Читать книгу 1919 - Das Jahr der Frauen - Unda Hörner - Страница 4
Januar
ОглавлениеTanz in den Frieden * * * Mord an Rosa Luxemburg * * * Coco Chanel findet sensationelle Duftformel * * * Frauen haben die Wahl * * * Käthe Kollwitz erste Frau in der Akademie der Künste * * * Alma Mahler-Gropius schockiert über Niedergang der Monarchie
Die ersten Minuten des neuen Jahres sind angebrochen, 1919, das klingt wie eine Schnapszahl, nein, es soll vor allem eine Glückszahl sein. Überall auf dem Parkett der Berliner Ballhäuser herrscht Hochbetrieb. Endlich ist das kriegsbedingte Tanzverbot aufgehoben, die ganze Stadt ist in dieser Nacht auf den Beinen. Ärgerlich ist der Streik der Kaffeehauskellner, die schon seit Tagen mit dem Ausstand gedroht haben und nun ausgerechnet zu Silvester Ernst machen müssen. Das zum Feiern entschlossene Berlin hat sich davon nicht abschrecken lassen, gezecht und getanzt bis in den Morgen, nun schläft die Stadt sich aus. Nur Zeitungsjungen sind schon unterwegs und verkaufen die erste druckfrische Ausgabe des Berliner Tageblatts in diesem Jahr. Da kann man von der explosiven Stimmung in der Hauptstadt lesen, dem Tanz auf dem Vulkan und Demonstrationen von Zehntausenden: »Zwischen Dreivierteltakt und Straßenwirrwarr, zwischen Konfetti und roten Fahnen gleiten die Paare hinüber ins neue Jahr. […] Die Luft ist wie elektrisch geladen, eine politische Hochspannung ohnegleichen. Der Boden von Berlin glüht. So ist das alte Jahr zu Ende gegangen in fiebernder Erregung, und es scheint, als ob man von nichts anderem wüsste als von dem Ernst der Stunde. Aber schon zieht das Konfetti sorgloser Silvesterbrüder seine Schlangen, und lebenshungrige Männer und Mädchen tanzen in das neue Jahr. Die Musik spielt in Hunderten von Lokalen Tänze über Tänze, Walzer, Foxtrott, Onestep, Twostep, und die Beine rasen wie verhext über die Diele, die Röcke fliegen, der Atem jagt, Sektpfropfen knallen […], Arme fuchteln begeistert in der Luft und das Prosit Neujahr klingt über die Straßen, in denen eben noch der Schritt der Demonstranten klang. Wir wollen nicht moralisieren, aber wir dürfen schon sagen: so ein Silvester hat Berlin noch nicht erlebt.«
Auf 1919! Auf den Frieden! Doch wer weiß schon, wie der aussehen wird? Noch haben die Verhandlungen der Siegermächte Frankreich, Italien, England und Amerika nicht begonnen, kein Mensch kann sagen, wie sie über Deutschlands Zukunft richten werden. Im November 1918 hatte Kaiser Wilhelm II. abgedankt und war außer Landes gegangen, in die Niederlande, wo er Aufnahme fand. Die Monarchie ist Geschichte und der Weg frei für eine demokratische Staatenordnung. Die Vorstellungen, wie das neue Deutschland aussehen soll, gehen allerdings weit auseinander. Durchaus nicht alle waren zufrieden, als Philipp Scheidemann am frühen Nachmittag des 9. November 1918 vom Balkon des Reichstagsgebäudes die erste deutsche Republik ausrief. Noch am selben Tag stand ein anderer auf dem Balkon des Berliner Stadtschlosses, der linke Sozialdemokrat Karl Liebknecht, und verkündete die Freie Sozialistische Republik Deutschland.
Ein einig Vaterland sieht anders aus. Kaum ruhen die Waffen, droht ein Bürgerkrieg.
Seit an Seit mit Karl Liebknecht kämpft eine Frau, Rosa Luxemburg. Beide haben zusammen mit anderen Mitstreitern schon 1915, mitten im Krieg, eine ›Gruppe Internationale‹ gegen den Nationalstaatsgedanken gegründet, nun hat man sich mit neuen Zielen in ›Spartakusbund‹ umbenannt. Auf den Trümmern des Kaiserreichs soll ein friedliches Land mit vollkommen neuen Strukturen entstehen. Der neue deutsche Staat soll nach dem Vorbild der jungen revolutionären Sowjetunion eine reine Räterepublik sein, was heißt, dass Fachgremien aus stimmberechtigten Volksvertretern gebildet werden sollen, ausschließlich Leuten, die keine Verbindung zur alten Regierung haben und nicht mit der Bourgeoisie verhandeln. Rosa Luxemburg warnt inständig vor den konservativen Kräften der Reaktion und vertritt fest ihren Standpunkt: »Freiheit nur für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei – mögen sie auch noch so zahlreich sein – ist keine Freiheit. Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden.«
Rosa Luxemburg weiß, wovon sie spricht. Die Freiheit, die sie meint, ist hart erkämpft. Ihr Vater Eliasz sympathisierte mit der polnischen Nationalbewegung, die für die Wiedererlangung von Polens Eigenstaatlichkeit kämpfte, das unter russischer Herrschaft stand, als Rosa am 5. März 1871 im Städtchen Zamość geboren wurde. Rosa war zwei Jahre alt, als die Familie nach Warschau zog, wo der Vater bessere Bildungschancen für seine fünf Kinder sah. Rosa war das Nesthäkchen, lesen und schreiben hatte sie bereits vor der Schule gelernt. So, als Autodidaktin, machte sie das Beste aus der Bettruhe, die ihr von den Ärzten verordnet worden war, wegen eines Hüftleidens, das irrtümlich für Tuberkulose gehalten wurde. Durch die falsche Behandlung hinkte sie, ein Handicap, das ihr ein Leben lang zu schaffen machte. 1884 kam Rosa aufs Warschauer Frauengymnasium; in jener Zeit fand sie Zugang zu einer verbotenen Gruppe, die sich ›Zweites Proletariat‹ nannte, wie auch zu den Schriften von Karl Marx, die nur konspirativ unterm Ladentisch der Buchhandlungen verkauft wurden. 1888 bestand sie das Abitur als Klassenbeste. Sie sprach nicht nur Polnisch, Russisch und Deutsch, sondern beherrschte Französisch und verstand Englisch und Italienisch. Ein wahres Multitalent, das Lektüre verschlang und obendrein auch gut zeichnen konnte.
Für Rosa Luxemburg war Bildung nicht Selbstzweck und Privileg einer intellektuellen Klasse, vielmehr Nährboden für politische Arbeit. Wegen ›oppositioneller Haltung gegenüber den Behörden‹ verweigerte die Schulleitung der Hochbegabten eine Goldmedaille, und noch im Dezember 1888 musste sie vor der Zarenpolizei fliehen, die ihre Mitgliedschaft im ›Zweiten Proletariat‹ aufgedeckt hatte. Ihr Weg führte nach Zürich, wo sie auf andere sozialistisch gesinnte Emigranten stieß. Private Nähe fand Luxemburg 1891 beim Kommilitonen Leo Jogiches, eine Liebesbeziehung währte bis ins Jahr 1906, und darüber hinaus blieb eine enge, politisch fundierte Freundschaft. Jogiches unterstützte Rosa Luxemburg finanziell, als sie in Zürich die Universität besuchte, das Studium war nicht gratis. Immerhin, in der Schweiz durften sich Frauen bereits seit 1840 an einer Universität immatrikulieren, was zu diesem Zeitpunkt weder in Luxemburgs Heimat noch in Deutschland möglich war. Im April 1897 schloss Luxemburg das Studium mit einer Promotion in Jura über Die industrielle Entwicklung Polens ab. Nun wollte sie nach Deutschland – dorthin, wo August Bebel und Wilhelm Liebknecht bereits 1869 eine Arbeiterpartei gegründet hatten, die als ›Sozialdemokratische Partei Deutschlands‹ firmierte. Im Schoße dieser SPD ließ sich die politische Arbeit im marxistischen Sinne am besten verwirklichen. Mehr Gerechtigkeit den Proletariern!
Während des Krieges schieden sich die Geister in der SPD. Karl Liebknecht, Sohn des Parteimitgründers Wilhelm Liebknecht, wurde ins Gefängnis gesteckt, weil er sich gegen Kriegsanleihen aussprach; ein Irrsinn, weiterhin in den erbitterten Kampf der Völker zu investieren, der das Elend der armen Bevölkerung nur verschlimmerte. 1917 trennten sich SPD-Mitglieder aus Protest von der Partei und gründeten die USPD – die ›Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands‹, die links von der Mutterpartei stand. Für Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht nicht links genug, sie hatten bereits 1916 den revolutionären Spartakusbund gegründet, dessen Namensgeber der aufständische römische Sklave Spartacus war. Nun, im Januar 1919, gehen sie noch einen Schritt weiter: Sie gründen die ›Kommunistische Partei Deutschlands‹, die KPD.
Nach Silvester spitzen sich die Unruhen in Berlin zu. Kaum sind die Böller verklungen, hallen Schlachtrufe durch die Straßen, von Revolution ist die Rede, vom Spartakusaufstand. Am 5. Januar ziehen 250.000 Arbeiter durchs Brandenburger Tor zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz, viele von ihnen sind bewaffnet. Die Stadtwerke streiken, es gibt weder Wasser noch Strom. Verlangt wird nicht weniger als der Sturz der Regierung unter dem neuen Reichspräsidenten Friedrich Ebert. Dessen fürs Militär zuständiger Minister Gustav Noske greift hart durch; der Aufstand findet ein blutiges Ende, rund 150 Demonstranten und 13 Militärs lassen ihr Leben. Im Berliner Vorwärts vom 13. Januar 1919 dichtet Artur Zickler, Redakteur der Zeitung:
»Viel Hundert Tote in einer Reih’ –
Proletarier!
Karl, Rosa, Radek und Kumpanei –
es ist keiner dabei, es ist keiner dabei!
Proletarier!«
Als könnte sie in die nahe Zukunft blicken, schreibt die Genossin Clara Zetkin an jenem 13. Januar 1919 aus Stuttgart an Luxemburg: »Ach Rosa, welche Tage! Vor meinem Geist steht die geschichtliche Größe und Bedeutung Deines Handelns … Meine liebste, meine einzige Rosa, ich weiß, Du wirst stolz und glücklich sterben. Ich weiß, Du hast Dir nie einen besseren Tod gewünscht, als kämpfend für die Revolution zu fallen. Aber wir? Können wir Dich entbehren? Ich kann nicht denken, ich empfinde nur. Ich drücke Dich fest, fest an mein Herz. Immer Deine Clara.«
Nach dem niedergeschlagenen Aufstand bestimmen Freikorps das Geschehen in der Stadt. Das sind Soldaten der Garde-Kavallerie-Schützen-Division, rabiate Kerle, die ein für allemal für Ruhe und Ordnung sorgen wollen und finden, dass sie schon viel zu lange keine Waffe mehr bedient haben und es den Anführern des Aufstands so richtig zeigen wollen. Luxemburg und Liebknecht nehmen die Drohungen nicht auf die leichte Schulter.
Der 15. Januar 1919, ein Mittwoch. Seit zwei Tagen sind die beiden vorsichtshalber nicht mehr in ihre Wohnungen zurückgekehrt. Das Gerücht geht um, sie hätten sich ins Ausland abgesetzt, doch Liebknecht lässt in der Roten Fahne wissen: »O gemach! Wir sind nicht geflohen, wir sind nicht geschlagen. Und wenn sie uns in Banden werfen, wir sind da, und wir bleiben da!« Sie verstecken sich bei Siegfried Marcusson, einem USPD-Mitglied, in der Mannheimer Straße 43 in Wilmersdorf. Rosa Luxemburg schläft, vollkommen erschöpft, auf einem Sofa, während Liebknecht und Wilhelm Pieck nebenan beraten, was weiter zu tun sei, man braucht falsche Papiere. Am fortgeschrittenen Abend wird hart und fordernd an die Tür geklopft, dahinter laute, polternde Männerstimmen: »Aufmachen, rauskommen!«
Marcusson öffnet und steht Männern der Bürgerwehr gegenüber, sie stoßen ihn beiseite und bahnen sich den Weg in die Wohnung hinein. Liebknecht versucht, durch den Dienstboteneingang zu verschwinden, doch zu spät. Die Männer haben ihn bereits entdeckt, packen ihn, finden seinen Ausweis. Volltreffer, da steht es schwarz auf weiß: Karl Liebknecht! Die Männer halten das Dokument wie eine Trophäe hoch und zerren ihn dann hinaus.
»Da ist noch jemand«, ruft einer der Männer triumphierend, »sieh an, eine Frau, wer kann das sein?«
»Sind Sie das Fräulein Luxemburg?«, fragt einer aus der Truppe.
»Frau Luxemburg, ganz recht«, entgegnet die Angesprochene selbstbewusst.
Die Männer fackeln nicht lange: »Aufstehen, mitkommen!«
Rosa Luxemburg spürt die Blicke auf ihrem Hinkebein, als sie durchs Zimmer geht. Sie ahnt, was ihr bevorsteht. Zu welcher Gewalt und welchen Maßnahmen der politische Gegner bereit ist, hat sie bereits zu spüren bekommen. Es wird nicht ihr erster Gefängnisaufenthalt sein. Bereits 1913 hatte sie im Frauengefängnis in der Berliner Barnimstraße eingesessen, weil sie bei einer SPD-Veranstaltung Arbeiter zur Verweigerung des Dienstes an der Waffe aufgewiegelt haben soll, falls es zum Krieg käme. Kaum frei, im Frühling 1915, wurde sie schon wieder festgesetzt, weil man sie für ein gefährliches Element hielt. Schutzhaft, so nannte sich der neuerliche Gefängnisaufenthalt in der Festung Wronke bei Posen. Ob man sie wieder dorthin bringt, nach Posen, oder wieder in den Frauenknast in der Barnimstraße?
Rosa Luxemburg muss an ihre Herbarien denken, an die Pflanzen, die ihr ebenso am Herzen liegen wie die Politik. Sie hat im Laufe der Zeit ein ganzes Kompendium von gepressten Blumen zusammengestellt. »Die Schlüsselblumen beleuchten mir die Zelle wie Sonnenlicht«, hatte sie einst aus dem Gefängnis an ihre Sekretärin und rechte Hand Mathilde Jacob geschrieben, die sich zu Hause in der Wohnung am Südende um Katze Mimi kümmerte. Die Pflanzen, die Rosa Luxemburg bei ihren Spaziergängen in der Natur gesammelt hat, die zwischen den Seiten der Kladden sorgfältig eingeklebten Blätter und Blüten, die stille Beschäftigung mit der Flora, sie bietet immer wieder eine friedliche Gegenwelt zum bewegten politischen Leben, dem täglichen Kampf. Während der langen Zeit im Gefängnis sind die Herbarien Rosa Luxemburgs treuer Begleiter gewesen, sogar in ihrer Zelle hatte sie die Sammlung erweitern können, weil Mathilde Jacob an ihrer statt im Urlaub auf Almen und Wiesen Blumen für sie pflückte und ihr schickte – Post, die harmlos genug war, um nicht konfisziert zu werden. In ihrer Zelle arrangierte Rosa Luxemburg die Blumengrüße aus der Freiheit, Zimbelkraut, Goldrute und Gräser, zu kleinen Kunstwerken, manchmal ergänzte sie einen fehlenden Stengel durch einen feinen Tintenstrich und beschriftete die Seiten mit den lateinischen Namen der Pflanzen. Wozu hatte sie während des Studiums in Zürich denn auch Vorlesungen in Botanik besucht? Seit der Revolution im November 1918, seit Rosa Luxemburg wieder auf freiem Fuße ist, ruht die Arbeit am Herbarium. Die politischen Ereignisse haben ihr einfach keine Zeit gelassen. Jetzt, denkt Rosa Luxemburg mit einem weinenden Auge, ist wieder Zeit für die Botanik.
Sie rafft ein paar Sachen zusammen, Wäsche, Toilettenartikel, ein Buch. Die Männer von der Bürgerwehr treiben zur Eile. Winterkalt ist es, wer weiß, wie lange sie draußen werden zubringen müssen. Ob sie ihr schnell ein paar warme Strümpfe leihen könne, fragt Rosa Luxemburg die eingeschüchterte Frau Marcusson, die hastig Wollenes aus einer Kommode kramt. Liebknecht und Luxemburg werden durch die dunkle Stadt gekarrt, bis zum Hotel Eden am Zoo, wo ein stundenlanges Verhör seinen Lauf nimmt. Die Soldaten steigern sich in wüste Beschimpfungen hinein. Der Hass der Männer trifft besonders die Frau, diese Megäre, eine Jüdin, die sich anmaßt, eine Politische sein zu wollen. Man beschließt, die Gefangenen nach Moabit ins Gefängnis zu bringen, jemand hilft Rosa Luxemburg in den Mantel, sie wird wieder aus dem Hotel hinausgebracht. Unten am Wagen angekommen, spürt sie einen harten Schlag auf den Kopf, bewusstlos bricht sie zusammen. Männer schleifen sie über den Boden wie ein waidwundes Tier. Der Wagen fährt an, da fällt ein Schuss. Hotelgäste im Foyer zucken zusammen und sehen einander erschrocken an.
Ein heimtückischer Meuchelmord, die Lynchjustiz der Freikorps, soll wie ein Attentat erscheinen, verübt vom aufgebrachten Mob. Es ist nur ein Katzensprung vom Hotel Eden zum Landwehrkanal, der Wagen fährt zur nahen Lichtensteinbrücke, dort wird Rosa Luxemburgs Leichnam ins kalte Wasser geworfen. »Sie schwimmt schon«, höhnt eine Stimme. Endlich ist man sie los, diese rebellische polnische Jüdin. Jetzt gilt es nur noch, Liebknecht geschickt zu beseitigen. Auf der Weiterfahrt durch den dunklen Tiergarten wird eine Autopanne vorgetäuscht, der Wagen kommt zum Stehen. Halb tot geschlagen wird Liebknecht aus dem Auto und ins Gebüsch gestoßen. Blutend schleppt er sich über die finsteren Wege davon. Nochmals fällt ein Schuss an diesem Abend; unweit des Neuen Sees bricht Liebknecht sterbend zusammen. Ein Verbrecher, erschossen auf der Flucht vor der Polizei, so wird es aussehen. Auf einer Berliner Polizeistation liefern Soldaten seinen Leichnam ab. Ein Unbekannter, geben sie den Beamten achselzuckend zur Auskunft.
Der Tote kann im Schauhaus identifiziert werden, und im Berliner Tageblatt, das am Abend des 16. Januar erscheint, steht wie gewünscht: »Liebknecht bei einem Fluchtversuch erschossen. Rosa Luxemburg von der Menge gelyncht.«
Mathilde Jacob liest die tröstenden Zeilen von Clara Zetkin: »Liebste Freundin, es ist Ihre Aufgabe darüber zu wachen, dass nicht ein Zettel, nicht eine Zeile von Rosa Luxemburg verschleppt & verstreut wird.« Mathilde Jacob nimmt sich das zu Herzen.
Der berühmte Diplomat und Tagebuchschreiber Harry Graf Kessler mutmaßt zu diesem Zeitpunkt immer noch, Rosa Luxemburg könne von Parteigenossen befreit und in Sicherheit gebracht worden sein, doch eigentlich weiß es der Graf längst besser. Für ihn sind die Spartakisten nicht bloß Helden und Befreier der proletarischen Klasse, er steht ihrem Kampfeswillen durchaus skeptisch gegenüber: »Nicht der Tod selbst, aber die Art des Todes wirkte konsternierend. Sie haben durch den Bürgerkrieg, den sie angezettelt haben, so viele Leben auf dem Gewissen, dass an sich ihr gewaltsames Ende sozusagen logisch erscheint.«
Dass der neue Staat mit heimtückischen Morden beginnt, ist kein gutes Omen fürs bevorstehende Jahr. Am 17. Januar 1919 schreibt Kessler: »Zweifellos ist der gesunde, gut erzogene Leutnant oder Junker eine menschlich angenehmere Erscheinung als der durchschnittliche Proletarier. Ebenso sind Liebknecht oder Rosa Luxemburg mit ihrer echten und tiefen Liebe zu den Ärmsten und Bedrücktesten, mit ihrem Opfermut erfreulicher als die Streber und Gewerkschaftssekretäre. […] Dass Liebknecht und Rosa Luxemburg individuell besser waren und menschlich höher standen als die Proletarier und Kleinbürger, die heute über sie triumphieren, bleibt allerdings bestehen.«
Indessen atmet Frankreich langsam wieder auf. In Paris erwacht das Leben, obwohl der Krieg auch hier noch überall präsent ist. Wie in Berlin sind Versehrte und trauernde Witwen auf den Straßen unübersehbar, doch immerhin sind die Belastungen nicht so hoch wie im besiegten Deutschland, und die französische Bevölkerung braucht keine weiteren Einschränkungen zu fürchten. Vor allem muss Frankreich um keine neue Staatsform ringen, eine blutige Revolution wie in Berlin droht nicht. Der liberaldemokratische Präsident Raymond Poincaré hat die Republik fest im Griff, mit unerbittlicher Härte wird er in die Friedensverhandlungen gehen, die Besetzung des Rheinlands und hohe Reparationsleistungen von Deutschland fordern. Von den Morden an Liebknecht und Luxemburg hat die französische Presse berichtet, aber die bürgerkriegsartigen Zustände im besiegten Nachbarland jenseits des Rheins, das sich noch finden muss, sind für den harten Verhandler kein Grund, durch moderate Friedensbedingungen schnellstmöglich auf ein neues Europa der Einigkeit hinzuwirken, eine Welt ohne mörderische Kriege.
Während jenseits des Rheins die Karten auf politischer Ebene neu gemischt werden, hat man in Frankreich schon wieder den Kopf frei für Fragen der Wissenschaft, für die schöne Literatur und auch für den so lange entbehrten Luxus, den die Boutiquen der Rive Droite zu bieten haben.
An einem sonnigen Januarmorgen schreitet eine junge Frau im eleganten hellen Schneiderkostüm mit taillierter Jacke schwungvoll über die Place de la Concorde, vorbei am Obelisken in seiner Mitte. Ziel der feinen Dame ist die Rue Cambon, wo sie eine Boutique besitzt. Auf dem Platz erinnert eine Kanone, die dicke Bertha, Beute aus dem besiegten Deutschland, an den Krieg. Immerhin ist die Guillotine längst von hier verschwunden. Die Häuser von Paris sind weitgehend verschont geblieben; in den nahen Tuilerien tut sich allerdings ein größerer Bombenkrater auf, auch die Baumreihen auf den Alleen haben sich gelichtet, weil Brennholz während des Krieges knapp geworden ist. Nicht auszudenken, wäre der aberwitzige Plan der Deutschen umgesetzt worden, Brandbomben über Paris abzuwerfen, um durch ein Inferno die Kapitulation Frankreichs zu erzwingen. Die wunderbare Lichterstadt an der Seine in Schutt und Asche, undenkbar! Der Eiffelturm reckt sich in den blauen Himmel, die Métro rollt über den Pont de Passy, aus der Opéra dringen Orchesterklänge – bon dieu, merci! Wenn man nur nicht so vielen Menschen ansehen würde, was sie gelitten, wen sie verloren haben.
Vor dem noblen Hôtel Crillon an der Nordseite der Place de la Concorde steht eine schwarze Limousine mit laufendem Motor. Aus dem Foyer tritt ein würdevoller älterer Herr, eilfertig springt ein Page herbei und hält ihm den Wagenschlag auf. Kein Zweifel, der Mann mit dem länglichen Gesicht und der randlosen Brille, der aussieht wie ein ernster Intellektueller, ist kein Geringerer als der amerikanische Präsident Woodrow Wilson, der sich wegen der Friedenskonferenz in der Stadt aufhält, die am heutigen 18. Januar im Spiegelsaal des Versailler Schlosses beginnt. Die Limousine fährt los und entfernt sich über die Champs-Élysées auf den Arc de Triomphe zu, weiter in Richtung Westen. Die ganze Welt schaut in diesen Monaten nach Paris, wo über Grenzverläufe, Kriegsschulden und das Schicksal unzähliger Menschen entschieden, ja, wo über nicht weniger bestimmt wird, als die Neuordnung Europas.
Bei allem Ernst der Epoche, die man gerade durchlebt, es ist an der Zeit, sich wieder den angenehmen Dingen des Lebens zuzuwenden, findet die junge Frau. Coco Chanel ist eine aufstrebende Unternehmerin. Der Krieg hat ihrem Geschäft nicht in dem Maße geschadet wie zunächst befürchtet; ihre Kundinnen sind die Reichen und Schönen, die es sich auch in den vergangenen vier Jahren leisten konnten, Modellkleider zu kaufen. Vor allem die Eskapisten unter den Kunden, die sich in den vornehmen Seebädern aufhielten, unter Sonnenschirmen am Strand und am Spieltisch im Casino den Eindruck erwecken konnten, es gebe gar keinen Krieg, verhalfen ihr dazu, geschäftlich zu expandieren. Der 1913 in Deauville eröffnete Laden Chanel Modes, spezialisiert auf Sport- und Freizeitkleidung, lief so gut, dass sie 1915 eine weitere Filiale im mondänen Biarritz an der Atlantikküste aufmachen konnte. Die besondere Schlichtheit ihrer Entwürfe kam gut an in Zeiten, wo dazu aufgerufen wurde, Ressourcen nicht für unwichtige Dinge zu verschwenden.
Wer Coco Chanel jetzt zusieht, wie professionell und souverän sie mit Kunden, Konkurrenten und Geschäftspartnern umgeht, käme niemals auf den Gedanken, welch weiter Weg hinter der siebenunddreißigjährigen Französin liegt. Coco Chanel, oder Gabrielle Chasnel, wie sie eigentlich heißt, kommt aus bescheidenen Verhältnissen; die Mutter verdingte sich als Wäscherin, der Vater als Hausierer. Geboren wurde sie am 19. August 1883 in Saumur an der Loire, unehelich und im Armenhaus. Gabrielle war erst zwölf, als ihre Mutter an Tuberkulose erkrankte und starb. Der Vater steckte das Mädchen in ein Zisterzienserkloster in der Corrèze, wo es unter den strengen Augen von Nonnen aufwuchs, wahrlich kein Zuckerschlecken. Die frommen Frauen führten ein spartanisches Leben jenseits weltlicher Freuden, das Kloster war bei Gott kein Ort für eine Heranwachsende, die mit Gleichaltrigen Spaß haben wollte. Stattdessen musste sie mit ernster Miene beten und allerhand Arbeiten verrichten, die ihr später als Hausfrau nützlich sein würden, wie man ihr immer wieder einbläute. Gabrielle saß Stund um Stund mit Nähzeug im Schoß, flickte Nonnentrachten und stopfte Strümpfe. Sie wurde weitergeschickt nach Moulins in der Auvergne, ins Pensionat Notre-Dame, das ebenfalls von Ordensfrauen geleitet wurde, und wo ihr der letzte Schliff verpasst werden sollte. Das Glück wollte es, dass sie dort eine fast gleichaltrige Verwandte traf, Adrienne, zu der sie ein herzliches Verhältnis entwickelte. Die beiden Zwanzigjährigen fanden Arbeit in einem Geschäft für Seiden und Posamenten, und bald sprach sich im Ort herum, welch charmante Verkäuferinnen da hinterm Ladentisch standen. Nebenbei schneiderten sie für Privatkundinnen, die anständig zahlten. Gabrielle war bienenfleißig, aber sollte sie ihre Fähigkeiten demnächst als Ehefrau und Mutter vergeuden, sich einem Herrn und Gebieter unterordnen, nach all den Jahren unter der Fuchtel der Betschwestern?
Gabrielle stürzte sich lieber ins unbeschwerte Leben, trat in einem Café in Moulins auf und begeisterte das vorwiegend männliche Publikum mit ihrem Gesang. Qui qu’a vu Coco hieß das Chanson, das sie immer wieder anstimmen musste. Klar machten ihr die Männer Avancen, man musste hübsch darauf achten, Distanz zu wahren, um die Oberhand zu behalten. Gerne verschwieg Coco Chanel diese Episode ihres frühen Lebens, der sie jedoch ihren Namen entlehnte.
Bei einem Aufenthalt im Kurort Vichy unweit von Moulins begegnete Coco dem attraktiven und exzentrischen Pariser Étienne Balsan. Sein Vermögen bezog er aus einem florierenden Unternehmen, das mit Armeeuniformen handelte. Balsan öffnete Chanel die Türen zur gehobenen Pariser Gesellschaft. Sie folgte ihm in die Hauptstadt, lebte vier Jahre lang mit ihm zusammen, von 1906 bis 1910. In ihrer Wohnung begann Coco als Putzmacherin zu arbeiten, und weil sich rasch herumsprach, wie elegant ihre Kreationen waren, stellte Balsan ihr das Startkapital für einen Hutsalon zur Verfügung. Seither gedeiht das Geschäft.
Manche munkeln, Coco Chanel suche sich sogar die Liebhaber knallhart unter pragmatischen Gesichtspunkten aus, reiche Männer, die sie großzügig unterstützen. Solches Gerede tut sie als neidisches Geschwätz von Leuten ab, die ihr den Erfolg nicht gönnen. Auch der aktuelle Geliebte Arthur Capel unterstützt sie mit seinem Erbe. Capel ist ein Freund Balsans, leidenschaftlicher Polospieler und Bergwerksbesitzer aus England. Coco nennt ihn kurz ›Boy‹, wegen seines jungenhaften Äußeren, dabei ist dieser Mann von Welt sogar knapp zwei Jahre älter als Coco. Bei Pferderennen, zu denen sie ihren neuen Freund begleitet, sind schicke Hüte ein unverzichtbares Accessoire jeder Frau und ein großer Markt für die Jungdesignerin. Doch bei Hüten soll es nicht bleiben. Die Boutique in der Pariser Rue Cambon 31 hat Coco Chanel erst vergangenes Jahr eröffnet. »Ich glaubte dir ein Spielzeug zu schenken, dabei habe ich dir die Freiheit geschenkt«, sagte Boy Capel.
Die kleine Näherin aus Moulins ist im Handumdrehen zur kühl kalkulierenden Pariser Business-Lady geworden. Coco Chanel ist beruflich inzwischen unabhängig und frei in ihren Entscheidungen. Den Kredit, den Capel ihr eingeräumt hat, hat sie ihm längst zurückzahlen können. Inzwischen ist sie mit allen Wassern gewaschen, kann rechnen und weiß, dass sich finanzieller Einsatz auszahlen muss. Sie beschäftigt mittlerweile über dreihundert Näherinnen. Ihr Ruf als Modedesignerin dringt über Frankreichs Grenzen hinaus; die amerikanische Vogue hat ihren schlichten, aber lässigen Stil inzwischen zum ›Inbegriff von Eleganz‹ gekürt, ein Prädikat, das so viel wert ist wie ein Diplom mit Auszeichnung.
Leider gibt es einen Wermutstropfen in Cocos Erfolgsgeschichte, und der schmeckt wirklich bitter. Fast zehn Jahre währt ihr Liebesglück mit Boy Capel nun schon, doch er hat im vergangenen November geheiratet, nicht sie, die kleine Verkäuferin aus zweifelhaftem Milieu, sondern ein anständiges Mädchen aus angesehener Familie, Diana Lister Wyndham, Tochter eines Barons und Nichte des ehemaligen britischen Premierministers Herbert Asquith, außerdem ein Jahrzehnt jünger als Coco. Dianas Mann war 1914 gefallen, die gebotene Trauerzeit hatte sie lange hinter sich, und Boy Capel war eine gute Partie. Wenn Boy Coco in Paris besucht, wenn sie bei Maxim’s speisen oder in die Oper gehen, scheint alles immer noch beim Alten zu sein. Doch wird sich der schöne Schein auch dann noch aufrechterhalten lassen, wenn Boy Familienvater ist? Erst kürzlich hat er seiner Geliebten eröffnet, dass Diana ein Kind von ihm erwartet.
Coco drückt beide Augen zu, die Arbeit lenkt sie von der Kränkung ab, zur heimlichen Geliebten degradiert worden zu sein, sie braucht dringend eine neue Aufgabe. Was hatte sie noch vor dem Krieg felsenfest behauptet? »Frauen parfümieren sich nur, wenn sie schlechte Gerüche zu verbergen haben.« Diese Überzeugung, die sich aus vergangenen Zeiten speiste, in denen selbst Königinnen sich puderten, statt sich zu waschen, hat sie über Bord geworfen. Das Bedürfnis nach Luxus und individuellem Chic ist jetzt nach vier Jahren, die den meisten Frauen Verzicht und Improvisationstalent abverlangten und in denen die einzige Robe die Kriegskrinoline war, größer denn je. Wer es sich leisten kann, kauft neue Kleider und sogar Juwelen. Feldgrau ist endlich out. Außerdem sind amerikanische Soldaten überall in der Stadt, und was suchen sie im Printemps und auf der Rue St.-Honoré? Pariser Chic und Eau de Toilette für ihre Frauen daheim – ein Geschäft, das man sich keinesfalls entgehen lassen darf. Der Zeitpunkt, die Kollektion zu erweitern, ja, eine ganz neue Produktlinie auf den Weg zu bringen, ist günstig. Zeit für ein Parfüm.
Ein Duft wie ein bunter Strauß Blumen soll es sein, rund und betörend, und doch zeitlos elegant, eine Duftmalerei, die die Individualität jeder Frau unterstreicht. Das Unternehmen Bourjois wirbt bereits mit dem Slogan: ›Mein Parfüm spiegelt meine Persönlichkeit.‹ Cocos Duft muss sich unterscheiden von den Eau de Toilettes und Parfüms, die schon zu haben sind, den beliebten Düften von Paul Poiret oder François Coty, der mit seinen Produkten Millionär geworden ist.
Durch die umtriebige Salonière Misia Sert, Freundin und Förderin berühmter Männer wie André Gide und Sergeij Diaghilev, porträtiert von Renoir und Toulouse-Lautrec, ist Coco in weitere Kreise der Pariser Gesellschaft vorgedrungen. Die beiden Frauen verbindet frühes Leid, die Klostervergangenheit, der sie aus eigenen Kräften entkommen sind – aus Sankt Petersburg war Misia mit dem früh verwitweten Vater nach Paris gekommen und dort ins Kloster Sacré-Cœeur gesteckt worden. Als sich die Freundinnen nun treffen, kann Misia Sert mit einer kleinen Sensation aufwarten.
»Eine unglaubliche Geschichte«, erzählt sie, »bei Renovierungsarbeiten in einem Loire-Schloss ist das verschollene Rezept eines Wunderparfüms aus der Renaissance wieder aufgetaucht, die Rezeptur für jenen Duft, der eigens für die Königinnen der Medici-Dynastie kreiert wurde. Es heißt, das Wässerchen verhindere die Alterung der Haut«, frohlockt Misia Sert, »nun ja«, räumt sie zögernd ein, »zumindest wird der Alterungsprozess deutlich aufgehalten.«
Misia Sert geht bereits auf die Fünfzig zu, ihre Jugend als legendäre Muse der Belle Époque ist ein seit Längerem untergehender Stern, wahrscheinlich befeuert das ihr Interesse an diesem Wunderelixier.
Für einen griffigen Werbetext taugt das Bild vom Jungbrunnen allemal. Und die Rezeptur mit royaler Historie, das zieht gewiss bei den Franzosen, die ihre Wohnzimmer mit hohen Spiegeln und verschnörkelten Trumeaus einrichten, als wären sie Sonnenkönige. Coco muss nicht lange überlegen, sie spielt ernsthaft mit dem Gedanken, sich das Papier mit der Duftformel zu verschaffen.
»Gratis wird’s nicht sein«, gibt Misia Sert zu bedenken.
Coco winkt lässig ab. Die beiden Frauen sind längst eingesponnen in den verführerischen Gedanken an ein neues Parfüm, um das die Pariserinnen sich reißen werden. Sie malen sich aus, wie Chanels Duft die Salons der Stadt erfüllt, wie sich Gespräche darum drehen, welche Blüten ihre Blätter für diese zauberhafte Essenz gespendet haben. Jedermann, jede Frau wird den Parfümeur kennenlernen wollen, den Magier, der die Zauberformel dafür kennt. Und natürlich wird das Parfüm den Ruhm Coco Chanels weiter mehren.
»Du musst es machen«, sagt Misia Sert beschwörend, »besorg Dir rasch das Rezept!«
Coco Chanel zögert nicht lange; bevor jemand anderes Wind von dem Duft bekommt und ihr zuvorkommen kann, nimmt sie Kontakt mit den Findern des Geheimrezepts auf und legt ein kleines Vermögen hin, um es in ihren Besitz zu bringen, 6000 Francs.
Misia denkt schon weiter: »Und die Form des Flakons? Wie soll der denn aussehen?«
Auch die Verpackung soll etwas ganz besonderes sein, denkt Coco Chanel. Der Flakon muss ebenso schlicht und elegant ausfallen wie sein edler Inhalt.
Am 18. Januar versammelt sich eine illustre Gesellschaft in Berlin, in der Schöneberger Haberlandstraße 5. Dort wohnt der Physiker Albert Einstein, unter seinen Gästen an jenem Tag sind die Pädagogin und Frauenrechtlerin Helene Stöcker, der Arzt Georg Friedrich Nicolai und die Malerin Käthe Kollwitz. Sie debattieren über Maßnahmen, die einer friedlichen Gesellschaft auf die Beine helfen können. Allesamt sind sie Mitglieder des kurz nach Kriegsausbruch 1914 gegründeten sozialistisch-pazifistischen ›Bund Neues Vaterland‹. Endlich dürfen sie wieder unbehelligt tagen, denn in den vergangenen vier Jahren waren sämtliche Aktivitäten des Bundes verboten gewesen. Einig ist man sich darüber, dass die herrschende Militärdiktatur abgeschafft werden muss, erschüttert sind alle über die Ermordung Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs. Thema bei der Zusammenkunft ist freilich auch ein bahnbrechendes Ereignis, das am morgigen Tage stattfinden wird, die ersten wirklich freien und demokratischen Wahlen auf deutschem Boden, an denen zum ersten Mal auch Frauen teilnehmen dürfen.
Ein langer Marsch war es für die Frauen bis an die Urnen: Schon 1848, nach der Revolution, als in der Frankfurter Paulskirche die Nationalversammlung tagte, hatte das allgemeine Wahlrecht zur Debatte gestanden. Allgemein – das schloss die weibliche Bevölkerung damals immer noch aus. Mutige Frauen ließen sich das nicht länger bieten und erhoben ihre Stimme, bald war die Rede von einer veritablen Frauenbewegung. Vor allem jene Frauen, die sich als Sozialistinnen verstanden und kämpferisch unterwegs waren, konnten erwirken, dass die Wahlrechtsforderung 1891 ins Erfurter Programm der Sozialdemokratie aufgenommen wurde. August Bebel, von 1892 bis zu seinem Tod 1913 Vorsitzender der SPD, machte sich zum Fürsprecher der Frauenemanzipation und des Frauenwahlrechts. 1879 war sein überaus erfolgreiches Buch Die Frau und der Sozialismus erschienen – der Frauenbewegung gilt die Schrift als ein Manifest. Ebenso bahnbrechend war Rosa Luxemburgs Pamphlet Frauenwahlrecht und Klassenkampf von 1912, allerdings ohne explizit feministische Töne anzuschlagen. Das gemeinsame Ziel aber ist endlich erreicht. Mit der Weimarer Verfassung tritt das aktive und passive Wahlrecht für »alle mindestens 20 Jahre alten männlichen und weiblichen Personen« in Kraft.
Andere Länder waren schon eher am Puls der Zeit. Bereits 1917, noch vor der Oktoberrevolution, durften russische Frauen erstmals zur Wahl schreiten. Damit gehörte Russland neben Australien, Dänemark, Finnland, Neuseeland, Norwegen und einigen amerikanischen Bundesstaaten zu den ersten Ländern weltweit, in denen das Frauenwahlrecht galt. Durch die Oktoberrevolution wurden weitere Hoffnungen geweckt, Frauen eine gleichberechtigte Stellung im öffentlichen Leben zu gewährleisten. Großes Vorbild der politisch aktiven Frauen ist die Russin Alexandra Kollontai, die schon im November 1917 von Lenin mit der Leitung des Ministeriums für Volksfürsorge beauftragt worden war und in dieser Position für das Recht auf Abtreibung und Scheidung kämpfte. Kollontai war nicht nur die erste Frau im revolutionären sowjetischen Kabinett, sondern auch die erste Ministerin der Welt.
Schon am Morgen des 19. Januar 1919, einem Sonntag, eilen landauf, landab Frauen zu den Wahlurnen, 17 Millionen sind auf den Beinen, was bei manchen Männern Kopfschütteln auslöst. An diesem Tag finden die Wahlen zur verfassunggebenden Deutschen Nationalversammlung statt, und erstmals darf das vermeintlich schwache Geschlecht mit abstimmen. »Polonäse von Wählern und Wählerinnen«, beobachtet Harry Graf Kessler das Geschehen. »Alles ruhig und grau in grau; weder Aufregung noch Begeisterung. Die Zettelverteiler der verschiedenen Parteien stehen um die Polonäse herum und schieben wortlos die Zettel den Leuten in die Hand. Köchinnen, Krankenschwestern, alte Damen, Familien mit Vater, Mutter und Dienstmädchen, selbst mit kleinen Kindern kommen gezogen und stellen sich an.«
Grau in grau? Das, wofür Frauen wie Rosa Luxemburg gekämpft haben, gleiche politische Rechte für alle, Frauen wie Männer, nimmt Gestalt an – ein ruhig und ohne Hysterie ablaufender demokratischer Akt. Bei der Wahl-Premiere beteiligen sich 82% aller wahlberechtigten Frauen, siebenunddreißig weibliche Abgeordnete ziehen ins Parlament ein, immerhin ein Zehntel Frauen, für den Anfang nicht schlecht, unter ihnen Gertrud Bäumer, Marie Elisabeth Lüders und Louise Schröder. Die SPD erlangt eine Mehrheit mit 138 Sitzen in der Nationalversammlung. Der Weg ist frei für weitere Reformen.
»Zum ersten Mal gewählt«, schließt Käthe Kollwitz das historische Datum mit einem Tagebucheintrag. »Hatte mich so sehr gefreut auf diesen Tag und nun er dran ist, von neuem Unentschlossenheit und halbes Gefühl. Für Mehrheitssozialisten gewählt. Nicht für die Person Scheidemann, die zuoberst auf der Liste stand.«
Die politische Stimme der Künstlerin hat Gewicht. Mit ihrer Sympathie fürs Proletariat tendiert sie zwar zu den Kommunisten, fürchtet jedoch deren Radikalität und Zustände, wie sie in der revolutionären Sowjetunion herrschen. Kollwitz spricht sich für die Sozialdemokraten aus, auch wenn sie deren mangelnde Entschlossenheit kritisiert: »Hätte die Regierung dieses Vierteljahr absoluter Macht im Sinne des Sozialismus benutzt, so wäre es nicht zum Spartakus-Putsch gekommen und hätten die Unabhängigen sich nicht nochmalig und nun wohl endgültig losgemacht von der Mehrheit. Eine Einigung scheint jetzt unmöglich. Unter der demokratischen Regierung, der wir jetzt entgegensehen, wird das Wühlen und Drängen der Kommunisten wohl nicht aufhören«, schreibt sie am 30. Januar 1919 enttäuscht von der Revolution und sehnt einen Sozialismus herbei, »der die Menschen leben lässt«.
Am 24. Januar 1919 heben sich in einem Sitzungssaal der Preußischen Akademie am Pariser Platz bei einer Abstimmung viele Hände. Ein Raunen geht durch die Reihen der Herren, darunter der Maler Max Liebermann und der Architekt der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Franz Schwechten. Seit Bestehen der mehr als zweihundert Jahre alten Institution wird diese ausschließlich durch Männer repräsentiert. Nun ist bei einer Abstimmung unter den Herren Käthe Kollwitz als neues Mitglied aufgenommen worden. Denn auch die altehrwürdige Kunstakademie kommt an den Frauen nicht mehr vorbei.
An jenem Tag ist Käthe Kollwitz auf dem Weg ins Leichenschauhaus in der Hannoverschen Straße in Berlin-Mitte. Dort ist der ermordete Karl Liebknecht aufgebahrt. Sophie, seine Witwe, hat die Künstlerin darum gebeten, eine Zeichnung des Toten anzufertigen. Während Kollwitz neben dem einbalsamierten Leichnam still an ihrem Liebknecht-Gedenkblatt arbeitet, kommen immer wieder Menschen herein und erweisen dem Revolutionär die letzte Ehre. »Um die zerschossene Stirn rote Blumen gelegt, das Gesicht stolz, der Mund etwas geöffnet und schmerzhaft verzogen. Ein etwas verwunderter Ausdruck im Gesicht. Die Hände im Schoß nebeneinandergelegt, ein paar rote Blumen auf dem weißen Hemd.«
Tags darauf, Käthe Kollwitz hat ihr Gedenkblatt zu Hause noch nachgebessert, findet die Beerdigung Karl Liebknechts und weiterer 38 Erschossener auf dem Friedhof Friedrichsfelde statt. »Welche Qual diese ganze öffentliche Angelegenheit für Liebknechts Frau!«, beklagt Käthe Kollwitz. »Sie ist ohnmächtig geworden. Um das Grab Gedränge. Einer schob den andern weg, zankten sich um die Plätze.«
100.000 Menschen sind gekommen, vor allem aus den Arbeitervierteln strömen sie herbei, um von den Toten Abschied zu nehmen. Der Trauerzug bewegt sich gemessenen Schrittes übers Gräberfeld. Neben Liebknechts Sarg wird noch ein zweiter Katafalk in die Grube gesenkt, den die Sargträger mit geringem Kraftaufwand stemmen können, denn er ist leer. Rosa Luxemburgs Leichnam ist noch immer nicht gefunden worden.
Dass Käthe Kollwitz Mitglied der Berliner Secession ist, macht die Sensation ihrer Wahl in die Akademie doppelt innovativ. Denn die Secession, der Maler wie Lovis Corinth und Max Liebermann, Bildhauer wie Wilhelm Lehmbruck und Georg Kolbe angehören, steht für eine Kunst jenseits akademischer Regeln und Maßgaben. »Höre von Klimsch und Gaul, dass ich in die Akademie der Künste gewählt bin. Große Ehre, aber ein bisschen peinlich für mich. Die Akademie gehört doch zu den etwas verzopften Instituten, die beiseite gebracht werden sollten«, schreibt Kollwitz am 31. Januar 1919 in ihr Tagebuch. Stimmt, im Programm des Arbeitsrates für Kunst, dessen Mitglied die Malerin ist, ist die Auflösung der Akademie der Künste sogar eine explizite Forderung.
Akademieprofessor Georg Gaul, selbst Bildhauer, reagiert empört auf die etwas despektierlichen Äußerungen der Malerin, aber versichert ihr auch, das unter dem Kaiser machtlose und unselbstständige Institut habe jetzt »seine Selbstständigkeit« erhalten und werde »wieder Leben kriegen«. Die Wahl von Käthe Kollwitz ist ein hoffnungsvoller Auftakt. Es sind die sozialen Themen, die sie beschäftigen, und das rührt an den Nerv der Zeit. Kollwitz stellt das Elend der Armen und Kranken in aller Härte und Mitleidlosigkeit dar. Vielen längst bekannt sind ihre grafischen Werke Ein Weberaufstand und Bauernkrieg; düstere Kohlezeichnungen und harte Holzschnitte sind ihre Stärke. Käthe Kollwitz kann der Armut sogar Schönheit abgewinnen, denn ist nicht schön, was authentisch ist und einer sozialen Wahrheit entspricht? Mit ihren Motiven aus dem Proletariat bricht Käthe Kollwitz ein Tabu, schafft ein Bewusstsein für die Armen und Geknechteten. Dass ihre Arbeit inzwischen breite Anerkennung findet, ist ein Politikum.
Gerhart Hauptmanns Drama Die Weber, in dem der Schriftsteller die Sklaverei anprangert, hatte Käthe Kollwitz mit ganzer Wucht getroffen. Das Theaterstück war Wasser auf ihre Mühlen. Sie hatte die Uraufführung am Deutschen Theater im September 1894 gesehen und Hauptmann persönlich kennengelernt, 1886 auf einer Reise ins Engadin. Die Weber ließen sie nicht los. Fast vier Jahre arbeitete sie sich daran ab, bis der Zyklus Ein Weberaufstand 1897 abgeschlossen war. Die Arbeit hatte sich gelohnt: Als der Zyklus ein Jahr später auf der ›Großen Berliner Kunstausstellung‹ zu betrachten war, macht er die Kollwitz schlagartig einem breiteren Publikum bekannt. Nur Kaiser Wilhelm II. konnte sich mit der Handschrift der kritischen Künstlerin nicht anfreunden, zu viel umstürzlerisches Potenzial enthielten diese Bilder; ›Rinnsteinkunst‹ nannte Wilhelm sowas und schmückte sich lieber mit glatter Salonmalerei und den repräsentativen Schinken eines Anton von Werner. Seine Majestät wusste denn auch zu verhindern, dass Kollwitz mit der Medaille ausgezeichnet wurde, für die Max Liebermann sie vorgeschlagen hatte. »Orden und Ehrenzeichen gehören auf die Brust verdienter Männer«, so der Kaiser; an der Bluse einer Frau würde der Preis doch nur entwertet. Auch die Kaiserin rümpfte die Nase: Als Anfang 1906 die ›Deutsche Heimarbeit-Ausstellung‹ in Berlin gezeigt wurde, die sie eigentlich besuchen wollte, störte sie sich am Ausstellungsplakat der Kollwitz, auf dem das knochige Gesicht einer Frau mit erloschenem Blick zu sehen war. So viel Hässlichkeit war Ihrer Majestät wirklich nicht zuzumuten!
Ganz andere Sorgen hat derweil eine Frau in Wien, wo mit dem Ende des Weltkriegs auch die k.-u.-k.-Monarchie besiegelt ist. Alma, geborene Schindler, verwitwete Mahler und verheiratete Gropius, gruselt sich fürchterlich vor dem entfesselten Mob: »Wir saßen im roten Musiksalon, als die sogenannte ›Revolution‹ ausbrach. Es war drollig und schaurig zugleich. Den Zug der Proletarier zum Parlament hatten wir mit angesehen. Üble Gestalten … rote Fahnen … hässliches Wetter … Regenmatsch, alles grau in grau. Dann die angeblichen Schüsse aus dem Parlament. Sturm! Dieselbe vorher wohlgeordnete fade Menschenreihe stürmte jetzt schreiend und würdelos zurück.« Keine Frage, Alma wünscht sich den Kaiser zurück, »und wenn es der idiotischste aller wäre, wenn’s anders nicht geht, und die teuersten, fruchtbarsten Erzherzöge, die das Land soutenieren müsste, nur wieder Pracht von oben her und ein Kuschen, ein unlautes Kuschen des Sklaven-Unterbaues der Menschheit. Das Geschrei der Massen ist eine Höllenmusik, die ein reines Ohr nimmer ertragen kann.«
Auch die vielen Männer in ihrem Bett sind nicht ganz unschuldig an Almas Anspannung. Sie ist ganz wirr im Kopf vor lauter Verehrern. Die Wechselfälle ihres Liebeslebens lösen bei ihr tatsächlich beängstigende Zustände aus, denn sie ist wahnsinnig vor Angst, wie ihre Schwester Margarethe Julie an Dementia praecox zu erkranken. Und es ist weiß Gott nicht das erste Mal, dass sie Selbstmordgedanken hegt. Im Januar 1919 vertraut sie dem Tagebuch an: »Alles ist gleichzeitig. Ich kann keinen verneinen. Gustav Mahler, Oskar Kokoschka, Gropius … alles war und ist wahr! […] Nichts weiß ich mehr von diesen Menschen als ihre geistigen Hinterlassenschaften […] Gustav Mahler ist mir unverlierbar!« Während sie zwei Pianisten lauscht, die ihr vierhändig Mahlers 2. Symphonie vorspielen, sinniert sie über die Frage, ob sie nicht alles herschenken soll, was sie besitzt, ein neues Leben anfangen, in warmen Gegenden, »wo man arm sein kann, ohne zu erfrieren oder zu verhungern.«
Besonders wahr und gegenwärtig ist derzeit der Architekt Walter Gropius, der ist nämlich seit August 1915 Almas Ehemann. Sie hat ihn geheiratet, allen Vorbehalten zum Trotz: »Schon die Ehe, die vom Staat sanktionierte Tyrannei, ist mir suspekt, und ich wähle, ihr ausweichend, die freie Bindung. Da aber sollte die Faust in der Tasche bleiben! Das sind ja die Gründe, warum ich nicht heiraten wollte.« Gleich nach der Hochzeit hatte Gropius wieder zurück an die Front reisen müssen, und Alma war in ihrer behaglichen Wohnung im 1. Bezirk, in ihrem geliebten Wien bei Mahlers Partituren und Kokoschkas Gemälden geblieben, mit ihren beiden Töchtern, der im Oktober 1916 geborenen Tochter Manon und der vierzehnjährigen Anna aus der Ehe mit Gustav Mahler.
Nun ist der Krieg aus, Wien ist zwar nicht mehr so recht gemütlich, doch beim Gedanken, die Mozartstadt verlassen zu müssen, gar für immer, ist Alma nicht wohl. Gropius sieht seine berufliche Zukunft in Berlin, die Preußenkapitale ist ein Dorado für den Architektennachwuchs. Außerdem schielt er nach Weimar, wo ein schöner Direktorenposten an der Kunstgewerbeschule winkt, um den er sich schon seit 1915 bemüht, als der Belgier Henry van de Velde wegen ausländerfeindlicher Angriffe zurückgetreten war. Jetzt, im Januar 1919, sitzt Gropius auf gepackten Koffern. Er wartet nur noch auf seine offizielle Berufung und brennt auf die neue Aufgabe: »Die Verhältnisse sind augenblicklich dadurch, dass die Kunstgewerbeschule aufgehoben wurde, also von Grund auf neu gestaltet werden kann und dadurch, dass vier Lehrstellen an der Hochschule für bildende Künste freistehen, außerordentlich günstig. Es dürfte in Deutschland wohl kaum eine zweite Gelegenheit sein, ein größeres Kunstschulunternehmen ohne radikale Eingriffe in das Bestehende von modernen Ideen entsprechend umzugestalten.«
Alte Ordnungen sind vom Tisch, neue Gesetze noch nicht erlassen, dieses politische Vakuum ist genau der rechte Moment, das zukünftige Hochschulleben in Eigenregie zu gestalten. Und zu den modernen Ideen gehört für Gropius selbstverständlich auch, endlich mal die Frauen zum Zuge kommen zu lassen, als Studentinnen und im Lehrkörper der neu geordneten Schule. Welche Rolle Alma darin spielen soll, das steht noch in den Sternen.