Читать книгу Das Multikat - Urs Rauscher - Страница 4

Der Auftrag

Оглавление

Alles begann an einem dunklen Herbstmorgen, in einem Herbst, der vorzeitig ergraut war. Der Oktober war noch nicht angebrochen, aber die eisernen Nebelschwaden hingen unbeweglich über den dunkelbraunen, mit Raureif überzogenen Feldern der süddeutschen Provinz. Gewöhnlich wäre ich zu dieser Jahreszeit zu einer solchen Uhrzeit überhaupt noch nicht aus dem Haus gewesen, aber ich hatte am Vorabend einen unerwarteten Anruf erhalten, und diesem folgte ich nun. Mein Beruf ließ es zu, dass ich solange schlief, bis ich ausgeschlafen war, was in meinem Alter nicht mehr allzu spät der Fall war. Dennoch ließ ich mir in der Regel Zeit, bis ich vor die Tür trat; meistens war es nicht vor Mittag. Ich war Schriftsteller, und die letzte Lesereise, bei der ich manchmal das Hotel vor zehn Uhr hatte verlassen müssen, um nicht für eine weitere Nacht zu bezahlen, war schon eine Weile her. Genau genommen hatte meine Frau das Telefonat entgegengenommen, und weil sie so zutraulich und liebevoll geklungen hatte, war ich davon ausgegangen, dass es sich um Verwandtschaft handelte, aber als sie mir dann den Hörer in die Hand drückte und mir mit funkelnden Augen ein schwärmerisches „Dein reicher Kunde“ ins Ohr flüsterte, bevor sie ins Nachbarzimmer entschwebte, war ich doch einigermaßen überrascht. „Steigbügel hier“, sagte eine sonore Männerstimme, der die Jahrzehnte des Gebrauchs anzuhören waren. Ich war perplex. Steigbügel? Ich wollte nachhaken, aber die Stimme ließ mich nicht zu Wort kommen: „Ich wollte wissen, ob sie über mein Angebot nachgedacht haben.“

Ich war nun noch verwirrter. „Angebot?“

„Mein Angebot. Das Unikat. Sie wissen schon.“

„Nein?“

„Ihre Frau hat es Ihnen überbracht.“

Ich wollte meine Frau nicht bloßstellen: „Ach so...Ja. Ich erinnere mich.“

„Und was denken sie darüber?“ Der ältere Mann hatte unüberhörbar Schnupfen.

„Tja...“

Ich wollte mich selbst ebenso wenig bloßstellen, in dem Fall, dass meine Vergesslichkeit oder der gestrige Bourbon Schuld an allem war. Ich versuchte also ein Ausweichmanöver: „Hm. Ja, das Angebot. Mir fehlen noch die Details.“

„Welche Details?“ Die Ungeduld war deutlich durchzuhören. „Ein Unikat ist ein Unikat. Dass ein Roman nicht weniger als zweihundert Seiten hat, brauche ich Ihnen ja nicht zu sagen.“

Ich atmete durch. „Nein, natürlich nicht. Ein Roman...“ Ich hörte das Hochziehen von Nasenschleim. „Ein Unikat. Ein Roman. Sie haben Recht, da braucht es keine Details.“

„Das will ich doch hoffen.“

„Es sei denn, der Roman hat einen Inhalt.“

„Der Inhalt wird im Groben so sein, wie ich es durch Ihre Frau habe überbringen lassen.“

„Natürlich. Ich erinnere mich. Ja, der Inhalt. Die Geschichte...“ Ich fühlte mich überrumpelt und im Stich gelassen.

„Und bei einer Million Euro gibt es auch keine Details. Netto, versteht sich.“

„Ja, eine Million ist eine Million.“ Ich versuchte ihm jetzt mehr zu entlocken: „Egal ob man sie in bar bezahlt oder auf ein Konto oder in Form eines Hauses. Ob in Raten oder als ganzen Betrag. Eine Million ist eine Million.“

„Ganz recht“; sagte die Stimme streng. „Auf Ihr Konto. Die Daten habe ich bereits. Fünfhunderttausend als Anzahlung und weitere fünfhundert bei Fertigstellung. Aber das sind nur Details.“

„Ja. Nur Details.“

„Dann kommen Sie also morgen?“ Es klang eher wie ein Befehl als wie eine Frage.

„Ja...Ja, ich komme morgen. Eine Million, wer kann denn da nein sagen?“, bemühte ich einen Scherz und lachte gekünstelt in die Hörmuschel.

Sie jedenfalls nicht“, sagte er bestimmt. „Ihre Frau hat ja fast schon zugesagt.“

„Äh. Ja, das hat sie. So gut wie. Und das vollkommen zu Recht.“ Ich verspürte Wut und absolute Wertschätzung für meine Frau zugleich. Eine Million. Steigbügel. Unikat. Roman. All das blies mir zugleich durch den Schädel, bis ich mir ein vages Bild machen konnte.

„Die Adresse haben Sie“, sagte die verkratzte, veraltete Stimme. „Die Uhrzeit auch. Auf Wiederhören.“ Er hatte aufgelegt.

Ich hoffte, dass meine Frau, Beate, nicht gehört hatte, dass mein Telefonat beendet war, aber dann vernahm ich etwas, das wie fahrende Panzer klang und vom Wohnzimmer in den Flur drang, und so wusste ich, dass sie fernsah. Also ging ich in die Küche, um mir einen Bourbon einzuschenken auf den Schock, den mir das Gespräch versetzt hatte. Ich wusste noch nicht, ob ich das, was ich erfahren hatte, als Lottogewinn oder als Todesnachricht bewerten sollte: Irgendein Millionär wollte, dass ich einen Roman schrieb, der Zusatz Unikat bedeutete, dass dieser Roman nur ihm gehören würde, dass er nicht veröffentlicht würde und niemand sonst jemals eine Zeile zu Gesicht bekäme – außer vielleicht seine Erben.

Der Bourbon brannte in meiner Kehle. Wärme stieg von unten aus meinem Bauch auf und erfasste meinen Kopf. Ich widerstand der Versuchung, ein zweites Glas einzuschenken und begab mich ins Wohnzimmer zu meiner Frau. Sie hörte mich nicht näherkommen. Als ich hinter ihr stand, sah ich, dass sie keine Weltkriegsdoku sah, sondern einen Bericht über die städtische Müllabfuhr von Bielefeld. Ich strich ihr durch ihre kurzen braunen Haare. Ich mochte keine kurzen Haare, und sie hatte sich ihre Mähne vor ein paar Jahren ganz kurz schneiden lassen, weil ihr ein Freund dazu geraten hatte. Meine Meinung war ihr damals wohl weniger wichtig gewesen. Wie noch heute. Ich stichelte gerne bei diesem Thema. So berührte ich einen der Stoppel mit den Fingerspitzen und sagte: „Mit langen Haaren wärst du fast so schön wie früher.“

„Wie reizend“, gab sie zurück und setzte einen Schmollmund auf, als sie sich zu mir umdrehte. „Wann fährst du?“

„Schön, dass du mich vor vollendete Tatsachen stellst.“ Ich versuchte, ihr böse zu sein. Was mir aber nicht gelang.

„Wann fährst du?“

„Morgen. Du hast also die Adresse?“

„Ja, wie ich gesagt habe.“

„Du hast mir gar nichts gesagt.“

Sie sah mich mit schief gelegtem Kopf an: „Schon wieder vergessen?“

„Du hast mir nichts gesagt. Wann denn? Gestern?“ Mich beschlich die Angst vor dem Verlust meiner Erinnerungsgabe.

„Ja, klar. Wir haben doch darüber geredet.“

„Nein. Bestimmt nicht.“

„Ist das etwa der Bourbon?“ Sie musste schmunzeln. „Du trinkst zu viel Bourbon.“

„Schwachsinn.“

„Komm mal her. Lass mich riechen.“

Ich verweigerte mich ihrem Alkoholriechtest.

Sie machte ein strenges Gesicht, dann hellte es sich jedoch wieder auf: „Jedenfalls ist es eine Riesenchance. Wie viel hast du für dein letztes Buch bekommen? Wie viele Exemplare hast du verkauft?“

Ich bedeutete ihr mit einem Abwinken, dass ich nicht darüber sprechen wollte.

„Auf jeden Fall hast du mit einem Buch noch nie eine Million verdient.“ Sie machte eine kurze Pause. „Du hast überhaupt noch keine Million verdient. Noch nicht einmal mit all deinen Büchern zusammen.“

„Nein“, sagte ich überschnell.

Sie schaute sich im Zimmer um „Wir könnten das Geld gut gebrauchen.“

„Deshalb fahr ich auch hin.“

„Ich bügele dir deinen Anzug.“ Sie sprang auf.

„Warte. Worum soll es in dem Buch gehen?“

Sie schaltete den Fernseher aus. „Das weiß ich doch nicht. Das geht mich auch nichts an.“

„Dieser Steigbügel meinte, er hätte es dir gesagt.“

„Nein. Er muss auch unter Gedächtnisverlust leiden“, meinte sie in einem Anflug von Spott.

„Woher wissen wir überhaupt“, ich kratzte mich an der Stirn. „Dass es sich dabei nicht um einen Betrüger handelt? Ich meine, Steigbügel, das hört sich nach einer Veräppelung an.“

Sie sah mich an wie einen Außerirdischen. „Du kennst Steigbügel nicht? Der berühmte Unternehmer. Schrauben, Muttern, Nägel und so...?“

„Aha. So berühmt kann der aber nicht sein.“

„Nur weil du ihn nicht kennst?“

„Woher kennst du ihn denn?“

„Ich kenne ihn nicht. Aber die Firma. Die Firma kennt man doch. Die Werbung im Fernsehen. Und dann das, was in der Zeitung steht: Steigebügel-Stiftung. Steigbügel Kunstsammlung. Steigbügel-Spedition. Der war doch auch mal ganz groß in den Nachrichten, weil er mehr Steuern gezahlt hat, als er eigentlich sollte. Sie haben ihm dafür einen Verdienstorden des Bundes verliehen. Aber er selbst lebt eher zurückgezogen. Aber die Adresse, die er mir gegeben hat, stimmt mit dem überein, was ich im Internet gefunden habe.“

Ich schaute kaum Fernsehen. Zeitung las ich auch nicht. Ich glaubte meiner Frau, auch wenn ich einschränkte: „Das kann immer noch ein Betrüger sein. Genau genommen, ist das so sogar noch wahrscheinlicher.“

„Ach was. Der hat sehr echt geklungen.“

„Na dann“, murmelte ich leise vor mich hin. Ich hatte ohnehin keine Wahl. Meine Frau würde mir sonst ewig Vorwürfe machen. Erst recht, wenn mein kommendes Buch ein Flop würde. Außerdem war ich selbst gespannt. Und gierig. Ja, ich konnte eine Million ebenso gut gebrauchen wie Beate. Sollte es sich um einen Betrüger handeln, so hätte ich immerhin wieder Stoff für einen Roman. „Wo lebt der Typ denn?“

„Der Typ lebt in Bayern. Irgendwo in der Provinz. Muss selber nochmal nachschauen. Ich gebe dir die Adresse nachher. Jetzt gehe ich aber wirklich bügeln.“ Sie stieß sich vom Sofa ab, an dessen Rücken gelehnt sie gestanden hatte, und drückte mir einen Kuss auf den Mund. „Uaa. Bourbon“, zischte sie milde abfällig.

Ich liebte diese kleine Frau mit der Stupsnase und den Sommersprossen. Gewissermaßen liebte ich auch ihre Sticheleien. Wir waren Mitte vierzig und seit fast zwanzig Jahren ein Paar. Kinder hatten wir keine, wir hatten nie welche gewollt. Meine Frau war Übersetzerin und sehr gut beschäftigt. Wie ich hatte sie schon ein paar kleinere Preise gewonnen, einmal aber auch den renommiertesten Literaturübersetzerpreis überhaupt. Für die Preisverleihung war sie eigens mit mir nach Frankfurt zur Buchmesse gereist. Dort hatte sie sogar ein Zeitungsinterview mit Photographen gegeben. Danach hielt sie den Kopf immer etwas höher als vorher.

Nach einem weiteren Glas Bourbon lag ich im Bett. Beate saß noch im Wohnzimmer und sah sich einen Film an. Ich hatte eine Weile im langweiligen und nichtssagenden Buch eines befreundeten Schriftstellers gelesen, dann aber die Nachttischlampe ausgemacht. Ich war zu müde, um wach zu sein, aber zu aufgeregt, um wirklich zu schlafen. So malte ich mir aus, was mich erwarten würde: Das Anwesen. Der Unternehmer. Der Vertrag. Es sah so aus, als würde etwas Bewegung in mein eingeschlafenes Kunsthandwerkerleben kommen.

In der Nacht träumte ich einen kruden und beklemmenden Traum: Ich war mit meiner Frau und meinem besten Freund in einem Cabriolet unterwegs. Es war Sommer und wir kreuzten durch die die Stadt. Wir suchten in einer Art Einbahnstraße nach irgendeinem Geschäft, doch je klarer wir uns darüber wurden, dass wir in die falsche Richtung fuhren, desto weiter fuhren wir in diese falsche Richtung, weil mit jedem zusätzlichen Kilometer die Wahrscheinlichkeit des Auftauchens eines Ausgangs stieg. Irgendwann drückte mein bester Freund immer stärker aufs Gas, so dass ich immer mehr Angst bekam, wir würden bald mit einem anderen Fahrzeug zusammenstoßen, gegen eine Wand prallen oder von der Polizei gestoppt und festgenommen werden. Ich brüllte, aber niemand schien mich hören zu können. An Aussteigen war auch nicht zu denken. Seltsamerweise blieb meine Frau ganz ruhig und mein Freund spielte meine Bedenken herunter. Als wir aus einer Kurve flogen, wachte ich auf.

Beate war schon wach. Sie hatte mir Frühstück gemacht und mir meinen Anzug gerichtet. Nach meiner morgendlichen Dusche frühstückten wir zusammen, schweigend. Als ich schließlich frisch herausgeputzt in der Garage vor meinem alten Audi stand, war mir mulmig zumute. Ich nestelte an meiner Krawatte. Beate bemerkte das natürlich.

„Was ist los?“, fragte sie. „Hast du Angst vor der Aufgabe?“

„Nein. Es ist nichts.“ Ich fasste sie an beiden Schultern.

Sie zog meine Krawatte zurecht: „Wird schon.“

„Ja“, sagte ich wenig überzeugend. Ich verschwieg den Traum.

„Hier.“ Sie reichte mir meinen Koffer.

„Danke.“ Als ich ihn in der Hand hielt, stutzte ich. Ich hob ihn über Kniehöhe und sah Beate an.

„Was ist?“

„Der ist so schwer. Was hast du rein gemacht? Steine?“

„Kleidung für zwei Wochen“, gab sie lapidar zurück.

„Was? Zwei Wochen? Ich bin doch spätestens morgen wieder zurück.“

Sie schüttelte den Kopf: „Ich glaub nicht, dass das so schnell geht.“

„Warum? Eine Besprechung, den Vertrag unterschreiben, Vielleicht noch einen Drink, eine Nacht in der Villa und morgen bin ich wieder zurück.“

„Er meinte, Kleidung für zwei Wochen.“ Sie zuckte mit den Schultern.

„Davon hat er mir nichts gesagt. Soll ich das Buch bei ihm schreiben?“

„Keine Ahnung. Ich dachte, ihr habt das besprochen.“

Ihre letzten Worte brachten mich auf. „Du hast doch alles mit ihm besprochen!“

„Jetzt übertreib nicht“, beschwichtigte sie und zog meinen Kopf zu sich herunter, um mich auf die Lippen zu küssen.

Ich löste mich erzürnt, nur um mich kurz darauf zu besinnen und ihren Kuss zu erwidern. Ich küsste sie noch einmal. Und wieder. Es war, als hielte ich mich mit jeder Lippenberührung an ihr fest. Irgendetwas sagte mir, dass ich nicht fahren sollte, dass ich die Million ausschlagen und mein Leben so weiterleben sollte wie bisher. So schlimm war es schließlich gar nicht.

Aber dann saß ich im Auto und ließ das Fenster hinunter, um Beate noch ein paar letzte Liebesbekundungen zukommen zu lassen. Vielleicht sahen wir uns nun zwei Wochen nicht – fast eine kleine, unerwartete Lesereise. „Ich hab dein Navi schon programmiert“, sagte sie mit einem Lächeln, als ich das Gerät über dem Armaturenbrett anschaltete. Ich zwang mich auch zu einem Lächeln. Ich heftete meine Augen an sie, winkte ihr zu. Erst als ich außer Sichtweite des Hauses war, ließ ich das Fenster wieder nach oben.

Nun war ich also fast an meinem Ziel angelangt. Fünf Stunden war ich bereits gefahren und ich hatte den jungen Herbst und das Autofahren gründlich satt. Die Bourbon-Nebelschwaden in meinem Kopf wurden an Autobahnraststätten mit billigem Pappbecherkaffee vertrieben. Ich wollte klar werden, bevor ich der Großen Persönlichkeit gegenüberstand, von der Beate gesprochen hatte. Im Internet hatte ich nach einer Fotografie geschaut, war aber nur auf ein reichlich undeutliches, verschwommenes Bild gestoßen, dass aus einem Gruppenfoto ausgeschnitten und dann vergrößert worden war. Außer einer Halbglatze und einem gesichtseinnehmenden Grinsen war nicht viel zu erkennen gewesen. Aber immerhin kannte ich schon die Stimme und von dieser ließ sich bereits ein Großteil der Persönlichkeit ableiten. Und den Nachnamen. Steigbügel. Er klang so, als hätte sein Vorfahre anderen zu wichtigen Posten oder Ämtern verholfen. Vielleicht konnte er ja mir auf das hohe Ross des Reichtums helfen.

Sicherlich war ich dem Geld nicht vollkommen abgeneigt, jedoch war es anzuhäufen nie mein primäres Ziel im Leben gewesen. Selbst Berühmtheit hatte ich nie bewusst angestrebt. Ich fand Erfüllung im Schreiben, dem Erschaffen von Sätzen und Texten, der Hingabe an die Intuition und Erfindungskraft im Detail, und da es mich ernährte, hatte ich immer damit weitergemacht, selbst wenn mir ein paar Jahre lang keine gute Idee kam. Ich ging dabei vor wie die meisten meiner Kollegen, die alle zwei bis drei Jahre ein neues Buch herausbrachten, einfach um den Erwartungen des Marktes zu genügen. Wir verkauften unsere Bücher, weil wir einmal ein recht ordentliches Werk verfasst hatten. Das war zu Beginn unserer Karriere gewesen, als die Eingebung uns geleitet hatte, als es eine gewisse Dringlichkeit gab, einer Idee Form zu verleihen, und man schließlich als Schriftsteller endete, weil man eben keine anderes Ventil gefunden hatte als ein fiktionales Buch, um das, was einem auf der Seele brannte, zum Ausdruck zu bringen. Andere Leute waren Fußballfans geworden, Politaktivisten, ewige Grantler oder große Liebhaber. Ich eben Schriftsteller. Das Buch verlieh meinen Gefühlen die richtige Stimme: Ich war nicht zornig genug, um politisch zu handeln, nicht fanatisch genug, um mit anderen herumzubrüllen, nicht frustriert genug, um anderen mit meinen Kommentaren das Leben zu vergällen, und nicht leidenschaftlich genug, um mehr als einer Frau meine Liebe und körperliche Energie zu schenken. Mein Gefühlsleben war genauso wohl temperiert wie es das der Figuren in meinen Romanen war, und vermutlich ebenso wie das meiner Leser, weswegen ich bereitwillig jene Spiegel aus Wörtern dafür erschuf, ohne mich allzu sehr verbiegen zu müssen. Also verlangte der Verlag alle paar Jahre ein Manuskript, und alle paar Jahre begab ich mich nach Erscheinen der neuen Geschichte auf eine mehrwöchige Lesereise, bei der ich mein Buch denjenigen Menschen vorlas, die ohnehin vorgehabt hatten, es zu kaufen. Viel mehr als eine Werbeveranstaltung waren diese Lesungen ein Dankeschön an die treue Leserschaft. Denn als ich einmal wegen Krankheit nicht auf Reise gehen konnte, verkaufte sich das Buch eben so gut wie jene davor und diejenigen, die ich danach imstande war mit meiner etwas schwachen Stimme zu bewerben.

Weder passte ich meinen Stil dem Großen Geschmack der Masse an, wie es eine berühmter Literaturkritiker in abfälligem Ton genannt hatte, noch hatte ich die eine geniale Idee, die mein Werk zu Weltliteratur gemacht und somit millionenfach verkauft hätte, aber trotzdem kaum tatsächlich gelesenen werden ließ. Es gab also weder das Glück noch die Bemühung, das Große Geld zu scheffeln. Meine Frau kannte ich eigentlich auch nicht als gierig, und so war ich doch einigermaßen, wenn vielleicht nicht befremdet, dann doch verwundert über die Zielstrebigkeit, mit der sie mich dem mir unbekannten Mäzen zuführte, die Zweifellosigkeit, mit der sie von mir erwartete, dass ich zu ihm fuhr und seinem seltsamen Vorhaben zustimmte.

Nun war ich lange auf Autobahn und Landstraße gewesen, und hatte es in das kleine Kaff geschafft, in welchem sein Anwesen stehen sollte: Daunloding. Nichts deutete darauf hin, dass hier ein Empfänger des Bundesverdienstordens und steinreicher Unternehmer seine Wohnstätte errichtet hatte. Es gab Landwirtschaftsgebäude und kleine Einfamilienhäuser und im Ortszentrum ein kümmerliches Rathaus sowie eine Kirche mit Zwiebelspitze. Außer einer alten Frau mit Hund zeigte sich bei dem Wetter keiner der Bewohner auf der Straße. Ich musste durch die Ortschaft hindurch fahren, um zu der Straße zu gelangen, in der mein Auftraggeber laut den von Beate im Internet eingeholten Informationen wohnte. Mein Navi kannte die Straße, sobald ich jedoch in diese eingebogen war, versagte es mir den Dienst, und weil die Dame mit der unfreundlichen Stimme sich im Sekundentakt wiederholte, musste ich das Gerät ausstellen und selbst auf die Suche gehen.

Dies gestaltete sich nicht sonderlich schwer. Ich folgte einfach dem Straßenverlauf entlang einer ungemähten, feuchtschweren Wiese, über einen Bach, durch ein Wäldchen, dann eine kurvenreiche Hügelkette. Die Hausnummer lautete auf 54, aber es gab nur ein einziges Haus. Es lag am Ende der Straße und war dasjenige meines zukünftigen Gastgebers. Entweder hatte er sämtliche Grundstücke aufgekauft und sich den Scherz erlaubt, auszurechnen, wie viele andere Häuser nebeneinander an die Straße gepasst hätten, oder aber er war so korrekt, dass er einem Haus, das sich am Ende und nicht am Anfang der Straße befand, niemals die Nummer 1 gegeben hätte. Womöglich gab es aber einen anderen Grund: Die Nummer 1 hätte zu viel Aufmerksamkeit auf sein Haus gezogen. Bei Firmensitzen bedeutet sie, dass kein anderes Haus mehr an die Straße passte. Diese hier hieß auch nicht Steigbügelstraße, sondern Wäldchenweg, was Uneingeweihte sofort auf die falsche Spur bringen würde.

Ich fuhr an einem Platz aus Schotter vorbei. Dann kam sein Grundstück. Das Haus selbst konnte ich zunächst überhaupt nicht sehen. Ich konnte lediglich erahnen, dass es sich hinter der drei Meter hohen Ligusterhecke befand, die in der Mitte durch einen Pflastersteinweg geteilt wurde. Dieser Weg wiederum wurde durch ein goldspitzenbewehrtes Eisentor versperrt und das Tor wurde flankiert von zwei Gebäuden, einstöckigen runden Türmen, die über Panzerglasfenster verfügten. Durch die dunklen Spiegelungen der Türme in den gegenüberliegenden Fenstern hindurch konnte ich inmitten der Reflektion des Herbstlichts die Gesichter zweier Wachmänner erkennen.

Der linke Mann wies mit der Hand auf sein Gegenüber. Ich fuhr näher an den rechten Turm heran. Der Wachmann hatte einen breiten Hals unter einem breiten Kinn. Er sah mich bedrohlich an. Seine Haare waren zu einer blonden Bürste gestutzt, die Wangen gerötet. Er bedeutete mir mit einer Handbewegung, dass ich mein Seitenfenster herunterlassen solle. Ich kurbelte es herunter und sogleich hörte ich seine Stimme aus einem Lautsprecher. Es klang unangenehm, aber verstehen konnte ich es nicht, denn der Lautsprecher war auf der anderen Seite von meinem Auto. Ich gab ihm ein Handzeichen, dass er mit dem Sprechen einhalten solle, dann kletterte ich auf den Beifahrersitz und kurbelte dort das Fenster herunter. Er beendete gerade seine Informationsrede mit einem Genehmigung.

„Was für eine Genehmigung?“, fragte ich und bat ihn, das Gesagte zu wiederholen.

„Stellen Sie sich nicht blöd“, sagte er herrisch. „Sonst müssen wir sie entfernen.“

„Ich habe Sie nicht verstanden. Akustisch nicht verstanden“, rief ich in Richtung der Vorrichtung, die ich für das Mikrofon hielt.

Er hielt sich die Ohren zu und blickte noch grimmiger. „Sie brauchen eine Genehmigung, wenn sie hier reinwollen. Eine Einladung.“ Er hatte einen Anzug und eine Krawatte an.

„Ich bin von Herrn Steigbügel eingeladen worden. Der wohnt doch hier, oder?“

Er ging nicht auf die Frage ein: „Die schriftliche Einladung.“

Ich zog meinen Geldbeutel aus der Hosentasche, streckte mich so gut es ging und hielt ihm meinen Ausweis direkt an die Scheibe. „Er hat mich eingeladen.“

Der Sicherheitsmann notierte meinen Namen, fuchtelte dann mit seiner Hand herum, damit ich den Ausweis von der Scheibe nahm.

Er telefonierte einmal. Er telefonierte noch einmal. Dann wartete er und starrte mich weiter abweisend an.

„Kann Herr Steigbügel nicht persönlich kommen?“, fragte ich.

„Welcher Herr Steigbügel?“, krächzte es aus dem Lautsprecher.

Ich fragte mich, ob ich mich nicht doch geirrt hatte.

Dann bekam er einen Anruf.

Als hätte jemand am anderen Ende der Leitung Sesam öffne dich geflüstert, betätigte der Ex-Soldat mehrere Schalter vor sich und das eiserne Tor öffnete sich langsam. Ich war erleichtert.

Dass ich Zugang bekam, machte den Gesichtsausdruck des Wachmanns nicht weniger skeptisch. Ich fühlte mich wie ein Terrorist, wie ein Attentäter, ein Einbrecher. Nicht wie ein geladener Gast.

Dieses Gefühl wurde ich auch nicht so bald los.

Als ich in den Hof einfuhr, kamen zwei Wachmänner aus einem weiteren Gebäude. Einer streckte die Hand zum Stoppzeichen aus. Ich hielt an. Ich stieg aus.

Der zweite Mann tastete mich stumm ab, durchsuchte meine Taschen, während der erste mit einer Person im Blaumann sprach.

Der Mann im blauen Overall kam mit zwei Gehilfen und jeder Menge schweren Werkzeugs wieder. Ich erkannte einen Wagenheber und eine Kreissäge.

„Die Autoschlüssel, bitte“, sagte er ruhig zu mir.

„Ich kann ihn selbst parken, danke“, sagte ich.

„Die Autoschlüssel.“

„Wozu?“

„Wir müssen das Auto untersuch'n.“

„Was?“

„Eine Sicherheitsmaßnahme.“

„Kommt nicht in Frage“, sagte ich bestimmt.

„Dann kann des Auto nich hier bleiben.“

„Wo soll es dann bleiben?“

„Draußen, auf'm Parkplatz.“

„Auf welchem Parkplatz?“

„Neben der Mauer.“

Ich dachte nach. „Der Schotterplatz?“

„Ja. Wennse dort geparkt hätt'n, hätt'nse sich viel Wartezeit sparen können. Aber Sie wollten ja unbedingt mit dem Auto hier rein.“

„Ich wollte überhaupt nichts: Ich wollte zu Herrn Steigbügel. Ich...“ Noch während ich sprach, hörte ich die elektrische Metallsäge. Ich drehte mich zu meinem Auto um und wurde von fliegenden Funken geblendet. Die beiden Azubis waren schon bei der Arbeit.

„Keine Sorge“, sagte der Mechaniker mit dem Dreitagebart und den Ölfingern. „Wir bau'n das Auto wieder zusammen.“ Er sah mich erleichtert lächeln und kratzte sich am Kinn. „Aber nur, wennse den Fahrzeugbrief dabei hab'n.“

„Nein?“

„Dann bauen wir's so zusammen, wie wir's in Erinnerung haben. Die beiden sin Azubis, das is ne gute Übung für sie.“

Ich wurde zornesrot. „Das ist eben keine Übung. Das ist mein Auto!“

Der Wachmann trat zwischen uns. „Und das hier ist der Grund und Boden von Herrn Steigbügel, und auf diesem machen wir alle, was Herr Steigbügel befohlen hat, verstanden?“

„Und“, schloss der Mechaniker an. „Der will nun mal ganz sicher gehen, dass hier keine Bomben hochgeh'n.“

Es war hoffnungslos. Ich ergab mich, wie ich mich zuvor schon zigmal ergeben hatte: „Was noch? Eine Zahnuntersuchung? Ein Hodentest? Ein Ultraschall im Bauchbereich?“

„Sie haben es erraten“, sagte der Wachmann. „Als nächstes geht es zum Arzt.“

Ich bekam Bauchschmerzen. Aber nicht bei der Vorstellung, mich untersuchen zu lassen, sondern weil die Kreissäge hinter mir aufjaulte und die Funken knackten und knisterten. Mein schönes Auto! Wir hatten es erst vor einem halben Jahr gekauft und unseren 15 Jahre alten Kombi verschrotten lassen. Jetzt, wo die Kinder aus dem Haus waren, brauchten wir keinen Kombi mehr. Jetzt, wo wir feststellten, dass die Kinder aus dem Haus waren, weil wir nie welche gehabt hatten, wurde uns klar, dass wir keinen Kombi brauchten. Wir hatten viel Geld zusammengelegt für die Limousine, deren nagelneues Blech gerade zu Schnipseln verarbeitet wurde. Nur die Vorstellung, mit den Tantiemen für mein kommendes Werk 20 solcher Autos kaufen zu können, bewirkte, dass mein Zähneknirschen die Säge nicht übertönte.

Wir befanden uns nur in einer Art Vorhof, einer Schleuse, die dem eigentlichen Haus vorgebaut war. An den Hof, mit seinen Parkplätzen, der Autowerkstatt und anderen Nutzgebäuden, schloss eine weiter Mauer an. Durch ein Tor kamen wir an ihre Rückseite. Dort stand ein zweistöckiges, unverputztes Gebäude. Der Wachmann forderte mich auf, es zu betreten.

Mit einem mulmigen Gefühl betätigte ich den Klingelknopf. Der Öffner summte und ich drückte die Türe auf. Das Innere des Gebäudes war vollkommen konträr zu seinem Äußeren: Es sah aus wie in einer Klinik. Sofort kam mir eine Krankenschwester entgegen. Sie führte mich in ein kleines Untersuchungszimmer. Sie war schwarzhaarig und hatte große Brüste. Es sah aus, als hätte sie eine falsche Krankenschwestertracht angezogen, denn die Brüste drückten oben aus dem Dekolleté und das Röckchen war äußerst kurz. Vermutlich hatte sie die falsche Kleidergröße an. Ihre Haare waren auch nicht zusammengebunden, sondern wallten sich um ein stark geschminktes Gesicht.

„Ausziehen“, sagte sie oberlehrerhaft.

„Ja, wenn der Herr Doktor da ist...“

„Nein, jetzt.“ Sie drohte mit dem Finger. „Wenn der Herr Doktor da ist, müssen sie sich schon freigemacht haben.“

Ich stand unschlüssig herum.

„Nackt machen, bitte“, sagte sie mit dem Anflug eines Schmunzelns.

Ich fing an, mich zu entkleiden. Sie hatte sich auf einen Drehstuhl gesetzt und starrte mich an. Ich hielt inne: „Würden Sie bitte wegschauen?“

Sie reagierte nicht darauf und machte einen spöttischen Schmollmund.

Also zog ich mich weiter aus. Als ich bei der Unterhose angelangt war, präsentierte ich ihr das Ergebnis.

„Ganz ausziehen“, beharrte sie.

„Kommt nicht in Frage. Der Herr Doktor...“

„Vollständig entkleiden, sagt der Herr Doktor“, befahl sie und drehte sich auf dem Stuhl hin und her. Ich sah sie langsam die Beine spreizen.

Als ich ganz nackt war, drehte ich mich wieder zu ihr um, die Hände vor meinem Schritt haltend.

Unter ihrem Röckchen war sie genauso nackt wie ich.

Sie sah mir fest in die Augen.

Ich drückte fester mit den Händen auf den Schritt.

Dann stand sie unvermittelt auf und ging zur Tür. „Der Herr Doktor kommt gleich“, sang sie und ging mit Schwung hinaus.

Ich saß splitterfasernackt auf der Liege und ließ meine haarigen Beine baumeln. Zugluft kitzelte die Härchen auf meinen Hoden. Mir wurde kalt, während ich auf den Doktor wartete, ich wagte aber nicht, mir etwas anzuziehen. Ich wollte nicht gegen die Sicherheitsbestimmungen verstoßen, mir nicht die Million durch die Lappen gehen lassen, nur weil ich ein bisschen zu angezogen war.

Irgendwann ging die Türe auf. Ein Mann mit Vollbart im Arztkittel kam herein. Zunächst bemerkte er mich nicht, hantierte mit Spritzen herum. Als er herumfuhr, traf es ihn wie ein Schlag.

„Mein Gott!“, rief er. „Was machen Sie denn hier?“

„Ich warte auf Sie. Darf ich mich vorstellen...“

„Aber warum sind Sie nackt? Jesus Maria!“

„Damit Sie mich untersuchen können.“

„Aber es reicht doch, wenn Sie die Brust freimachen. Was ist denn in Sie gefahren?“ Er stemmte die Hände in die Hüften, seine Überrumpelung wich langsam einer Art Empörung.

„Ihre Assistentin, die Krankenschwester. Sie hat mir befohlen, mich auszuziehen.“

„Meine Assistentin? Krankenschwester?“ Er zwirbelte den Bart. „Schön, wenn mir Herr Steigbügel so etwas bezahlen würde. Wer hat Sie hier rein gelassen?“

„Die Krankenschwester. Die dunkelhaarige Frau, die Sie hier beschäftigen!“

„Ich beschäftige hier niemanden!“, brüllte er. „Und schon gar keine Frau.“

„Sie hatte roten Lippenstift, einen kurzen Rock, große Brüste.“

Der Arzt schlug sich an den Kopf. Plötzlich lachte er auf: „Ich kann mir schon denken, wer das war.“

„Wer?

Er lachte noch lauter. Er lachte mich aus. „Eine der Damen, die Herr Steigbügel immer kommen lässt. Ja, es muss eine dieser Damen gewesen sein“, prustete er in seine Gesichtswolle.

„Was für eine Dame?“

„Stellen Sie sich nicht blöd.“

„Und was hat sie hier gemacht?“

„Sie hat sich wohl auf ihre nächste Rolle vorbereitet.“

Während er weitere Vorkehrungen traf, zog ich mich an, ließ aber mein Hemd offen, dass er meinen Brustkorb abhören konnte. Als er sich mir zuwendete, streckte er die Hand aus: „Ihren Impfpass bitte.“

„Meinen Impfpass?“

„Sind Sie schwer von Verstand? Das Heftchen mit den Informationen über ihre Impfungen.“

„Habe ich nicht dabei.“

„Haben Sie nicht dabei? Haben Sie nicht dabei?

„Keiner hat mir gesagt, dass ich...“

„Dann wird alles sehr viel länger dauern“, schnitt er mir das Wort ab. „Dann müssen wir Blutuntersuchungen machen. Solange noch Ansteckungsgefahr besteht, können wir Sie nicht zu Herrn Steigbügel lassen.“

„Ausgezeichnet“, sagte ich voll bitterer Ironie und ließ den Kopf hängen.

„Machen Sie sich frei“, forderte der Arzt mich auf und stülpte sich Handschuhe über.

„Wie jetzt? Doch wieder freimachen?“

„Ja. Ich muss Ihnen Blut abnehmen.“

Als ich die Hose ausziehen wollte, herrschte er mich an: „Nur den Oberkörper! Danke!“

„Den ganzen Oberkörper?“

Er ging nicht auf die Frage ein, sondern zog schon die Spritze auf.

Nachdem er genügend Adern, Venen und Arterien gefunden und mir Unmengen Blut abgenommen hatte, lag ich kraftlos auf der Liege und schnappte nach Luft.

„So, das muss jetzt alles ins Labor“, hörte ich ihn vor sich hinmurmeln, während sich bei mir Ausgelaugtheit und Schmerz die Waage hielten. Das halogene Behandlungszimmerlicht stach so sehr, dass ich die Augen geschlossen halten musste.

Er ging hinaus und sagte mir, dass ich doch im Wartezimmer warten solle. Ich konnte ihn nicht mehr fragen, wie weit denn das Labor entfernt war.

Die Stunden vergingen und ich konnte mich nicht rühren. Das schreckliche Licht war immer noch an. Immer wieder schlief ich kurzzeitig, nur um von Traum wieder zu Alptraum zu wechseln.

Ich verspürte einen Luftzug.

„Sie sind ja immer noch da!“

„Ja. Ich...“

„Das ist mein Arbeitszimmer. Gehen Sie bitte.“

Gehen war das Problem.

Ich raffte mich auf. Im Wartezimmer las ich uralte Illustrierte, unerhörte Gerüchte auch über Schrifttellerkollegen, aber meine Konzentration war so schlecht, dass mir das alles egal war.

Dann bekam ich unendlichen Hunger.

Es gab einen Snackautomaten im Wartezimmer, aber die Schokoladenriegel waren von einer Marke, die vor vier oder fünf Jahren vom Markt genommen worden war.

Schließlich kam der Arzt herein. Er strahlte: „Alles bestens. Keine Krankheiten. Aber das mit dem billigen Koks sollten Sie lassen. Da gibt es weitaus reinere Sorten.“

„Koks?“

„Kokain.“

„Ja, klar. Aber...“

„Sie haben doch Blutgruppe A?“

„Nein. Blutgruppe Null.“

„Dann vergessen Sie's.“

Ich fragte Ihn, ob ich etwas essen könne. Natürlich könne ich jetzt etwas essen, aber von ihm dürfe ich nichts erwarten. Wo komme man da hin, wenn er nun auch noch Herrn Steigbügels Gäste bewirten müsse. Ich bekam von ihm einen Papierzettel und einen Ausweis über meine geringe Ansteckungsgefahr, und schleppte mich daraufhin aus der kleinen Klinik. Draußen taumelte ich und fiel einem der Wachmänner in die Arme. Bei Wasser und Brot in der Wachstube kam ich wieder zu Kräften. Man teilte mir mit, dass in meinem Auto keine Bomben gefunden worden seien. Ich nahm es mit Freude zur Kenntnis. Man sagte mir, dass das Zusammenbauen von Autos gewöhnlich 43mal so lange dauere, wie ihr Auseinandernehmen. Aber man habe noch einen alten VW-Käfer irgendwo stehen, den könne man mir vorübergehend leihen. Nächsten Monat könne ich mein Fahrzeug dann wieder abholen. Ich sagte ihnen, wie liebenswürdig das doch von ihnen sei und stellte mir meinen Wagen vor, der vor lauter Flickschusterei beim Einsteigen auseinanderfiel.

Erfrischt aus der Wachstube getreten, wurde ich erstmals der riesigen Villa gewahr, die sich vor mir am Ende eines Exerzierplatzes erhob. Sie war strahlend weiß und verfügte über zwei Flügel, die sie rechts und links in einen klassizistischen Garten breitete. Krähen zogen über dem herrschaftlichen Zuhause von Herrn Steigbügel ihre Kreise. Die Wolken waren steinern und es ging ein empfindlicher Wind. Kurz bevor die ersten Regentropfen niedergingen, war ich auf dem Steinpflaster an den Zierhecken vorbei zum großen Portal gelaufen. Mein Anzug war zerknittert, meine Jacke für einen längeren Aufenthalt draußen bei diesem Wetter zu dünn. Ein Windstoß ließ mich erzittern. Ich läutete an einer altmodischen Ziehklingel.

Ein Diener im klassischen Butlerkostüm öffnete mir. Er sah mich froh an. „Herr Steigbügel erwartet Sie schon.“

„Musste er lange warten?“

„Er wusste über alles Bescheid. Wir haben die Verzögerung eingerechnet. Schließlich muss er sich gegen alles wappnen.“

Umgehend reichte ich ihm meine Jacke. Endlich war ich im Allerheiligsten.

Ich folgte dem Butler auf Geheiß durch die Flure des von Marmor dominierten Anwesens. Er hatte dunkles, streng gescheiteltes pomadisiertes Haar und unter seiner schwarz-gelben Weste wölbte sich ein leichter Bauch. Mitten im Laufen hielt er inne und drehte sich um: „Entschuldigen Sie, ich habe mich gar nicht vorgestellt: Mennering.“

„Angenehm. Mein Name ist...“

„Ahh. Mein Gast“, ertönte es in meinem Rücken.

„Ich kenne Ihren Namen“, flüsterte mir Mennering zu.

„Mennering, wo bringen Sie ihn denn hin?“, fragte die tiefe Stimme.

„Ins Audienzzimmer, Herr Steigbügel. Ich...“

„Nein, nein, nein. Ich war gerade dabei mich umzuziehen. Draußen geht ein Sturm. Es wird bald Abend. Es ist genau die richtige Zeit, um ein Bad zu nehmen, ein paar Züge zu schwimmen.“

„Sie haben vollkommen recht. Ich werde Ihrem Gast alles Notwendige bereiten.“

„Ja, bitte. Tun Sie das, Mennering.“ Er wandte sich an mich: „Sie haben Schwimmsachen dabei?“

„Nein“, sagte ich. Zum ersten Mal betrachtete ich ihn. Er hatte ein großflächiges, breites Gesicht mit entsprechend großen Augen, war ziemlich hochgewachsen und ausgesprochen dick. Dennoch schien er sich in seinem Körper wohl zu fühlen. Er steckte in einem riesigen Bademantel und trug weiße Hausschuhe aus Plüsch. Das etwas längere Deckhaar hatte er sich über seine Halbglatze gelegt. Er hatte Koteletten und war ansonsten glatt rasiert. Nun kam er mit einladender Geste auf mich zu.

„Steigbügel. Guten Tag. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Fahrt. Ich hoffe ebenfalls, unsere Sicherheitsschleuse hat Ihr Wohlbefinden nicht allzu sehr beeinträchtigt.“

„Ganz und gar nicht“, log ich.

„Und Sie haben wirklich keine Schwimmsachen dabei?“

„Nein. Es tut mir leid.“

„Dann muss ich Ihnen wohl eine Badehose leihen. Das macht Ihnen doch nichts aus. Sie ist auch frisch gewaschen, nicht wahr?“ Er sah seinen Diener grinsend an, und dieser grinste zurück und bejahte.

Ich lächelte bemüht. „Nein, natürlich nicht.“

„Dann lassen Sie sich von Mennering einkleiden.“

Plötzlich meldete sich der Hunger wieder. Die zwei Scheiben Brot hatten nicht dauerhaft geholfen. Ich hätte lieber fürstlich zu Abend gegessen als zu baden, aber das war noch nicht möglich. Ich wagte es nicht, dem Millionär Widerworte zu leisten.

„Bitte folgen Sie meinem Assistenten“, forderte mich der Millionär auf. Er erschien mir freundlicher und gelassener als am Telefon, viel freundlicher. Vielleicht bewirkte das die unmittelbar bevorstehende Vertragsunterzeichnung.

Ich nickte und folgte dem Butler, den er Assistenten nannte. Wir liefen durch einen Flur mit purpurnem Teppich unter uns und altertümlichen Gemälden an den Wänden. Wir bogen noch zweimal ab und gelangten in ein kleines holzvertäfeltes Zimmer, an dessen Seitenwänden sich Wandschränke befanden.

Einmal mehr forderte mich jemand auf, mich auszuziehen, aber Mennering war sehr viel diskreter als die übrigen Leute, die auf diesem Areal so herumschlichen. Er zog sich zurück, brachte eine grün-gelbe Slip-Badehose, legte sie mit abgewandten Augen vor mir auf die Holzbank und zog sich abermals zurück.

Die Schwierigkeit war nun eine andere: Die Badehose passte mir nicht. Zwischen Herrn Steigbügel und mir lagen mindestens zehn Kleidergrößen. Was bei einem Oberteil wie Hemd oder Jackett noch nicht so ins Gewicht fällt, weil das Kleidungsstück irgendwie auf den Schultern hängen bleibt, ist bei einer Hose fatal. Die man mir gegeben hatte, suchte vergebens ein ausladendes Hinterteil, an dem sie Halt finden konnte. Hatte ich mir in den jungen Jahren öfter anhören können, dass ich keinen Arsch in der Hose hätte, war ich nun erstmals mit den Herausforderungen konfrontiert, die diese Tatsache mit sich brachte. Außerdem trug ich nie Slip-Hosen, egal welcher Sorte und Funktion, seit den Achtzigerjahren nicht mehr.

Ich rief nach Mennering. Kurze Zeit später stand er vor mir und konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Ich straffte die Badehose so, dass sie notdürftig alles verdeckte.

„Wie kann ich Ihnen helfen?“, fragte er süffisant.

„Mit einer Ihrer Badehosen.“ Mennerings Hinterteilumfang war irgendwo zwischen meinem und dem von Steigbügel anzusiedeln. Somit konnte man vielleicht wenigstens mit Klebeband oder Sicherheitsnadeln etwas machen.

„Ich habe keine Badesachen hier“, gab er zurück.

„Sie baden nie?“

„Nicht hier. Hier badet ausschließlich Herr Steigbügel...Und seine...ähm...Nixen.“

„Sie meinen, seine Krankenschwestern?“

„So kann man es sagen, ja.“

„Also keine andere Badehose für mich?“

„Solche hier“, sagte er und deutete auf mein Feigenblatt aus Gummi. „Oder sehr enge String-Tangas.“

Ich stutzte. „Na gut. Dann nehme ich diese, danke.“

Er überlegte. „Ich kann Ihnen mit Sicherheitsnadeln helfen.“

Mein Gedanke, dachte ich.

„Sollte ich beim Schwimmen meine Arme brauchen“, sagte ich. „Würde mir das sicher sehr helfen.“

Um seinen Mund spielte Belustigung. Schon wieder auf dem Sprung sagte er: „Ich bin sofort wieder da.“

Er kam mit einem Paar Sicherheitsnadeln zurück. Respektvoll ließ er mich sie alleine anbringen. Sie hielten die Hose einigermaßen auf meinen Hüften.

Mennering begleitete mich durch die Flure in einen anderen Teil des Schlosses. Ich steckte in einem Bademantel und Birkenstockschuhen und bewunderte im Vorbeigehen die zeitgenössischen Gemälde an den Wänden.

Irgendwann kamen wir an eine Türe mit Glaseinsatz. Der Diener drückte sie auf. Hier war es wärmer als in den Fluren. Er nahm mir den Bademantel ab und drückte die nächste Türe auf. Hier war es unglaublich warm, beinahe heiß. Der Geruch von Chlor schlug mir entgegen und ein heftiges Wasserplätschern.

„Ich lasse Sie beide jetzt allein“, flüsterte mir der Butler zu und entschwand.

Ich prüfte die Befestigung meiner Badehose.

Vor mir standen ein paar blaue Liegen auf beigefarbenen Kacheln. An den Wänden gab es Mosaike im römischen Stil. Die Decke war gewölbt und mit Streben wie in einer gotischen Kirche versehen. Gedämpftes Licht reflektierte von der Wasseroberfläche an die Decke.

„Da sind Sie ja“, hörte ich die Stimme von Steigbügel.

Mir fiel nichts anderes ein als ein schlichtes „Ja.“

Ich sah genauer hin und erblickte ihn. Er befand sich im Wasser. Er lag in einem übergroßen Schwimmring aus rotem Kunststoff und winkte mir zu. Auf mit den eigenen Händen aufgewühlten Wellen schaukelte er hin und her.

„Kommen Sie ins Wasser“, sprach er euphorisch. „Es ist auch nicht kalt. Ich verspreche es Ihnen.“

Dampf stieg vor mir auf und hüllte ihn zeitweise ein.

Durch eine riesige Glaswand konnte man die Nacht hereinbrechen sehen. Regen peitschte gegen die Scheibe. Man sah hinaus auf eine ausufernde Parkanlage: Kleinere, steingefasste Seen, lange Hecken, Bäume. Die Wolken dahinter verschluckten den Tag.

Ich trat an den Beckenrand. In meinem Augenwinkel sah ich eine Bewegung, also drehte ich den Kopf und erschrak. In einer Ecke stand ein Mann. Dieser war in einen schwarzen Anzug mit weißem Hemd und Fliege gekleidet. Obwohl er ein Stück entfernt war, konnte ich drei Dinge feststellen: Er war nicht besonders groß, er war äußerst gut gebaut und es handelte sich um einen kraushaarigen Mulatten. Ich hatte gehofft, der Millionär würde mich wenigstens hier vor seinem Personal verschonen. Als bräuchte er nach all den Sicherheitschecks noch einen Bodyguard.

„Kommen Sie. Ziehen Sie ein paar Bahnen.“

Ich konnte zweifelsfrei erkennen, dass es sich um ein rundes Schwimmbecken handelte.

„Passt Ihnen meine Badehose?“ Er paddelte so, dass der Schwimmring sich im Kreis drehte und er sich mit.

„Wie angegossen“, sagte ich und streckte vorsichtig meinen Fuß ins Wasser.

„Da bin ich ja froh“, sagte er. „Ich hatte Sie ein wenig schlanker eingeschätzt als mich.“

Das Wasser war heißer als heiß. Ich fragte mich, wie er es darin aushielt.

„Wenn draußen der Herbst hereinbricht“, kommentierte der Millionär meinen Temperaturtest. „Muss das Wasser wohltemperiert sein. Sonst erkältet man sich. Nicht wahr?“

„Durchaus“, erwiderte ich und betrachtete die zehn Zentimeter dicken Glasscheiben.

Er lehnte sich vorüber, rutschte nach hinten, so dass sein Bauch durch den Ring ins Wasser hing, tauchte den Kopf unter und prustete beim Auftauchen das Wasser aus. Er schien großen Spaß an seinem nassen Spielplatz zu haben.

Ich rückte eine der Liegen näher an den Beckenrand und setzte mich darauf. Wieder fühlte ich mich schwach und kraftlos. Ich musste dringend etwas essen. Plötzlich stach es mich auf beiden Seiten in die Hüfte. Ich nestelte an den Nadeln, wodurch sie noch stärker stachen. Schließlich nahm ich sie ganz heraus, ich stand ja nicht mehr, sondern saß. Es wäre besser gewesen, Klebeband zu verwenden, dachte ich.

„Wenn Sie auf das Vorspiel verzichten wollen“, meinte Steigbügel, wieder in seiner vorherigen Position. „Können wir auch gleich mit dem Eigentlichen beginnen.“

„Das wäre mir recht, ja“, sagte ich kleinlaut.

„Jana!“, rief er unvermittelt.

Ich erwartete runde Hüften und den heiligen Hügel der Venus, über den sakrales Tuch gelegt, über den Badestoff gespannt war. Ich hoffte schon, das Relief ihrer Schamlippen unter dem dünnen Stoff umgehend erkennen zu können. Statt den breiten Segeln einer gewöhnlichen Bikinihose die Takelage eines String-Tangas, gespannt über den prall-feste Hintern und fest vertäut. Mich beschlich eine Ahnung, was er mit dem Eigentlichen meinte: Eine Ménage-à-trois mit einem dicken alten Herrn und seiner theoretischen Tochter.

Doch weit gefehlt. Statt einer Nixe kam ein Köter um die Ecke gerast und sprang vor mir an den Beckenrand, um mit seinem Kopf, seinen Beinen und seiner Zunge, Wasser aufspritzen zu lassen, so dass meine Beine und mein Schritt ganz nass wurden. Nass, das hieß voll mit Wasser. Wasser, das hieß in diesem Raum gefühlte 90-100 Grad Celsius. Ich biss mir auf die Lippen. Die Hoden des bauchlastigen Badenden mochten schon unbrauchbar und taub geworden sein, bevor er sie wie Teebeutel jeden Tag in dieses Kochwasser hielt, aber in meinem Schritt sorgte jeder Spritzer noch für realen Schmerz.

Ich hätte den Köter gern umgehend mit dem Paar Sicherheitsnadeln erstochen, bis man den Schwimmring farblich nicht mehr hätte vom Wasser unterscheiden können.

„Sie haben es sich also überlegt“, fragte Steigbügel, den Hund im Arm haltend, der, wie von seinem Fell vor Verbrennungen geschützt, zu ihm gekrault war.

Die Hitze setzte mir zu, ich verspürte einen Schwindel, musste mich kurzzeitig an der Liege festhalten.

Als ich mich wieder gefasst hatte und mein Magenknurren den Köter im Wasser nicht zu einer wütenden Reaktion gereizt hatte, antwortete ich: „Ja. Ich werde Ihren Auftrag annehmen.“

„Sehr vernünftig“, sagte er zufrieden und entließ die Hündin.

Das Tier schwamm in meine Richtung, krabbelte aus dem Wasser und schüttelte sein Fell neben mir aus. Meine Hände suchten nach den Sicherheitsnadeln, aber ich war zu erschöpft, um noch Rache zu üben.

Jana tippelte in eine Ecke, wo sie sich zum Schlafen hinlegte. Steigbügel kommentierte den Vorgang: „Dieser Hund ist zum Niederknien, finden Sie nicht?“

„Doch. Sehr putzig, die Kleine“, presste ich widerwillig hervor.

„Also, da Sie sich entschieden haben“, kam er wieder auf meinen Kommensgrund zurück. „Dann können wir ja die Einzelheiten verhandeln.“

„Dazu bin ich hier.“

„Das stelle ich mit großer Freude fest. Sie lassen sich ja noch nicht mal von so einem einladenden Bad ablenken. Habe ich das richtig beobachtet?“ Seine längere Haarsträhne klebte ihm feucht über der Glatze.

„So ist es.“

„Also die Rahmenbedingungen kennen Sie ja bereits. Sie schreiben mir einen Roman, streng vertraulich, und dafür gibt es eine Million Euro. Der Roman ist mindestens 200 Seiten lang und wird in eine bestimmte Anzahl von Teilen aufgeteilt sein. Die Titel dieser Teile werde durch mich bestimmt. Und Sie müssen sich dann jeweils etwas dazu ausdenken. Am Ende muss alles aber ein Ganzes ergeben.“

„Hm.“ Ich ließ mir das alles durch den Kopf gehen. „Mindestens 200 Seiten, sagen Sie?“

„Richtig. Ich will einen Roman und keine Novelle.“ Er wendete sich etwas umständlich auf seinem roten Plastikring.

„Okay...und mehrere Teile?“

„Ja, das gibt dem Buch die nötige Würze.“

„Und das Buch soll niemand anderes sehen?“

„Vollkommen richtig. Ich will auch, dass Sie es in aller Abgeschiedenheit schreiben, sich von nichts ablenken lassen.“ Sein Bauch bildete nun beim Auf-dem-Rücken-liegen einen Berg.

„Das lässt sich machen.“

„Das will ich doch hoffen.“

Jetzt äußerte ich endlich meine drängendste Frage: „Und wie sind Sie auf mich gekommen?“

Er raunte bedeutungsvoll: „Ich will ehrlich zu Ihnen sein. Weder habe ich mich aus Zufall an Sie gewandt, noch sind Sie einer am Anfang, in der Mitte oder am Ende einer Reihe von Kandidaten.“ Seine Stimme nahm einen osteuropäischen Akzent, ein rollendes R und ein Lispeln an: „Ich war schon immer ein großer Bewunderer von Ihnen. Das ist sicherlich ganz große Literatur, mein Liebster.“ Dann wurde er wieder ernst: „Was Sie geschrieben haben, Ihr Hauptwerk, die fiktionalen Biographien, prädestiniert Sie dafür, das Buch zu schreiben.“

„Aha. Und darf man fragen, warum?“

Weil ich mir eine ähnliche Verknüpfung von Biographie und Fiktion erhoffe. Natürlich in Bezug auf mich, nicht auf Sie. Ich warne Sie: Kommen Sie mir ja nicht auf die Idee, sich irgendwo in dem Werk zu verewigen, so wie sich Renaissancemaler bei Auftragswerken manchmal im Kleinen verewigt haben. Das steht Ihnen vertraglich nicht zu, denn ich halte es für ungebührlich.“

„Verstanden. Das sollte kein Problem sein.“

„Gut.“ Er paddelte im Rückwärtsgang von einer Seite des Beckens zur anderen. Dann stoppte er und sagte: „Dann hoffe ich, dass alles geklärt ist. Haben Sie noch Fragen?“

Ich dachte nach. „Eigentlich nicht.“

„Sehr gut. Mein Anwalt und Notar hat alles mitgehört und wird jetzt die Verträge bringen“, erklärte mein schwergewichtiges Gegenüber.

„Anwalt?“, sagte ich verdutzt und suchte die Decke nach Kameras und Mikrofonen ab.

In diesem Moment bewegte sich der regungslose Bodyguard, nickte Steigbügel zu und ging aus der Badehalle.

„Anwalt“, sagte ich begreifend und der Millionär nickte.

Steigbügel schwamm zu mir herüber, stemmte seinen schweren Wanst aus der Suppe und trocknete sich mit einem herumliegenden Handtuch ab. Die graue Strähne hing im jetzt ins Gesicht.

Sein ungewöhnlicher Anwalt kam zurück. Er hatte jetzt eine Brille auf, sagte mit sächsischem Akzent etwas Unverständliches, hielt uns die Verträge und Kugelschreiber zum Unterzeichnen hin und verschwand, nachdem ich einen flüchtigen Blick darauf geworfen und sie unterzeichnet hatte, wortlos mit einem Exemplar.

Steigbügel guckte befriedigt. „Ich werde jetzt etwas essen. Beim Essen bin ich gerne allein. Ich hoffe, Sie verstehen das. Mennering wird Ihnen auch etwas kochen lassen. Dann wird er Sie in Ihr Gästezimmer bringen. Wir werden uns leider nicht mehr sehen, denn Sie müssen morgen früh raus.“

„Früh raus?“

„Keine Sorge, ich schmeiße Sie nicht hinaus. Es ist nur so, dass Ihr Flug so früh geht. Und die Anfahrt muss man ja auch noch einberechnen. Außerdem muss man ja zwei Stunden vor Abflug am Check-In sein.“

„Flug, Flughafen, Abflug?“, zählte ich begriffsstutzig auf.

„Ganz recht. Wir hatten doch abgemacht, dass Sie in aller Abgeschiedenheit an meinem Buch arbeiten. Und was wäre abgeschiedener als Buthan?“

Bhutan?

„Himalaya. Berge. Kaum Touristen. Kein Internet. Keine Ablenkung.“

„Sie schicken mich in den Himalaya?“

„Ja. Aber keine Sorge. Ich komme für alle Kosten auf. Für die gesamten sechs Monate wird für sie gesorgt sein.“

Sechs Monate?“

„Sie müssen sich um nichts kümmern. Außer ums Schreiben. Dazu bekommen Sie noch ein Taschengeld. Natürlich alles unabhängig von der Million. Sechs Monate reichen Ihnen doch?“

„Ja. Natürlich. Aber...“

„Keine Widerrede. Sie haben bereits unterschrieben. Auf dem Flug haben Sie ja die Zeit, das Kleingedruckte zu lesen. Und da werden Sie feststellen, dass dort nichts anderes steht als Bhutan.“

Das, was auf dem Vertrag wie Fliegenschiss ausgesehen hatte, war also das Kleingedruckte.

Ich wurde panisch. „Jemand muss meine Frau informieren...“

Er machte eine Handbewegung: „Ist alles schon erledigt. Ihre Frau weiß Sie in guten Händen. Sie ist einverstanden. Wir zahlen auch ihr eine monatliche Entschädigung, weil sie so lange auf ihren Mann verzichten muss. Einmal in der Woche werden Sie beide telefonieren können.“

„Kann ich vielleicht jetzt noch telefonieren?“ Ich tastete meine Hüften ab und musste feststellen, dass mein Handy ja in meinem Anzug und mein Anzug in den Händen von Mennering war.

Er gab sich untröstlich. „Ausgeschlossen. Ihr Auftrag setzt voraus, dass Sie sich ab jetzt ganz darauf konzentrieren. Sie werden dafür die Möglichkeit haben, schon heute mit dem Projekt zu beginnen. Wir stellen Ihnen einen Laptop und Papier. Etwas Anderes brauchen Sie nicht. Ich will nicht, dass Sie irgendetwas recherchieren. Das Buch soll ganz in Ihrer Phantasie entstehen.“

„Ich bekomme jetzt also etwas zu essen?“, gab ich jeden Widerstand auf. Der Hunger machte mich erpressbar.

„Natürlich. Nachdem Sie sich geduscht und angezogen haben.“

„Und dann bräuchte ich noch meinen Anzug und mein Handy.“

„Anzug und Handy bleiben vorerst hier. Die schicken wir Ihnen mit dem Auto nach Hause. Ihr Pass befindet sich ja in Ihrem Koffer. Ihre Frau hat mitgedacht. Keine Sorge, nichts geht verloren. Wir haben das Navi aus dem Wagen retten können. Sobald er wieder zusammengepuzzelt ist, fährt einer meiner Chauffeure ihn an die Startadresse Ihrer Hin-Strecke. Wenn Sie morgen zum Flughafen gebracht werden, werden Sie die Gelegenheit haben, ihn kennenzulernen.“

Die Flut an Überraschungen drohte mich wegzuschwemmen. Schon im Augenblick des Hörens verdrängte ich alles Unbehagen und entschied mich endgültig, all das zu machen, was mir eine Million einbringen würde. Und ich nahm innerlich Abschied von meiner Frau: „Bis bald, Beate“, fuhr es mir durch den Kopf.

Steigbügel spannte sich die Kordel des Bademantels über den Bauch, strich sich die Strähne zurück auf die Glatze und reichte mir abschließend die Hand. Als ich aufstand, um ihm die meine hinzustrecken, fiel die Badehose herunter. Der alte Mann betrachtete stumm mein Glied und reichte mir den Bademantel.

Nun saß ich im Taxi von der Hauptstadt Thimphu ins Gebirge und fror. Das Taxi war nicht geheizt und gleichzeitig nicht sonderlich neu, überall zog es durch. Ich hatte eine Liste mit Kapiteln in dem Aktenkoffer, den mir Steigbügel hatte zukommen lassen. Weiter hatte ich meinen Koffer mit Herbstkleidung. Und eine dünne Jacke. Die trug ich gerade. Den Herbst hatte ich hinter mir gelassen. Hier schien es eher Winter zu sein. Ich hatte mir keine Gedanken darüber gemacht, dass das Königreich Bhutan ja auf der Nordhalbkugel lag und dort deshalb nicht der Frühling anbrach, wenn uns der Herbst gerade auf den Weg in den Winter schickte. Dazu kam, dass ich hier im Himalaya war, im höchsten Gebirge der Welt. Jedes Kind wusste, dass es im Gebirge ganzjährig kälter war als in der norddeutschen Tiefebene, wo Beate und ich wohnten. Der Winter hielt hier schlicht zwei Monate früher Einzug als bei uns. Steigbügel musste das einfach nicht bedacht haben, Bhutan hörte sich exotisch an und Exotik verbindet man nun mal mit besseren klimatischen Bedingungen als in Europa. Als Kind hatte ich mal eine Bhutan-Briefmarke gehabt und wollte unbedingt dorthin. Nun aber wünschte ich, er hätte mich auf eine Pazifikinsel geschickt, auf Hawaii oder ähnliches. Noch fuhren wir durch eine weite grüne Talsohle, aber ich wollte nicht wissen, wie ungemütlich es noch werden würde, schickte man mich in die Berge hinauf, deren ewiger Schnee mich mit seinem Leuchten aus ferner Höhe grüßte. An meinem Ziel sollte ich erfahren, wohin mein weiterer Weg mich führte. Daher ging ich davon aus, dass ich nicht dort bleiben würde. Mein Taxifahrer und Führer hatte Weisung, mich zu einem Hotel in meinem Zielort zu bringen. Alles verlief reibungslos. Immer wieder wusste jemand, wohin ich als nächstes gefahren oder geflogen werden sollte. Eines musste man Steinbügel lassen: Seine Mitarbeiter hatten alles akribisch vorbereitet.

Gleich im Anschluss an meinen Vertragsabschluss im Saunabad hatte es Abendessen gegeben. Man hatte mir im Dienstbotenzimmer Schweinebraten mit Mayonnaise gereicht. Beilagen hatte es keine gegeben, aber das war mir ziemlich egal gewesen, so konnte ich mehr Fleisch essen, um das Maul meines Magens endgültig zu stopfen. Mein Gästezimmer war karg gewesen, hatte aber über einen Schreibtisch mit Lampe verfügt, über dem ich jedoch bald eingeschlafen war. Mitten in der Nacht hatte ich mich ins Bett geschleppt und nur wenige Stunden später war ich geweckt worden. Herr Mennering hatte mir das Badezimmer gezeigt und ich hatte gerade genug Zeit gehabt, um einen Happen zu frühstücken. Dann war ich in einen Mercedes gesetzt worden und der Chauffeur hatte mich in die nächste Großstadt zum Flughafen gefahren. Dort war ich gut betreut worden und nach zwei Stunden in das pünktlich abfliegende Flugzeug gestiegen.

Ich war nie ein großer Reisender gewesen. Ich liebte das Reisen nicht besonders, aber ich hatte auch keine Flugangst. Mir fehlte lediglich etwas die Erfahrung mit Flugzeugen. Aber die Stewardess passte auf mich auf wie auf ein allein reisendes Kind. Als ich auf die Toilette musste und meinte, jemand habe sich darin eingeschlossen, zeigte sie mir, mit welchen Handgriffen man die Tür aufbrachte. Sie half mir beim unbequemen Essen auf dem Economy-Class-Sitz und stellte mir den Videoplayer so ein, dass ich den gewünschten Film sehen konnte. Später, als ich einnickte, verstellte sie meine Rückenlehne so, dass ich etwas mehr lag als saß.

Erst mit dem Aufenthalt in den Emiraten kamen die Probleme. Da wurden meine Betreuer durch einen Transitausweis aus Plastik ersetzt. Also irrte ich mit dem Ausweis durch die endlosen Korridore und Hallen dieser Plastikwelt, mit ihren Shopping-Malls und sterilen Restaurants, ohne genau zu wissen, wo ich hin sollte. Da ich drei Stunden Aufenthalt hatte, konnte in den ersten zwei Stunden niemand etwas mit meinem Transitausweis anfangen. In der letzten Stunde aber gab sich jeder vom Flughafenpersonal unglaublich hilfsbereit. Jeder wollte mir den Weg weisen, was jedoch meinen vorläufigen Untergang bedeutete. Denn keiner wusste genau Bescheid. Ich rannte von einem Ende des Terminals zum anderen. Ich bettelte, dass man mich in den zweiten Terminal wechseln ließ, nur um dann nach aufwendigem Gezerre und Gesuche festzustellen, dass ich doch in den Ursprungsterminal musste. Ich fragte andere Fluggäste, die mir nicht helfen konnten, sondern die ich durch meine Fragerei eher selbst noch verwirrte, bis sie im Kollektiv das Flughafenpersonal bestürmten.

Als ich mich vor einen Infostand stellte und mich weigerte, mich zu bewegen, bis ein Vorgesetzter kam und eine Lawine an Telefonaten los trat, an deren Ende man eine kleine Asiatin eigens dazu abstellte, mich zu meinem Gate zu begleiten, merkte ich, wie hungrig ich war. Das Bordessen war schon einige Stunden her. Damit kam die zweite Herausforderung. Ich hatte kein Bargeld dabei, auch meine Kreditkarte hatte mir Steigbügel verweigert. Ich bettelte meine Begleiterin an, aber sie lächelte mich nur mitleidig und befangen an und tat gar nichts.

In einem Kiosk, wo es Zeitschriften auf Englisch, Arabisch und Russisch gab, Staubfänger aus dem Golf, Zigarettenstangen und Matroschkafiguren, klaute ich einen Schokoladenriegel und eine Cola. Die Asiatin sah es, duldete es jedoch. Die Währung, in der die Waren ausgeschrieben waren, war mir ganz und gar unbekannt und Preise von 20 Geldeinheiten für ein Stück Schokolade erinnerten mich an Vor-Euro-Zeiten. Um die Ecke verdrückte ich die Schokolade und kippte die Cola in meinen Rachen. Ich gab ein jämmerliches Bild ab. Meine Begleiterin nahm für die Dauer des Mahls einen gebührlichen Abstand zu mir ein.

Kurz bevor ich mein Gate erreichte, wollte ich noch einmal die Toilette aufsuchen. Ich sah wohl nicht genau hin oder verwechselte die eine arabische Buchstabenfolge mit der anderen, weil sie sich so ähnlich sahen. Jedenfalls landete ich nicht auf der Toilette, sondern in einem Raum, der nur dafür geschaffen worden war, dass Starkraucher sich hier ihrer Sucht voll und ganz hingeben konnten, bevor sie im Flugzeug für viele Stunden wieder darben mussten. Ich erstickte beinahe an so viel Rauch in meinen Atemwegen. Ich hatte selbst nie geraucht und Passivrauchen immer als besonders unangenehm empfunden. Aber was in diesen Stuben mit meiner Lunge geschah, ging weit über Passivrauchen hinaus. Ich glaube, ich atmete mehr Rauch ein als die Menschen, die dort nur an ihrer Zigarette sogen. Nach wenigen Sekunden schon stellte ich mir vor, wie ich wegen Rauchvergiftung in ein Emirate-Krankenhaus eingeliefert werden würde, wo ich, weil ich keine Zahlungsmittel dabei hatte, kein Essen und keine Behandlung bekäme, bevor man mich ins Gefängnis sperrte, weil ich ohne Devisen eingereist war. Also stürzte ich zur Tür und brach vor dem Raum hustend auf dem Boden zusammen. In der eigentlichen Toilette trank ich anschließend Wasser und spülte meinen Mundraum aus. Erst am Gate befand ich mich in Sicherheit. Gierig knabberte ich Erdnüsse, die man uns in Minipackungen zusammen mit Gratiszeitungen gereicht hatte.

Der Flug nach Neu-Delhi glich aufgrund der Klimaanlage einer Winterreise. Der Weiterflug nach Bhutan verlief weitgehend reibungslos, nur dass eine litauische Familie neben mir saß, die mich nicht nur mit ihrer Lautstärke, sondern auch mit ihrer schrecklichen Sprache piesakte, so dass ich schon beim Landeanflug dem bhutanischen Singsang entgegen fieberte, der dagegen nichts als Balsam für meine Ohren sein würde.

Beim Ausgang der Gepäckabholung traf ich sofort auf meinen nächsten Verbindungsmann. Er hielt ein Schild mit meinem Namen hoch, und obwohl man Stahl mit AH schreibt und nicht mit Doppel-A, ließ sich unschwer erkennen, dass er mein Mann war. Er war vielleicht Mitte vierzig. Er stellte sich als Kimpong vor. Kimpong, Dongsai, um genau zu sein, und ich wusste nicht, welcher nun sein Vorname und welcher sein Nachname war. Schließlich nannte ich ihn Kim, was mir im Zusammenhang mit Asiaten ein angebrachter Name zu sein schien.

Interessanterweise sprach er deutsch. Als ich ihn fragte, wie dies komme, sagte er, er sei in jungen Jahren in der DDR ausgebildet worden. Seine Regierung habe ihn dorthin geschickt, damit er die demokratischen Prinzipien kennen lerne und seinen König darin unterrichte. Es habe aber ein Missverständnis gegeben, und eigentlich hätte die BRD sein Ziel sein sollen, aber da man Helmut Kohl wegen seines Aussehens für einen Kommunisten hielt, Honecker aus demselben Grund hingegen für einen lupenreinen Demokraten, habe man angenommen, die DDR sei die BRD und umgekehrt. So sei er schließlich in Karl-Marx-Stadt gelandet, wo er gelernt habe, wie man Zahnräder mit Getriebestangen verschraubt. Nach dem Jahr, das für seine Ausbildung vorgesehen war, habe er ausreisen wollen, da er in diesem Alter unbedingt zum ersten Mal heiraten wollte, man ihn aber keine deutsche Frau heiraten ließ. Das Ausreisen habe man ihm aber ebenso wenig gestattet, weil die Behörden ihn für einen Vietnamesen hielten und die vietnamesische Regierung ihm keine Freigabe erteilte. Zu diesem Zeitpunkt sei seiner Regierung noch nicht klar gewesen, dass es jenem Land an Demokratie genauso mangelte wie an brauchbaren Zahnrädern. Deshalb habe sein Land auch nichts für seine Ausreise unternommen und stattdessen sein längeres Bleiben begrüßt und der Deutschen Demokratischen Republik für ihre Gastfreundschaft gedankt. Schließlich habe er keinen anderen Weg mehr gesehen, als zu fliehen. Er habe erfahren, dass die Grenze von Soldaten strenger bewacht wurde als der Korphu-Bergpass in Tongsa vom Wetter. Deswegen habe er sich akribisch auf die Flucht vorbereitet. Monatelang sei er nach der Arbeit in sein winziges Zimmer gekommen und habe an den Details der Flucht gefeilt. Es habe mehrere vergebliche Anläufe gegeben, bei denen er beinahe erwischt worden wäre. Eines Nachts sei er jedoch, unentdeckt von Scheinwerfern und Hunden, durch die Todeszone gekrochen, habe sich einen Arm gebrochen und vom Stacheldraht die Beine aufreißen lassen, und sei bei Tagesanbruch erschöpft auf BRD-Boden liegengeblieben, nur um am selben Tag zu erfahren, dass die Grenze am Vorabend geöffnet worden war.

Dies alles erzählte er mir in seinem Wagen, einem uralten, rostigen Taxi, auf dem Weg vom Flughafen Paro in die Hauptstadt Thimpu. Er sagte mir, er sei für die Dauer meines Aufenthalts mein Betreuer, und obwohl er in Thimpu lebe und arbeite, werde er mich in die Berge begleiten und seine Frau mitnehmen, man bezahle ihn ja so gut dafür, dass er auf's Taxifahren während der Zeit verzichten könne. Bevor es jedoch in die Berge gehen könne – ich sah nach draußen und wollte meinen, wir seien schon in den Bergen -, müssten wir noch einen Abstecher in die Hauptstadt machen. Die Gesellschaft, für die er arbeite, wolle sichergehen, dass ich auch angekommen sei und er mich unter seiner Obhut habe. Sie müsse dann dem Auftraggeber in Deutschland - meinem Arbeitgeber? -, eine Nachricht schicken, so dass dieser wisse, dass alles geklappt habe. Ich sagte, dass sei für mich alles kein Problem und ohnehin ziehe es mich nicht sofort in die Berge. Fröstelnd schaute ich hinaus auf die Bergspitzen.

„Was mach Hea Genosse in Bhutaan?“, fragte Kim während er den Lenker herumriss.

Ich sagte ihm, dass er mich bei meinem Namen nennen könne, und er löcherte mich weiter nach dem Grund meines Kommens.

„Arbeiten“, sagte ich.

„Was albeit Sie?“

„Dies und das.“

„Ahhh.“ Er lächelte aufrichtig. Er hatte gute weiße Zähne. Sein Haar war im Nacken sehr kurz geschnitten. Der Kragen seiner Jacke war fellgesäumt und er hatte eine Ledermütze mit einem Saum aus Lammfell auf.

Ich lächelte vielsagend in den Rückspiegel.

„Muss sein wichtig Albeit“, ließ er nicht locker.

„Warum?“

„Weil Albeitgeb so viel zahl.“

„Ja“, sagte ich.

„Mein Chef ist ganz flöhlich. Ganz flöhlich. Vieel Gel. Viel deutsch Gel.“

„Ja“, sagte ich erneut. „Ich bin auch fröhlich.“

„Ich auch!“, versicherte Kim. „Mein Flau auch.“

„Dann ist ja gut“, meinte ich und lenkte den Blick vom Rückspiegel wieder nach draußen.

„Albeitgeb zahl für Hea Genosse Umtauschgebüa?“

„Dass heißt Sie, einfach nur Sie!“, sagte ich etwas ungehalten. „Was meinen Sie mit Umtauschgebühr?“

„Sie könn mich Du nenn.“

„Was meinst Du mit Umtauschgebühr, Kim?“

„Sie müss imma 250 Dollaa zahl. Jed Toulis.“

Ich machte eine wegwerfende Handbewegung: „Komm, lass es. Du kannst mich auch duzen, also du zu mir sagen.“

Sein Gesicht hellte sich auf: „Ich dank dia, Genosse.“

„Kein Genosse mehr! Verstanden?“

„Ja“, sagte er geknickt.

„Also jede Woche muss man 250 Dollar zahlen?“, nahm ich den Faden in mildem Ton wieder auf.

„Jed Tag.“

„Was? Jeden Tag?“

„Ja. So komm kein alm Toulis hiahea. Der König will kein alm Toulist im Lan. Bhutaan is ein stolz Lan.“

„Sicher“, sagte ich in Gedanken. Ich rechnete gerade die Summe aus, die mein sechsmonatiger Aufenthalt kostete.

„In Indien, in Nepal, gib es viel alm Toulis, aba sie bring nua Ploblem und kein Gel. Du verstehs?“

„Verstehe ich.“

Wir fuhren nach Thimpu hinein. Die Stadt war nicht sonderlich groß, lag an einem Fluss und war ganz in einem traditionellen Stil gehalten. Die Gebäude hatten, selbst wenn sie mehrstöckig und neueren Datums waren, pagodenförmige Dächer und waren weiß oder beige getüncht. Wir kamen an Palästen und Tempeln vorbei, an Parks und Märkten. Es war so wenig los auf den Straßen, dass es keine Ampeln gab. Auch Fahrradfahrer suchte ich vergeblich. Im Zentrum der Stadt lag das Büro, das meinen Aufenthalt organisierte. Wir parkten davor, mitten auf der Straße und gingen hinein. Ich wurde Kims Chef lediglich vorgeführt. Er antwortete nicht auf meine Begrüßung, sondern stellte lediglich meine Anwesenheit durch ein paar Haken auf einem Formular fest. Dann sagte er etwas zu Kim und dieser wies mir wieder den Weg nach draußen. Dass es in der ganzen Stadt keine Ampel gebe, erwähnte Kim. Er fahre mich jetzt nach Trongsa, meinem Ziel, teilte er mir mit. Dann fahre er zurück hierher und komme mit seiner Frau nach. Trongsa werde mir sehr gefallen.

Ich ließ den Blick ziellos über die Landschaft schweifen. Bis auf die gelegentlich in meinem Geist auftauchende Vorstellung von meinem ersten Bankauszug in Deutschland gefiel mir gar nichts. Beate vermisste ich bereits. Je länger wir fuhren, desto einsamer und unwohler fühlte ich mich, denn desto näher kamen die Ausläufer der Schneedecken, welche wie weiße Hussen über die Spitzen der Berge gelegt worden waren. Ich hatte Angst, ihre Eiseskälte könne über Kilometer hinweg in die Täler abstrahlen und sah mich schon auf dem örtlichen Markt Schafe kaufen, die ich dann mit einem Messer von Kim schlachtete und häutete, so dass ich mir aus ihrem Fell wetterfeste Kleidung schneidern konnte.

Nach unendlich vielen Serpentinen kamen wir schließlich in das kleine Nest, das mich beherbergen sollte. Es lag an einem bewaldeten Hang oberhalb einer großen, langgezogenen Klosterfestung, die ein wenig an den berühmten Palast in Tibet erinnerte, an dessen Namen jedoch ich mich nicht mehr erinnerte. Die wenigen Häuser drängten sich dicht an dicht. Kim hatte schon auf der Fahrt gemeint, sie seien im Trongsa-Stil gebaut, was mir zwar einleuchtete, aber als Orientierung nicht bedeutend weiterhalf. Sie waren allesamt mehrstöckig. Die Fenster hatten hölzerne Rahmen aus aufwendigem Schnitzwerk. Die Absätze der beiden obersten Stockwerke waren aus lohfarbenem Fachwerk, die unteren ausnahmslos weiß. Die flachen Giebeldächer standen weit über die Mauern hinaus. Die Stadt verfügte über keine richtige Straße, sondern nur über Fußgängerwege zwischen den Häusern, und so parkte Kim seinen Wagen am Ortseingang auf einem staubigen Platz zwischen einem Gatter mit Kühen, einem mit Schafen und einem abgeernteten Gemüsebeet.

Es ging ein durchdringender Minusgrade-Wind und ich wünschte mich sofort in das unbeheizte Taxi zurück, oder in den Klimaanlagen-Kühlschrank Boeing 737, oder in die kuschelig warme Rauchbox in Dubai. Meine Jacke war hier zu einem nutzlosen Lumpen degradiert.

Um zu meiner Unterkunft zu gelangen, mussten wir den gesamten Ort durchqueren. In einem solchen Eck der Erde erwartete ich eine neugierige Beäugung meiner Person, aber die blieb aus. Sogleich schloss ich darauf, dass hier häufiger Touristen vorbei kamen. Kurze Zeit später sah ich mich bestätigt: Ein weißer Mann sprach mit seiner Frau schwäbisch. Ich hüllte mich in Schweigen und tat so, als wäre ich ihrer Sprache nicht mächtig; was gewissermaßen auch stimmte. Kim konnte meine Zurückhaltung sofort lesen und sprach nicht mit mir, bis wir außer Hörweite waren.

Nach dem Ortsausgang ging es noch einmal etwa fünfhundert Meter leicht den Berg hinauf, dann standen wir vor einem einstöckigen Holzhaus unterhalb eines Birkenhains, das eher nach einer amerikanischen Blockhütte aussah, als nach einer Datscha im Trogsa-Stil. Daran hatte also Steigbügel gespart. Kim reichte mir den Schlüssel und sagte, dass diese wunderbare Villa nur für mich und ganz allein für mich sei und dass ich dort machen dürfe, was ich wolle. Er komme in zwei Tagen zurück. Bis dahin könne ich die Stadt erkunden. Ich sagte ihm, dass ich das Dorf ganz sicher erkunden werde.

Als ich auf das Häuschen zuschritt, hielt ich den äußerst kleinen Schlüssel, den mir Kim gegeben hatte, in der Hand. Ich nahm die zwei Stufen auf die Veranda mit Schwung, was sich sofort als Fehler herausstellte: Eines der Holzbretter war so morsch, dass es durch den Aufschlag meines Körpers zerbrach. Ich konnte gerade noch den Fuß wegziehen, bevor mein Bein auch noch in dem Loch verschwand. Mein Schleichen in Richtung Tür wurde von einem vieltönigen Knarren untermalt. Die Tür verfügte über kein eingebautes Schloss, sondern nur über eine festgenagelte Vorrichtung, durch die man ein Vorhängeschloss gezogen hatte. Dieses öffnete ich und ließ die Türe nach draußen aufschwingen.

Modriger Geruch kam mir entgegen. Drinnen war es sehr dunkel. Ich konnte nur ein Fenster erkennen, und dieses ging zum Hang hinaus. Ein Vorhang sorgte dafür, dass noch weniger Lumen in diesem Raum herrschten. Dafür baumelte eine Glühbirne von der Decke. Nach einigem Tasten fand ich auch den Lichtschalter. Zusätzlich zog ich den Vorhang vor und sah mich um. Es gab ein Bett, so breit, dass drei Personen darin locker Platz gefunden hätten, einen Schreibtisch, so klein, dass selbst ein Erstklässler seine Hefte nicht dort hätte platzieren können und einen Ofen aus Gusseisen, so durchgerostet, dass selbst ein Erfrierender ihn wegen Brandgefahr nicht benutzt hätte. Über die Bodenbretter war ein alter, ausgeblichener Teppich gelegt worden. Es gab ein Waschbecken aus Emaille mit Wasserhahn, der aus irgendeiner Bergquelle gespeist wurde und bei Benutzung einen schwefligen Geruch absonderte. Und es gab eine Steckdose am Ende eines Kabels, das man durch ein Loch in der Wand geführt hatte. Daneben befand sich eine Schachtel mit Adaptern. Schließlich fand ich zu meiner Überraschung sogar genau den, den ich für mein Notebook und meinen Föhn brauchte, und atmete tief durch.

Ich verließ das Häuschen, um es zu umrunden. Auf der rückwärtigen Seite meiner Unterkunft befanden sich ein Plumpsklo und das Gegenstück zum Wasserhahn innen: Ein Schlauch, der über einen Holzbügel gehängt die Dusche darstellte. Eine Brause suchte ich vergeblich, auch einen Wärmeregler. Dafür fand ich eine ausrangierte Badewanne, die auf einen Bock aus Ziegelsteinen gestellt worden war. Darunter befand sich eine Feuerstelle. Ich war mir im Moment der Betrachtung sicher, dass ich für sechs Monate auf ein heißes Bad in diesem Kannibalenzuber verzichten würde. Ein Wasserschlauch und eine Stromleitung, die vom Haus aus irgendwo im Birkenhain verschwanden, rundeten das Bild ab.

Mir wurde klar, was geschehen war: Der Chef von Kim hatte Steigbügel reingelegt. Er hatte das Maximum an Gewinn aus dem Handel herausgeschlagen und Steigbügel konnte es nicht kontrollieren. So würde ich von meinem Auftraggeber noch eine zusätzliche Entschädigung fordern müssen. Ich wusste nicht, ob jemand für einen Kleckerbetrag wie einer Million Euro jemals so große Opfer gebracht hatte wie ich.

Nachdem ich meine Sachen ausgepackt und in das verstaubte Regal gestapelt hatte, das mir als Kleiderschrank diente, ruhte ich mich in meine Jacke und dünne Bettdecke gehüllt auf dem brüchigen Schaukelstuhl auf der Veranda aus. Drinnen war es nicht wärmer als hier. Der Tag neigte sich dem Ende zu. Vom Dorf hatte ich schon genug gesehen. Später würde ich hinuntergehen und in einem Restaurant etwas essen. Es wurde kälter und kälter. Die Sonne schenkte jetzt selbst den diamantenen Berggipfeln kein Licht mehr und ich dachte an Beate und unser Wohnzimmer zurück, an den Kachelofen im Winter und den Flachbildfernseher, das gemütliche Sofa und ein Abendessen mit Rotwein. Ein gutes Buch und einen Bourbon. Beate. Ein Bourbon. Ein Bourbon.

Nach dem kärglichen Abendessen, dass nur aus Momos und Brot und einer ungenießbaren Limonade bestand, hatte ich mich im völligen Dunkel der Bergnacht zu meinem Haus vorgetastet, das Loch im Boden gemieden, das Loch im Schloss gefunden und mich in diesem Loch zum Schlafen gelegt, gehüllt in drei Pullover, meine Jacke und die dünne Bettdecke. Der Wind blies durch die Löcher und Ritzen meiner Trapper-Bude aus dem vorvorigen Jahrhundert und strich mir über das Gesicht. Ich fühlte mich wie ein verarmter Ledertrumpf. Erst nach Stunden schlief ich ein.

Ich träumte davon, wie ich nach meinem sechsmonatigem Aufenthalt Bhutan verlassen wollte. Wie die Bhutaniker Deutschland mit Dänemark verwechselten, weil Angela Merkel wie die dänische Königin aussah und die dänische Ministerpräsidentin wie Romy Schneider, und auch noch zum Verwechseln ähnlich hieß. Wie die Regierung der Bhutaniker mir das Ausreisevisum verweigerte, weil der dänische Konsul bei Rückfrage durch die bhutanischen Behörden mich für einen Vertragsarbeiter bei der dänischen Entwicklungshilfe hielt und mir deshalb keine Freigabe erteilte. Wie Herr Steigbügel glaubte, ich wolle noch einen Nachfolger zu meinem ersten Buch schreiben und daher länger in Bhutan bleiben, und er deshalb einen Dankesbrief an die hiesige Regierung für die Verlängerung meiner Aufenthaltsgenehmigung schrieb. Wie mir nichts übrig blieb, als Pläne zur Flucht zu schmieden und unter großen Entbehrungen alleine die Berge zu überqueren. Wie ich über den Himalaya nach Indien wanderte. Wie ich in Indien schließlich feststellen musste, dass Indien Italien war und ich lediglich die Schweizer Alpen überquert hatte. Wie man mir noch am selben Tag sagte, dass am Vorabend das Schengener Abkommen zur Abschaffung von Personenkontrollen aufgehoben worden war. Als ich am Comer See wegen Grenzverletzung von Berlusconis Schergen festgenommen wurde, wachte ich auf.

Noch im Halbschlaf grübelte ich darüber, warum Menschen miteinander verwechselt wurden, die sich zwar von Nahem sehr ähnlich sahen, von Weitem aber gar nicht. Dann grübelte ich über diese Grübelei nach. Dann wachte ich endgültig auf.

Ich wachte auf, weil ich fror. Ich wachte auf, weil meine Blase drückte. Ich wachte auf, weil es klopfte. Es klopfte? Kim wollte erst am Folgetag wieder da sein.

Ich wickelte mich aus der Bettdecke, zog die Jacke aus und schlüpfte mit meinen Doppelsocken in die Halbschuhe. Es war helllichter Tag, denn die Ritzen im Blockhaus leuchteten hell. Ich schob den Riegel zurück, um dem bhutanischen Bauersweib zu öffnen, um dem schlitzäugigen Ziegenpeter meine Aufwartung zu machen. Ich hatte keinerlei Scham, den Einheimischen ungewaschen gegenüber zu treten. Sie hatten mich ja erst in diese missliche Lage gebracht.

Was vor mir erschien, als die Türe aufklappte, war das vollkommene Gegenteil dessen, was ich erwartet hatte: Ein ausgesprochen hübsches braungebranntes Gesicht mit Sommersprossen auf einem großbrüstigen, durchtrainierten Körper. Lange, sich über die Schulter wellende blonde Haare, lange Beine, fester Hintern. Die Frau war vielleicht Anfang dreißig, trug hautenge Thermokleidung in weiß und einen Kragen aus hellbraunem Fell.

„Hallo, ich bin Janine“, sagte sie mit einem schweizer Akzent.

Ich stellte mich etwas peinlich berührt vor und strich mir durch meine ungewaschenen Haare.

„Ich weiß, wer Sie sind“, sang sie und rollte das R. „Ich werde dafür bezahlt, für Sie da zu sein. Ich bin Ihre Kletterlehrerin.“

„Kletterlehrerin?“

Sie lächelte entwaffnend. „Ja, Sie sollen doch klettern lernen.“

„Soll ich das?“ Ich konnte meine Augen nicht von ihren lassen.

„Der Assistent eines gewissen Herrn Steigbügel hat mich kontaktiert. Seit einer Woche bin ich hier und warte auf Ihre Ankunft.“ Ihre Augen waren dunkelblau. Ein Bergsee, in den ich sofort springen wollte. Vorausgesetzt er war vorgewärmt.

„Aha. Das gehört also auch zum Programm.“

„Ich dachte, Sie sind nur zum Klettern hier.“

Ich besann mich auf die Stillschweigeklausel und sagte: „Ja, natürlich.“ Ich dachte nach. „Ich will klettern lernen, und ein guter Freund spendiert mir diesen Kurs.“

Sie nickte und lächelte wieder: „Sie sind nur etwas durcheinander. Noch Jetlag, was?“

„Ja, so kann man es sagen. Aber jetzt brenne ich auf's Klettern. Ich kann mein erstes Mal gar nicht erwarten.“

Janine schmunzelte ob der krummen Anspielung.

„Wann geht’s los?“, fragte ich. Mein Übereifer sollte den Verdacht verwischen, ich sei wegen etwas Anderem hier. Mein Übereifer galt ihrem Körper und dem, was sie damit an Männern und nicht an Steilwänden machte.

„Das wollte ich Ihnen gerade sagen“, sagte sie in äußerst charmantem Tonfall.

„Also?“

„In zwei Stunden können wir anfangen. Kommen Sie erst mal irgendwie in den Tag. Essen Sie im Dorf etwas zum Frühstück. Ich bin in zwei Stunden wieder hier, dann auch mit allen Klettersachen.“

„Klettern wir hier?“

„Das ist ein Stück weit weg. Eine halbe Stunde Fußmarsch. Also brauchen wir circa eine Stunde.“

„Warum denn das?“

„Wir gehen nicht zu Fuß.“

„Wie soll ich das verstehen?“

„Ihr Freund hat uns Scherpas spendiert.“

Ich verstand immer noch nicht, wollte es aber dabei belassen. Ich würde schon noch sehen, was sie meinte, dachte ich. Waren Esel langsamer als Menschen? Scherpas. Das hörte sich an wie Katzenfutter.

Wir verabschiedeten uns und ich ging in die Kneipe frühstücken, wo ich auch zu Abend gegessen hatte. Als ich fragte, was es zum Frühstück gebe, sagte der Ober in schlechtem Englisch: „Momos mit Brot.“ Als ich fragte, ob es dazu Kaffee gebe, sagte der Ober: „Zum Frühstück gibt es Limonade.“

Anschließend wartete ich nach einer kurzen kalten Katzenwäsche auf meiner Veranda auf meine Kletterlehrerin.

Sie kam mit drei Einheimischen in traditionellen Kostümen; zwei Männern und einem Jungen von vielleicht zehn Jahren. Die drei lächelten mich unentwegt an. Der kleine Junge trug sämtliche Klettersachen auf dem Rücken.

„Sie sind bereit?“, fragte Janine überfreundlich.

„Soweit, ja.“

„Dann kann es ja losgehen.“ Sie machte einem der Männer ein Handzeichen. Er bückte sich und sie schwang sich auf seinen Rücken. Er nahm sie, ohne zu klagen, Huckepack. Er schien das Gewicht locker halten zu können, während sein Sohn unter dem der Ausrüstung beinahe zusammenbrach.

Sie machte dem anderen auch ein Handzeichen und gebot mir, mich ebenfalls auf den Rücken nehmen zu lassen. Ich ließ es geschehen, auch wenn ich Skrupel hatte.

Janine sah es mir an. „Machen Sie sich nichts daraus“, sagte sie. „Das machen die beruflich.“

„Der da auch?“ Ich deutete auf den Kleinen.

„Für leichte Sachen nehmen sie Kinder, das ist ganz normal.“

„Na dann“, sagte ich schicksalsergeben. „Unsere Kleidung ist ja auch von Kindern in Pakistan gemacht.“

Mein Träger fing an zu schnaufen und die Karawane setzte sich in Bewegung.

„Pakistan ist ja auch gar nicht so weit weg“, sagte Janine und rückte in eine andere Position.

„Das stimmt“, sagte ich stöhnend. Irgendwie klemmten meine Weichteile. Mit einem Stoß in seinen Rücken befreite ich sie.

„Jesus hat bei seinem Weg nach Golgatha noch ein viel größeres Gewicht getragen“, beschwichtigte sie mich weiter.

„War das auch beruflich?“

Sie lachte auf. „Wenn man so will, ja.“

„Und was ist jetzt mit dem Katzenfutter?“, fragte ich.

„Katzenfutter?“

„Vergessen Sie's.“

Über eine Stunde ging es steil bergauf, dann kamen wir an eine Felswand. Der kleine Junge machte 100 Meter davor schlapp und wir mussten die Ausrüstung holen. Die Männer ließen sich ins Gras fallen. Janine beachtete sie nicht mehr. Erst als sie zu ihr kamen und sie etwas fragten, sagte sie, sie könnten in ein paar Stunden wiederkommen. Die zweieinhalb Männer machten sich an den Abstieg.

Meine Kletterlehrerin erzählte mir, dass dies die berühmteste Kletterwand Bhutans sei, sozusagen eine der berühmtesten der Welt. In einer der unzähligen Biographien Reinhold Messners heiße es, dass er hier Klettern gelernt habe, von einem bekannten Bhutaniker, einem Großmeister der Geiernesterplünderer. Später habe er ja dann in Pakistan seine größten Erfolge gefeiert. „Und Pakistan ist ja gar nicht so weit weg“, schloss ich augenzwinkernd und sie grinste, dass es mich fast umwarf.

„So“, sagte sie tatendurstig. „Jetzt müssen wir uns umziehen.“

„Ja, sagte ich. „Wenn wir dabei nicht erfrieren.“

„Dafür kann ich nicht garantieren. Aber die Kletterausrüstung, die hält bombendicht warm.“

„Dann bin ich ja beruhigt“, sagte ich und nahm aus ihrer Hand meine Kleidung entgegen.

Noch bevor ich mich nach einer geeigneten Stelle zum Umziehen umgesehen hatte, begann sie schon, sich zu entkleiden. Ich sah sie entgeistert an.

Sie lächelte. „Was schauen Sie so? Noch nie eine Frau in Unterwäsche gesehen?“

Ich fragte mich, ob dies die Truman-Show war. Und ich war Truman und der Film ein Porno. Der Titel des Pornos lautete: True Men like Truman – How I climbed her rocks. Beate hieß eigentlich Franka und spielte meine Ehefrau. Was wie das bhutanische Hochgebirge aussah, war in Wirklichkeit der Babelsberg in den Babelsberg-Studios in Babelsberg. Und Steigbügel war der Regisseur mit einem Cameo-Auftritt. Widerlich. Erregend.

„Keine Sorge“, fuhr sie fort, als mein Blick befremdet blieb. „Die einzigen, die das stören könnte, sind die Einheimischen, und davon gibt es hier keinen weit und breit.“

„Es tut mir leid“, sagte ich, als ich bemerkte, dass mein Blick zu einem Starren entartet war.

„Kein Problem“, sagte sie nachsichtig und wackelte mit dem Po. „Ziehen Sie sich auch um, ja?“

„Ja“, sagte ich und sammelte mich wieder. Dann begab ich mich hinter einen Felsvorsprung und begann meinen Kleiderwechsel. Als ich bei der Unterhose angelangt war, kam sie um die Ecke. Sie musterte meinen zitternden, mit Gänsehaut überzogenen Körper und sah mich eine Spur zu lasziv an. Dann zog sie sich wieder zurück. Jetzt begriff ich es: Sie war eine Dame, die sich auf ihre Rolle vorbereitete.

Sie war schon komplett ausgerüstet, als ich wieder auf die Vorderseite der Kletterwand kam.

„So“, sagte sie. „Jetzt müssen wir Ihnen nur noch den Klettergurt anziehen. Sie zog mir die Vorrichtung über die Beine und streifte dabei eine Spur zu unabsichtlich die biologische Ausrüstung zwischen meinen Beinen. Dann zerrte sie den Gurt fest und sagte: „Ausgezeichnet. Dann können wir ja loslegen.“

„Fragt sich nur, mit was“, flüsterte ich vor mich hin.

„Was haben Sie gesagt?“

Sehr saftiges Gras, habe ich gesagt.“

Sie blickte auf das gelbliche Gras und machte ein Gesicht, als hielte sie mich für bescheuert.

„Sie machen genau das, was ich auch mache, haben Sie verstanden? Wir fangen hier links an, wo es nicht so steil ist. Da machen wir jetzt mal die Grundübungen. Es sollte nicht so schwierig sein, da hoch zu kommen. Hier brauchen wir noch kein Seil und keinen Pickel. Ich gehe vor und sie kommen nach.“

„Alles klar“, sagte ich.

Ich folgte ihr zu der Stelle. Hier war es noch eher ein Hochsteigen als ein Klettern. Eine Steigung von wenigen Grad, ein paar Steine, die aus dem Erdboden herausragten, keine Felswand.

„Stellen Sie sich hinter mich, dann sehen sie jeden Handgriff“, wies sie mich an.

Ich stellte mich hinter sie. Sie stieg etwa einen Meter hoch, dann verlor sie den Halt und fiel direkt auf mich drauf. Ihr Gesicht landete unmittelbar über meinem und für eine Spur zu lang sahen wir uns in die Augen. Ihr Mund kam näher und ich löste mich und rollte mich unter ihr frei.

„Okay. Das kann ja mal passieren“; sagte sie ungerührt, ohne jedes Anzeichen, dass ihr die Situation im Nachhinein peinlich wäre. Sie lächelte mich an.

Dann machte sie einen erneuten Anlauf. Diesmal stellte ich mich demonstrativ schräg hinter sie. Sie stieg, zog, stemmte. Trotzdem kam sie nicht höher als diesen einen Meter. Nach einer Weile des Herumprobierens verlor sie wieder den Halt und landete diesmal im Gras.

„Ich probiere es selbst mal“, meinte ich.

„Nein, warten Sie“, sagte sie eilig. „Das ist noch zu schwierig. Da kommen Sie nicht hoch. Nicht mal ich...“

In Windeseile war ich mindestens fünf Meter nach oben gestiegen. „Kommen Sie nach, Janine?“, rief ich spöttisch nach unten.

Sie sagte nichts und verkniff den Mund. Stattdessen spannte sie den Körper an und machte einen erneuten Anlauf. Wieder fiel sie nach einiger Zeit nach hinten.

Ich nahm noch einmal fünf Meter. Nach einem kurzen Blick nach unten noch einmal drei. Solche Hänge war ich als Kind jeden Tag hoch geklettert.

Das ganze wiederholte sich noch dreimal. Schließlich stand sie immer noch unten, während ich sie vom Gipfel grüßte. Komischerweise ging ihr das alles nicht an die Ehre. Als ich den sanften Abstieg um die Felswand herum getan hatte, redete sie sich mit zu großem Reisschnapskonsum am Vorabend heraus. Sogleich kam sie auf Ema Datshi zu sprechen, das Nationalgericht; ein Käsechili, das ich unbedingt mal probieren solle. Ob wir heute Abend nicht miteinander essen gehen wollten, fragte sie mich. Normalerweise tue sie das nie mit Kunden, aber ich sei ihr sehr sympathisch und sie möge meinen Humor. Den Reisschnaps müsse ich unbedingt auch mal probieren. Ich dachte mir, dass ich ja nur einen Tag verloren, und daher noch genügend Zeit zum Schreiben hätte. Ihr sagte ich daraufhin, dass ich gerne mit ihr essen gehen wolle, dass sie aber wissen müsse, dass ich verheiratet sei. Das respektiere sie, sagte sie und freute sich sichtlich auf den Abend.

Obwohl ich zurück lieber laufen wollte, bestieg ich auf ihre Bitte hin meinen Träger, meiner Knie wegen, die ich dringend schonen müsse, wenn ich weiter klettern wolle.

Zuhause in meiner Balken- und Bretterbude fror ich wieder so, dass ich den Ofen nicht weiter ignorieren konnte. Ich hatte Janine gefragt, ob es hier keine Butangasflaschen zum Heizen gebe, und sie hatte gemeint, sie kenne nur Erdgas, was mich zu der Frage brachte, ob man wenigstens in Propan mit Gas heize. Sie sagte, in Ländern wie Propan ganz sicher, und mir fiel auf, dass ich schon ganz vergessen hatte, wo jenes andere Land lag und führte dies darauf zurück, dass die Schulzeit schon so lange vorbei war.

Ich ging nach draußen und fand unter einem Verschlag einen Holzstapel, einen Holzstumpf und eine Axt. An dem Holz bediente ich mich in ausreichender Menge und bekam mit den im Zimmer herumliegenden Streichhölzern tatsächlich ein Feuer entfacht, bei dem ich jedoch fast mein gesamtes Schreibpapier als Anzünder verbrauchte. Gerade als der Ofen so stark heizte, dass abzüglich der Abluft eine erträgliche Temperatur herrschte, klopfte es an meiner Tür. Es war Janine, wie ich an der Stimme feststellte.

Sobald ich die Tür auch nur einen Spaltbreit aufgemacht hatte, fragte sie: „Sind Sie fertig?“

„Nein.“

„Dann soll ich wieder gehen?“

„Nein.“

„Nein?“

„Nein. Ich bin in zwei Minuten fertig.“

Durch meine Hinhaltetaktik hatte ich bereits ein paar Sekunden gewonnen, während derer ich mir meine verschwitzten und verrauchten Kleider vom Leib riss. Danach suchte ich etwas Brauchbares für's Essengehen zusammen. Es waren die Sekunden, in denen die Tür offensteht, aber man hofft, dass niemand hereinkommt. Es waren Stresssekunden. Da man mir ja meinen Anzug abgenommen hatte, waren ein Polohemd und ein Kaschmirpullover das Schickste, was ich anzuziehen hatte.

„Sie sehen hervorragend aus“, schmeichelte sie, als ich heraustrat. Über meinen Sachen trug ich noch die etwas schäbige Herbstjacke, die ich auch im Bett getragen hatte.

„Sie auch“, untertrieb ich. Sie hatte sich richtig in Schale geworfen. Über ihrem Kleinen Schwarzen trug sie einen edlen Pelzmantel. Die blonden Locken hatte sie hochgesteckt und ihr Gesicht war dezent, aber wirkungsvoll geschminkt. Der Bergwind trug ihr zurückhaltendes Parfum zu mir.

Ich musste feststellen, dass es bereits fast Nacht war. Das Kloster im Tal war nicht mehr zu erkennen.

Janine bemerkte, dass ich das registrierte und sagte: „Wenn es dunkel ist, kriegt man hier fast nirgendwo mehr etwas zu essen.“

„Und zu trinken?“

„Überall.“

„Dann lassen Sie uns die Pflicht hinter uns bringen“, scherzte ich und sie schloss sich mit einem kurzen Kichern an.

Mit jeder Faser meines Körpers war ich bereit, die bösen Geister der Nüchternheit verscheuchen, mit jeder Körperzelle brannte ich darauf, diesen Beelzebub auszutreiben, den ein klares Bewusstsein in diesem unwirtlichen Land darstellte.

Wir aßen in dem Restaurant, in dem ich schon Abendessen und Frühstück zu mir genommen und bei mir behalten hatte. Da es das einzige im Dorf war, gab es dort auch ein paar Touristen. Bhutaniker, so erklärte mir meine Kletterlehrerin, würden niemals nach Sonnenuntergang einen Bissen zu sich nehmen.

Dänische Entwicklungshelfer, sagte ich, würden hierzulande sicher auch an der Austreibung dieses Aberglaubens arbeiten.

Das Käsechiligericht war ausgesprochen bösartig. Vom Käse bekam mein Gaumen nicht sonderlich viel mit, so sehr brannte der Chili. Der Brand ließ sich auch nicht mit dem Reisschnaps löschen, der als einzige Alternative zur Limonade gereicht wurde. Weil das Essen so scharf war, aß ich nur ein paar Happen, was wiederum den Schnaps in meinen Kopf einschlagen ließ wie eine Boeing 767 in einen Stahl- und Glascanyon.

Als das Restaurant zumachte war, hatten wir die Wahl zwischen einer Bar, in der sich Touristen herumtrieben und einer Spelunke, in der die Einheimischen ihre Dämonen bekämpften. Janine schlug letzteren Ort vor, da seien wir unter uns.

„Unter uns?“, fragte ich bei dem Gedanken an traurige sonnengegerbte Gesichter und die bedrückende Gesellschaft von Menschen, die tagsüber nichts anderes getan hatten, als Menschen, deren Gesichter nicht sonnengegerbt waren, auf ihrem Rücken herumzutragen.

„Unter uns zwei“, erklärte sie. „Da versteht keiner unsere Sprache.“

„Meinetwegen.“

Wie erwartet blickten uns die betrunkenen Augen beim Eintreten durch die niedrige Tür neugierig an, wenngleich mir etwas sagte, dass einige der Augenpaare Janine schon einmal eingefangen hatten.

Wir ließen uns in der hinteren Sitzecke an einem niedrigen Tisch nieder, wo wir eher lagen als saßen.

„Hier betrinke ich mich immer“, sagte sie ungeniert.

„Sie betrinken sich?“

„Ja. Alleine.“

„Warum?“, mein Ton bekam etwas Väterliches.

„Weil ich in diesem Land so einsam bin“, sagte sie mitleiderheischend und lehnte ihren Kopf an meine Schulter. Ich zog diese irritiert zurück. Die Schweizerin war circa 15 Jahre jünger als ich, war also meine theoretische Tochter. Hier war eine Frau, die Haare hatte, wie ich sie mir immer gewünscht hatte: Lang, dicht, wellig, nicht so raspelkurz wie die von Beate. Aber selbst vor ihrer Radikalveränderung hatten die Haare meiner Frau nie so rassig ausgesehen. Hier war ein weiblicher Mensch, dessen Haut 15 Jahre jünger war als die meiner Frau und dessen Bauch 20 Jahre dünner war als der von Beate. Hier war eine Frau, die alles hatte, was ich begehrte, und die offensichtlich einem Zusammenkommen zwischen Bettfedern nicht abgeneigt war, und ich musste alles unternehmen, damit ich nicht Verrat übte an meiner Ehe in einer Kaschemme von Bar in einer Kaschemme von Dorf in einer Kaschemme von Land. Hier war meine theoretische Tochter, die mit mir schlafen wollte, was jeder Mann ab 30 sich wünscht, und ich musste gegen diesen Wunsch ankämpfen. Ich würde stark sein. Schließlich war ich nicht Steigbügel.

Wir betranken uns übel. Irgendwann bot sie mir das Du an und ich bot es ihr ebenfalls an. Ich nannte ihr meinen zweiten Vornamen, damit ich nicht das Gefühl von zu viel Vertraulichkeit bekam, wenn sie mich ansprach. Ich fragte sie, ob sie nicht noch andere Kletterkunden habe und sie verneinte. Selbst wenn sie wolle, dürfe sie niemand anderem Unterricht geben. Das sei vertraglich so festgeschrieben. Sie habe sich einzig und allein um mich zu kümmern, schließlich bezahle ihr Auftraggeber ihren Aufenthalt allein aus dem Grund, dass ich Klettern lerne.

„Seltsam“, meinte ich.

„Warum?“

„Weil ich meinem Freund gesagt habe, dass ich auch noch andere Dinge tun will außer Klettern lernen.“

Ihre Stimme schwankte schon ein wenig: „Waaas? Was denn?“ Sie bekam Schluckauf.

„Dies und das.“

Sie sah mich mit glasigen Augen an: „Aha.“

Ich führte mein Glas an den Mund und verzog das Gesicht. Ich wollte keinen Schluck von dem grässlichen Zeug mehr nehmen.

„Ich brauche Bourbon“, sagte ich entschieden.

Sie stieß auf. „Gibb es hier nich.“

„Dann müssen wir in die andere Bar.“

„Jetzt?“, sie schmiegte ihr Gesicht an meine Schulter. „Wo es hier geraaaade so gemütlich geworden is?“

„Ja“; sagte ich und riss mich los. Als ich auf beiden Beinen zum Stehen kam, schwankte ich etwas.

Wir bezahlten und verließen den Ort, der noch voller geworden war, seit wir gekommen waren. Bei der anderen Bar angelangt, stellten wir fest, dass sie schon geschlossen hatte.

„Zuuu schade“, lallte Janine.

„Dann war's das wohl“, sagte ich.

„Nein. Nein. Nein.“ Sie winkte wild mit der Hand. „Ich hab noch Reisschnaps zuhause.“

„Oh nein. Keinen Reisschnaps mehr.“

„Keine Widerrede, Philipp. Außerdeeeeem. Außerdem musst du meine Wohnung mal sehen.“

„Heute nicht mehr. Es ist sowieso zu dunkel. Es ist besser, wir machen das bei Tageslicht, wenn...“ Schon zog sie mich am Arm fort. In mir kämpfte die Abscheu gegen den Schnaps mit der Einbildung, dass ein einziger Schluck Alkohol mehr unendlich viel mehr Spaß bedeuten würde. Der Spaß gewann.

Ihr Hotel lag mitten im Ort. Das Zimmer war nicht herrschaftlich, aber dennoch ordentlich, alles in allem war es wesentlich komfortabler als meines. Sogar einen Fernseher hatte sie. Und ein Doppelbett.

Sogleich zückte sie die unetikettierte Flasche, entkorkte sie mit einem Schweizer Taschenmesser und begann gierig daran zu saugen, bevor sie sie mir reichte: „Da!“

Ich versuchte, mir den Stoff so in den Rachen zu kippen, dass er meine Geschmacksnerven nicht berührte. Ich verstand Menschen nicht, die alkoholfreien Wodka tranken.

„Also warte“, sagte sie und wankte zum Badezimmer.

Ich saß auf der Bettkante und nippte und schüttete abwechselnd.

Aus der Toilette kam sie nur in Unterwäsche zurück. So hatte ich sie heute schon einmal gesehen. Ich hätte es wissen müssen.

Sie setzte sich auf meinen Schoß, so dass ihre Knie auf der Bettkante auflagen. Ihr Haar kitzelte mein Gesicht.

„Uii“, sagte sie, als sich zwischen meinen Beinen etwas regte.

„Nein, Janine“, sagte ich überrumpelt und überwältigt zugleich. Ich versuchte sie von mir zu stoßen und sie gab mir einen Kuss auf den Mund, bekam aber mit ihrer Zunge meine Lippen nicht geöffnet.

„Nicht, Janine. Das ist Unsinn.“

„Ach was“, sagte sie, stieg von mir runter, zog sich Slip und BH aus und legte sich mit dem Bauch auf das Bett.

Ich war unfassbar geil und zugleich unglaublich beherrscht. Es drohte mich zu zerreißen. Ihr tätowierter Hintern wölbte sich aus der Decke.

Tätowiert? Ich sah mir das Ganze genauer an.

„Komm schon!“, sagte sie und streckte mir das Hinterteil entgegen.

Sie war tätowiert. Am Hintern. Aber nicht nur dort. Der gesamte Rücken war mit Farbe ausgefüllt, ebenso die Hinterseite der Beine, bis zu den Füßen. Ich beugte mich über sie, um das Motiv zu erkennen. Es handelte sich um ein Surfbrett in Lebensgröße. Die Spitze befand sich in ihrem Nacken, das stumpfere Ende an der Fußsohle. Wenn sie die Beine geschlossen hielt, passten die beiden spiegelbildlichen Stücke zusammen.

Das Bild gab mir Rätsel auf und augenblicklich verschwand aller Drang. Die Verwirrung war größer als die Erregung. Ich taumelte rückwärts und die Besoffenheit kehrte zurück. Warum hatte sie sich ihren schönen Körper so verunstalten lassen? Und warum dieses Motiv? Warum kein Kletterseil, Steigeisen und Sicherheitsgurt? Was sollte dieser ganze Auftritt? Und warum hatte Steigbügel mir einen Kletterkurs spendiert?

Ich stürzte aus dem Zimmer, aus dem Hotel, aus dem Dorf. Ich torkelte und stolperte auf dem Weg in mein Zimmer. Irgendwie fand ich in der Dunkelheit das Türschloss und das Bett. Irgendwie fand ich in meinem Komaschlaf einen Traum. Irgendwie fand ich beim Aufwachen die Erinnerung an ihn nicht mehr.

Am nächsten Tag kam sie wieder und tat so, als sei nichts gewesen. Wir müssten den Kletterkurs fortführen, sagte sie und gab sich keineswegs zurückhaltender als am Vortag. Wieder hatte sie es klar auf mich abgesehen und wieder konnte sie überhaupt nicht klettern. Keine Spur von Beleidigtsein, weil ich sie abgewiesen hatte, keinerlei Resignation. Nur eine Beharrlichkeit und Aufdringlichkeit, die sie mir tagtäglich nicht nur unsympathischer, sondern auch unerotischer machten. Als ich sie fragte, was sie da denn für eine Tätowierung habe, antwortete sie: Tätowierung?

Die sie auf ihrem Rücken habe.

Was habe sie auf ihrem Rücken?

Die Tinte, die Farbe.

Sie habe Farbe auf dem Rücken?

Das Tattoo.

Ach, so, ich meine ihr Tattoo, das solle ich doch gleich sagen.

Warum sie ein Surfbrett tätowiert habe, wollte ich wissen.

Das sei kein Surfbrett, sondern ein versteinerter Fisch, eine Reminiszenz an ihre berufliche Nähe zu den Bergen. Auch in den Felsen hier gebe es versteinerte Fische. Sie könne sie mir zeigen.Ich lehnte ab.

Tag für Tag wiederholte sich dieselbe Leier. Jedes Mal wollte ich mich weigern, mit ihr klettern zu gehen, und jedes Mal beharkte sie mich dann mit so unangenehmen Fragen, dass ich doch einlenkte. Ich durfte um keinen Preis meinen Auftrag preisgeben, durfte mich aber auch nicht länger von ihr ablenken lassen. Es war ein Teufelskreis, in den mich Steigbügel gebracht hatte. Ich wollte mit ihm telefonieren.

Stattdessen telefonierte ich nach einer Woche mit Beate. Kim war mittlerweile mit seiner Frau gekommen und arrangierte das Telefonat von der örtlichen Poststelle aus. Es ging ungefähr so:

„Hallo, Schatz“, sagte ich.

„Hallo.“

„Wie geht's dir?“

„Gut“, log ich. Mir geht es doch immer gut. Wie geht es dir?“

„Auch gut“, log ich weiter. „Ich komme voran“, trieb ich die Lüge voran.

„Bist du da sicher?“

„Ja, klar.“

Ein Seufzen. „Ist dein Ausweis auch sicher?“

„Ja. Wieso?“

Beate: „Du weißt doch, dass diese Schriftstellerin damals in Usbekistan verschwunden ist.“

„Ja, ich kenne die Geschichte. Sie ist ja wieder aufgetaucht.“

„Ja, aber erst nachdem ihr Ehemann dorthin gereist ist und sie jahrelang gesucht hat. Ich habe keine Lust, dich zu suchen.“

„Schon verstanden.“

„Und dass du mir ja nicht wie diese Frau jemand Einheimischen heiratest. Keine Bhutanesin, Schatz!“

Bhutanikerin, heißt das.“

„Dann eben keine Bhutanikerin!“

„Nein.“

„Dass du mir nicht unsere Sprache verlernst.“

„Nein.“

„Und in der Landwirtschaft arbeitest.“

„Nein, Schatz.“

„Und kein Schweinefleisch mehr isst.“

„Keine Sorge. Ich esse noch Schweinefleisch“ Ich dachte an die tägliche Portion Momos.

„Ach. Ich vermisse dich.“

„Ich dich auch“, sagte ich ausnahmsweise die Wahrheit.

„Du bist auch nicht krank, ja?“

„Nein“, sagte ich mit Nachdruck und fragte schnell: „Ist eigentlich noch was von dem Bourbon da?“

Schweigen. „Ja, wieso?“

„Heb den Rest bitte für mich auf, ja?“

Das war das Ende des Gesprächs. Die nächste Woche verlief wie die vorhergehende. Nur dass noch zwei verstörende Dinge geschahen. Das erste war ein Vorfall mit Janine, als ich wieder einmal mit ihr trinken war. Wir waren immer noch nicht miteinander im Bett gelandet, obwohl sie es immer so anstellte, dass es beinahe dazu kam. Dafür tranken wir umso mehr. Sie hatte sich aus dem Schnapskater die Dauerausrede geschmiedet, warum sie nicht klettern konnte, und ich nahm meinen Kater zum Anlass, ihr morgens länger aus dem Weg zu gehen. Trotzdem hatte ich noch keine Zeile zu Papier gebracht. Ich hoffte, das Zusammensein mit meiner Kletterlehrerin würde mich irgendwie inspirieren. Jedenfalls tranken wir fast täglich. An jenem Abend, sagte sie, dass sie auf die Toilette gehen müsse. Sie nahm jedoch diesmal nicht das Schminktäschchen aus ihrer Handtasche, sondern nahm die Handtasche gleich ganz mit. Das machte mich stutzig. Ich folgte ihr auf die Toilette und horchte an der Tür. Es gab nur ein Pissoir in diesem Raum und ich hatte mich schon die ganze Zeit gefragt, wie sie dort Wasser ließ, aber das war nun nebensächlich. Durch das Schlüsselloch konnte ich hören, dass sie telefonierte. Sie musste ein Satellitentelefon dabei haben. Aber das war nicht alles. Sie sprach auch noch ganz unmissverständlich niederländisch mit ihrem Gesprächspartner in Europa, und zwar so, dass selbst ich ihre Aussprache als völlig akzentfrei erkennen konnte. Durcheinander und erschüttert schlich ich zu meinem Sitzplatz zurück.

Als ich sie darauf ansprach, reagierte sie mit einem schweizer Akzent, der noch viel stärker war als zuvor. Es blieb ein Misstrauen. Zumal der Akzent bald wieder in seinen alten Zustand zurückfiel und ich jetzt immer mehr Holländisch darin auszumachen glaubte.

Die zweite Geschichte betraf Kim. Er war, wie erwähnt, ins Dorf gekommen und hatte seine Frau mitgebracht. Kinder hatten beide wohl nicht. Seine Frau war sehr jung, ich schätzte sie auf zwanzig Jahre oder sogar jünger. Ihr Gesicht war hübsch, weil es noch unverbraucht war; sie hatte erst zehn Jahre harte Arbeit hinter sich und noch nicht dreißig. Ich vermutete, dass sie nicht seine erste Ehefrau war. Sie hieß Sing-Geng. Ich nannte sie Sing. Natürlich sprach sie kein deutsch, aber gegenüber Kim und Janine nannte ich sie so. Kim organisierte mir alles. Er kaufte für mich ein, wenn ich Lebensmittel brauchte, er hackte für mich Holz, er besorgte mir Klopapier, billigen Reisschnaps und einmal sogar eine Flasche Bourbon. Ich hielt den Bourbon vor Janine geheim, damit ich nichts davon abgeben musste.

Wie auch immer die Vorgeschichte war, was passierte, änderte alles. Die beiden bewohnten eine Privatwohnung gleich neben dem Hotel von Janine und oberhalb der Bar für Touristen. Eines Abends lud er mich voller Stolz zum Essen ein. Seine Frau habe uns ein leckeres Käsechiligericht gemacht, sagte er, und außerdem habe er eine nagelneue Flasche Reisschnaps, die ich unbedingt probieren müsse. Überdies besitze er ein Radio. Also sagte ich Janine für diesen Abend ab und Kim zu.

Er zeigte mir seine Wohnung, die, wie er sagte, so viel besser sei als seine Wohnung in Thimpu. Er hatte keinerlei Hemmungen mir dafür zu danken, dass er nun eine solche Wohnung bewohnen dürfe. Als Vorspeise gab es Momos. Danach gab es Käsechili, der noch schärfer war als der im Restaurant. Ich musste mich für eine halbe Stunde auf die Toilette zurückziehen, bevor ich immer noch hustend und mit geröteten Augen wieder zwischen ihnen Platz nahm. Ihnen schien der Chili nichts anzuhaben. Beide hatten sie vom Reisschnaps gerötete Wangen. Auch ich stürzte ein Glas herunter. Kim prostete mir mehrfach zu und wir tranken noch ein paar Gläser. Dann flüsterte er seiner Frau etwas zu und sie ging ins Nebenzimmer. Wir tranken weiter und Sing kam immer noch nicht zurück. Also fragte ich ihn, was mit ihr los sei.

„Du kanns zu ia geh“, sagte er nüchtern. „Sie hab viel Fleude mit dia.“

„Kim, was meinst du damit?“

„Sie is nack. Sie mach Liebe mit dia und Kim bleib hia.“

„Das meinst du doch nicht ernst! Das ist deine Frau!“

„Und du bis mein Fleund. Fleund kann imma heilaten Flau von Fleund. Das is Blauch in Bhutaan.“

„Brauch? Du meinst, ihr bietet euch immer gegenseitig die Frauen an?“

„Ja“, sagte er leutselig und grinste mich an. Er erhob sich. Seine Hand wies auf das Schlafzimmer.

„Nein, das kann ich nicht tun.“ Ich stand auf. „Außerdem ist sie viel zu jung und...“ Er hielt mir die Hand vor den Mund und schob mich zum Schlafzimmer.

„Du machs viel Schaam auf Kim, wenn du kein Liebe machs mit Sing.“

„Tut mir leid. Aber dann bringe ich dir eben Schande. Ich kann das nicht tun.“ Ich konnte mich aus seinem Griff befreien. Gerade noch konnte ich die unverhüllten Arme seiner jungen Frau um den Türrahmen greifen sehen, dann wandte ich mich ab, nahm meine Jacke, hielt mir die Hand vor die Augen und stürmte durch die Tür. Gedämpft konnte ich noch hören, wie Sing loszeterte und er sie daraufhin anschrie.

Von diesem Kulturschock musste ich mich erst einmal erholen. Ich ging in die Touristenbar, wo ich vor Janine sicher war und kippte einen Wodka. Diese Bar zeichnete sich dadurch aus, dass sie neben Reisschnaps auch noch ein russisches Wässerchen auf der Getränkekarte führte. Und Limonade. Und alles, was man aus diesen drei Substanzen mischen konnte. Ein alternder Ire mit wirrem Blick sprach mich an, aber ich ging nicht darauf ein, sondern sinnierte über Sinn und Unsinn meiner Reise.

Warum musste ich um meine Ehe kämpfen, seit ich hier war? Warum konnte ich bisher noch nicht schreiben? Warum war ich so dumm, mit Frauen wie Janine oder Sing nicht zu schlafen? Ich wusste nicht ein noch aus. Ich würde Steigbügel auf Schadensersatz verklagen müssen. Drei Millionen. Mindestens.

Vollkommen zu torkelte ich nach Hause. Draußen auf der Straße fiel mir Janine in die Arme, die aber zu besoffen war, um mich zu erkennen, und ich schleppte mich den Berg hinauf zu meinem Schwarzwaldhaus.

Kim blieb in der Folge wohlgemut. Kein Wässerchen konnte seinen Frohsinn trüben. Zwar bot er mir seine Frau nicht mehr an, versteckte sie aber auch nicht vor mir. Ein wenig zweifelte ich daran, dass er die Wahrheit gesprochen hatte. Und das hatte einen Grund. Denn nach der Geschichte mit Janine war ich misstrauisch.

Dieses Misstrauen erwies sich als begründet.

Eines Abends sah ich einen älteren Mann, der ebenfalls von einer jungen Frau begleitet wurde. Ich kannte den Mann aus der Bar und hatte schon einige Worte mit ihm gewechselt. Er war einer der wenigen hier, die halbwegs englisch sprachen. Ich folgte ihm zu seinem Haus, sprach ihn an und zwang ihn somit, mich zum Abendessen einzuladen. Es wäre unhöflich gewesen, mich abzuweisen. Die Frau kochte uns Momos und Schafskopf. Ich musste fast erbrechen. Nach ein paar Schnapsshots und weinseligen Umarmungen bat ich den Mann, er möge mich doch bitte mit seiner Frau schlafen lassen.

Er wies die Bitte brüskiert zurück.

Ich sagte, wir seien doch Freunde.

Er sagte, ja, das seien wir, aber die Bitte sei unverschämt.

Aber Freunde gäben sich doch in Bhutan einander die Frauen.

Woher ich das hätte, wollte er wissen.

Von Kim, lautete meine Antwort.

Die seine lautete, dass er nun alles verstehe.

Als ich nichts verstand und ihn daraufhin fragte, was es denn damit auf sich habe, dass Kim mir seine Frau angeboten hatte, erwiderte er, jeder im Dorf wisse, dass Kim dafür bezahlt wurde, mir ein halbes Jahr lang seine Frau für die Nacht herzugeben. Das habe dieser im Suff selbst verraten.

Ich wollte schon gehen, doch er hielt mich zurück. Die Frau, die für uns gekocht habe, sei gar nicht seine Frau, sondern seine Tochter. Ich könne jederzeit mit ihr schlafen. Gerne auch sofort. Als er sie zu uns rief, floh ich.

Zunehmend fühlte ich mich unwohler in diesen Gefilden. Von Tag zu Tag wurde es kühler und dunkler. An das, was Janine unter Klettern verstand, war bald nicht mehr zu denken. Das Wetter wurde unwirtlicher und Janine begann schon morgens zu trinken. Tagelang, wochenlang gelangte ich von einem Kater zum Suff und wieder zum Kater. Wir quartierten uns beinahe ganztags in der Bar ein. Ab und zu leistete uns Kim Gesellschaft. Er besorgte mir Schaffelle und daunengefüllte Lederjacken. Rührend kümmerte er sich um mich, während ich immer mehr dahinvegetierte und die gleichbleibend aggressiven Werbeversuche von Janine abwehrte. Mein Laptop wurde von einem Tag auf den anderen durch einen älteren ausgetauscht. Mein Schreibpapier kam abhanden und ich klaute mir vom Barmann neues. Von den ursprünglich drei Stühlen in meinem Zimmer kamen zwei in kurzer Folge weg. Die Kugelschreiber auf dem Schreibtisch nahmen über Nacht Reißaus. Mir blieb nur noch der in meiner Jacke.

Bald führte ich diese Geschehnisse auf mein nachlassendes Gedächtnis zurück und gab mir selbst die Schuld. Zur Strafe trank ich noch mehr. Ich verlor noch ein paar Wochen.

Dann jedoch schaffte ich es, das Ruder herumzureißen, die Wende herbeizuführen, mich selbst zu erlösen.

Eines Abends begleitete mich Janine nach der Sauftour nach Hause. Ich wusste schon, worauf es hinauslaufen sollte, und wollte ihr eine Lektion erteilen. Ich ließ sie sich ausziehen, während ich so tat, als wäre ich mit Feuermachen beschäftigt. Sie wollte mich schon wieder mit ihrer Nacktheit betören. Als ich aus den Augenwinkeln sah, dass sie nur noch ihre Unterhose anhatte, schubste ich sie aus der offenen Türe, zog diese zu und schob den Riegel vor.

Ich hatte sie abgeschüttelt. Ausgesperrt. Nach zwei Monaten zum ersten Mal. Ich hätte ihr sagen müssen, warum ich hier war, dann hätte sie mir niemals all diese Zeit gestohlen, diese kostbare, eine Drittelmillion teure Zeit. Schon klopfte es wieder an meiner Tür. Ich stopfte mir Klopapier in die Ohren und hüllte mich in den Vorhang. Es zog einfach erbärmlich in dieser Bude. Meine Hände zitterten. Ich setzte mich auf den einzigen noch verbliebenen Stuhl, und machte den Laptop an. Gerade hatte ich den ersten Satz getippt, da ging das Licht aus. Der Strom war gekappt. Durch das Klopapier hindurch hörte ich Janine meinen Namen rufen. Ich hörte die Wörter verrückt oder nackt oder verkackt. Ich presste das Papier tiefer in den Gehörgang, schichtete im Halbdunkel das Restholz auf und entfachte ein Feuer im Ofen. Der Schein fiel schwach auf das Papier, dass ich ergattert hatte. Ich legte es vor mich hin, nahm meinen letzten Kugelschreiber und fing endlich an zu schreiben.

Das Multikat

Подняться наверх