrasse gefasst hatte, verzichten müssen. Mein Mann hatte, seit er krank war, kaum mehr die notwendigsten Worte mit mir gewechselt. Er schien sich Lichtjahre von mir entfernt in einer ihm eigenen Welt zu bewegen. Sein Schweigen war die Strafe für mich. Es war eine stumme Schuldzuweisung. Ich war an allem schuld: Denn ich hatte keine Lust, seinem fiebrigen Schwanz zur Erlösung zu verhelfen. Es war meine Schuld, dass wir seit sechs Tagen keinen Sex hatten. Und bereit wie der Kirchgänger zum Abendmahl trank ich aus dem bitteren Kelch, nahm die Schuld an, und verhielt mich Klaus gegenüber extra lieb und extra fürsorglich. Vielleicht, überlegte ich, sollte ich an unserem Damen-Wochenende einmal das Thema ‚Schuld‘ anschneiden, nur so ganz allgemein, vielleicht verbunden mit dem Vorschlag, doch einmal Dostojewskijs ‚Schuld und Sühne‘ zu lesen? Ich wusste, Trudi liebäugelte seit längerem mit der russischen Literatur. Waren Frauen etwa genetisch prädisponiert für Schuldgefühle, konnten sie nicht anders, als Schuld auf sich zu laden? Oder hatte eine Jahrtausende alte, religiöse Erziehung verhindert, dass sie sich je vom Sündenfall erholen konnten. Hatte nicht bereits alles im Paradies begonnen, als Eva die verbotene Frucht vom Baum der Erkenntnis pflückte?
Ich musterte mein Antlitz im Spiegel. Meine blauen Augen blickten traurig zurück. Sie waren dunkler als sonst. Sie hatten die Farbe eines Meeres ohne Schaumkronen. Es fehlte ihnen das Glitzern, das helle Glitzern der Lebensfreude, des Wissens um ein glückliches Morgen. Hatten Anneliese und die anderen auch schon bemerkt, wie schlecht es mir ging? Ich unterzog den Rest meines Gesichts einer schnellen Routineuntersuchung. Die braunen, schulterlangen Haare saßen gut. In weiser Voraussicht hatte ich meinen letzten Friseurbesuch samt Farbspülung auf das Buchclubwochenende abgestimmt. Und die sündhaft teure Nachtcreme, eine von Stephanies Empfehlungen, schien tatsächlich zu helfen. Zwar sah mein Gesicht morgens immer etwas aufgeplustert aus, als hätte ich die ganze Nacht bei geschlossenem Fenster und voll aufgedrehtem Heizkörper geschlafen, doch die Lach- und Denkfalten waren eindeutig geglättet. Dafür störten ein paar neue, hässliche Furchen, die senkrecht von der Oberlippe Richtung Nase verliefen. Ich beschloss, Stephanie um Rat zu fragen. Ich versuchte verschiedene Mimiken. Ich war keine Raucherin. Aber woher kamen nur diese Falten? Mein Gesicht hing ganz nahe vor dem Spiegel. Die Erkenntnis traf mich wie ein Blitzschlag, schnell, ohne Vorwarnung und unerbittlich. Ich zuckte zurück. Man konnte es mir ansehen! Andere Frauen konnten mir ansehen, wie oft ich meinem Mann einen blies. Wie von selbst formten meine vollen Lippen ein schockiertes ‚O‘. Das war es! Erschrocken kniff ich die Lippen zusammen, bis sie lediglich einen Strich in meinem Gesicht bildeten. Die Falten waren annähernd verschwunden. Allerdings konnte ich nicht den ganzen Tag mit zusammengekniffenen Lippen herumlaufen. Sollte ich die Falten über meinem Mund stolz zur Schau tragen wie ein Versehrtenmal, eine Verwundung, die ich mir im jahrelangen Zweitages-Kampf zugezogen hatte? Ein Mal, das meinen Genossinnen zurief, ‚seht her, dies alles tue ich für meinen Mann!‘ Im Hof knallten die ersten Sektkorken. Ja, ich würde meine Verwundung mit den anderen feiern. Und ich würde sie zu meinem Triumph machen. Seit dem Nachmittag auf Juttas Terrasse hatte ich einen Plan.
Ich trat aus unserem Van-der-Rohe-Haus. Die anderen standen in leichter Badekleidung auf der Poolterrasse herum. Nur Eva hatte sich keinen Sarong um die Hüften geschlungen. Sie musste sich und ihren Körper immer in Szene setzen, sei es mit extra teuren, Figur betonten Designerklamotten oder wie in diesem Fall mit dem knappsten Bikini, den ich an einer Frau ihres Alters je gesehen hatte. Eva war die Verkörperung dessen, was die Männer gemeinhin als scharf bezeichneten. Ich gesellte mich zu den anderen. Frauke drückte mir einen Willkommenstrunk in die Hand. Jemand hatte Johannisbeerlikör mitgebracht und Trudi mixte fleißig Kir Royal.
„Mensch, Anneliese, wie bist du eigentlich an den tollen Schuppen gekommen, und das zu diesem Preis?“, erkundigte sich Stephanie gerade.
„Beziehungen“, antwortete Anneliese mit einem geheimnisvollen Lächeln und schüttete Cashewnüsse und gesalzene Mandeln auf rote Pappteller, deren Farbe erstaunlich gut zu unseren Getränken passte.
„Und wo wohnt er?“, fragte Eva frech.
„Wer?“
„Du kannst aber auch fragen, deine Beziehung natürlich!“
„Er hat ein Wochenendhaus dort oben auf dem Hügel.“
Anneliese wies vage hinter sich. Wir sahen keinen Hügel, Stephanie und Evas Burg war im Weg.
„Und ich möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass es sich nicht um meine Beziehung handelt, sondern um eine rein geschäftliche Beziehung. Er ist der Besitzer von Lifestyle. Ich schicke ihm regelmäßig Kunden, die, was den Geschmack ihrer Inneneinrichtung betrifft, aus den schwedischen Kinderschuhen herausgewachsen sind. Tja, und die lassen so einiges bei ihm liegen“, meinte Anneliese und fing an die Nüsse herumzureichen.
„Lifestyle, das Inneneinrichtungshaus“, Frauke pfiff anerkennend durch die Zähne, „das erklärt so einiges. Der Typ hat doch tatsächlich Geschmack wie man an dem Interieur der Häuser hier sieht.“
„Schade“, kommentierte Eva.
„Was ist daran schade?“, wollte ich wissen.
„Das heißt, er ist bestimmt schwul. Ist dir noch nie aufgefallen, dass schwule Männer immer die besten Schuhe und die schönsten Krawatten tragen?“
Annelieses Mann, Günther, hatte ein Architekturbüro, und wenn seine Häuslebauer eine weitergehende Beratung wünschten, was die Innenarchitektur ihrer zukünftigen Eigenheime betraf, kümmerte sich Anneliese um sie. Die beiden waren ein gutes Gespann, und nicht nur auf geschäftlicher Ebene. Anneliese war die Älteste von uns sechs Damen. Sie war seit knapp dreißig Jahren verheiratet, hatte zwei erwachsene Kinder und seit kurzem den ersten Enkel. Auf dem Feld der Ehe war sie gewissermaßen ein alter Hase und ihre ehetechnischen Ratschläge wurden von uns allen sehr geschätzt. Ich wusste nicht, wie es den anderen erging, doch ich beneidete Anneliese nicht selten um ihre gute Ehe. Unverhohlen nahm ich meine Freundin in Augenschein. Sie war eine Frau, die man gerne anschaute. Anneliese hatte aparte Gesichtszüge: Mandelförmige dunkle Augen, einen grauen Kurzhaarschnitt, wobei sie die Haare um das Gesicht herum etwas länger trug, und herzförmige, grell geschminkte Lippen, damit sie mit den grauen Haaren nicht zu farblos aussah, wie sie mir einmal sagte. Sie hatte jede Menge Falten um die Augenpartie, dass sie viel und gerne lachte, konnte man ihr ansehen. Hingegen über der Oberlippe, zwischen Mund und Nase runzelte sich nichts. Als sie mir den Teller mit den Nüssen hinhielt, konnte ich es genau sehen. Hatte Anneliese uns nicht ständig von ihrem gesunden Sexleben erzählt? Und wie gerne sie sich in den Bauch ihres Mannes kuschelte, auch noch nach dreißig Jahren Ehe? Nun, zugegebenermaßen vom in-den-Bauch-kuscheln konnte man keine Blow-Job-Falten bekommen. Verstohlen musterte ich die Oberlippenpartien der anderen Damen. Nein, keine hatte solche Falten wie ich. Nicht einmal Frauke, die noch bis vor kurzem geraucht hatte.
„Wenn wir heute Abend Forellenfilets mit Sahnesößchen machen wollen“, wandte sich Trudi an Frauke, „müssen wir bald mal zu dieser Forellenräucherei fahren, von der du gesprochen hast.“
„Mädels, wer will heute Abend kochen?“, fragte Eva und blickte in die Runde.
Sie erntete Schweigen.
„Ist einer dafür, dass wir Essen gehen?“, fragte ich.
Klaus und ich gingen sehr selten in ein Restaurant. Nur wenn es etwas zu feiern gab wie unseren Hochzeitstag oder Geburtstage. Das restliche Jahr über kochte ich. Heute konnte Klaus bezahlen. Das Letzte, auf was ich im Moment Lust hatte, war mich in die Küche zu stellen. Ganz abgesehen davon, mochte ich Fisch sowieso nicht besonders.
„Trudi, du würdest gerne kochen, nicht wahr?“, stichelte Frauke.
„Ich? Wer sagt das?“
„Gut, wir gehen aus. Beschluss einstimmig angenommen“, lachte Anneliese. „Aber zuerst trinken wir die Sonne hinter die Hügel, was meint ihr?“ Sie hielt ihr Glas gegen die Sonne, begutachtete seinen orange-rot funkelnden Inhalt, schloss die Augen und nahm einen genießerischen Schluck. Auch Stephanie erhob ihr Glas.
„Auf euch, meine Freundinnen!“
„Auf unser Wochenende“, stimmte Frauke ein.
„Auf die supertolle Unterkunft und die supersuperschöne Umgebung“, ergänzte Trudi und prostete den waldbestandenen Hügeln zu.
Trudi machte gerne und oft Komplimente, in denen sie oft auch gerne übertrieb, doch dieses Mal traf sie den Nagel auf den Kopf. Hinter dem Schwimmbecken erstreckte sich bis zu den Hügeln eine Obstbaumwiese. Andere Häuser waren keine zu sehen. Es waren alte Bäume, schief und verwachsen, deren Stämme vom flirrenden Sonnenlicht und dem Schatten ihrer Äste verschluckt wurden. Sie standen weit auseinander, mit dazwischen viel Platz zum Im-Gras-Liegen und Träumen.
Ganze Nachmittage lang hatte ich unter dem riesigen Birnbaum im Garten meiner Großmutter im langen Gras gelegen, hatte dem aufgeregten Summen der Wespen zugehört, den süßlichen Geruch der verwesenden Birnen eingeatmet und mir gewünscht, Friedrich würde neben mir liegen. Friedrich meine erste große Liebe, ich war damals vierzehn gewesen, er sechzehn. Anstatt unsere Englisch- und Mathehausaufgaben zu machen, hatten wir stundenlang in seinem verdunkelten Zimmer auf einer Matratze am Boden gelegen, uns Joe Cocker, Tina Turner oder U2 angehört und uns langsam, zärtlich, Zentimeter für Zentimeter an unseren Körpern tiefer gearbeitet. Was ich schließlich zwischen seinen Beinen entdeckt hatte, fand ich unermesslich groß. Um es in den Bereich des Ermessbaren rücken zu können, hatte ich ein Lineal aus meiner Schultasche geholt. Ich hatte keine Ahnung wie dieses lange Ding in mich hineinpassen sollte. Wenn ich an Friedrich dachte, wunderte ich mich immer wieder, wie rein und unschuldig unsere Liebe gewesen war. Erst als sich die Erwachsenen eingemischt hatten, und meine Mutter mich zu ihrem kurz vor der Pensionierung stehenden Frauenarzt geschleppt hatte, wurde sie durch den Schmutz gezogen, und ich begann mich schuldig zu fühlen. Der alte Arzt in seiner knöchellangen, weißen Kutte hatte mir mit strengem Blick zu verstehen gegeben, was ich da mit Friedrich trieb, wäre in meinem Alter wirklich eine Schande.
„Ich kann nichts mehr trinken. Ihr wisst, wie wenig ich vertrage.“ Eva schlenderte zum Pool-Rand. „Ich glaube ich muss mich abkühlen, auch wenn die Gesprächsthemen noch nicht echt heiß sind“, kicherte sie, reichte in einer eleganten Geste in den Pool, schöpfte Wasser, das ihr sofort zwischen den rot lackierten Fingern davon rann, und tröpfelte ein paar Tropfen zwischen ihre perfekt geformten Brüste.
„Gehst du mit oder ohne Bikini schwimmen?“, fragte Frauke und verfolgte den Lauf der glitzernden Tropfen auf Evas Dekolleté.
Evas Brüste hatten auf einen Mann dieselbe Wirkung wie das neunte Bier auf einen Alkoholiker – vollkommen berauschend und er wollte mehr haben. Ich hatte schon erlebt, wie ihr wildfremde Männer, die sie auf einer Party kennen gelernt hatte, Heiratsanträge gemacht hatten. Zugegeben sie hatten bei alledem ihren Blick kaum aus Evas Ausschnitt heben können, doch ihre Absichten, so hatte ein jeder beteuert, wären durchaus ehrlich. Klaus hatte so seine eigene Meinung über Evas Titten: Boobjob, aber absolut geil. Er als ‚boobie-man‘ könne das sofort sehen, meinte er. Wahrscheinlich hatte Klaus Recht. Eva hatte sich uns gegenüber bisher noch nicht geoutet. Über die Echtheit ihrer Brüste wurde jedoch fortwährend spekuliert. Die Reaktionen der Damen reichten von Neid, über Mitleid bis hin zu Wut. Ja, ich musste zugeben, Evas stets bestens in Szene gesetzte Titten machten mich manchmal wütend. Sie heizten die Männer an. Sie setzten ihnen ein Idealbild in den Kopf, an denen meine Brüste gemessen wurden. Ihre Titten machten Eva zu einem Sexsymbol. In den Phantasien der Männer, Klaus nicht ausgeschlossen, wurde sie zur Sex-Göttin, da sie, verheiratet und treu, wie sie war, für sie unerreichbar war. Meine Titten mussten halten, was Evas versprachen. Und wer hatte die Falten über der Lippe? Die hatte ich. Und Eva? Die hatte einen flotten Spruch auf den Lippen und Titten, hinter denen sie sich verstecken konnte. So sah ich das jedenfalls.
Die Damen beschlossen schwimmen zu gehen. Selbstverständlich behielt Eva ihren Bikini an und die anderen auch. Ich hasste nasse Badeanzüge, ganz zu schweigen von der Zurschaustellung meiner zu breiten Hüften und der beginnenden Zellulitis auf meinen zu dicken und zu weißen Oberschenkeln. Ich entschied mich später, in der schützenden Dunkelheit ins Wasser zu gehen und verzog mich in den Schatten der Pergola. Frauke versuchte Wasser in meine Richtung zu spritzen.
„Was ist los, Katrin, hast du deine Tage?“, neckte sie mich.
Ich schüttelte den Kopf. Offensichtlich war Frauke momentan entfallen, dass ich seit über zwei Jahren keine Gebärmutter mehr hatte, und dass ‚meine Tage‘ den Tagen der Vergangenheit angehörten. Wo sie mich erst letzthin im Vertrauen gefragt hatte, wie das für Klaus so wäre, seit das da am oberen Ende zugenäht war. Ihr Frauenarzt würde ihr wegen ihrer starken Monatsblutungen nämlich bereits seit längerem zu einer Entfernung der Gebärmutter raten. Aber ihre derzeitigen Lebensberater, die holistische Ärztin, die Fußreflexzonenmasseurin und ihre buddhistische Wahrsagerin würden ihr davon abraten. Die Wahrsagerin hätte übrigens ihren Hund erfolgreich von seinem Schilddrüsenleiden kuriert. Seitdem wäre er zwar zum Vegetarier geworden, aber es gäbe Schlimmeres für einen Hund, oder nicht, hatte sie gelacht.
Wenn mich jemand fragen würde, mein Verhältnis zu Frauke zu beschreiben, würde ich antworten, es ist wie das eines Schmetterling-Fängers zu einem wunderschönen Schmetterling. Ich konnte Frauke nicht zu fassen bekommen. Sie flatterte permanent zwischen uns fünfen hin und her, machte immer dort mit, wo gerade am meisten los war und lachte dabei am lautesten. Ihre Lebensberater, deren Weltanschauungen sie immerzu mit großer Begeisterung kurzfristig adaptierte, wechselten ständig. Nur ihrer Wiener Wahrsagerin, zu der sie zweimal im Jahr zu einer Konsultation flog, war sie bisher treu geblieben. Als ich Anneliese einmal von meinen Schwierigkeiten mit Frauke erzählte, bestand ihr Trost aus genau sieben Wörtern: ‚Die hat jede Menge Leichen im Keller.‘ Aber hatten wir die nicht alle, diese ungelösten, unlösbaren Probleme, die wir seit Jahrzehnten in den Kellern unserer Seelen fein säuberlich unter Verschluss hielten?
Trudi verstand sich am besten mit Frauke. Wenngleich die beiden grundverschieden waren. So flatterhaft Frauke war, so bodenständig war Trudi. Frauke war zierlich mit einem Gesichtchen wie eine Käthe-Kruse-Puppe mit langen, honigblonden Haaren und großen blaugrünen Babyaugen. Trudi, beinahe doppelt so lang wie Frauke, hatte breite, slawisch geschnittene Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen und dunkelbraunen fast schwarzen Augen. Das eckige Gesicht wurde durch den kinnlangen Bob noch betont. So würde das Resultat von Generationen von Bauern aussehen, hatte sie einmal geklagt. Zugegeben Trudi war nicht so hübsch wie Frauke, doch irgendwie sah sie meiner Meinung nach interessanter aus. Es musste an der geschmackvollen Art liegen, wie sie sich zurechtmachte. Nur die Reste von Blumenerde unter ihren Fingernägeln zeugten von ihrem bäuerlichen Erbe und standen in krassem Gegensatz zu Fraukes fein säuberlich, im französischen Stil manikürten Nägeln. Trudi betrieb eine kleine Gärtnerei neben dem Friedhof.
Sicherlich, meinte sie einmal, die Lage wäre nicht optimal, sie bekäme leider nicht viel Laufkundschaft. Die meisten ihrer Kunden wären tot, aber zum Leben würde es reichen. Frauke andererseits kannte keine Geldsorgen. Lothar, ihr Mann, hatte eine sehr gut gehende Rechtsanwaltspraxis. Ihren Beruf als Rechtsanwaltsgehilfin, würde sie zwischenzeitlich eher zuhause ausüben, hatte sie Klaus und mir, als wir uns vor ein paar Jahren auf einer Party kennengelernt hatten, mit einem seltsam anzüglichen Lächeln erklärt. Meine Vorstellungen, was Fraukes Heimarbeit betraf, ich hatte an Akten tippen gedacht, wurden von Klaus als naiv hingestellt. Quatsch, der hätte die zuhause wahrscheinlich in einem Talar rumrennen, ohne was drunter, so würde die ihrem Rechtsanwalt helfen. Obwohl Frauke Klaus Mutmaßung logischerweise nicht gehört hatte, lud ich sie, vermutlich aus einer Mitleidsregung, noch am selben Abend zu unserem nächsten Buchclubtreffen ein.
Evas Haut hatte einen gesunden Olivton. Und gerade als ich mir überlegte, wie viele Stunden sie an den Wochenenden mit Sonnenbaden verbracht haben musste, tönte sie:
„Alles Selbstbräuner. Geht auch im Wasser nicht ab. Schaut!“
Zum Beweis rieb sie mit ihrem Zeigefinger zwischen ihren unnatürlich auf der Wasseroberfläche treibenden Brüsten herum, die irgendwie an Fettaugen auf einer Hühnerbrühe erinnerten. War an Eva überhaupt etwas echt, fragte ich mich. In ihren Haaren schimmerten so viele verschiedene Farbtöne, dass ich nicht hätte sagen können, welche Farbe sie eigentlich hatten. Blond-rot-braun kam der Sache am nächsten. Außerdem hatte sie sich kürzlich die Zähne überkronen lassen. Deren mäuseartiges Aussehen, hätten nicht zu ihrem Image gepasst, hatte sie sich uns gegenüber verteidigt. Für wen machte Eva das alles? Und von welchem Geld? Sie und ihr Mann betrieben ein Reisebüro. Versprach sie sich von ihren Hasenhauern mehr Kundenverkehr? Oder war es so, dass Eva den Verkehr hatte und ihr Mann die Kunden? Vielleicht war Eva gar nicht so treu wie sie immer beteuerte, und die Depressionen ihres Mannes hatten einen ganz anderen und um ein Vieles realeren Grund?
Anneliese war mit ihrem Sektglas in der Hand in den Pool gegangen. Nun stellte sie das leere Glas auf dem Poolrand ab und stieg aus dem Wasser. Ich musste an Klaus Worte denken: ‚Ganz schön scharf für eine Großmutter‘. In den sanften Strahlen der inzwischen tiefer stehenden Sonne sah Anneliese beileibe nicht wie eine dreiundfünfzigjährige Großmutter aus.
„Welches Buch sollen wir zuerst besprechen den ‚Nachtzug nach Lissabon‘ oder ‚Erklärt Pereira‘?“, fragte Anneliese, während sie sich genüsslich abtrocknete.
Wenn wir für ein Buchclubwochenende weggingen, nahmen wir uns oft zwei Bücher vor.
„Ich bin dafür, dass wir mit Antonio Tabucchis ‚Pereira‘ beginnen“, schlug ich vor. „Für den ,Nachtzug‘ brauchen wir mehr Zeit. Den besprechen wir morgen, wenn wir frisch sind.“
„Du meinst frisch verkatert“, fügte Frauke kichernd hinzu.
„Du brauchst ja nicht dauernd soviel zu trinken“, wandte Stephanie ein und sprach aus, was mir bereits auf der Zunge gelegen hatte.
„Gut, wir treffen uns in einer Viertelstunde auf der Terrasse vor Trudi und Fraukes Quartier Français“, verkündete Anneliese munter. „Und bis dahin wird kein Alkohol mehr getrunken! Der Pereira hat schließlich auch immer nur Limonade getrunken.“
„Das war bei ihm aber aus politischen Gründen“, warf Frauke leicht verschnupft ein.
„Mensch Frauke, toll! Du hast das Buch gelesen!“, rief Trudi überschwänglich aus.
„Du hast es nur gelesen, weil es so schön dünn ist, gib es zu!“
Eva hatte mit dem was sie sagte nicht ganz unrecht. Frauke fehlte für dicke Bücher schlichtweg das Durchhaltevermögen. Normalerweise redete sie sich heraus. Sie hätte das Buch angefangen, aber irgendwie sei es nicht hundertprozentig in ihren Interessensbereich gefallen. Und nach drei Jahren Buchclub musste leider gesagt werden, das einzige, was hundertprozentig feststand, war, dass nichts hundertprozentig in Fraukes Interessensbereich fiel.
Ich trat durch die französischen Flügeltüren auf Trudi und Fraukes rosenumsäumte Terrasse. Der helle Natursteinboden unter meinen Füßen glitzerte in der Abendsonne. Am Nachmittag hatte Trudi uns erklärt, die korallenroten Rosen würden Duftwolke heißen. Unwillkürlich kam mir Ingeborg Bachmann in den Sinn: ‚Wohin wir uns wenden im Gewitter der Rosen ist die Nacht von Dornen erhellt, …‘ Normalerweise mochte ich Gedichte nicht sehr, aber beim Lesen dieser Zeilen vermeinte ich damals die mit Rosenduft durchtränkte, schwüle Luft eines Sommergewitters zu riechen. Hier, auf der Terrasse mischten sich die Duftwolken mit dem Schwefelgeruch, der von den Weinbergen herauf wehte. Die untergehende Sonne filterte durch das Laub der Reben und tauchte alles in ein warmes, weiches Licht. Die Umrisse der sauber getrimmten Reihen, die Schatten dazwischen, alles verschwamm im goldenen Licht. In der Ferne schimmerten Dächer. Doch das Dorf war zu weit entfernt, um Einzelheiten erkennen zu können. Grillen zirpten. Es würde ein lauer Abend werden. Perfekt für ein nächtliches Baden im warmen Pool, dachte ich. Frauke hielt schon ein Glas Weißwein in der Hand, Anneliese war dabei sich einzuschenken. Die beiden saßen an einem Bistrotisch. Auf der Marmorplatte standen ein irdener Wasserkrug und eine Schale mit grünen Oliven. Trudis halbmondförmige Lesebrille, ihr verbeulter Strohhut und der aufgeschlagene ‚Pereira‘ lagen daneben. Es sah aus wie ein Stillleben, das darauf wartete auf eine Leinwand gebannt zu werden. Trudi stand drei Meter entfernt und versuchte die Bohème Stimmung mit ihrem Photoapparat einzufangen. Anneliese winkte mich heran.
„Komm mit aufs Bild Katrin! Bei der Beleuchtung siehst sogar du gut aus.“
Das konnte nicht ihr Ernst sein, oder? Die Hauptbedingung für eine Aufnahme in unseren Literaturclub wäre wohl, dass man gut aussähe, und nicht, dass man des Lesens und Schreibens mächtig sei, hatte Klaus einmal behauptet.
Tief in mir begann eine dumpfe Saite zu schwingen. Es wäre schade, meinten meine Eltern, dass sich das gute Aussehen in unserer Familie in der männlichen Linie fortgepflanzt hätte. Worin genau meine Schönheitsmängel bestanden, wurde nie gesagt. Ich war überzeugt, dass sich meine Eltern auf meinen Nasenhöcker und meine zu kleinen Augen bezogen. Auch Schminke konnte daran nicht viel ändern. Im Gegenteil sie machte die Augen noch kleiner. Auf den Photos, die meine Mutter mir regelmäßig von meinen Brüdern schickte, blickten mir selbstbewusste, gutaussehende Männer entgegen. Auf den Photos, die ich meiner Mutter von uns schickte, stand ich entweder verdeckt von den Kindern, hatte gerade die Augen zu oder sie, in der Hoffnung sie größer erscheinen zu lassen, unnatürlich weit aufgerissen. Mit einem Wort: Ich war völlig unfotogen. Die Frage war nur, inwiefern konnte eine Kamera lügen? War ich wirklich so hässlich, wie ich auf den Photos aussah? Gewiss hatte ich es mit 44 gelernt, meine starken Punkte zu betonen, wie zum Beispiel meine ganz passable Figur (abgesehen von meinen zu dicken Oberschenkeln), meine verhältnismäßig glatte Haut und meine hohe, aristokratische Stirn. Ob ich meine vollen Lippen in Zukunft weiterhin zur Geltung bringen sollte, musste ich mir allerdings nach der Entdeckung der Blow-Job-Falten noch überlegen.
Ehe Trudi mich auf ein weiteres, zweifellos schreckliches Photo bannen konnte, kamen mit lautem Gejohle die anderen beiden Damen an.
„Alle mal herhören, Kinder! Die kulinarischen Götter meinen es gut mit uns. Unten im Dorf gibt es doch tatsächlich ein drei Sterne Restaurant. Ich habe einen Tisch reservieren lassen“, verkündete Eva in einem Ton als wäre es ihr soeben gelungen, eine Privataudienz beim Papst zu erwirken.
„Aber zuerst die Arbeit und …“
„Ich finde Frauke sollte anfangen, wo sie das Buch nun schon einmal gelesen hat“, fiel Eva Anneliese ins Wort und schoss Frauke einen frechen Blick zu.
„Äh, bevor wir anfangen, eine kurze Frage, wer hat das Buch nicht gelesen? Braucht jemand eine kurze Zusammenfassung, à la ‚Was bisher geschah‘?“
In Stephanies Ton lag Ironie. Mit dem strengen Ausdruck einer Professorin schaute sie über den Rand ihrer dunkelbraunen Hornbrille in die Gesichter ihrer Literaturstudentinnen.
„Kaum zu glauben, alle haben es gelesen. Wie schön, dann können wir ja anfangen“, erklärte sie aufgeräumt und nickte Frauke zu.
„Ach, ich lasse lieber dir den Vortritt, Stephanie“, wehrte Frauke ab.
Unter den Buchclubdamen war Stephanie die fleißigste und disziplinierteste Leserin. Wenn sie ein Buch, das ihr gehörte, zu Ende gelesen hatte, sah es so durchgearbeitet aus wie früher ihre Studienunterlagen. Es war voller Unterstreichungen und Randbemerkungen, und wenn es nicht ihr eigenes Buch war, machte sie sich auf einem neben dem Buch liegenden Zettel Notizen. Stephanie hatte in aller Regel die besten Diskussionsbeiträge. Klaus meinte über Stephanie, die hätte Haare auf den Zähnen. Mit anderen Worten Stephanie war ihm zu intellektuell. Aber eben das mochte ich an ihr. Stephanie hatte Tiefgang. Wie eine Zecke konnte sie sich an einem Buch festsaugen. Es aussaugen, bis sie zum Schluss das Ganze, die Protagonisten, die Handlung, die Dialoge, Satz für Satz in ihrem Großhirn gespeichert hatte. Sie achtete auf Sprachnuancen, machte uns auf Allegorien aufmerksam. Dank ihr wussten wir, was Alliterationen und Metaphern waren. Sie brachte bestimmte Wortwahlen des Autors zur Diskussion und sezierte die Sätze mit einer Genauigkeit, die sie im Medizinstudium bei der Leichenobduktion erlernt haben musste. Nur Anneliese konnte ihr in den Buchbesprechungen das Wasser reichen und ich, wenn ich mich vorher auf dem Internet schlau gemacht hatte. Obwohl ich mich dies in letzter Zeit nicht mehr traute. Seitdem Stephanie gesagt hatte, anderer Leute Meinung als seine eigene auszugeben, hätte in der Tat etwas von Plagiatismus an sich. Die Frage war nur, woher wusste sie, dass es nicht meine eigene Meinung gewesen war?
Stephanie verwies auf S. 119 in ‚Erklärt Pereira‘ und erklärte uns, wie Pereiras ‚hegemonisches Ich‘ zu verstehen wäre. Unsere Persönlichkeit bestünde aus einem Bündnis verschiedener Seelen, die der Herrschaft eines vorherrschenden Ichs unterstehen würden. Diese Vorherrschaft eines Ichs hielte solange an, bis es nach einem direkten Angriff oder durch eine langsame Erosion von einem anderen Ich ersetzt würde. Meine Gedanken schweiften ab. War meine zunehmende Unlust, was die 2-Tage-Regel betraf, eine langsame Erosion meines Ehefrau-Ichs? Drängte ein unabhängigeres, von der 2-Tage-Regel befreites Ich an die Oberfläche meiner faustischen Seelen? Es war nicht so, dass ich Klaus nicht liebte, dessen war ich mir sicher. So sicher wie man sich in diesen Dingen nur sein konnte. Ich liebte ihn als Freund, Wegbegleiter, Tom und Lizzys Vater, unseren Ernährer. Aber musste der Mann an meiner Seite notwendigerweise spätestens alle zwei Tage auch in mir sein? Wenn Klaus mit mir schlief, geschah das nicht in den Coelho’schen elf Minuten. Und ein Quicky, von denen es beileibe genug gab, zählte nicht mit bei der 2-Tage-Regel. Wenn er nicht mehr mit mir schlafen könnte, hatte Klaus in der Woche vor meiner Gebärmutteroperation gemeint, dann … nun, er könne jedenfalls nicht bis an das Ende seiner Tage ohne Sex dahinvegetieren, hatte er kategorisch erklärt und ein Gesicht gemacht, als wäre die ganze Sache meine Schuld.
Es hätte sie erstaunt, wie der zu Beginn des Buches unpolitische Pereira stets politischer geworden wäre. Er hätte Stellung bezogen. Sie würde selbst soweit gehen zu behaupten, er hätte sich entschieden zu leben. Ob wir nicht auch den Eindruck gehabt hätten, dass er zu Beginn des Buches mehr tot als lebendig gewesen wäre? Das war Stephanies Trick, mit einer provokanten Frage, forderte sie die anderen zur Diskussion heraus. Pereira hätte erst vor kurzem seine Frau verloren. Kein Wunder hätte … Den Rest von Trudis Erwiderung bekam ich nicht mehr mit. Mein Herzschlag kam ins Stolpern. War das Klaus, der dort den Weinberg heraufkam? Was hatte er sich dabei gedacht, hier aufzukreuzen? Er wusste wie heilig mir die Buchclubwochenenden waren, wie wir sechs Frauen es genossen unter uns zu sein. Bis jetzt hatte ihn noch keine der Damen gesehen. Ich erwog, ihm entgegenzugehen, um ihn abzufangen. Der Mann beugte sich nach rechts und machte sich an einer der Reben zu schaffen. Hatte ich mich getäuscht, und es war gar nicht Klaus, sondern ein Arbeiter? Mit gesenktem Kopf kam er weiter auf uns zu. Noch immer hatten die anderen Damen ihn nicht entdeckt. Ich rutschte unruhig auf meinem Stuhl herum. So wie er näherkam, bemerkte ich, dass der Mann groß war, größer als Klaus. Was wollte der Typ? Wieder wandte er sich einer Rebe zu. Dieses Mal auf seiner linken Seite. Er pflückte an ein paar Blättern herum. Er schaute auf, und da ich die einzige war, die ihn beobachtete, nickte er mir zu. Ich grüßte. Die anderen Damen blickten von ihren Büchern auf. Am Ende der Reben blieb er stehen, groß, schlank, helle Haare, braune Augen, Ende vierzig.
„Oh, hallo“, begrüßte Eva ihn wie einen alten Bekannten.
Dabei ließ sie ihren Blick langsam von seinem braungebrannten Gesicht mit den haselnussbraunen Augen, zu seinen breiten Schultern, über seinen Schritt bis hinab zu den Schuhen wandern. Der Schuhtest musste positiv ausgefallen sein, denn Eva drückte reflexartig den Rücken durch und die Brüste nach vorne.
„Hallo Martin“, rief Anneliese erfreut aus.
Martin blieb zurückhaltend zwischen den Rosenbüschen stehen.
„Kinder, das ist unser Vermieter“, stellte Anneliese vor.
„Tollen Schuppen haben Sie da!“, komplimentierte Eva mit einem Augenaufschlag, der, wenn sie ihre künstlichen Wimpern dran geklebt hatte, umwerfend war, aber in Ermangelung derselben etwas lächerlich wirkte.
„Ich finde Ihre mittelalterliche Burg phänomenal. Sie hat so etwas … Geheimnisvolles“, gurrte Eva und zeigte in einem gewinnenden Lächeln ihre Biberzähne.
Danach nahm sie unmerklich die Schultern zurück und atmete ein. Die Knöpfe ihrer Bluse konnten ihren Busen kaum mehr im Zaum halten. Martin bedankte sich für ihre schmeichlerischen Worte und soweit ich sehen konnte, verließen seine Augen dabei nicht Evas Gesicht. Eins zu null für Martin, dachte ich.
„Dürfen wir dich auf ein Glas Edelzwicker einladen?“, fragte Anneliese und machte Anstalten aufzustehen.
„Nein, nein, ich wollte nur kurz nachsehen, ob alles zur Zufriedenheit der Damen ausgefallen ist“, grinste Martin.
Ein Grinsen, das keinen Zweifel daran ließ, dass Martin ein gutaussehender, charmanter Mann im besten Alter war.
„Schade“, flötete Eva.
„Ich finde Ihr Quartier Français den Hit“, sagte Trudi und deutete auf die Flügeltüren hinter sich. „Und ihre Duftwolke-Rosen sind toll.“
Ich hatte das Gefühl mich Trudis Lobgesang anschließen zu müssen.
„Bei der Einrichtung unseres Hauses kann man richtig erkennen, wie sie von Mies van der Rohes ‚less is more‘ inspiriert worden sind.“
„Katrin ist Architektin“, erläuterte Anneliese.
Ich merkte, wie ich rot wurde und wie üblich den Drang verspürte, die Sache ins rechte Licht rücken zu müssen. Meine gelegentlichen Artikel für den Kreisanzeiger hatten nur wenig mit Architektur zu tun. Nein, seit sechzehn Jahren baute ich ausschließlich an meinem eigenen Kerker herum.
„Architektin, das war ich einmal, aber das ist lange her. Ich habe mittlerweile einen anderen Job.“
Unbewusst verdeckte ich mit meinem Zeige-, und Mittelfinger die Falten über meiner Oberlippe.
„Wenn es keine Klagen gibt, können wir ja nun weitermachen“, schlug Stephanie vor.
Martin wollte sich verabschieden, man konnte ihm jedoch ansehen, wie seine Neugierde in ihm die Oberhand gewann.
„Anneliese erzählte, Sie hätten einen Buchclub?“
„Genau“, erwiderte Frauke vorlaut. „Wir lesen Bücher, unterhalten uns darüber, und in unserer freien Zeit schreiben wir auch … äh … schmutzige Literatur. Bücher mit dem gewissen Extra, wenn Sie wissen, was ich meine.“
Frauke hatte die Augen halb geschlossen und den Kopf auf die Seite gelegt, was sehr sexy aussah.
„Frauke!“, lachte Trudi auf, und Eva fing wie ein Schulmädchen hinter vorgehaltener Hand zu kichern an.
Martins Entgegnung, ging im allgemeinen Gelächter der Damen unter.
„Ich habe es demnach mit den ‚Calender Girls‘ der Literatur zu tun?“, wiederholte Martin seine Frage etwas lauter.
„Also hören Sie mal, so alt sind wir auch wieder nicht“, entrüstete sich Frauke und strich ihr honigblondes Haar aus ihrem Puppengesichtchen.
„Oder sehen wir etwa so aus?“, fragte Eva, wie üblich auf der Jagd nach einem Kompliment.
Himmel, dachte ich, was war nur mit meinen Freundinnen los? Da tauchte ein gutaussehender, reicher Kerl auf, und sie hatten nichts Besseres zu tun, als sich ihm mit Wort und Tat an den Hals zu werfen. Konnte man ihr Verhalten für uns Frauen diesseits der Vierzig als repräsentativ bezeichnen? Oder bekamen die Weiber es zu Hause nicht oft genug gemacht? – Eine von Klaus Vermutungen. Vielleicht würden sie ja liebend gerne mit mir tauschen. Aber nein, die Falten würden sie sicherlich auch nicht haben wollen. Unvermutet drängte sich mir ein anderer Gedanke auf. Und wenn die 2-Tage-Regel eine allgemein gültige Regel war, eine Stammtischregel, an die sich alle verheirateten Männer und ihre Frauen hielten, nach der es alle machten? Müssten die Damen dann nicht dieselben Falten haben wie ich? Und wenn sie die nicht hatten, konnte das doch nur eines bedeuten: Sie hatten die Falten weggespritzt! Bei Eva konnte ich mir das durchaus vorstellen, bei Frauke zur Not auch, aber bei Trudi? Ich beschloss, den Damen noch heute Abend auf den Zahn beziehungsweise die Oberlippe zu fühlen.