Читать книгу Quentin, der Abenteurer - Undino Woitrowitz - Страница 7
ОглавлениеFebruar.
Rettung in letzter Sekunde
Dieser Tag sollte Quentins Leben tief aufwühlen. Etwas höchst Seltsames würde mit ihm geschehen. Dabei war Quentin ein ganz gewöhnlicher Junge. Das dachten zumindest alle. Seit einem halben Jahr ging er zur Schule, und jener Tag, ein Freitag, begann so wie üblich. Am Frühstückstisch blickte Quentin gedankenverloren auf sein angebissenes Honigbrot vor ihm auf dem Teller.
„Beim Frühstück das Essen nicht vergessen, mein Freund“, drängelte der Vater und schaute auf die Wanduhr. „Du musst gleich los.“
Seine Mutter neigte sich besorgt zu ihm. „Ist dir nicht gut?“
„Ich hab Kopfschmerzen“, grinste Quentin. „Weil da so viele Ideen drin sind.“
„Prfrfrfrt!“ Nina, seine ältere Schwester, verschluckte sich an ihrem Müsli und prustete so heftig, dass sie zwei Rosinen über den Tisch spuckte. „Das ist wohl eher das Stroh in deinem Kopf, das piekt, Kleiner.“
„Selber Stroh im Kopf! Und ich bin nicht klein!“, polterte Quentin und warf ihr eine Rosine zurück an die Stirn.
„Na!“, herrschte der Vater die beiden an. „Lasst das sein.“ Dann wandte er sich lächelnd zu seinem Sohn: „Also, vielleicht musst du mal ein paar von deinen Ideen aus dem Kopf rauslassen.“
Quentin war begeistert. „Au ja! Hilfst du mir dabei?“
„Hm, ja, schon“, druckste sein Vater herum. „Wenn ich Zeit habe.“
Sanft mahnend fügte die Mutter hinzu: „Aber keinen Unsinn anstellen!“
Gelangweilt ließ sich Quentin in seinen Stuhl zurückfallen und biss in sein Brot. „Na gut.“
Nach der Schule ging Quentin nach draußen. Neben der Pferdewiese vom Bauern Pesch führte ein Feldweg zum Waldrand. Dort stand ein großer, uralter Lindenbaum. Quentin zerrte einen versteckten Holzbalken aus dem Gebüsch und lehnte ihn an den Stamm. Auf dicken Knubbeln an der Borke und knorrigen Ästen kletterte Quentin rasch und sicher in die Höhe. Sieben Tritte brauchte er, und so viele Jahre war er alt. Im vorigen Herbst hatte er sich mit Stricken ein paar Bretter über zwei starke, fast waagerechte Äste gebunden. Genau drei Meter und zwölf Zentimeter über der Erde. Ausgemessen hatte er das mit Maßbändern aus dem Nähkasten seiner Mutter, aneinandergetackert.
Hier ging er gerne hin, wenn er wütend oder traurig war. Oder wenn er Langeweile hatte. Er setzte sich auf die Bretter und lehnte sich gegen den Stamm. Über die Wiese hinweg konnte er das Reihenhaus sehen, wo er wohnte.
Quentin war immer noch stinksauer auf seine Schwester. Sie wusste, dass er sich furchtbar ärgerte, wenn jemand „Kleiner“ zu ihm sagte. Dabei durfte er doch jetzt schon allein zur Schule laufen. „Ich schnitz eine Spinne“, grummelte Quentin und hackte mit seinem Taschenmesser in ein Holzstück. „Die kriegt eine Frisur aus Tannennadeln, ich mal sie schwarz an und leg sie Nina unters Kopfkissen.“ Nina ekelte sich vor Spinnen, Quentin überhaupt nicht.
„Heda.“
Quentin hörte auf zu schnitzen. Hatte da gerade eine dumpfe Stimme „heda“ gerufen?
„Heda, Bursche.“
Er schaute nach unten, nach oben, nach links und rechts. Aber er konnte niemanden sehen und wunderte sich sehr. „Wer spricht da?“
„Meine Wenigkeit, der Baum.“
Quentin lachte schräg, so wie jemand, der einen bekloppten Witz gehört hat. Noch einmal guckte er in alle Richtungen. Es war niemand da. „Was ist das denn jetzt für ein Quatsch? Bäume können nicht sprechen.“
„Für gewöhnlich sprech ich nicht. Üblich ist: Ich hör nur zu“, erklärte die dumpfe Stimme. „Und nur wen‘ge Leut’ verstehen mich.“
„Hier will mich doch einer reinlegen!“ Verärgert wollte Quentin herunterklettern.
„Nein, so bleib doch. Ich muss dir was erzählen.“
Quentin setzte sich wieder. „Was denn?“
Traurig sprach die Stimme: „Morgen soll der Tod mich holen.“
Quentin erschrak. „Wieso?“
„Fällen will mich der Bauer Pesch. Er braucht mein Holz für seinen Kamin.“
Nun zuckte Quentin zusammen. „Waaas? Das ist ja furchtbar!“ Wo sollte er denn dann sitzen und schnitzen? Er kannte den Bauern Pesch ein wenig. Ein komischer Mann, vor dem er manchmal Angst hatte. Mal war der Bauer nett und hatte ihm gezeigt, wie er die Kühe melkt. Dann aber hatte Quentin auf der Pferdewiese des Bauern gespielt, und er kam wütend angelaufen und schrie, Quentin solle verschwinden.
„Willst du mir helfen in dieser Not?“, fragte die Stimme eindringlich.
„Wie denn?“
„Zum alten Walter solltest du gehen. Ihm fällt bestimmt ein Ausweg ein.“
„Wer ist der alte Walter?“, fragte Quentin zurück.
„Ein Freund des Baums. Er wohnt im nächsten Dorf nach Norden. In einem roten Haus mit gelber Tür und weißen Fenstern.“
„Das ist ja völliger Blödsinn.“ Quentin schüttelte den Kopf. „Wie willst du als Baum wissen, wie ein Haus im nächsten Dorf aussieht? Erzähl mir jetzt noch, dass du in der Nacht herumläufst und dir die Gegend anguckst.“
„Nein, gewiss nicht“, meinte die Stimme ungerührt. „Der alte Walter war mal hier, beschrieb ‘nem anderen Kerl sein Haus.“ Eine Weile war es still. Dann flehte die Stimme: „Bitte, geh zu ihm. Und dräng ihn, mir zu helfen.“
Quentin atmete tief durch. „Also gut. Ich helfe dir.“ Er kletterte vom Baum. Als er unten war, schaute er noch einmal in alle Richtungen, ob da nicht doch irgendjemand war. Doch er war allein. „Bis später“, flüsterte er verwirrt.
Quentin rannte, so schnell er konnte. Er glaubte nicht, was er gerade erlebt hatte. Schlief er, träumte er? Er zwickte sich so oft in den linken Arm, dass er schon blaue Flecken dort hatte. Aber er war hellwach. Über den Feldweg lief er nach Hause.
Erwartungsfroh schaute Quentin durch die halb geöffnete Tür ins Zimmer seines Vaters. „Papaaa …?“
Der Vater saß am Computer und blickte auf, als Quentin die Tür öffnete. „Hallo! Was gibt’s?“
„Papa, ich habe gehört, der Bauer Pesch will den alten Lindenbaum drüben am Wald fällen.“
„Und?“
„Das ist doof“, sagte Quentin traurig. „Ich klettere da so gerne drauf. Einige meiner besten Ideen hatte ich dort.“
Der Vater verzog das Gesicht. „Zum Beispiel wie neulich das komplette Badezimmerinventar mit Klopapier zu umwickeln? Und Ninas Turnschuhe mit Zahnpasta zu putzen?“
Quentin grinste. „Ja, das auch.“
„Naja, du wirst schon einen anderen Baum finden“, versuchte der Vater halbherzig, ihn zu trösten. „Das Grundstück gehört dem Bauern. Da kann man nichts machen.“
Quentin ließ nicht locker: „Aber neulich hast du doch mal gesagt, wenn etwas ein Naturschatz ist, oder so …“
„Ach so, Naturschutz“, brummte sein Vater und blickte schon wieder auf den Computerbildschirm. „Nee, der Baum steht dann wohl nicht unter Naturschutz.“
Von nebenan rief Quentins Mutter: „Ich hatte sowieso Angst, dass du da irgendwann runterfällst. Du solltest lieber mehr Flöte üben.“
Enttäuscht und mit hängendem Kopf schlurfte Quentin aus dem Zimmer. Und nun? Ein verlockender Trotz wallte in ihm auf. Die Bretter auf dem Baum waren sein Platz, und den wollte er verteidigen. „Ich fahre zu diesem alten Walter!“, entschied er für sich.
„Bin noch mal draußen!“, rief Quentin und zog die Haustür zu. „Ich such einen Freund zum Spielen!“
Zum Glück war das nächste Dorf Richtung Norden nahe. Und Quentin kannte einen Fahrradweg dorthin. Aber so weit weg war Quentin noch nie allein gefahren, und er durfte das auch nicht.
„Ein rotes Haus mit weißen Fenstern und einer gelben Tür“, murmelte er vor sich hin, als er den Weg entlangradelte. Aber als er das Dorf erreichte, war ihm alles fremd. Wo sollte er das Haus nur finden? Sollte er jemanden fragen? Angst beschlich ihn. „Au weia, wie konnte ich bloß einfach so allein hierhin fahren?“
An einer Bushaltestelle stand eine Frau mit einem Mädchen, das ungefähr so alt war wie Quentin. Beide waren als bunte Clowns verkleidet – sie wollten wohl zu einer Karnevalsfeier. „Die trau ich mich zu fragen“, dachte Quentin. Er fuhr mit seinem Rad direkt neben die Frau. „’tschuldigung, können Sie mir sagen, wo hier ein rotes Haus mit weißen Fenstern und einer gelben Tür ist?“
Die Frau lachte: „Na, das Haus ist ja genauso bunt wie wir!“ Dann überlegte sie. „Nein, so etwas habe ich hier noch nicht gesehen … Aber frag doch mal da drüben im Zeitschriftenladen. Der kennt sich bestimmt aus.“
Noch einmal nahm Quentin allen Mut zusammen. Er ging in den Laden und fragte nach dem Haus.
Der Zeitschriftenverkäufer schmunzelte. „Ah, willst du unseren Waldschrat besuchen?“ Er zeigte durchs Fenster zur anderen Straßenseite. „Fahr einfach den Weg dort drüben runter, dann kommt das Haus auf der linken Seite. Nummer 31 oder so.“
Quentin hatte keine Ahnung, was ein Waldschrat sein könnte. Aber es klang nicht so, als müsste er Angst davor haben.
Langsam radelte Quentin den Gehweg entlang und hielt nach den Hausnummern Ausschau. 15 … 17 … 19. Seine Beine wurden schwerer, und er zitterte vor Aufregung. 25 … 27 … 29 …
Da war es.
Ein mit warmem Dunkelrot angestrichenes Holzhaus mit zwei Stockwerken, einem Schrägdach aus dunkelgrauem Schiefer und weißen Fensterrahmen.
Quentin stellte sein Fahrrad ab und ging auf eine ockergelbe Haustür zu. Im Vorgarten grüßten ihn rechts und links fünf Gartenzwerge. Der erste Zwerg winkte ihm breit grinsend zu, der zweite machte einen Kussmund, der dritte stand stramm und hielt die Hand wie ein Soldat an die Stirn, der nächste verneigte sich tief. Der letzte Gartenzwerg stand abgewendet und hielt leicht gebeugt die Hände vor den Bauch, als würde er ins Gras pinkeln. Quentin musste kichern. Er fasste Mut.
An der Tür angekommen, suchte Quentin vergeblich eine Klingel. Er pochte dreimal zaghaft gegen die Tür. Nichts passierte. Noch einmal klopfte er, diesmal etwas fester. Was sollte er überhaupt sagen? Er kannte diesen Mann doch gar nicht. Und seine Eltern hatten ihn immer ermahnt, er soll sich bloß nicht mit Fremden einlassen. Quentins Herz pochte immer schneller. Gerade wollte er weglaufen. Da hörte er drinnen Schritte.
Die Tür öffnete sich. Ein großer alter Mann mit weißem Bart, grob kariertem Hemd und einem Cowboyhut auf dem Kopf stand vor ihm. „Guten Tag?“, grüßte der Mann verwundert mit einer tiefen, angenehmen Stimme und schaute zu Quentin hinunter.
„Guten Tag“, grüßte Quentin zurück und blickte den Mann an. „Bist du der alte Walter?“
Der Mann zog ein sehr erstauntes Gesicht. „Ja, ich heiße Walter. Wie heißt du denn? Was willst du denn?“
Quentin wusste nicht, was er antworten sollte. Sollte er etwa sagen, dass der Baum ihn angefleht hatte …? Nein. „Ich heiße Quentin“, presste er heraus und schluckte unruhig.
„Ja, und?“
Quentin steckte ein Kloß im Hals. Stockend begann er zu erzählen. „Ich … habe gehört, dass der alte Lindenbaum am Waldrand gefällt werden soll. Schon morgen! Der Bauer Pesch will das Holz für seinen Kamin.“
Walters Augen weiteten sich vor Entsetzen. „Nein! Dieser wunderbare alte Baum! Die besten Lindenblüten weit und breit … Wer sagt, dass der Baum morgen gefällt werden soll?“
Quentin druckste herum. „Ich hab … hab das gehört.“
„Und warum kommst du deswegen zu mir?“, fragte der alte Walter verständnislos. „Wir kennen uns doch gar nicht!“
„Na ja“, meinte Quentin, „jetzt kennen wir uns ja ein bisschen. Ich dachte, du könntest helfen.“
Walter versuchte weiter, mehr aus Quentin herauszubekommen. „Wo wohnst du eigentlich?“
„In der Piratensiedlung“, erwiderte Quentin.
„In der … bitte was?“, amüsierte sich Walter.
„Meine Eltern nennen es ‚Malersiedlung‘“, erklärte Quentin, „weil alle Straßen nach irgendwelchen toten Malern benannt sind. Aber ich kenne keine toten Maler, und vielleicht waren das alles irgendwelche Piraten.“
„Ach so.“ Walter nickte und schmunzelte. „Und da hast du für dich beschlossen, du wohnst in der Piratensiedlung.“
Quentin grinste. So allmählich mochte er den Walter. „Vielleicht steht der Baum unter Naturschutz und darf nicht gefällt werden?“
Walter murmelte: „Der Baum steht nicht unbedingt unter Naturschutz, aber die Idee ist gut …“ Eine Weile stand Walter stumm da. Er zog die Lippen nach vorne, die Augenbrauen nach unten und überlegte offensichtlich angestrengt. Dann begann er leicht mit dem Kopf zu nicken. „Hm. Ich glaube, ich habe eine Idee. Komm mal rein.“
Quentin zögerte. „Ich darf nicht zu fremden Leuten ins Haus, haben meine Eltern mir gesagt.“
Walter lächelte. „Erst kommst du zu mir, fragst mich, ob ich dir helfen kann … Aber du hast recht. Kinder sollen nicht in Häuser von fremden Leuten gehen. Warte mal, ich hol etwas.“
Walter lief durch eine wuchtige Holztür hinters Haus. Quentin wartete gespannt. Nach einer Weile schob Walter ein klappriges Fahrrad durch die Tür. Im Gepäckkorb zwängte sich ein großer Schuhkarton, dessen Deckel mit Löchern übersät war. Dazu noch eine Papiertüte mit der Aufschrift „Mais“. Oben auf dem Korb war ein seltsames Gerät festgeschnallt: eine Stange, etwa einen Meter lang, die an der einen Seite einen Griff hatte und an der anderen Seite ein Metallgewinde, das wie eine riesengroße Schraube aussah.
„Was ist das?“, wunderte sich Quentin.
„Ein Erdlochbohrer“, antwortete Walter, so als wäre es eine Geheimwaffe. „Lass uns zum Lindenbaum fahren.“
Er schwang sich auf den Sattel und fuhr los, Quentin hinterher.
Als Quentin wieder zu Hause war, erzählte er nichts von dem, was er erlebt hatte. Hätte Quentin berichtet, dass der Lindenbaum mit ihm gesprochen hatte, so hätten seine Eltern geschmunzelt und ihm nicht geglaubt. Seine Schwester hätte gebrüllt vor Lachen. Und dass er mit dem Fahrrad ins nächste Dorf zu einem fremden Mann gefahren war, berichtete Quentin erst recht nicht. Seine Eltern hätten furchtbar mit ihm geschimpft.
Eines wollte er allerdings gerne wissen. „Du, Papa, was ist denn ein Waldschrat?“
Der Vater saß an seinem Computer. „Oh, das Wort habe ich schon mal gehört. Mal im Internet schauen …“ Er tippte etwas in die Tastatur und las dann vor: „Schrat – eine Art von Naturgeistern … Können je nach Lebensraum auch als Waldschrat bezeichnet werden. Wie kommst du darauf?“
„Nur so“, antwortete Quentin und ging davon. Ein Geist? Da hatte sich der Mann im Zeitungsladen wohl einen Scherz erlaubt. Walter war ja ein Mensch aus Fleisch und Blut.
Abends im Bett konnte Quentin vor Aufregung kaum einschlafen. Er fühlte sich so staunend verzückt wie noch nie.
Beim Frühstück am nächsten Morgen schlang Quentin sein Honigbrot hinunter. Die Küchenuhr zeigte kurz vor acht. Sein Blick fiel auf das Grundgesetz des Rheinlands mit seinen elf Regeln, das in einem bunten Rahmen neben der Uhr an der Wand hing. Er starrte auf den Vers: „Es ist noch immer gut gegangen.“ Würde es wirklich gut gehen?
Quentin sprang auf und hetzte nach draußen. Er rannte den Feldweg entlang, als Walter von hinten mit dem Fahrrad heransauste und ihn einholte.
Der Bauer Pesch hatte die Wiese rund um den Lindenbaum mit rot-weiß gestreiftem Band abgesperrt. Mit einer Motorsäge in der Hand trottete der Bauer auf den Lindenbaum zu.
Walter war entsetzt: „Verdammt! Der ist ja schon da! Wir kommen zu spät!“ In voller Fahrt schwang er sich vom Sattel, ließ sein Fahrrad hinfallen und schrie: „Halt!“
Und auch Quentin, ganz verzweifelt: „Halt! Halt!“
Die beiden jagten auf den Bauern zu. Der drehte sich um. „Was soll das?“, brummte er verständnislos.
„Sie dürfen den Baum nicht fällen!“, rief Walter aufgebracht.
„Na klar darf ich den Baum fällen“, erwiderte der Bauer unwirsch. „Das hier ist mein Grundstück. Haut ab, ihr habt hier nichts zu suchen!“
Walter herrschte den Bauern weiter an. „Aufhören!“
Der Bauer aber drehte sich einfach um und zog rasch an einer Schnur an der Motorsäge. Die Säge heulte nur kurz auf. Noch einmal zerrte der Bauer an der Schnur. Diesmal kreischte die Säge laut auf und blieb an. Walter versuchte, sich in den Weg zu stellen, aber der Bauer drängte ihn ab.
Pesch ging auf den Baum zu. Gerade wollte er die Säge ansetzen, da griff von hinten ein Arm zur Säge und drückte den Schalter zum Ausstellen. Der Motor verstummte. Wütend drehte der Bauer sich um. „Was zum …!“, schrie er empört.
Direkt hinter ihm stand ein stämmig gebauter Polizist in Uniform. „Sie dürfen diesen Baum nicht fällen“, sagte er bestimmt.
Nun wurde der Bauer richtig laut. „Ich habe eine Genehmigung zum Fällen! Dieser Baum steht auf meinem Gelände, und ich darf mit ihm machen, was ich will!“
„Sie mögen eine Genehmigung haben, aber die gilt nicht mehr“, erwiderte der Polizist mit ruhiger, fester Stimme.
„Warum sollte die nicht mehr gelten?“, brüllte Pesch.
„Jetzt bleiben Sie mal ganz ruhig“, antwortete der Polizist ärgerlich. Dann zeigte er auf ein Loch im Boden, kaum sichtbar im Gras. „Schauen Sie mal da.“
„Na und?“, schrie der Bauer.
„Unter diesem Baum wohnen seltene Feldhamster“, erklärte der Polizist. „Die stehen unter strengem Naturschutz. Das wusste die Stadtverwaltung nicht, als sie Ihnen erlaubte, diesen Baum zu fällen. Wenn Sie ihn jetzt absägen, bekommen Sie eine Menge Ärger.“
Der Bauer stand wie vom Donner gerührt da. „Feld … hamster?“, stammelte er ungläubig.
In diesem Moment huschte ein Hamster, groß wie ein Meerschweinchen, aus dem Loch und verschwand einen halben Meter weiter in einem anderen Loch, das ganz nah am Baum unter einer Wurzel verborgen war. Alle schauten dem Tier nach.
„Feldhamster“, sprach der Polizist trocken.
Zischend und fauchend stampfte der Bauer Pesch davon und schüttelte dabei die Motorsäge vor Wut. „Das darf ja wohl nicht wahr sein! Feldhamster! Ich glaub, ich spinne!“
Quentin, Walter und der Polizist schauten ihm hinterher.
„Gut, dass ihr mir das mit den Hamstern gesagt habt“, lächelte der Polizist.
„Klar, sehr gerne!“, rief Quentin fröhlich. „Coole Aktion!“
Walter war sehr erleichtert: „Danke, dass du gekommen bist, Arnold! Gerade noch rechtzeitig.“
Der Polizist verabschiedete sich und ging zu seinem Polizeiauto, das auf dem Feldweg parkte. Er setzte sich hinein und fuhr davon.
Quentin und der alte Walter standen gerührt da. „Wie gut, dass du zu mir gekommen bist, Quentin“, meinte Walter nachdenklich. „Ich verstehe das zwar immer noch nicht, woher du wusstest, dass der Bauer heute den Baum fällen will, und warum du zu mir gekommen bist. Aber es war alles richtig.“
„Und wie gut, dass du Feldhamster züchtest!“
„Ich ziehe so einige seltene Tiere groß“, schmunzelte Walter. „Kann ich dir bei Gelegenheit mal zeigen.“
Quentin erinnerte sich an den vorigen Nachmittag. Mithilfe des Bohrers hatten Walter und er Löcher unter den Baum gegraben. Walter hatte noch Maiskörner als Futter hineingeworfen und dann die Hamster direkt in die Löcher ausgesetzt. Die Tiere hatten die neue Wohnung sofort angenommen und weitergebuddelt. Danach waren Quentin und Walter zur Polizeiwache gefahren. Dort hatte Walter mit Arnold gesprochen. Die beiden kannten sich offenbar gut. Alle hatten sich für den nächsten Morgen um 8 Uhr am Lindenbaum verabredet, um dann gemeinsam zum Bauern zu gehen.
Nun liefen Quentin und Walter zum Feldweg zurück. „Was machst du eigentlich mit Lindenblüten?“, wollte Quentin wissen.
„Badezusatz, Tee …“, erläuterte Walter. „Ich lade dich mal auf eine Tasse ein. Wenn es deine Eltern erlauben.“
„Sind wir jetzt Freunde?“
„Ja, ich denke, schon“, erwiderte Walter freundlich. „Auch wenn wir uns noch nicht so gut kennen. Aber das kann sich ja ändern.“
Plötzlich sprach hinter den beiden eine dumpfe Stimme: „Danke, ihr Leut‘.“ Quentin und Walter drehten sich um. Aber da stand nur der Baum.
Walter runzelte die Stirn. „Hat da gerade jemand was gesagt?“
„Ich … hab nichts gehört“, flunkerte Quentin. „Hier ist ja sonst niemand.“ Die beiden liefen ein paar Schritte weiter. Dann drehte sich Quentin zum Baum um und sagte auch: „Danke!“
Walter schaute Quentin verwundert an. „Warum hast du denn ‚danke‘ gesagt?“
„Weil ich mich gerade so fühle, als wäre ich seit gestern ein Jahr älter geworden.“