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Februar

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Dada-Künstlerin Hannah Höch verblüfft mit Collagen * * * Käthe Kollwitz prangert das Elend der Menschen an * * * Marie Juchacz spricht als erste Frau in der Nationalversammlung * * * Anita Augspurg, Juristin in Hosenrolle

Am Abend des 6. Februar, so steht es auf dem Flugblatt, das Hannah Höch auf ihrem Schreibtisch findet, blasen im Kaisersaal des Ballhaus Rheingold in der Bellevuestraße die ›Dadaisten gegen Weimar‹. Damit wollen sie als ›Dadaistischer Zentralrat der Weltrevolution‹ gegen die heute im beschaulichen Weimar, fern von den Unruhen in der Hauptstadt eröffnete Deutsche Nationalversammlung protestieren. Erscheinen werden im Rheingold »alle geistigen und geistlichen Arbeiter, Volksbeauftragte, Bürger und Genossen beiderlei Geschlechts […], denen an dem Glück der Menschheit gelegen ist.«

Wie Spartakisten und Arbeiter sind auch die Berliner Dadaisten unzufrieden mit der halbherzigen Republikgründung, damit, dass Militarismus und alte Seilschaften weiter gelten, verfilzte Zöpfe nicht abgeschnitten, sondern neu geflochten werden. Sie heißen Raoul Hausmann und Johannes Baader und gründen in jenen Tagen den ›Club Dada‹, die Berliner Filiale der Dada-Bewegung, die ihre Keimzelle in Zürich hat. Dort, im Vakuum des Schweizer Exils, hatten sich während des Krieges nicht nur Revolutionäre aus Deutschland, Polen und Russland getroffen, sondern auch die Künstler Richard Huelsenbeck, Hugo Ball und Tristan Tzara. Genau drei Jahre zuvor hatten sie in Zürich das Cabaret Voltaire ins Leben gerufen. Ein wahrer Urknall, denn seither sprießen die Blüten einer Kunst, die sich ›Dadaismus‹ nennt, in aller Herren Länder. Sie haben ihre ganz eigene Masche, die herrschenden Zustände aufs Korn zu nehmen.

Am 15. Februar erscheint die satirische Zeitung der Berliner Dadaisten, Jedermann sein eigner Fußball, in der man lustige Verse über den neuen Reichspräsidenten Friedrich Ebert lesen kann:

»Allzeit schussbereit

Ja der Deutsche Soldat trifft immer ins Schwarz

Wo es am blondsten ist

Sei gegrüßt Du mein schönes Sorrent

Ach kitzle mir mal am Hosenlatz

Mensch Ebert in Weimar!«

Walter Mehrings Gedicht Der Coitus im Dreimädlerhaus brüskiert die guten Sitten so sehr, dass man ihm den Prozess macht, die neue Zeitschrift wird umgehend verboten. Kurt Schwitters bereichert das niedersächsische Hannover mit seiner eigenen Dada-Zentrale und schreibt 1919 ein Gedicht, An Anna Blume:

»Dein Name tropft wie weiches Rindertalg.

Weißt Du es Anna, weißt Du es schon,

Man kann Dich auch von hinten lesen.

Und Du bist die Herrlichste von allen,

Du bist von hinten wie von vorne:

A-----N-----N-----A.«

Auch der Name Hannah liest sich vorwärts wie rückwärts. Hannah Höch heißt die Frau im Berliner Dada-Männerclub. Sie trägt eine flotte Ponyfrisur, blickt aus dunklen Augen etwas melancholisch in die Welt und ist die derzeitige Lebensgefährtin des selbst ernannten Dadasophen Raoul Hausmann. Mit ihm teilt sie die Begeisterung für alles, was sich gegen die herrschenden Ordnungen richtet.

»Aber nennt mich nicht immer Hannchen«, sagt Hannah Höch zu Raoul Hausmann und seinen Mitstreitern.

Hannah Höch, am 1. November 1889 im thüringischen Gotha geboren, ist anders als Rosa Luxemburg nicht die Jüngste von fünf Geschwistern, sondern die Älteste. Die Eltern erwarteten früh von ihr, Verantwortung zu übernehmen, sie musste die Höhere Töchterschule abbrechen, um sich um ihre jüngste Schwester zu kümmern und dem Vater Friedrich in seinem Versicherungsbüro zu helfen. Dass die Mutter Rosa als Vorleserin in aristokratischen Kreisen tätig war, wo der Umgang mit Kunst gepflegt wurde, fand Hannah wesentlich spannender. In ihr keimte der Wunsch auf, ein Kunststudium anzufangen, doch die Eltern schlugen die Hände überm Kopf zusammen, als sie ihr Anliegen zur Sprache brachte. Allein die Vorstellung, dass das Mädchen in Aktmalkursen vor nackten Modellen sitzen sollte, fand vor allem Papa Höch unschicklich.

Hannah ließ nicht locker: Wie wäre Kunstgewerbe statt Kunst? Sie dachte an Berlin, die private Kunstgewerbeschule in Charlottenburg.

Das klang schon vernünftiger. Der besorgte Vater ließ zu, dass die Tochter sich 1912 dort einschrieb. Was sie in der Klasse für Gestaltung lernen konnte, praktische Dinge wie Weben oder Töpfern, ließ sich später schließlich auch in einer Ehe oder einem ordentlichen Beruf anwenden.

Hannah pochte auf ihre Unabhängigkeit in der großen Stadt: »Lieber will ich mich in Berlin zu Tode schuften, als dass ich einen Tag länger in Gotha bliebe.« Das Glück in der Großstadt war zunächst nicht von langer Dauer; bei Kriegsausbruch am 1. August 1914 wurde die Schule bis auf Weiteres geschlossen, Hannah Höch kehrte zurück nach Gotha und half, das war nun angezeigt, beim Roten Kreuz. 1915, als sich abzeichnete, dass der Krieg nicht über Nacht zu gewinnen war, nahmen die Kunstschulen den Betrieb wieder auf, und Hannah Höch bekam einen der begehrten Plätze in Emil Orliks Klasse für Grafik und Buchkunst an der Unterrichtsanstalt des Berliner Kunstgewerbemuseums. Die Studentin beschäftigte sich viel mit der thüringischen Heimat, zeichnete Landschaften und Stadtbilder von Gotha. Orlik, der angesehene Maler und Zeichner, verschaffte ihr auch einen recht einträglichen Job als Dekorateurin von Lampenschirmen.

An einem Tag Ende April 1915 wurde Hannah Höchs Leben ordentlich aufgemischt, sie geriet in turbulentes Fahrwasser. In der Bibliothek des Kunstgewerbemuseums lief sie einem dunkelhaarigen Mann von kräftiger Statur über den Weg, in dessen rechtem Auge unter einer wulstigen Stirn sehr wirkungsvoll ein Monokel klemmte.

»Ich bin Raoul Hausmann«, stellte er sich vor, »Dadasoph.«

Bei einer Zufallsbegegnung sollte es nicht bleiben. Am 3. Juli 1915, Hannah Höch hat das Datum nie vergessen, fuhren sie gemeinsam hinunter zum Wannsee, lagen im märkischen Sand und kamen sich bei der Lektüre von Gedichten Walt Whitmans näher. »Wir machen die Welt leuchten«, verheißt Raoul seiner neuen Freundin.

Hausmann verkehrt in höchst interessanten Kreisen. Er ist Mitglied der Anfang Dezember 1918 in Berlin gegründeten ›Novembergruppe‹, einem Zusammenschluss aus rund 200 Künstlern, die nach dem Vorbild der revolutionären Sowjetunion für die öffentliche Rolle der Kunst streiten. Sie fordern staatliche Unterstützung, damit Kunst auch die Massen erreicht und das soziale Bewusstsein formen hilft. Die ›Novembergruppe‹ ist ein Hort der zeitgenössischen Avantgarde, ihr gehören Dadaisten wie Hans Arp und John Heartfield an, Architekten wie Walter Gropius und Ludwig Mies van der Rohe, die Dichterin Else Lasker-Schüler und auch Käthe Kollwitz. Vor allem trifft man in der ›Novembergruppe‹ auf Künstler aus dem Umfeld des charismatischen Herwarth Walden und seiner seit 1910 erscheinenden Zeitschrift Der Sturm. Dass Hausmann und Walden einander nicht eben grün sind, sieht ein Blinder – zwei Alphatiere, die einfach nicht nebeneinander bestehen können. »Mag Walden sein wer er will, so dumm als er will – er hat die großen Künstler und man kann nur bei ihm ausstellen«, schreibt Raoul Hausmann an Hannah Höch. Else Lasker-Schüler macht aus ihrer Abneigung gegenüber Raoul Hausmann auch kein Geheimnis: »Kleines Gift, muss auch sein«, ätzt sie.

Die Liebesgeschichte zwischen Hannah Höch und Raoul Hausmann währt nun nahezu vier Jahre, doch steht sie unter keinem guten Stern. Raoul ist verheiratet, mit der Geigerin Elfriede Schaeffer. Hausmann ist einer ›Ehe zu dritt‹ gegenüber recht aufgeschlossen, unbürgerliche Lebensformen sind en vogue. Lügen sind was für Spießer, und Hausmann macht seiner Gattin gegenüber kein Geheimnis aus der Geliebten. Da beide Frauen keine Spielverderberinnen sein wollen, schließlich verpflichtet das Leben in Bohemekreisen zu einer gewissen Libertinage, lassen sie sich auf die Ménage à trois ein. Insgeheim sehnen sie sich nach Ausschließlichkeit, alle beide. Und warum darf sich Raoul eigentlich aufführen wie ein Pascha im Harem? Mittenmang ist zudem noch Elfriedes und Raouls 1907 geborene Tochter Vera.

An der ungeklärten Situation hat sich seit Beginn der Beziehung nichts geändert. In den letzten Jahren hat Hannah Höch zwei Abtreibungen über sich ergehen lassen, lebensgefährliche und laut § 218 illegale Eingriffe, auf die fünf Jahre Zuchthaus stehen. Keine leichten Entscheidungen, doch will man noch einem Kind dieses Durcheinander zumuten? Manchmal bricht Hannah aus dem Liebeschaos aus, zu den Eltern nach Gotha, atmet tief durch in den vertrauten Gefilden, die plötzlich nicht mehr unerträglich spießbürgerlich, sondern wohltuend geordnet erscheinen. Sieht Raoul denn nicht, dass alle Beteiligten leiden, sie, Elfriede und schließlich auch er selbst? Jetzt, 1919 und im vierten Jahr ihrer Beziehung, nimmt Hausmann die tschechische Staatsbürgerschaft an, weil es so leichter möglich ist, die Scheidung durchzuziehen, ein Silberstreif am Horizont!

Auch Dada ist für Hannah Höch ein ständiger Spagat zwischen Selbstverwirklichung und Kampf um Anerkennung. Selten einig sind Hannah und Raoul aber, wenn sie über zerschnittenen Zeitungen am Tisch sitzen, als bastelten sie an einem Erpresserbrief. Mit Schere und Klebstoff entstehen völlig neue Zusammenhänge. Schlagzeilen aus der Tagespresse, durchmischt und neu arrangiert, vermengt mit allerlei Werbesprüchen, das könnte doch eine reizvoll neue, gebrochene Sicht auf die Welt eröffnen.

Zeitungen als ›prima materia‹ fallen Hannah Höch geradezu in den Schoß. Material gibt es reichlich in Zeiten, wo Berlin von Druckerzeugnissen überschwemmt wird. Vossische, Berliner Tageblatt, Vorwärts, Rote Fahne, die gesamte Presse wird auseinandergenommen und mit scharfer Klinge in einzelne Bestandteile zerlegt. Die Welt ist aus den Fugen, und die täglich sich überschlagenden Nachrichten sind für den einzelnen Menschen kaum mehr zu verarbeiten. Überall verwirrende Fülle, anarchisches Nebeneinander von Dingen und Ereignissen, das zeigt sich auf Hannah Höchs Collagen. »Ich sehe meine Aufgabe darin zu versuchen, diese turbulente Zeit bildlich einzufangen«, sagt sie.

Höch ist jetzt in der Redaktion des Ullstein-Verlags angestellt und schreibt für das elegante Blatt Die Dame und das Modejournal Die praktische Berlinerin. Sie ist glücklich mit diesem festen Job bei Ullstein, nicht nur wegen der interessanten Journale, die sie zu Collagen machen kann. Die Anstellung sichert ihr die finanzielle Unabhängigkeit. Mehr noch, so kann sie dem ewig klammen Raoul immer wieder finanziell unter die Arme greifen. In ihren Artikeln will sie ein Bewusstsein für den ideellen Mehrwert der scheinbar profanen Handarbeiten schaffen: »… wenigstens i-h-r müsst wissen, dass ihr mit euren Stickereien eure Zeit dokumentiert«, wendet sie sich an ihre Leserinnen. In der Tat, die vielen verschiedenen Illustrierten, die im Berliner Zeitungsviertel rund um die Kochstraße entstehen, sind Hannah Höchs Inspirationsquellen, die Abbildungen ein Kaleidoskop aus Möglichkeiten für Collagen und Montagen. Den praktischen Magazinen für Frauen liegen meistens Schnittmusterbögen bei, auch die sind bestens geeignet, künstlerisch in die Mangel genommen zu werden. Feine Wäschespitze aus Hannah Höchs Stoffrestesammlung ergänzt die Papierschnipsel.

Vergangenes Jahr, während der Sommerfrische in Heidebrink an der Ostsee, hatten Höch und Hausmann spielerisch mit dem Collagieren begonnen. In dem Fischerhäuschen, das sie gemietet hatten, hing ein Öldruck an der Wand, der sie sehr amüsierte: Er »zeigte – eingebaut zwischen die prunkvollen Embleme des Kaiserreichs – fünf stehende Soldaten in fünf verschiedenen Monturen – aber nur einmal fotografiert –, denen der Kopf des Fischersohnes fünfmal eingeklebt war. Dieser naiv-kitschige Öldruck zur Erinnerung an die Soldatenzeit des Sohnes hing in vielen deutschen Stübchen. Er wurde Hausmann zum Anlass, den Gedanken, mit Fotos etwas einzufangen, weiter auszuspinnen.«

Immer wieder muss Hannah Höch Raoul Hausmann mit der Nase darauf stoßen, dass er nicht alleiniger Urheber der neuen Technik ist. Sie wird nicht müde, ihm zu erzählen, dass sie schon als Mädchen verschiedenfarbiges Papier zu Bildern zusammengestellt hat: »Meine erste Collage, die fällt also auf 1904: Eine kleine Landschaft – in dem Fall unser Garten mit einem Figürchen, mein Schwesterchen, das lehnt da an einem Baum. Habe ich schön munter geklebt, ganz hübsch so ausgeschnitten, die Bäume und alles farbig sehr hübsch. Und das ist meine erste Collage!« Das Bild hatte sie Nitte unterm Baum genannt. Nitte, das ist der Spitzname von Hannahs Schwester Marianne.

Die Schere ist das wichtigste Instrument der neuen Zeit: Coco Chanel schneidet sich die Haare ab und kürzt die Röcke, Hannah Höch zerlegt die Wirklichkeit. Am Küchentisch in ihrer Dachwohnung in der Friedenauer Büsingstraße klappert sie mit der Papierschere und schneidet fein säuberlich ein Küchenmesser aus der Zeitung aus, Symbol für den scharfen Schnitt, der Altes vom Neuen trennt. Sie durchforstet Zeitungsstapel, sammelt Schrauben, Zahnräder und Kurbelwellen wie für ein Ersatzteillager. Beim Blättern stößt sie auf die üblichen Verdächtigen, schneidet Kaiser Wilhelm, Hindenburg und Ebert die Köpfe ab, garniert sie mit knackigen Parolen: ›Legen Sie Ihr Geld in Dada an!‹, ›Dada siegt!‹, ›Tretet Dada bei‹. Dazu gesellen sich Tänzerinnen, Turner, Elefanten, ein Zirkus, der sich um sich selbst dreht. Das hat Fahrt. Das schöne Japanpapier aus Hannahs Materialsammlung kommt endlich zum Einsatz, als Hintergrund des Bildes trägt es schwer an den vielen Köpfen: Lenin, Anführer der Oktoberrevolution, General Paul von Hindenburg, Albert Einstein, dessen Theorien über die Geschwindigkeit des Lichts derzeit heiß diskutiert werden. Ins rechte Auge des Physikers klebt Hannah Höch ein Schleifchen, es ist das Unendlichkeitszeichen. Dass der Kopf von Karl Marx wie eine Gallionsfigur am Bug eines Schiffes prangt, hätte Rosa Luxemburg gefallen. Unten rechts in die Ecke klebt Hannah eine Europakarte, markiert darin die Länder, in denen sich das Frauenwahlrecht durchgesetzt hat.

Da fehlt doch noch was, überlegt Hannah Höch am Basteltisch. In den alten Illustrierten wird sie schnell fündig. Weil die Expressionistin Else Lasker-Schüler gerade in aller Munde ist, fügt Hannah Höch auch noch deren Kopf hinzu. Um die dänische Stummfilmdiva Asta Nielsen kommt man auch nicht herum, dieses Jahr ist sie gleich mit mehreren Filmen in den Lichtspielhäusern zu sehen, sie heißen Rausch, Das Ende vom Liede oder Nach dem Gesetz. Auch Pola Negri gibt Hannah Höch einen Auftritt, die Schauspielerin ist gerade in der Rolle der Carmen im gleichnamigen Film von Ernst Lubitsch zu bewundern. Mitten in die Collage platziert sie die umjubelte Tänzerin Niddy Impekoven, die das Publikum zu Klängen von Beethoven und Schubert ebenso wie mit Darstellungen von Käthe-Kruse- und Lotte-Pritzel-Puppen und, man höre und staune, eines Kaffeewärmers zu begeistern weiß. Hannah Höch lässt den erst fünfzehnjährigen Kinderstar mit hoch erhobenen Armen einen ausgeschnittenen Kopf in den Fingerspitzen jonglieren, es ist der von Käthe Kollwitz. Das soll freilich keine symbolische Enthauptung sein, sondern eine Hommage. Hannah Höch schätzt die erschütternden Arbeiten der Kollwitz, die dem sozialen Elend ein Antlitz gibt, verhärmte Frauen, blasse Kinder, ausgemergelte Arbeiter, die ganze Härte der Realität. Weiß Hannah Höch eigentlich, dass sich sogar die ernste Käthe Kollwitz für die heiter-tänzelnde Kunst der populären Niddy Impekoven interessiert? Im April 1920 wird Kollwitz einer ihrer Aufführungen in der Berliner Staatsoper beiwohnen.

Schnitt mit dem Küchenmesser Dada durch die letzte Weimarer Bierbauchkulturepoche Deutschlands, das ist doch ein treffender Titel für die fertige Komposition! Hannah Höch ist mit ihrer Arbeit zufrieden, aber von ihren Mitstreitern aus dem Club Dada kann sie nicht viel Lob erwarten. Anerkennende Worte für eine Künstlerin, die kommen den Männern nur schwer über die Lippen.


Dass Käthe Kollwitz das Elend der Armen aufs Papier bringt, folgt innersten Beweggründen, denn sie identifiziert sich mit Haut und Haar mit den leidenden Menschen, die sie porträtiert. Vor ihr auf dem Zeichentisch liegt eine gerade vollendete Studie, Kohle auf blaugrauem Ingres-Papier. Am 6. Februar 1919 wäre ihr Sohn Peter dreiundzwanzig Jahre alt geworden. »Es ist ein schöner Tag. Nach langer Zeit zum ersten Mal wieder fühl ich, dass ich viel kann. Ich arbeite die ›Mütter‹. […] ich habe die Mutter gezeichnet, die ihre beiden Kinder umschließt, ich bin es mit meinem eigenen leibgeborenen Kindern, meinem Hans und meinem Peterchen. Und ich hab es gut machen können. Danke!« Zu Hause öffnet ihr Mann Karl Kollwitz eine Flasche Wein, eigentlich, um auf den Erfolg der neuen Nationalversammlung in Weimar anzustoßen, doch als sie die Gläser erheben und sich anschauen, entfährt es beiden wie aus einem Munde: »Auf den Jungen!«

Der Schmerz führt Käthe Kollwitz beim Arbeiten die Hand. Peterchen, der jüngere ihrer beiden Söhne, wurde keine zwanzig, gefallen in den ersten Kriegstagen, am 22. Oktober 1914 in Flandern. Die Malerin fühlt sich schuldig an seinem Tod. Bei Kriegsausbruch zarte siebzehn Jahre jung und als Minderjähriger nicht einberufen, hatte er die Eltern um die notwendige Einwilligung angebettelt, ins Feld ziehen zu dürfen. Vater Karl war streng dagegen und schüttelte verständnislos den Kopf; Mutter Käthe war ebenso wenig einverstanden, doch dieser Krieg wäre sowieso rasch vorbei. Sie ließ sich erweichen, wollte die Begeisterung ihres Sohnes, die er mit so vielen jungen deutschen Männern teilte, nicht dämpfen. »Karl, lass ihn doch ziehen«, hört sie sich noch immer sagen. Und noch immer sieht sie die Hand ihres Mannes, die das Papier mit der Erlaubnis widerwillig unterschreibt. Sie selbst hat Karl dazu überredet, das kann sie sich nicht verzeihen, niemals. Immer muss sie daran denken: Peterchen versammelt sich mit anderen Jungs in Uniform am Bahnhof, nach Belgien an die Westfront geht die Reise. Alle sind guter Dinge, schon bald werden sie siegreich zu ihren Familien zurückkehren. Nur achtzehn Tage, nachdem Käthe Kollwitz Abschied von Peter genommen hat, erreicht sie eine Hiobsbotschaft. Ganze zehn Tage ist Peter Soldat gewesen.

Sein Zimmer ist nach wie vor unverändert, Käthe Kollwitz hat nichts darin angerührt, Peters Habseligkeiten sind ihr heilig. Doch seit Peters Tod hat sich ihre Weltsicht radikal verändert. Frieden zwischen den Völkern und sozialer Frieden sind ihr eine Herzensangelegenheit geworden. Dafür riskiert sie alles, mehr kann sie für Peter nicht tun. Noch letzten Herbst, als die Schlacht an allen Fronten längst geschlagen war, hatte der Dichter Richard Dehmel in wahnwitziger Verblendung im Vorwärts tatsächlich noch einen ›Aufruf zum letzten Kriegsaufgebot‹ lanciert. Dem konnte die trauernde Mutter nur mit einem offenen Brief entgegengetreten. »Es ist genug gestorben! Keiner darf mehr fallen!«, schrieb sie mit Furor. »Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden«, schloss sie ihre Antwort mit einem Zitat aus Goethes Wilhelm Meister. Zuerst hatte der Vorwärts noch gekuscht und den Brief mit den gefährlich vaterlandsverräterischen Tönen nicht bringen wollen, aber schließlich druckte er die Zeilen der Kollwitz doch, und sogar die Vossische Zeitung druckte sie nach. Jede Menge kriegsmüde Leser machten aus ihrer Zustimmung keinen Hehl mehr, die Malerin hatte die Zeichen der Zeit erkannt.

Peters Tod wird Käthe Kollwitz nie verwinden, aber wenigstens hat sie ihre Arbeit; die Kunst hilft, den Schicksalsschlag zu verarbeiten und eine Mission zu verfolgen, mit Bildern die Menschheit aufzurütteln und das Bewusstsein für soziale Fragen zu schärfen. Sie denkt mit Liebe an Großvater und Vater, denen sie so viel zu verdanken hat. Nicht selbstverständlich, dass alle beide ihre künstlerischen Ambitionen ernst nahmen und auch noch unterstützten. Großvater Julius Rupp hatte in der ostpreußischen Heimat eine evangelisch-freireligiöse Gemeinde gegründet, in der die Gleichstellung der Frauen groß geschrieben wurde. Vater Karl Schmidt, begeisterter Sozialdemokrat, sorgte dafür, dass sie schon als Vierzehnjährige in der Königsberger Heimat Unterricht bei angesehenen Malern nehmen konnte. Mit zwanzig studierte sie in der ›Damenakademie des Vereins der Berliner Künstlerinnen‹. Die war 1867 von Männern ins Leben gerufen worden, als Frauen noch kein Recht auf Vereinsgründung besaßen und nur als Ehrenmitglieder teilnehmen durften. Während des Studiums an der Damenakademie hätte sie sich nicht träumen lassen, dass sie hier später einmal zu den Lehrenden gehören würde.

Der Weg führte weiter zum Studium nach München, als Käthe bereits verlobt war. Der Ring an ihrem Finger löste bei den Kommilitoninnen einen kleinen Skandal aus. Passte eine bürgerliche Ehe zu einer Laufbahn als Künstlerin? Die meisten Studentinnen landeten selbst nicht lange nach Studienabschluss in der traditionellen Rolle als Hausfrau und Mutter und legten den Pinsel für immer aus der Hand, weil der Ehemann seiner Frau den Alleingang untersagte. Doch mit ihrem Zukünftigen hatte Käthe Glück. Als engagierter Arzt und Kämpfer für die Menschenrechte wollte Karl Kollwitz nicht nur Reden schwingen, sondern denen helfen, die am meisten unter Hunger und Armut litten. Nach der Hochzeit im Jahre 1891 bezogen die Kollwitz’ eine Wohnung am Prenzlauer Berg, einem proletarischen Viertel Berlins. Sie leben dort im vierten Stock eines Mietshauses in der Weißenburger Straße, wo Kollwitz auch seine Praxis hat. Täglich suchen ihn unterernährte, anämische Leute aus dem ›Miljöh‹ auf; er muss Tuberkulose diagnostizieren, seine Patienten haben kein Geld für eine Kur in Davos oder Bad Nauheim. Den meisten kann er nicht helfen, die Arznei, die er verschreiben kann, ist ein Tropfen auf den heißen Stein; chronisch Kranke gehen gebeugt zurück in lausige Wohnungen, in Mietskasernen, wo sechsköpfige Familien in dusteren Hinterhofzimmern hausen. Abgearbeitete Frauen fahren hinaus ins Umland, in der Hoffnung, auf den Feldern Kartoffeln und Rüben zu finden, weil sie sich Brot und Wurst nicht leisten können. Ein Einarmiger schiebt seinen Leierkasten durch die Straßen am Prenzlauer Berg und hofft auf ein paar Münzen. Kollwitz weiß, »wie elend und traurig es mit Deutschland steht.« Diese Menschen sind es, die Käthe Kollwitz zu ihren Bildern inspirieren.

Immer ist es ein absoluter Szenenwechsel, wenn sie vom Proletarierquartier Prenzlauer Berg zur Arbeit geht, quer durch die Stadt nach Westen. Das Atelier liegt im Hansaviertel, in einem als Atelierhaus errichteten großen Backsteinbau, Siegmunds Hof 11 am Ufer der Spree. Hier wirkt Käthe Kollwitz Tag für Tag an der Staffelei, und manchmal packt sie das schlechte Gewissen, sie hat allein zum Zeichnen mehr Platz als eine Arbeiterfamilie in einer Mietskaserne. Das Atelier ist gut belichtet und groß genug, um auch der Bildhauerei nachzugehen, die sie seit einer Paris-Reise und einem Besuch beim berühmten Auguste Rodin im Jahre 1904 schätzen gelernt hat. Käthe Kollwitz war bezaubert von Paris, oft denkt sie an die Zeit dort zurück.

Im Hansaviertel ist Käthe Kollwitz in Gesellschaft vieler anderer Kunstschaffender, auch weitere Frauen arbeiten hier, etwa die Bildhauerin Hedwig Wittekind. »Ging zur Wittekind hinauf«, notiert Käthe Kollwitz. »Zeigte mir ihre Arbeiten […]. Vielleicht gehört sie zu den wenigen jungen Frauen, die wirklich allein für sich leben können. Ich meine nicht ohne Männer, aber so, dass sie nicht ihr Zentrum in den Männern haben. […] Hedwig Wittekind bringt es vielleicht fertig frei zu bleiben, Künstlerin, niemand brauchend, Bohemienne durch Anlage.«

Käthe Kollwitz quält sich. Selbstzweifel nagen an ihr. Am 16. Februar 1919 vertraut sie ihrem Tagebuch an: »Mir geht es schlecht mit der Arbeit. Bin nervös nervös. Mir zerrinnt die Arbeitskraft und Intuition noch im Beginn der Arbeit. Wie einem Mann, dem die Kraft abgeht vor der Befruchtung.«


»Meine Herren und Damen!«, so schallt es am 19. Februar 1919 durch den Saal des Weimarer Schauspielhauses, wo erstmals die neue verfassungsgebende deutsche Nationalversammlung tagt. Diese völlig ungewohnte Ansprache sorgt kaum weniger als respektlose Dada-Lyrik für Unruhe und Heiterkeit, und zwar in den Reihen der Herren Abgeordneten. Allerdings mag den meisten von ihnen auch das Lachen im Halse stecken bleiben. Das Selbstbewusstsein, das die Frauen neuerdings an den Tag legen, mutet schon etwas bedrohlich an. Am Rednerpult steht die Sozialdemokratin Marie Juchacz, eine herbe Erscheinung mit ausdrucksvollem geradegezogenen Mund, und ergreift das Wort.

»Es ist das erste Mal«, stellt sie coram publico fest, »dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf, und ich möchte hier feststellen, und zwar ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.« Das Ende der politischen Entmündigung der weiblichen Hälfte der Gesellschaft sei schon lange überfällig gewesen: »Ich möchte hier feststellen – und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, dass wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten worden ist.«

Als Marie Juchacz mit solchen Worten in Weimar zu hören ist, steht sie kurz vor ihrem vierzigsten Geburtstag. Dass sie stets für Frauenrechte gekämpft hat, hat sich gelohnt, das weiß sie spätestens jetzt. Geboren am 15. März 1879 als Marie Gohlke, Tochter eines einfachen Zimmermanns aus Landsberg an der Warthe, die bloß die Volksschule besuchen konnte, sah die Zukunft für sie nicht besonders rosig aus. Mädchen wie sie fristeten ihr Dasein gewöhnlich als Dienstmagd oder Fabrikarbeiterin, oder sie wurden so gut wie möglich verheiratet und litten unter einem despotischen Gatten. Marie Juchacz begriff beizeiten, dass nur sie selbst an dieser wenig verlockenden Perspektive als Kellerkind etwas ändern konnte. 1906 hatte sie tatsächlich geheiratet, einen Schneidermeister namens Bernhard Juchacz, den sie bei der Lehre kennengelernt hatte, doch die kurze Ehe verlief unglücklich. Was ihr daraus blieb, waren der Nachname und die gemeinsamen Kinder Lotte und Paul. Die zählten erst drei und ein Jahr, als Marie Juchacz die Entscheidung traf, ihren Weg als alleinerziehende Mutter weiter zu beschreiten. »Wir gingen ohne Illusionen. Wir wussten, dass es schwer sein würde«, erinnert sie sich.

Mit ihrer geliebten Schwester Elisabeth Kirschmann-Röhl, selbst Mutter dreier Kinder, die sich ebenfalls von ihrem Mann getrennt hatte und Maries engste Verbündete und Vertraute war, übersiedelte sie nach der Trennung nach Berlin. Beide Frauen erzogen ihre Kinder gemeinsam und engagierten sich neben ihrer Erwerbsarbeit als Schneiderinnen in den Frauenarbeitervereinen der SPD. Bald reisten die Schwestern als gefragte Rednerinnen durchs Land. 1908 trat Marie Juchacz in die SPD ein und war zwischen 1913 und 1917 als Frauensekretärin im SPD-Bezirk Obere Rheinprovinz in Köln tätig. Dort warb sie unter den Arbeitern für die Partei. Während des Krieges betreute sie als Mitarbeiterin der Heimarbeitszentrale und Mitglied der Lebensmittelkommission Not leidende Menschen, kümmerte sich um Witwen und Waisen, sorgte dafür, dass Arbeiterkinder auch mal an die frische Luft kamen, gab Kochkurse und Ratschläge für eine gesunde Ernährung. Spenden aus bürgerlichen Wohlfahrtsverbänden kamen gelegen, doch Marie Juchacz wollte sich nicht ausschließlich auf soziale Hilfe durch die oberen Zehntausend verlassen: »Der Reiche oder Wohlhabende gibt den Armen. Er, der Gebende, steht höher und kommt sich ganz unwillkürlich als der bessere Mensch vor.« Nachhaltige Abhilfe ließe sich nur schaffen, wenn auch die unteren Schichten ein Standesbewusstsein entwickelten und eine Organisation zur Selbsthilfe ins Leben riefen. Die Bedürftigen mussten unabhängig werden von milden Gaben, die nur dann von oben regneten, wenn ein Gönner zur Stelle war. Im Schoße der Sozialdemokratie, so Marie Juchacz’ Grundidee, muss eine eigene Fürsorgeorganisation entstehen, von Menschen, die aus eigener leidvoller Erfahrung wissen, wie existenzielle Not sich anfühlt. So wie sie selbst: Auch Marie Juchacz hatte in ihrer Landsberger Zeit noch als Hausangestellte, Fabrikarbeiterin, Krankenwärterin in einer Nervenheilanstalt und als Näherin geschuftet, sogar mit einer Lungenentzündung hatte sie sich wegen unzureichender Krankenversicherung zur Arbeit geschleppt.

Seit 1917 lebt Marie Juchacz nun dauerhaft in Berlin, sie hat die Nachfolge Clara Zetkins als Leiterin des Frauenbüros angetreten und die Redaktion der Gleichheit – Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen übernommen. Mit Frauen unterschiedlicher politischer Couleur hat sie im Oktober 1918 ein Schreiben an den Reichskanzler unterzeichnet, in dem die gesetzliche Gleichberechtigung der Geschlechter verlangt wurde. Und jetzt, ein gutes Vierteljahr später, sitzt sie selbst in der Nationalversammlung. Sie kann es kaum glauben, aber als sie mit ihrer Rede fertig ist, brandet lauter Applaus auf. Unter den Frauen in der Weimarer Nationalversammlung sind auch die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer sowie Marie Juchacz’ Schwester, die sich vorgenommen hat, vor allem für die Gleichstellung unehelicher Mütter und Kinder zu kämpfen. Sie schauen sich wie erlöst an, denn sie haben etwas erreicht, nicht nur für ihr eigenes Leben, sondern für alle Frauen.

Währenddessen sucht ein Taucher im Landwehrkanal nach dem Leichnam Rosa Luxemburgs. Er fördert allerhand Treibgut zutage und, oh ja, auch einige Wasserleichen. Doch die Gesuchte ist immer noch nicht gefunden.


Am 21. Februar blickt alles beunruhigt nach München. Schon wieder überschattet ein politischer Mord den labilen Frieden, diesmal im Süden des Landes. Kurt Eisner, Anführer der Novemberrevolution 1918 in Bayern und nach dem Sturz der Monarchie Ministerpräsident der provisorischen Regierung eines neuen Freistaats, ist am heutigen Vormittag einem Attentat zum Opfer gefallen. Als Attentäter wurde bereits ein völkisch gesinnter Student adliger Herkunft ausgemacht, Graf von Arco, offenbar auch glühender Antisemit. In der Weimarer Nationalversammlung wird Eisners gedacht, bevor man zur Tagesordnung übergeht und Marie Juchacz und ihre Schwester Sorge über die immer noch instabile politische Lage äußern: Wir müssen alles dransetzen, um die sozialistischen Kräfte zu stärken, sagen sie, denn wenn Tyrannen herrschen, machen sie auch die Freiheiten für uns Frauen wieder zunichte.

Weil nicht nur in Berlin, sondern auch in München wieder Aufstände drohen, greift die Polizei hart durch, wo sie neue Unruheherde vermutet. Thomas Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim schreibt nach der Ermordung Eisners aus München an ihren Freund, den Schriftsteller Maximilian Harden: »[W]ir sind ein verlorenes Volk. Hässlich, hässlich ist alles, one [sic] Größe, one Schwung, einfach hundsgemein und hässlich und hoffnungslos. Der Alltag geht ruhig weiter, die Lebensmittel werden knapper, Theater und Konzerte ausverkauft, Niddy Impekoven, ›die 14-järige [sic] Tänzerin‹ über-überausverkauft, die sonstige Tanzwut durch den Belagerungszustand, der uns schon 3 Wochen beglückt, polizeilich unterdrückt.«

Anita Augspurg will Tyrannei und polizeilicher Willkür mit konkret politischer Arbeit entgegentreten. Sie denkt pragmatisch, begrüßt das militante Vorgehen ihrer englischen Schwestern im Geiste, den Suffragetten. Von November 1918 bis Februar 1919 ist sie eine von acht Frauen im vorläufigen Nationalrat in Bayern sowie Vertreterin des Vereins für Frauenstimmrecht. Augspurg, Jahrgang 1857, geht bereits auf die Sechzig zu, ihr politisches Selbstbewusstsein hat sie sich auf einem langen Weg erarbeitet. Zwar stammt sie nicht aus armen Verhältnissen wie Marie Juchacz, sondern aus gutbürgerlichem Elternhaus im niedersächsischen Verden an der Aller, Fabrikarbeit stand nicht zur Debatte, doch der vorgezeichnete Weg einer höheren Tochter erschien ihr monoton, an eine bürgerliche Ehe dachte Anita Augspurg nicht im Traum. Die Heranwachsende ging dem Vater in seiner Anwaltskanzlei als Assistentin zur Hand und fand dort Gefallen an der Idee, einen Beruf zu ergreifen. Als Zwanzigjährige zog sie nach Berlin, studierte fürs Lehramt an der Höheren Mädchenschule, ließ sich zur Turnlehrerin ausbilden, nahm nebenbei Schauspielunterricht. Dank einer kleinen Erbschaft konnte sie sich der ›brotlosen Kunst‹ zuwenden: 1881 gehörte sie als Elevin zum Ensemble des renommierten Hoftheaters im thüringischen Meiningen und gewann dadurch gehörige Sicherheit im öffentlichen Auftreten. Für fünf Jahre tingelte sie mit einer Theatertruppe durch die Lande, spielte auf immer anderen Bühnen, in Augsburg, in Amsterdam. Großartig, dass sie als Goethe-Verehrerin in Gutzkows Lustspiel Der Königsleutnant den Dichterfürsten als jungen Mann darstellen durfte, Hosenrollen lagen ihr.

Die Gagen waren nicht üppig, als das geerbte Geld zur Neige ging, musste Anita Augspurg sich etwas Neues einfallen lassen und schlug unbeschrittene Wege ein, die sie 1887 nach München führten. »In der freien Luft Süddeutschlands« konnte sie durchatmen, »die letzten Eierschalen des konventionellen Lebens« lösten sich seit dem Umzug von ihr, und sie schlüpfte hinein in ein neues Dasein. Seit den 1880er-Jahren galt die anheimelnde bayerische Residenzstadt als ›Kunstzentrale des ganzen deutschen Reiches‹, hier in München herrschte ein Klima, das Künstlern förderlich war, anders als der dem Historismus verschriebene Kaiser in Berlin war das bayerische Königshaus überraschend aufgeschlossen gegenüber modernen Kunstströmungen. Fritz von Uhde, Franz von Stuck oder der als Malerfürst geadelte Franz von Lenbach wirkten hier, auch Alfred Kubin und Lovis Corinth lebten eine Zeit lang in München, um die freie Luft an der Isar zu schnuppern. 1888 fand im Münchner Königlichen Glaspalast die ›Dritte internationale Kunstausstellung‹ statt, wo ein breiter Querschnitt der zeitgenössischen Kunst zu sehen war. In München konnte auch der Jugendstil seine Blüte entfalten und anmutige Geschöpfe androgyner Natur hervorbringen, so wie auf Peter Behrens’ Farbholzschnitt Der Kuss.

Wenn Anita Augspurg und ihre Freundin, die Niederländerin Sophia Goudstikker, gewandet in Reformkleidern, das Haar streichholzkurz geschnitten, auf dem Fahrrad oder hoch zu Ross im Herrensitz im Englischen Garten unterwegs waren, machten sie keinen Hehl daraus, dass sie weit mehr verband als nur Freundschaft. Anita und Sophia waren ein Paar, das sich offen zu seiner gleichgeschlechtlichen Liebe bekannte. Die Freundinnen verband auch das Interesse für ein damals noch relativ neuartiges Medium, die Fotografie. Sie brachten sich in München den Umgang mit der Kamera bei und gründeten 1887 ein eigenes Fotostudio in der vornehmen Kaulbachstraße, das Hofatelier Elvira. Bald ging Münchner Prominenz hier ein und aus, Mitglieder der bayerischen Königsfamilie posierten für Porträts. Nach zehn erfolgreichen Jahren zogen die beiden Unternehmerinnen in einen Neubau in der nahen Von-der-Tann-Straße um. Architekt August Endell schmückte die bunt dekorierte Fassade mit einem Drachenornament als Markenzeichen, und das exzentrische Haus wurde ebenso wie seine beiden Bewohnerinnen zum Stadtgespräch.

Bald nach dem Umzug des Ateliers ins neue Gebäude trennten sich die Freundinnen jedoch, Sophia blieb in München, mehrte den Ruhm des Fotoateliers und hinterließ der Welt zu Ikonen gewordene Porträts von Lou Andreas-Salomé, Helene Lange, Ricarda Huch oder Heinrich und Thomas Mann. Anita Augspurg stand inzwischen klar vor Augen, dass sie nicht länger repräsentative Bilder der wohlhabenden Prominenz auf Fotopapier bannen wollte. In einer Atmosphäre, wo sich allerorten Frauen zusammentaten, um für ihre Rechte zu kämpfen, wollte auch sie etwas bewegen. Beste Voraussetzung für politisches Engagement war eine solide Grundlage, was könnte da nützlicher sein als ein Jurastudium? Schon während der Arbeit im Verdener Anwaltsbüro des Vaters hatte Augspurg wohl begriffen, dass nur Paragrafen, schwarz auf weiß im Gesetzbuch verankert, ein echter Garant für Gleichberechtigung sein konnten.

1893 ging Anita Augspurg nach Zürich. Unter den Frauen im Hörsaal der juristischen Fakultät der Universität war damals auch Rosa Luxemburg. Sehr wahrscheinlich ist, dass sich die Kommilitoninnen Anita und Rosa persönlich begegnet sind. Fest steht, dass beide Frauen zu den Mitbegründerinnen des ›Internationalen Studentinnenvereins‹ gehörten. Gesprächsthemen hätten sie jedenfalls genug gehabt, etwa, wie wichtig ein aufgeklärtes Elternhaus mit einem Familienoberhaupt ist, welches der Tochter keine Steine in den Weg legt. Wie Luxemburgs Vater war auch Augspurg senior ein freiheitsliebender Geist und politisch engagiert, während der Märzrevolution von 1848 hatte er in Festungshaft gesessen. Der Tochter eines solchen Mannes liegt politisches Handeln geradezu im Blut. 1897 und nur wenige Monate vor Rosa Luxemburg schloss Anita Augspurg ihr Studium mit einer Doktorarbeit ab, über Die Entstehung und Praxis der Volksvertretung in England. Damit war Augspurg die erste promovierte Juristin des Deutschen Kaiserreichs.

1896, auf dem ›Internationalen Frauenkongress‹ in Berlin, beeindruckte Anita Augspurg eine andere glühende Frauenrechtlerin, Lida Gustava Heymann. »Die ersten Worte, die ich von Anita Augspurg vernahm, lauteten ›Wo ist das Recht der Frau?‹ […]. Am Rednerpult stand ein Mensch in an griechische Art erinnerndem Gewände [sic] aus braunem Sammet. Schon ergrauendes kurzes Haar umrahmte eine hohe Stirn, unter der zwei klare Augen blitzten.« Fortan setzen sich die beiden Frauen gemeinsam für die Legalität von Prostitution und das Recht auf Abtreibung ein. Sie fochten die Grundlagen des Bürgerlichen Gesetzbuchs an, die für Frauen ganz und gar nicht akzeptabel seien, weil diese durch eine Hochzeit in den Status Minderjähriger versetzt wurden. Sie brachten Petitionen zum neuen Ehe- und Familienrecht ein, und die Herren Abgeordneten machten sich lustig über die vermessenen Änderungsforderungen. Hohe Wellen schlug 1905 Anita Augspurgs offener Brief, worin sie alle Frauen zum Boykott der Ehe unter dem geltenden patriarchalen Eherecht aufrief und die freie Ehe für alle propagierte.

Während des Krieges war Anita Augspurg wegen pazifistischer Umtriebe das Rederecht entzogen worden. Kein Wunder, sie war 1915 Mitinitiatorin der ›Internationalen Frauenfriedenskonferenz‹ in Den Haag und der ›Internationalen Frauenliga für Frieden und Freiheit‹ und gründete als solche Frauenausschüsse, die für dauernden Frieden eintraten. So viel pazifistisches Engagement mitten im Krieg wurde sogar dem ›Bund deutscher Frauenvereine‹ unheimlich, und Augspurg wurde kurzerhand aus der Vereinigung ausgeschlossen.

Aber jetzt erst recht! 1919 beginnt Anita Augspurg mit der Herausgabe einer Monatsschrift, die im Namen des radikalen Flügels der Frauenbewegung den emanzipatorischen Fortschritt befeuert, Die Frau im Staat. Darin kann sie endlich ungestraft offen pazifistische Positionen formulieren: »In geometrischer Progression haben sich die politischen Morde gehäuft. Immer sind es dieselben Methoden. Erst wird eine beispiellose Hetze durch Wort und Schrift gegen bestimmte unbequeme Personen eingeleitet, und dann finden sich, wie von ohngefähr Unverantwortliche, die auf irgend einen höheren Befehl den Mordstahl führen.« Die Autorin des Artikels heißt Anilid – Anita und Lida in einem einzigen Kunstnamen verschmolzen. Ganz oben auf der Liste der Macherinnen von Frau im Staat, dem Blatt, für das Käthe Kollwitz Illustrationen beisteuert, steht die Aussöhnung der erbitterten ›Erzfeinde‹ Deutschland und Frankreich: Nur auf diesen beiden tragenden Säulen kann die Architektur eines friedlichen Europa gelingen.

Keine Frage, dass Anita Augspurg und Lida Gustava Heymann im Januar 1919 auch die ›Erklärung in Sachen Liebknecht-Luxemburg‹ unterschreiben, wozu die ›Liga zur Förderung der Humanität‹ über tausend einflussreiche Persönlichkeiten aufgefordert hat. Die Unterzeichnenden erheben Widerspruch gegen den Ungeist brutaler Gewalt, der in allen Schichten Berlins um sich greift. Das sind Hunderte KPD-nahe Politiker, Wissenschaftler und Künstler, darunter der Arzt Magnus Hirschfeld, Maximilian Harden, Walther Rathenau, Albert Einstein, Minna Cauer und Käthe Kollwitz. Warum, stellen sie in diesem Pamphlet unisono die Frage, hat die SPD die Ermordung der beiden prominenten Spartakisten sehenden Auges nicht zu verhindern gewusst?

1919 - Das Jahr der Frauen

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