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Der Surfkurs
ОглавлениеMark Stallmeister steht am Flughafen. Er steht da mit seinem Koffer, der nicht richtig aufrecht stehen kann und den er deshalb ständig festhalten muss. Er wartet auf seine Frau. Seine Frau ist auf der Toilette. Er würde jetzt gerne rauchen, aber er darf nicht. Beziehungsweise er darf schon, aber er will nicht. Denn rauchen darf er nur in einer dieser Raucherboxen. In diesem vollkommen sterilen Flughafen in irgendeiner Stadt am Persischen Golf in irgendeinem Emirat darf man zwar rauchen, aber nur an ganz bestimmten Orten. Und an diesen ganz bestimmten Orten will man nicht rauchen. Diese Raucherboxen sind zum einen zum Bersten gefüllt und somit unendlich ungemütlich. Zum anderen ist dort der Rauch dichter als das Wasser in einem Aquarium, und ein blubbernder, blasenabsondernder Fisch will niemand sein. Womit sich das mit dem Rauchen erübrigt. Würde der Körper nicht ständig nach Nikotin schreien.
Mark Stallmeister wird immer unruhiger. Er überlegt sich, ob er den Nikotinmangel mit ein paar Bier herunterspülen soll. Es kribbelt zunächst im Unterarm, dann in der Hand. Dann breitet sich das Kribbeln vom Ellenbogen in Richtung Torso aus. Im Kopf ist es schließlich ein ganz gewöhnlicher Schmerz. Neben ihm befindet sich eine Irish Bar, beziehungsweise eine Karikatur dessen, was man in kleinen irischen Städtchen antrifft. Das Etablissement ähnelt eher einem amerikanischen Steakhouse, aber einem Steakhouse ohne Grill und ohne Fleisch, mit Bier statt Softdrinks. Das Bier kostet ein paar Denar oder Dirham oder Petrodollar, was nach nichts klingt, aber in Wirklichkeit die zehn Euro gut und gerne überschreitet. Stallmeister weiß das, seitdem er in einem Kiosk eine Cola für fünf Euro gekauft hat. Die Bedienungen sind weder Amerikaner noch Iren, auch keine Araber, sondern die Dienstleistenden in diesem Land, vornehmlich Inder, Indonesier oder Pakistanis.
Mark Stallmeister ist viel gereist. Er kann in der Regel die Herkunft der Menschen bestimmen. Er kann einen Inder von einem Indonesier unterscheiden. Bei Pakistanis und Indern wird es schon schwieriger. Kommt der eine aus dem Sindh und der andere aus Gujarat, muss er raten. Ansonsten aber liegt er mit seinen Schätzungen meistens richtig. An diesem Flughafen fällt es ihm schwer. Diese Menschen leben manchmal seit Generationen hier, heiraten untereinander. Für ihn sind sie einfach nur Emiratis, auch wenn sie keine Araber sind. Sie sind Bewohner des Landes, jedoch ohne Hoffnung auf Staatsbürgerschaft. Eines Tages werden sie die Araber einfach verdrängen. Doch noch ist alles in der natürlichen Ordnung.
Er kennt diese Ordnung noch nicht sehr lange. Früher, als er mehr gereist ist, gab es noch keine Zwischenstopps in den Emiraten. Sie sind Produkte des ersten Golfkriegs, also streng genommen eine Erfindung von George Bush Senior. Seit diesem Golfkrieg boomen die Emirate erst so richtig. Er mag die Zwischenstopps hier nicht. Sie können ewig dauern. Vor allem, wenn die Frau ewig auf der Toilette ist. Und in diesem Moment ist sie das.
Vor allem, wenn man nicht rauchen kann.
Er nennt die Raucherboxen Gaskammern. Man will sich vielleicht selbst vergiften, will aber auf keinen Fall von anderen vergiftet werden. Der Rauch der anderen ist toxisch. Passivrauchen ist der schnellste Weg ins Grab.
Gaskammer passt außerdem hierher, findet er. So könnte man die ganze nördliche saudi-arabische Halbinsel nennen. Die Gaskammer Eurasiens. Bei aller Abneigung hält er dieser Region zugute, dass hier viel Erdgas gefördert wird. Zu Gas hat er ein besonderes Verhältnis. Zuhause hat er eine Gas- und keine Ölheizung. Eine Zeitlang war er viel in Heißluftballons unterwegs, vor allem über Wüsten. Auf seinen Reisen hat er außerdem oft Gaskocher verwendet. Viele Gassorten kann er am Geruch voneinander unterscheiden.
Früher wäre er über die amerikanische Ostküste nach Hawaii gereist. Aber die Einreisebedingungen in die USA haben sich erschwert, und so reist er über Japan ein. Die Japaner und Hawaii verbindet einiges. Vor allem Flugzeuge. Mit so einem Gefährt wird er dort eintreffen. Auf Hawaii sind die Einreisebestimmungen nicht so streng. Das amerikanische Festland meidet er, seit der Doppelphallus gefallen ist. Seitdem ist alles so viel umständlicher geworden.
Hawaii ist in östlicher wie in westlicher Richtung etwa gleich weit von Europa entfernt. Also fliegt er nicht über New York und Los Angeles, sondern über Ali-Baba-Town, wie er es nennt, Singapur und Tokio. Es braucht eine Menge Sitzfleisch um diesen Marathon durchzustehen. Und jede Menge nagelneuer Filme. Eine Frau braucht er dazu nicht unbedingt. Küssen ist in der Kabine sowieso nicht gerne gesehen. Und Frauen brauchen ewig auf der Toilette.
Nicht nur am Flughafen. Auch im Flugzeug. Weswegen sich ständig Schlangen bilden. Die Idee, die Toiletten in Flugzeugen als Unisex zu deklarieren, ist die eines Schwachsinnigen. So steht er im Gang herum wie ein Depp und zieht die Blicke der Menschen auf sich, die von so viel Unbeholfenheit abgelenkt werden von ihrer öden Mattscheibe. Und man steht den Stewardessen im Weg. Die sind unendlich freundlich, können aber nicht verbergen, dass sie einen hassen. Sie hassen alle, weil sie in der Toilette so ewig brauchen. Unisex macht die Männer zu Geiseln weiblicher Gründlichkeit. Geteilter Hass ist halber Hass.
Kerstin ist zum ersten Mal dabei. Meistens ist er alleine gereist, in Ausnahmefällen mit Freunden. In keinem der beiden Fälle lässt sich die Zeit an einem Airhubs vernünftig überbrücken. Seit einem Schwätzanfall nach dem Start in Frankfurt sind die Gespräche mit ihr abgeebbt. Gerade kommt sie aus der Toilette.
„Warst du auf der Toilette?“, fragt er.
„Warst du rauchen?“, fragt sie.
„Nein.“
„Ich, ja.“
„Rauchen?“
„Nein, auf der Toilette.“
Die Sinnlosigkeit von Konversation ist hier so offenbar wie die von Existenz. An einem Emirateflughafen kann man einfach nicht existieren. Hier kann man nur transitieren. Das WLAN geht auf seinem Smartphone nicht, weil es gebührenpflichtig ist. Die gratis Internetterminals werden von Jugendlichen belagert. An den Zeitschriftenständen findet er viel auf Arabisch, viel auf Englisch. Das Englische ist alles Schrott. Auch die Literatur. Dann gibt es noch russische Zeitungen. Seit Putin in Russland an der Macht ist, reisen die Russen. Sie haben viel Geld. Allein in Moskau, so hat er gelesen, gibt es eine Million Millionäre. Nicht Rubel- sondern Dollarmillionäre!
In einem dieser Kioske mit Knabberzeug, Zeitschriften und Ramsch hat er eine Matroschka gesehen. Dieses russische Bauersweib aus Holz, in dem sich ein weiteres und noch ein weiteres befindet, eines kleiner als das andere. In einem Feuilletonartikel seiner Tageszeitung stand, dass Zar Nikolaus, der letzte der Zaren, sich von einem Matroschkamanufakteur persönlich eine Matroschka in Lebensgröße bauen ließ. Nicht mal die Zarenfamilie wusste davon! Die Matroschka war so gebaut, dass sich das kleinste Innenstück bei Herausnahme von alleine aufblies, so dass es schließlich größer war als das Außenstück. Erst nach der Hinrichtung der Zarenfamilie durch die Rote Armee fand man die seltsame Matroschka in einem Geheimraum des Palastes. Der Manufakteur, der viel Geld für sein Werk eingestrichen hatte und dessen Signatur man an der Unterseite fand, wurde zu dreißig Jahren Gulag verurteilt.
Mark Stallmeister hingegen wurde von seiner Freundin zu einem Surfkurs verurteilt. In all den Jahren an all den Stränden der Welt hat er sich immer dagegen gesträubt, wie diese durchtrainierten ewigen Adoleszenten auf einem Brett über das Wasser geschleudert zu werden. In diesem Urlaub jedoch ist Surfen unausweichlich. Es ist ein Surfurlaub.
Natürlich hat sie einen Trick angewandt. Sie hat ihm nicht etwa einen Gutschein oder ein Kursticket geschenkt, sondern sich von ihm einen Kurs zum Geburtstag gewünscht. Geschenke kann man noch ausschlagen, Geschenkwünsche jedoch nicht. Schweren Herzens hat er sich nach einem günstigen Kurs umgesehen. Auf all seinen Reisen hat ihn die Surfwut auf Hawaii am meisten beeindruckt. Sie war dort größer als in Kalifornien oder Australien. Hawaii schien der Ursprungsort des Surfens zu sein, die Geburtsstätte dieser dummen Sportart. Kerstin hat darauf bestanden, dass er bei dem Kurs mitmacht. Also hat er zwei Tickets erworben, im Internet. Gerne hätte er die Tickets vor Ort gekauft, weil sie dort, wie er glaubt, billiger sind, da es nicht so viele Provisionsjäger zwischen ihm und der Surfschule gibt. Aber da es ein Geschenk zu Weihnachten war, musste er natürlich schon vorher liefern. Er hat das Ticket fein säuberlich ausgedruckt und unter den Weihnachtsbaum gelegt.
Obwohl man ihn sicher nicht als unsportlich bezeichnen kann und er nie dick war, hat er nie viel Sport betrieben. Es hat ihn einfach nicht gereizt, sich viel zu bewegen. Oder besser: Sich viel schnell zu bewegen. Denn Wanderungen, Bergbesteigungen oder längere Fahrradtouren hat er unzählige Male hinter sich gebracht. Nur zu jeglicher Hektik fehlt ihm das Gemüt. Das heißt, Fußball, Wasserball, Cricket, Baseball und Kayakfahren kommen für ihn nicht in Frage. Diese Sportarten aber sind es, die Traveller gewöhnlich betreiben, abhängig von dem Land, in welchem sie reisen. Sie passen sich in allem dem Land an: Dem Essen, dem Wohnen und auch dem Sport. Traveller sind sportlich. Er selbst ist kein Traveller mehr, aber auch damals, als das viele Reisen ihn dazu ermächtigte, sich so zu nennen, entbehrte er diese Eigenschaft. Er gab einen unvollkommenen Traveller ab.
Er war sich dessen immer bewusst und hat diesen Makel nicht verhehlt. Diese Unlust ist auf viel Unverständnis gestoßen. Denn beim Traveln macht man eben genau das nicht, was man macht, wenn man zuhause ist: Vor einem Computer sitzen. Viele junge Menschen sehen im Sport die einzige Alternative zum Aufenthalt vor dem Monitor. Da solche Geräte in vielen armen Ländern nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen und auch Fernseher mit den neuesten Filmen nicht überall zur Hand sind, vergnügen sich die Backpacker und Traveller eben mit dem, was dem Menschen zur Verfügung steht, wenn er sich außerhalb der Zivilisation befindet: Sein Körper. In gewisser Weise gleicht eine Reise in ein Land der Dritten Welt einer Zeitreise in die Steinzeit.
Für ihn war es immer eine Zeitreise in die frühe Neuzeit. Denn statt Sport oder Internet hat er sich dem zugewandt, was in der Entwicklungsgeschichte der Menschen irgendwo dazwischen anzusiedeln ist: Dem Buch. Er hat immer viel gelesen, aber auf Reisen wurde es stets noch mehr als sonst. Andere Reisende seiner Generation lasen auch viel, und so konnte er munter Bücher tauschen, wenn er mit seinen fertig war. Oder klauen.
Was ihm nun bevorsteht, ist jedoch tiefste Prähistorie. Er wird auf einem einfachen Brett aufs Meer hinauspaddeln und dabei die Götter anflehen, dass er nicht von den Fluten verschluckt wird. Er sieht sich schon den Lendenschurz anziehen und seinen Einbaum ins Wasser schieben. Einteilige Boote, wie sie Surfbretter darstellen, sind entwicklungstechnisch älter als die Steinaxt. Die besteht immerhin schon aus zwei Teilen. Landtiere treiben nach einem Sturm auf ihrem Eiland notgedrungen auf Baumstämmen über den Ozean. Wie in aller Welt sind Menschen unserer Zeit darauf gekommen, es ihnen nachzutun? Hatte man die Eingeborenen, die noch in ausgehöhlten Baumstämmen unterwegs waren, nicht rechtzeitig ausgerottet, bevor ihr Beispiel einen auf dumme Ideen brachte?
„Es geht weiter“, sagt Kerstin und gibt ihm einen Klaps auf den Arm. Sie stehen im Sicherheitscheck vor dem Weiterflug und er hat den Anschluss an die Warteschlange verpasst, weil er einer zwanzigjährigen Frau hinterher geguckt hat, die äußerst attraktiv war. Er hofft, dass seine Freundin es nicht bemerkt hat.
Diese Sicherheitschecks sind vollkommen absurd. Denn sie gelten nur den Transitreisenden. Transitreisende sind aber an ihrem Flughafen schon gecheckt worden. Ihr Gepäck, ihr Computer und ihr Handy sind bereits ausgiebig verstrahlt worden. Ihre Rippen wurden schon in ausreichender Häufigkeit von unsanften Händen gezählt. Transitreisende dürfen den Transitbereich des Flughafens nicht verlassen. Dort halten sich nur Menschen auf, die schon gecheckt worden sind, und gibt es nur Waren zu kaufen, die vorher durchleuchtet wurden. Trauen Flughafenbetreiber denen in anderen Ländern nicht?
Früher waren Flughäfen noch nicht eine solche Schikane. Das ist mit ein Grund, warum er nicht mehr so viel reist. Der andere ist Kerstin.
Sie lächelt ihn herausfordernd an: „Na, hat sie dir gefallen?“
„Wen meinst du?“
„Tu doch nicht so.“
Er wuschelt ihr durch die Haare. „Ich weiß wirklich nicht, was du meinst.“ Er lächelt voll geheuchelter Unschuld zurück. Sie spielen ihr Spiel.
Nochmal greift er in diese Fülle hinein. Er kann gar nicht von ihren Haaren lassen, wenn er sie einmal berührt hat. Sie sind dicht, dunkelbraun und lockig. Solche Haare sieht man nur selten und er kann sich nicht erinnern, mal mit einer Frau zusammen gewesen zu sein, die so tolle Haare hatte, und sei es auch nur eine Nachtbekanntschaft gewesen. Und von diesen Einnachtsfrauen gab es früher einige. Er betet jeden Tag, dass sie nicht auf die Idee kommt, sich die Pracht wie ihre Freundinnen abschneiden zu lassen. Aber wahrscheinlich besteht noch Hoffnung. Solange sie keine Kinder bekommen. Die Freundinnen haben es allesamt nach der ersten Entbindung getan. Wenn der Fisch gefangen ist, kann man den Köder wegwerfen.
Kerstin geht vor ihm durch das Tor mit dem Metalldetektor, lässt sich von einer Frau im Schleier abtasten. Im Tor wirkt sie sehr klein. Sie ist wirklich nicht sonderlich großgewachsen. Sie hat eine Stupsnase und Sommersprossen. Nicht jeder würde sie schön finden, aber sie war tatsächlich die erste Frau, von der er gesagt hat, dass sie genau sein Typ sei. Weil sie ihm etwas bedeutete, war bei der Balz all seine sonstige Lockerheit dahin gewesen. Es dauerte Wochen, bis er sie von sich überzeugen konnte. Nun aber sind sie seit neun Jahren ein Paar. Vielleicht werden sie irgendwann heiraten. Vielleicht.
Er wird aufgefordert, seine Sachen aus der Plastikschale zu nehmen, in die er sie gelegt hat, bevor sie auf einem Band durch den Scanner gelaufen sind. Der dicke Mann mit dem Schnauzer ist nicht sonderlich freundlich. Kerstin wartet schon auf ihn. In ihr Gesicht steht Erleichterung geschrieben. Man hat irgendwie immer das Gefühl, man könnte an einer solchen Sicherheitsschleuse festgehalten werden, ohne eigenes Verschulden. Flugreisende stehen unter Generalverdacht. Im Flughafenstaat ist die Unschuldsvermutung außer Kraft gesetzt. Wegen ein paar Verrückten müssen so Millionen von Fluggästen täglich leiden. Manchmal vermutet er, dies ist der eigentliche Terror, den Flugzeugentführer mit ihren waghalsigen Aktionen bezwecken. Die paar Absturzopfer sind nichts dagegen, wenn man denn Leid überhaupt gegeneinander aufrechnen kann. Er findet, das kann man.
Müde sitzt er neben Kerstin auf einer Bank aus Leder. Sie hat ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Es wird noch zwei Stunden dauern, bis sie die Geborgenheit einer abgedunkelten Flugzeugkabine umhüllen wird. Bis dahin heißt es dösen, essen, auf Fernsehbildschirme starren. Kerstin legt ihre äußere Hand auf seinen Schoß, sie seufzt. Er seufzt innerlich.
Ein Grund, warum es so lang dauerte, mit ihr zusammenzukommen, war, dass er nicht preisgegeben hat, dass er Schriftsteller ist, dass eines seiner Werke sogar verfilmt wurde. Er wollte, dass eine Frau sich nicht deswegen für ihn interessierte, sondern ihn um seiner selbst willen liebte. Dass es dann so lange dauerte, spricht nicht für ihn, ist ihm aber mittlerweile egal. Er sagte ihr, dass er bei der Stadt angestellt sei, als er sich mit ihr auf einen Kaffee traf. In der Vorwoche hatte er sie in einem Geschäft angesprochen, ihr seine Nummer gegeben. Sie sagte, sie sei ausgebildete Dolmetscherin, arbeite aber inzwischen nur noch als Übersetzerin. Dass er bei der Stadtverwaltung arbeitete, schien sie weder zu interessieren noch abzustoßen. Er konnte vor ihr verbergen, dass er zuhause arbeitete. Als sie schließlich zusammen waren, zögerte er den Moment der Offenbarung heraus. Er fand nie den passenden Augenblick, sein wahre Existenz zu enthüllen.
Eines Abends kam er dann zu ihr. Er betrat die Wohnung und sie stand nicht an der geöffneten Tür. Er fand sie vor dem Fernseher, sprachlos. „Sie sprechen über einen Schriftsteller, der heißt genauso wie du. Und der wohnt auch hier in München. Unheimlich, oder?“ Er sagte nichts dazu.
Ein paar Tage später kam sie mit einem Haufen Bücher zu ihm, allesamt Produkte seiner Schaffenskraft. Sie sagte, sie wolle jetzt seinen geheimnisvollen Doppelgänger kennenlernen. Es war die Anfangszeit des Internet, als es noch keine Google-Bildersuche gab, die ihn umgehend verraten hätte. Da die Bücher allesamt Taschenbücher waren, prangte kein Foto von ihm auf dem Umschlag. Er wiegte sich in Sicherheit, bereitete sein Coming-Out vor, verwarf die zurechtgelegten Geständnisse wie Verlobte einstudierte Heiratsanträge.
Sämtliche gebundenen Ausgaben seiner Bücher waren vergriffen, kein neues war im Druck und deshalb dachte er, Zeit zu haben. Er dachte falsch. Nach ein oder zwei Monaten rief sie ihn an. Sie war kurzangebunden und meinte, sie wolle etwas mit ihm besprechen. Als er die Wohnungstür aufmachte, baute sie sich vor ihm auf. Sie war sauer, enttäuscht, wütend. Und sie war glücklich und stolz. Sie war äußerst verwirrt. Sie war in einem Antiquariat auf eine Hardcover-Version eines Buches gestoßen, nachdem sie das Stallmeister-Fieber eigentlich schon verlassen hatte. Obwohl das Cover einen zehn Jahre jüngeren Mark Stallmeister zeigte, war er unschwer darauf zu erkennen. Er lächelte schüchtern in die Kamera. Dieses glatthäutige, offenäugige Gesicht war zweifelsfrei seines, in seinen späten Zwanzigern, als er den einen Überraschungshit gelandet hatte.
Die Entdeckung änderte schlagartig alles. Während er weiterhin seine Bücher nicht verlegt bekam, warb sie mit seinem Namen auf ihrer Homepage und bei ihren Kunden. Sie hatte ein Foto von sich und ihm hochgeladen und behauptete, er sei ihr Lektor. Aus ihm unerklärlichen Gründen funktionierte diese Methode. Für sie war die enge persönliche Bindung mit einem ehemaligen Literaturversprechen in beruflicher Hinsicht Gold wert. Für ihn war seine Verbindung mit sich selbst Kassengift.
Über ihr Netzwerk bekam er schließlich von einer großen Zeitung den Auftrag, einen Reisebericht zu schreiben. Durch diese Arbeit wiederum kam er zu anderen Aufträgen, so dass er bald als Freelancer für verschiedenste Magazine tätig war. Er reiste erneut so viel, wie er es vor seinem ersten Roman getan hatte. Durch seine Berichte wurden auch wieder Verleger auf ihn aufmerksam, wurde er aufs Neue gedruckt und veröffentlicht. Seitdem ging das Reisen wieder etwas zurück, da er an einem neuen Roman arbeitet. Noch immer ist er aber um ein Vielfaches der Zeit eines Angestellten unterwegs. Bis kurz vor Weihnachten war er sechs Wochen in Bhutan.
Auch jetzt konnte er sich freinehmen, wie es ihm passte. Kerstin auch. Er hat den Kurs so gebucht, dass er in die Osterzeit fällt. Ostern ist die richtige Reisezeit für diese Breiten.
„Am Sonntag ist Ostern“, erinnert ihn Kerstin, als sie am Gate in der Schlange zum Flugzeug stehen.
Ein riesiger, breiter Mann vor ihnen dreht sich um und guckt so, als hätte Kerstin etwas völlig Bescheuertes gesagt. Es ist also ein Deutscher. Ein Deutscher mit feistem Gesicht und hässlichem, durchgeschwitztem Hemd. Es ist immer wieder erstaunlich, wie schamlos viele Leute zeigen, dass sie mitgehört haben. Stallmeister blickt den Dicken grimmig an, bis der seine knollige Nase wieder nach vorne richtet.
„Ich weiß“, gibt er liebevoll zurück und betrachtet sie von der Seite. Sie hat ein besonderes Faible für Feiertage und Feste.
„Wo feiern wir?“, fragt sie.
„In unserem Resort.“
„Ist es da auch feierlich?“ Prüfend schaut sie ihn an.
„Keine Ahnung.“ Er zuckt mit den Schultern. „Die werden sich schon was einfallen lassen. Sind ja auch Christen dort.“
„Hoffentlich. Ostern ohne Ostern, das ist...Das ist schrecklich.“
„Es wird schon ein Ostern mit Ostern werden“, drückt er sich vor dem Gedankenspiel.
Als sie angeschnallt im Flugzeug sitzen und die Stewardess die Gurte kontrolliert, nimmt sie den Faden zu seinem Unmut wieder auf: „Wo“, will sie wissen. „Feiert man das schönste Ostern?“
„Auf den Philippinen.“
„Dann hätten wir dorthin fahren sollen“, sagt sie. Sie hat die Ironie in seinem Tonfall nicht bemerkt.
„Dort surft es sich aber nicht so gut.“
Kerstin hebt ihr Kopfkissen hoch, so dass die Stewardess die geschlossene Gurtschnalle sehen kann und blickt dann wieder zu ihm. „Kann man dort gar nicht surfen?“
Widerwillig senkt er die Zeitung, in die er sich gerade vertiefen wollte. „Doch, aber nicht so gut.“
„Man kann dort surfen?“
„Ja, aber nicht so gut wie auf Hawaii.“
„Was kosten die Flüge von Hawaii auf die Philippinen?“
„Keine Ahnung. Unsummen.“ Er sieht sich die Titelseite an.
„Ich habe letzten Monat Unsummen verdient.“
Er hebt den Schild aus journalistischen Ergüssen, aber der wird durch das Schwert ihrer Hartnäckigkeit durchbohrt. Sie wiederholt ihre letzte Aussage. Also lässt er die papierene Trennwand wieder sinken. „Wir fahren nach Hawaii, und dabei bleibt es. Du wolltest surfen, also wird gesurft. Nächstes Jahr fliegen wir auf die Philippinen.“
Er weiß genau, dass sie nächstes Jahr zu Ostern nicht auf die Philippinen fliegen werden. Er war einmal zu dieser Jahreszeit dort. Dort lassen sich die Einheimischen kreuzigen. Richtig kreuzigen, mit Nägeln, Schmerzen und viel Blut. Es kommt eine Menge schaulustiger Touristen. Auch Familien mit Kindern. Er will das nie wieder sehen.
Endlich sind sie da. Das Flugzeug rollt auf der Landebahn in Honolulu aus. Es ist ewig her, dass er hier war, und er bildet sich wie bei jeder Wiederkehr ein, dass sich einiges verändert hat. Es gibt hier nun mehr Hochhäuser. Hochhäuser passen nicht zu so einer Insel. Aber sie passen nach Amerika und diese Inseln gehören zu Amerika. Gut, dass sie nicht in Honolulu bleiben.
Kerstin neben ihm wird hibbelig. Sie kann die letzten Minuten im Flugzeug nur schwer ertragen. Am liebsten würde sie wie die anderen stehen und das Handgepäck herausholen, aber sie kann nicht, da der Gang bereits von Menschen ausgefüllt wird. Er selbst liebt diese Momente. Während alle von einem Fuß auf den anderen wechseln, schaut er hinaus auf das Rollfeld, wo das Flughafenpersonal seiner Arbeit nachgeht. Es ist der Stadt vorgelagert und liegt auf einer Halbinsel, die man dem Meer durch Aufschüttung von Geröll abgerungen hat. Im Hintergrund sieht er die Berge. Genau genommen ist es ein einziger. Und noch genauer genommen ist es auch kein Berg, sondern ein Vulkan. Die Inseln sind vulkanischen Ursprungs. Warum in aller Welt sollte es auch inmitten dieser Einöde aus Wasser Inseln geben? Honolulu ist auf Lava gebaut. Er würde gerne wissen, was größer ist: Die Gefahr, dass die Küstenstadt von einem Tsunami oder von einer Glutlawine begraben wird.
Sie haben endlich ihr Gepäck. Man weiß nie, wann das mühsam eingepackte Eigentum einem auf diesem Laufband entgegen schwebt. Er betrachtet oft wie hypnotisiert den Schacht, aus dem es kommt. Manchmal erscheinen hunderte Gepäckstücke, ohne dass das eigene auftaucht, dann wieder kommt das eigene als erstes und man ist schnell aus dem Schneider. Schon mehrere Male hat er genau an dieser Stelle sein Gepäck verloren, oder einen Teil davon. In den meisten Fällen ist es wieder aufgetaucht. Einmal jedoch nicht. Er stand völlig ohne Anziehsachen in einem fernen Land. Er verbrachte viel Zeit im Hotelzimmer.
Die Gepäckrückgabe ist ein guter Ort, um Frauen kennenzulernen. Zumindest, wenn sie alleine reisen. Hier ist jeder zum Warten gezwungen. Er sucht die Menschen, die den Koffercircuit belagern, nach allein reisenden Frauen ab, aber er kann keine erkennen; Kerstin tadelt ihn mit einem ihrer bösen Blicke.
Laut Auskunft der Reisegesellschaft werden sie am Flughafen abgeholt und in den Norden der Insel gefahren. Ihr Resort ist in Wimea Beach, an der Nordküste, die sich zu dieser Jahreszeit am besten zum Surfen eignet, wie er gelesen hat. Dort war er noch nicht. Soweit er sich erinnern kann, kennt er nur die Surfstrände nahe der Hauptstadt. Eine grässliche Kulisse.
Sie treten aus der großen Glastür des Flughafens ins Freie. Hier fahren Busse und Taxis ab und sie stellen sich ein Stück abseits des Eingangs, um auf ihren Shuttleservice zu warten. Nicht den Shuttlebus in die Stadt, den die meisten Flugreisenden in Anspruch nehmen, sondern den direkt zu ihrem Hotel. Gottseidank sparen sie sich diesen hässlichen Moloch mit seinen Hochhäusern direkt am Strand. Er kann diese Stadt so wenig leiden wie Miami.
Obwohl es erst Anfang April ist, ist die Luft hier schon so warm wie in Deutschland im Hochsommer. Noch stehen vereinzelt Wolken am Himmel, aber die Sonne findet ihren Weg auf die Häupter der Hauptstadtbewohner. Als er kurz aus dem Schatten tritt, spürt er ihre unerbittliche Strahlkraft. Er ist froh, nicht mehr in Deutschland zu sein. In Deutschland war er hingegen froh, nicht mehr in Bhutan zu sein. Dort war es im November bitterlich kalt. Er sehnte sich dem deutschen Februar entgegen.
Die Stadt hat nichts von einem Tropenparadies. Die Menschen, die hier leben, sind Amerikaner und als solche sind sie geschäftig und ungeduldig. Nichts von der asiatischen oder karibischen Gemütlichkeit findet man hier. Alles wirkt wie Oklahoma City vor einer exotischen Kulisse. Schon am Flughafen geht der Stress los: Hupende Taxis, rennende Geschäftsleute, gehetzte Urlauber. Er wünscht sich den Emirateflughafen mit seiner indischen Gemütlichkeit zurück.
„Wann kommt er denn endlich?“, fragt ihn Kerstin.
„Unser Shuttle?“, fragt er zurück, sichtlich überfragt.
„Ja. Es hieß doch, man holt uns vom Flughafen ab.“
„Ja.“
„Und was ist jetzt?“
Er starrt sie verständnislos an. „Weiß ich das?“
„Du warst doch schon mal auf Hawaii.“
„Hm. Doch, ich erinnere mich“, fühlt er sich zu seltenem Sarkasmus gereizt. „Die Uhrzeit ist hier eine andere als auf dem Festland. Deswegen kommt es ständig zu Missverständnissen.“
„Sehr witzig.“ Sie sucht irgendetwas in ihrer Handtasche. Schließlich setzt sie sich ihre Sonnenbrille auf. Im Schatten.
Er lässt nicht locker: „Hier läuft viel schief. Die sind hier nicht nur bei der Zeit zurück. Zum Beispiel gibt es auch kein Bier.“
„Kein Bier?“
„Der Import ist so teuer.“
„Wirklich?“, sie beäugt ihn kritisch, um zu sehen, ob er flunkert.
Er bleibt standhaft. „Wirklich. Hier gibt es nur den Reisschnaps der Eingeborenen. Ich werde wohl ohne Alkohol auskommen müssen.“
„Das tut mir aber leid“, sagt sie spitz.
Bier ist sein Lieblingsgetränk. Kerstin trinkt gerne Bourbon, aber ihn kann man damit jagen. Das einzige alkoholische Getränk außer Bier, das er genießen kann, ist japanischer Sake, und, wenn er angetrunken ist, Wodka. Er hat sich vorgenommen, sich in der Freizeit so oft wie möglich zu betrinken. Freizeit bedeutet, nicht an der Überwindung zu arbeiten, die das Surfen ihn kosten wird. Selbstverständlich gibt es hier Bier. Leider nur die amerikanische Plörre. Amerika ist für einen Bierliebhaber wie Stallmeister das schrecklichste Reiseland. Wie man ein so heiliges Gebräu derartig entweihen kann, ist ihm ein Rätsel. Nicht einmal die Russen schaffen das.
Kerstin verwickelt einen Gepäckträger mit Trolley in ein Gespräch. Weil ihr langweilig ist. Obwohl Stallmeister viel gereist ist, kann sie besser Englisch als er. Akzentfreier. Sie ist ausgebildete Dolmetscherin. In den ersten Berufsjahren hat sie viel gedolmetscht. Nicht als Konferenzdolmetscherin, sondern als Gesprächsdolmetscherin. Das heißt, sie war bei Treffen von Wissenschaftlern, Geschäftsleuten und Politikern dabei. Einmal war sie bei einer Zusammenkunft von Kohl, Clinton und Jelzin dolmetscherisch tätig. Durch das Passivtrinken von Jelzins Atem, behauptet sie, sei sie irgendwann angesäuselt gewesen. Kohl habe nach Saumagen gerochen und Clinton nach Eau de Toilette. Weil Clintons persönlicher Dolmetscher wegen Durchfall ausgefallen sei, habe sie in beide Richtungen übersetzt. Clinton habe sie danach in seine Suite eingeladen. Sie habe dankend abgelehnt und sei mit Kohl essen gegangen. Nachts habe sie sich mit den Dolmetschern von Jelzin betrunken. Die drei lustigen Politiker seien, so lautete die Bemerkung eines der Dolmetscher, die Dreifaltigkeit des Mannseins gewesen: Saufen, Fressen, Ficken. Als Triumvirat hätten sie die Welt regieren können.
Er selbst spricht sehr gut englisch, aber er hat seinen Akzent nie ablegen können. Zudem hat er Probleme mit Präpositionen. In the club, at the club, on the club. Er wird diese Makel nie loswerden. Eher wird er vorher surfen wie Slate Kelly, oder wie dieser Typ auch immer hieß, von dem die Amis dauernd anbetungsvoll sprechen, wenn es ums Surfen geht.
Plötzlich kommt ein Jeep hupend um die Ecke gefahren. Kerstin und er schrecken gleichzeitig auf, und der Gepäckträger sieht sich an seine Arbeit erinnert und verschwindet im Eilschritt. Als der Jeep näher kommt, stellt er fest, dass der Fahrer ein Schild aus dem Dachfenster hält. Der Wagen mit den abgedunkelten Scheiben wird langsamer und Kerstin und er erkennen zur gleichen Zeit, was auf dem Schild steht: Stahlmeister. Kerstin fängt wild an zu winken und der Jeep bleibt vor ihnen stehen. Sie nimmt ihre Sonnenbrille ab, kann aber durch die Scheiben niemanden ausmachen. Es dauert, bis der Fahrer das schwarze Visier herunterlässt.
Ein asiatisches Gesicht von etwa Anfang dreißig zeigt sich ihnen. Es wird von einem einladenden Grinsen beherrscht.
„Guuten Tag“, sagt der Mann mit leicht amerikanischem Tonfall. „Sin sie Herr und Frau Stahlmeister?“
„Stallmeister“, verbessert er.
„Ich heiße Flunk“, informiert Kerstin den Fahrer. „Wir sind nicht verheiratet.“
„Oh. Okay. Dos makt nix. Gor nix. Ik heiße Sofarius. James Sofarius. Oigentlik hoiße ik James Nguyen, aber ik hobe dön Namen geändert.“ Sein Grinsen wird größer. „Weil ik bün vörhoiratet.“
„We can speak English, if you would like to“, bietet ihm Kerstin in feinstem British an.
„Oh, noin“, sagt Sofarius und schwingt sich aus der Fahrertür. „Ik dorf mein Deutsch nikt vörgessen. Nikt olle Deutschen spröken so goil wie Sie.“
„Okay“, sagt Kerstin etwas indigniert. Sie kann es nicht leiden, wenn sie ihre Sprachfähigkeiten nicht zeigen darf.
Sofarius macht den Kofferraum auf und verstaut ihr Gepäck darin. Kerstin hat alleine schon drei Koffer. Bei ihm tut es ein Backpack.
Als sie im Auto sitzen - drei Personen finden vorne Platz -, bietet er ihnen das Du an. „Ik bin euer Fohrer und Roiseloiter. Ik hoiße James, ober ühr könnt mik Jim nönnen. Olle nönnen mik hier Jim.“
„Okay, Jim“, sagt Kerstin mit leicht verlegenem Lächeln. Der asiatische Amerikaner grinst unbefangen zurück.
„Wir fohren nach Wimea Beach. Das böste Surfgebiet auf Oahu. Die Fohrt würd etwa oine Stunde dauern.“
„Okay, Jim“, sagt Stallmeister.
„Görne. Ik liebe Deutschland. Ik liebe die Deutschen.“
„Kommst du aus Vietnam?“, fragt Stallmeister, der einige Male in Vietnam unterwegs war. Fast alle Menschen in Vietnam heißen mit Nachnamen Nguyen. Das macht alles einerseits einfacher, andererseits auch schwieriger. Soweit er weiß, kommt der Name von einem Königsgeschlecht. Ein König aus besagter Dynastie muss besonders produktiv gewesen sein.
Jim freut sich über die scharfsinnige Schlussfolgerung und antwortet: „Oin bisken, ja. Ober das muss ik euk genauer örklären.“
Das Auto fährt durch die Peripherie der Hauptstadt an einer Lagunenlandschaft vorbei in das breite Tal, das die beiden Vulkankrater in der Mitte der Insel bilden. Industrie- und Wohnkomplexe werden spärlicher. Die Insel verfügt hier über eine reiche Vegetation. Auf dem Highway gleiten sie gemütlich dahin. Obwohl die Autos allesamt PS-stark sind, wird das Tempolimit sklavisch eingehalten. Er versteht nicht, warum es zwei Spuren gibt, wenn niemand überholt.
Jim erklärt ihnen auf Nachfrage, warum er deutsch spricht. Er sei in Deutschland aufgewachsen und zur Schule gegangen, bis zur sechsten Klasse. Er sei tatsächlich Vietnamese, Halbvietnamese, wie er betont. Sein Vater, so sagt er, sei bei der Army gewesen, nachdem er 1975 mit den amerikanischen Truppen aus Vietnam geflohen sei und die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen habe. Er habe sich revanchieren wollen für die Hilfe, die die USA einem eingefleischtem Kapitalisten wie ihm habe zukommen lassen. Deshalb habe er sich auf Lebenszeit verpflichtet. Die USA hätten sich bei ihm mit dem Anzetteln von weiteren Kriegen revanchiert. Er sei überall in der Welt stationiert gewesen, unter anderem auch in Deutschland. Dort habe er eine andere Soldatin geheiratet, eine waschechte Idahoerin. Zwei ihrer Kinder seien in Heidelberg geboren worden, darunter Jim. Später habe sein Vater auf Hawaii Dienst tun müssen, in Pearl Harbour. In Honolulu habe Jim seinen Abschluss in Wirtschaft gemacht und sei schließlich geblieben. Sein Deutsch, Spanisch und Arabisch hätten ihm beim Vorankommen in der Touristikbranche sehr geholfen. Später habe er eine Frau Sofarius geheiratet, die eingebürgerte Tochter eines niederländischen Waffenfabrikanten. Es habe das junge Ehepaar in den Norden, nach Wimea verschlagen, wo er seit einigen Jahren als Touristenbetreuer arbeite. Man schanze ihm die deutschen und spanischen Urlauber mit Surfambitionen zu. Araber kämen eher selten zum Surfen hierher. Jim will von ihnen wissen, woher sie kommen. Als er erfährt, dass sie in München leben, ist er sichtlich erleichtert. Jim mag Menschen aus der Ex-DDR nicht. Er hält sie für Kommunisten, kann man seinen Worten entnehmen. In Vietnam sei er genau aus diesem Grund nie gewesen. Am meisten aber hege er Abneigungen gegen Vietnamesen, die schon während des Krieges in die DDR gegangen seien. Diese hätten noch nicht einmal für ihre Sache gekämpft. Zeit seines Lebens habe sich sein Vater gewünscht, es würde ein weiterer Krieg mit Vietnam ausbrechen, bei dem er sein Land befreien könne. John Rambo sei seine liebste Filmfigur. Deswegen heiße Jims Bruder auch John. Jims Vater sei nun als General in Afghanistan und lausche in der Nacht den heimeligen Einschlägen von Mörsergranaten. Er halte die Taliban für fanatische Kommunisten und könne nicht ruhen, ehe sie vom Erdboden getilgt seien. Kerstin und Stallmeister hören zu und lassen die befremdlichen Ausführungen unkommentiert. Ik liebe die Westdeutschen.
„Euer Hotel is söhr goil“, sagt Jim. „Wimea Beach Resort. Der Boss is moin Freund. Ihr wördet euk söhr wohlfuhlen.“
„Das freut uns“, verkündet Kerstin. Stallmeister freut es auch. Außerdem findet er den Hotelnamen sehr originell.
Jim hat ein ärmelloses weißes Hemd an und trägt eine Jeans. Sein Auto ist klimatisiert, weshalb Stallmeister friert. Kerstin auch. Sie hat Gänsehaut. Am liebsten würde er das Fenster aufmachen und ein wenig von der Sommerluft hereinlassen. Er kann sich nicht vorstellen, dass der großmäulige Halbamerikaner draußen nicht sofort einem Schweißausbruch anheim fällt.
Das Tal öffnet sich und er vermutet, dass die Küste nicht mehr allzu weit ist. Jim ist ein sicherer, ein leidenschaftlicher Fahrer. Sein Fahrstil gleicht einer Demonstration. Elegant lenkt er seinen riesigen Jeep zwischen Lastwägen und Bussen hindurch, nimmt Kurven und beschleunigt. Bald fahren sie vom Highway ab und gelangen auf eine Art Landstraße. Hier hat Jim noch mehr Gelegenheit, seine Fahrkunst zur Schau zu stellen. Sie Kerstin zur Schau zu stellen.
Nach circa zwanzig Minuten biegt Jim scharf rechts ab. Auf einem Straßenschild liest Stallmeister die Namen Waialua und Haleiwa, auf dem nächsten Wimea. Zu seiner Linken sieht er nach kurzer Zeit das Meer liegen. Nach abermals zehn Minuten kommen sie in Wimea an. Jim drosselt die Geschwindigkeit und durchfährt den Ortskern. Der Ort erstreckt sich entlang des Strandes. Er hält vor einem Reisebüro, steigt aus und verschwindet im Inneren. Nach wenigen Minuten kommt er zurück und wendet den Wagen. Es geht zurück zu der Bucht, die Stallmeister beim Vorbeifahren schon für ihr Ziel gehalten hat.
Das Hotel liegt in einem Palmenhain direkt am Strand, auf der linken Seite der Bucht. Andere Hotels umgeben es. Es gibt Strandrestaurants und kleinere Geschäfte. Jim begrüßt den Hotelpagen und den Rezeptionisten. Das Gepäck wird hineingebracht und die Formalitäten an der Rezeption erledigt. Jim sagt, er habe noch viel zu tun, komme aber vor der Abendessen noch einmal, dann könne man einiges besprechen. Er verabschiedet sich und lässt zum Abschied den Motor aufheulen.
Nun steht Stallmeister mit Kerstin in ihrem Zimmer und ist sichtlich beeindruckt. Es wundert ihn, dass bisher noch nichts Außergewöhnliches geschehen ist. Es gab keine Behinderungen, Zwischenfälle, Unglücke. Alles ist reibungslos verlaufen. Das Hotelzimmer sucht seinesgleichen. Es hat ich gelohnt, so viel Geld auszugeben. Das Bett ist breiter als ihr Bett zuhause, der Fernseher hat eine größere Bilddiagonale und das Badezimmer vergoldetere Armaturen. Das Hotel ist ganz in Holz gehalten. Auf dem Boden liegen beigefarbene Teppiche, vor den Fenstern flattern weiße Vorhänge im Wind. Es gibt einen Balkon, der aufs Meer hinaus geht. Während die beiden übereinander herfallen und er sie schließlich von hinten nimmt, hören sie das Meer rauschen.
Sie beschließen nach dem Sex, dass sie in diesen vier Wänden nur noch nackt herumlaufen. Hier, wo man durch das Fenster wehende Palmen sieht, fühlt man sich wie Adam und Eva. Er kommt sich vor wie im ersten Backpackerurlaub mit Anfang zwanzig. Er war auf einer Insel in Thailand und hatte ein schwedisches Mädchen kennengelernt. Sie mieteten sich eine Hütte am Strand und hatten mehrfach am Tag Sex. Er kam sich damals vor wie der attraktivste junge Mann des Planeten. Das war lange vor Di Caprio und The Beach. Bevor dieser Film alles versaut hat.
Eine Weile noch liegen sie unbekleidet im Bett und schlürfen Cola aus der Minibar, dann bemerken sie, dass der Bettsport sie hungrig gemacht hat. Der Jetlag macht es unmöglich, dass ihr Zeitgefühl und die Uhrzeit auf dem Display des Blu-Ray-Players übereinstimmen, und obwohl dieses erst sechs Uhr anzeigt, ziehen sie sich an, um das Restaurant des Hotels aufzusuchen.
Seit sie sich geliebt haben, verstehen sie sich wieder bestens. Er ist sogar bereit, ihr nachzusehen, dass sie ihn zum Surfen zwingt. Er findet, Sex, und nicht etwa Reden, ist der richtige Weg, mit Frauen zu kommunizieren. Es handelt sich alles um ein großes Missverständnis. Ebenso wenig, wie er mit seinen besten männlichen Freunden schlafen will, will er häufig mit seiner Freundin reden. Zumindest über die alltäglichen Dinge. Sprechen sie über das Schreiben, Übersetzen oder Reisen, verstehen sie sich blendend. Auch was Filme, Kunst und Kultur angeht, ist sie sein bester Gesprächspartner und er sucht oft derartigen Austausch mit ihr. Er will jedoch nicht wissen, was diese Ausnahmen für den Sex mit Männern bedeuten würden.
Stallmeister ist befriedigt. Noch vorher auf der Fahrt hat er sich gewünscht, er wäre zehn oder fünfzehn Jahre jünger und noch einmal alleine hier unterwegs. Er würde in Honolulu oder einer anderen Stadt in einem Backpacker-Hostel einchecken, dort Leute aus aller Welt kennenlernen, die ganze Nacht mit ihnen feiern und trinken, und schließlich mit einer Schwedin, Norwegerin oder Finnin den ganzen Schlafsaal wachhalten. Wenn es gar nicht anders ginge, auch mit einer Australierin.
Weil Kerstin sich noch eine Weste überzieht und die Haare zusammenbindet, ist er vor ihr auf dem Flur. Er hört ein Knarren und in seinem Augenwinkel bemerkt er eine Bewegung. Als er sich nach links dreht, sieht er einen dicken Mann im Hawaiihemd über die Dielen schleichen und die ersten Treppenstufen nach unten nehmen. Die Halbglatze verschwindet rasch im Boden. Er ist sich sicher, dass der Mann gelauscht hat.
Er sieht den Mann weder in der Lobby noch auf der Terrasse, die aufs Meer hinausgeht und auf der zwei jüngere Pärchen ihre Drinks einnehmen. Die Sonne sinkt schnell der Meeresoberfläche entgegen, sieht er mit einem Blick durch die Glasfront. Er schlussfolgert aus ihrem Stand, dass die Bucht nach Nordwesten zeigt. An die Terrasse schließt im Gebäudeinneren das Restaurant mit zwanzig bis dreißig Tischen an. Der Saal wirkt durch seine vielen Fenster licht und freundlich. Wie man allein aus Holz ein so großes Haus bauen kann, ist ihm ein Rätsel. Doch ihm gefällt es. Er zieht das Braun dieses Naturstoffes dem Weiß von Marmor oder verputztem Stein vor. Es ist wärmer und organischer. Zumindest wären das Kerstins Worte.
Im Restaurant müssen sie feststellen, dass noch kein Essen serviert wird. Eine junge Frau afroasiatisch-ozeanoeurasischer Abstammung bescheidet ihnen, dass sie frühestens in zwei Stunden wiederkommen sollten. Also beschließen sie, das Areal um das Hotel zu erkunden. Auf der einen Seite gibt es bis zum Grundstück des Nachbarhotels einen kleinen Golfplatz mit neun Löchern. Der Rasen ist akkurat geschnitten und Stallmeister zählt sogar drei kleinere Sandbunker. Ein Mann in weiß mit Tropenhut zieht hier alleine seine Kreise. Auf der anderen Seite fügt sich ein Poolbereich an. Das Becken ist mehrbuchtig und leuchtet azurblau. Um den Pool stehen in Grüppchen bunte Liegen. Auf einer liegt ein knutschendes Paar. Im Wasser treibt ein dicker alter Mann auf einer roten Luftmatratze. Obwohl kein Hawaiihemd Bierbrust und Wanst des Mannes versteckt, ist sich Stallmeister sicher, dass es sich um den Voyeur von vorhin handelt. Pools in Strandnähe sind für ihn eine Perversion wie Laufen auf Laufbändern oder Fahrradfahren auf Hometrainern. Es sei denn, es handelt sich um Endless-View-Pools, die einem den Eindruck vermitteln, der Pool ginge ins Meer über. Auf die Topless-View, die der Alte ihnen bietet, und bei der es so aussieht, als würden Kopf und Bauch ineinander über gehen, kann er hingegen gerne verzichten.
Zwischen den langen Baumstämmen, die die Hotelterrasse tragen, schlendern sie hinunter zum Strand. Dieser liegt ein Stück tiefer, da das Gelände zum Meer hin abfällt. Direkt dort, wo ein schmaler Streifen Sand das Dünengras ablöst, gibt es zwischen Palmen einen Pavillon mit Grill und kleiner Bar. Sie betreten ihn und blicken hinaus aufs Meer. Die Sonne bereitet sich auf ihren blutfarbenen Einschlag in die spiegelnde Scheibe des Ozeans vor. Gischt hält sich auf rasenden Wellen. Die Tische sind schon gedeckt. Zwei an die Brüstung gerückte Stühle dienen ihnen als Sitzgelegenheit. Sie küssen sich und er ist glücklich. Vorerst.
Er stellt sich vor, wie sie hier sitzen und eine Tusnamiwelle sich vor ihnen aufbäumt. Er würde gerne wissen, wie die Menschen empfanden, kurz bevor sie selbst zu einem Teil des Naturereignisses wurden, das sie kurz bewundern durften. Er war zu der Zeit des großen Tsunamis an der Westküste Sri Lankas. Sein Urlaub war mit dem Unglück natürlich gestorben.
Wenn die beiden Vulkane der Insel ausbrechen, dann fließt die Lava durch das Tal, einerseits in Richtung Honolulu und andererseits in Richtung Waimea. Es wäre eine Flutwelle, die einen aufs Meer spült statt aufs Land. Sofern man nicht vorher in Asche aufgeht.
Die milde Abendsonne wärmt sein Gesicht. Sie hören das Atmen der Brandung. Weiter draußen türmen sich Wellen auf.
Kerstin lehnt den Kopf an seine Schulter. “Vielen Dank für dieses schöne Geschenk.“
„Bitte, bitte.“ Er streichelt ihre Haare.
„Ich freue mich so auf unseren Urlaub.“
„Ich mich auch“, sagt er und braucht dabei nicht zu lügen.
„Sind nicht so viele Leute hier“, bemerkt sie.
„Aber der Surfkurs ist angeblich ausgebucht.
„Wie soll das gehen?“
“Wahrscheinlich sind dort auch Leute aus anderen Hotels.“
Sie nickt und meint: „Unser Hotel ist einfach traumhaft. Komisch, dass trotzdem so wenig los ist.“
„Bei den Preisen?“
Weil Jim gemeint hat, er würde vor dem Abendessen noch einmal zu einer Besprechung vorbeikommen, machen sie sich auf den Rückweg. Stallmeister erblickt hinter dem abgezäunten Poolbereich zwischen Grüppchen von Palmen mehrere Bungalows mit Veranden und weißen Dächern. Auf der Wiese davor spielen Kinder und auf einer Liege bräunt sich eine Frau. Sie ist splitterfasernackt. Er ermahnt sich, dass er doch gerade Sex gehabt hat.
Die Hotelterrasse ist über eine kleine Holztreppe zu erreichen. Von ihr aus gelangen sie in die Lobby und lassen sich dort auf einem roten Ledersofa nieder. Kerstin blättert in amerikanischen Tratsch-Zeitschriften. Stallmeister wird von einer starken Müdigkeit übermannt, vielleicht ist es der Jet-Lag. Er ist kurz davor, einzudösen, da schreckt ihn eine laute Stimme auf: „Hey. Moine Froinde! Wie göht es euk? Olles okay? Göfällt euk dos Hotel?“
Er muss sich erst sammeln, bevor er antworten kann. „Oh, ja. Das Hotel ist fantastisch.“
Jim sieht daraufhin Kerstin an.
„Wundervoll“, bestätigt sie.
„Great. Söhr goil, moine ik. Dorf ik euk Bill vorstellen, dön Manager vom Hotel?“ Hinter ihm tritt mit einem Mal ein Mann hervor. Er ist noch kleiner als der Halbvietnamese und noch schmaler. Einen Anzug in einer solchen Größe gibt es nicht von der Stange. Die Haare sind graumeliert und das Gesicht sonnengeröstet. Er kommt ihnen einen Schritt entgegen und gibt ihnen die Hand. Kerstins Blick sagt, dass Stallmeister so höflich sein und aufstehen soll.
„Hello Guys“, sagt der Manager reichlich hemdsärmelig. „I am Andros.“ Seine Füße stecken in zu großen schwarzen Lackschuhen. Er wird von Jim gebeten, etwas über das Hotel zu sagen.
Jim übersetzt eifrig, was ihr Gastgeber über den Pool, den Golfplatz und das Restaurant sagt, obwohl Stallmeister und seine Freundin alles verstehen. Sie tun Jim den Gefallen und lassen ihn schwadronieren. Manchmal übertreibt er, zum Beispiel, wenn er den Golfplatz zu einem vollständigen Parcours erklärt oder das Schwimmbecken für Wettkämpfe geeignet bezeichnet. Oder das Restaurant mit seinen blumigen Worten zum besten macht, über das die Insel verfügt.
Der Manager verabschiedet sich. Jim bittet die beiden hinaus auf die Terrasse. Es gehe um den Surfkurs. Schließlich beginne dieser am nächsten Tag in der Frühe. Bei einem Bier und zwei Cocktails besprechen sie die Details.
„Oire Surfschule is direkt of dör onderen Soite von dör Bukt. Oin Hotel-Ongesteller würd euk dorthün brüngen. Ös gübt nok oine ondere Person ous eurem Hotel, die mitmakt. Okay?“
„Okay“, sagt Kerstin mit Nachdruck.
„Okay“, sagt Stallmeister schlapp.
Jim sieht einem nach dem anderen fest in die Augen. Euer Kurs göht zwoi Woken. Ühr wördet oine Menge lörnen.“ Er lächelt. „Das würd goil. Vieloikt könnt ühr wörklik surfen, at the end of the day, ik moine, nak dön zwoi Woken.“
„Hoffentlich“, sagt Stallmeister. „Wird es gut.“
„Surfen is dos Autofahrn dör Hawaianer. Wönn ühr surfen könnt, soid ihr ein bisken Hawaiianer. Ik konn auk surfen, ober nikt so goil.“ Er grinst entschuldigend.
„Hauptsache, du kannst Autofahren“, meint Stallmeister.
„Ja, das kann ik wirklik“, sagt Jim im Brustton der Überzeugung. „Ik bin oin goiler Autofahrer.“
„Dann.“ Kerstin lächelt zum ersten Mal ihr spöttisches Lächeln. „Bist du kein richtiger Hawaiianer, Jim.“
„Oh noin! Ik bün oin Vietnam... Wie sogt mon? Vietnamiker?“
„Vietnamese.“
„Ja. Vietnamese. Holbvietnamese! Good morning, Hawaii!“ Er hebt sein Cocktailglas und die drei stoßen miteinander an.
„Ouf oinen goilen Urlaub!“, meint Jim feierlich.
„Jetzt aber bitte kein geil mehr, Jim“, meint Kerstin und gibt Stallmeister durch ihren Blick zu verstehen, dass sie sich mit ihm gegen den schmierigen Amerikaner verschwören will.
Die Amerikaner schaffen es, dass das Bier zwar nicht nach Bier schmeckt, dafür aber um so stärker auf seinen Geist einwirkt. Sie schaffen es, dass man noch nicht mal den Alkohol schmeckt.
„Tschuss. Büs morgen“, sagt Jim und ist so schnell weg wie er gekommen ist. Stallmeister bestellt sich ein weiteres Bier. Er muss sich erst einmal von diesem Auftritt erholen. Während die Sonne untergeht, lästern er und Kerstin über Jim.
Mit dem Einbruch der Dunkelheit gehen sie hinein ins Restaurant. Die Fenster sind geöffnet und es geht ein lauwarmes Lüftchen. Aus den Boxen an der Decke kommt das Gitarrengedudel von John Jackson, dem Surfer, der behauptet, Musik zu machen. Draußen, hinter der Küstenlinie, verschluckt das schwarze Meer alles Licht; keine Yacht, kein Fischerboot ist mehr zu erkennen. Hotelbedienstete bewegen sich auf den Steinplatten im Gras. Fackeln leuchten ihnen den Weg. Der Pavillon ist jetzt der letzte Außenposten vor dem Nichts.
Sie isst Fisch, er Hummer. Sie sind so mit Essen beschäftigt, dass sie kaum ein Wort wechseln. Während sie so dasitzen, ab und zu an ihren Getränken nippen und sich verliebt anschauen, bemerken sie nicht, dass sich jemand an ihren Nachbartisch gesetzt hat. Erst als die Person sich mehrfach räuspert, dreht sich Stallmeister um. Es ist der alte Sack, der berühmte Erfinder der Dreistigkeit. Sein Hawaiihemd hat jetzt eine andere Farbe. Er steckt in sehr kurzen Shorts und trägt Sandalen. Vorne auf seiner Halbglatze prangt eine Haarinsel. Stallmeister wägt ab, ob er das Gewicht des Mannes über den Fenstersims gewuchtet bekäme.
Kerstin fragt ihn etwas, aber er will nicht antworten, weil er glaubt, dass sie der Mann versteht. Langsam baut sich in ihm eine Anspannung auf. Sie wird schlimmer, als er bemerkt, dass der Kerl kein Essen bestellt. Warum sitzt er dann nicht auf der Terrasse oder an der Bar? Sie wird noch schlimmer, als der Typ ihnen beiden zuprostet und Kerstin dies auch noch erwidert. Stallmeister würgt die letzten Stücke Hummer herunter, steht auf und meint: „So, ich brauche jetzt einen Wodka.“
Kerstin sieht ihn ungläubig an.
„Kommst du mit?“ Ungeduld schlägt ihr aus seinen Augen entgegen.
„Ja.“ Sie erhebt sich, ohne ganz aufgegessen zu haben.
An der Bar fühlt er sich wieder sicher. „Der Kerl gefällt mir nicht“, presst er nahe ihrem Ohr hervor.
„Das habe ich gemerkt. Was ist mit ihm?“
„Er ist alleine unterwegs.“
„Und was hat das zu bedeuten?“
„Leute, die alleine unterwegs sind, mischen sich in die Angelegenheiten anderer Leute ein.“ Er verschweigt seinen Verdacht bezüglich der Lauschattacke.
„Er hat noch nicht mal mit uns geredet“, beschwichtigt sie.
„Aber uns zugeprostet!“
„Ja, und?“
„Damit fängt es an.“
Vielsagend hebt sie eine Augenbraue. „Da weiß jemand aus eigener Erfahrung Bescheid.“
„Ich? Niemals!“
„Du warst doch auch alleine unterwegs.“
„Aber ich wollte auch alleine bleiben.“ Er spricht die Unwahrheit. Wo er konnte, hat er sich an andere Reisende gehängt.
Sie hält ihm ihr Schnapsglas hin. „Prost.“
„Prost.“
Der Barmann sieht aus wie Harry Belafonte, der Sänger, der immer Bananen kaufen wollte. Nur ist er viel jünger. Kerstin unterhält sich mit ihm. Stallmeister macht das nichts aus, weil der zugegeben gutaussehende Mann zehn Jahre jünger ist als sie. Der Jüngling spielt mit seiner Rolle als Bartender. Er lässt Stallmeister zum Spaß einen Drink mixen. Das Ergebnis kommt in die Spüle.
„Du“, flüstert ihm seine Freundin schließlich zu, schon merklich angetrunken. „Der Junge sieht aus wie Bruno Mars.“
„Wer?“
„Der Sänger. Der attraktive Musiker.“
Er schüttelt schwerfällig den Kopf. „Der Sänger heißt Harry Belafonte.“
„So ein Quatsch! Bruno Mars heißt der!“
„Bruno Mars. So heißt doch kein Mensch!“
„Aber Be-la-fon-te, ja?“
Später gehen sie hinaus zum Pavillon und trinken noch zwei oder drei Drinks. Dann sind sie müde genug, um sich zurückzuziehen. Kerstin ist angesäuselt, anhänglich und sexlustig. Er ist müde, schlaff und traumsüchtig. Er schlägt ihre Bemühungen so lange zurück, bis sie dabei einschläft. Er deckt sie zu.
Nackt liegt er auf seinem Bett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Die Nachtluft streicht über die wenigen Haare auf seiner Brust. In Schritt und Achseln ist er rasiert, und er nimmt sich vor, auch den letzten Rest an Körperbehaarung zu entfernen, bevor der Neoprenanzug sie ihm ausreißt. In dieser Nacht schläft Stallmeister auf dem Rücken; eine für ihn ungewöhnliche Position.
Er träumt davon, nach Bhutan gereist zu sein, weil er dort ein Buch schreiben will. In Bhutan ist es kalt und unwirtlich. Seine Behausung im Gebirge ist schäbig und ungenügend beheizbar. Er möchte wieder nach Deutschland zurückfliegen, aber er hat sein Rückflugticket verloren. Als er mit einigem Aufwand ein neues besorgt, bemerkt er, dass sein Pass gestohlen wurde. Er lernt eine junge Dänin kennen, die als Entwicklungshelferin tätig ist und ihren Pass ebenfalls nicht mehr bei sich hat. Er verfügt über ein Telefon, aber die Nummer, unter der er Kerstin erreichen will, meldet keinen Anschluss. Auch seinen Verleger erreicht er nicht. Zusammen mit der Dänin kämpft er sich durch die Behörden des Gebirgstaates, aber es gibt keine Möglichkeit, einen neuen Pass zu erlangen. Der deutsche Konsul erklärt sich für nicht zuständig. Stallmeister findet heraus, dass das alles kein Pech ist, sondern dass es jemanden gibt, der nicht möchte, dass er das Buch schreibt, und jemanden, der nicht möchte, dass er nach Hause zurückkehrt. Gemeinsam versuchen die beiden Festsitzenden herauszufinden, wer diese Personen sind und ob sie vielleicht identisch sind, doch bald resignieren sie und verfallen dem Alkohol. Weil die Dänin unter dem Einfluss des Rausches aus ihrer skandinavischen Erstarrung auftaut, verliebt er sich ein wenig in sie. Aus Leidenschaft, Langeweile und um sich zu wärmen, haben sie ausgiebig Sex. Er liebt ihren langen Körper mit dem kleinen weiblichen Waschbrettbauch, ihre festen Brüste, das glatte blonde Haar. Solange er Sex hat, denkt er nicht an Deutschland und seine gesichtslosen Gegenspieler. Er probiert mit ihr alles aus, was er sich bei Kerstin nicht traut. Er möchte in diesem perfekten Körper versinken, ein Teil von ihm werden. Jedes Mal, wenn er kommt, zieht es ihn in sie hinein, als wäre sie ein schwarzes Loch im Universum, durch das er auf die andere Seite sehen kann.
Er wacht auf und merkt, dass er einen Steifen hat und einen Samenerguss hatte, und kennt den Ejakulationsgrund. Er merkt zudem, dass nicht das ihn geweckt hat, sondern Hundegebell. Oder besser Hundegejaule. Irgendeine Töle heult zum Gotterweichen. Sie heult zwei Minuten, fünf Minuten, zehn Minuten. Er versucht, wieder einzuschlafen, aber das ist ganz und gar unmöglich. Mehrfach dreht er sich von einer Seite auf die andere. Dann vergräbt er den Kopf unter der Bettdecke, die er im Schlaf runter geworfen hatte. Dann versucht er es mit den Ohrstöpseln, die er auf Reisen stets dabei hat, aber auch die helfen nicht. Es scheint, als würde der Köter auf einer Frequenz jaulen, für die der Kunststoff in seinen Gehörgängen durchlässig ist. Er übt sich in Geduld, ist sich sicher, dass sich bei einem Hotel dieser Güte bald ein Angestellter des Problems annehmen wird. Er kann ja schließlich nicht der einzige sein, der von dieser wahnsinnigen Sirene am Schlafen gehindert wird. Doch auch nach einer halben Stunde geschieht nichts. Kerstin schläft seelenruhig. Auch sie hat die Decke vom Bett geworfen. Er betrachtet ihren glatten, weißen Venushügel, ihre Schamlippen. Eine Weile lang lenkt ihn das ab, dann hat wieder der Lärm seine Aufmerksamkeit im Griff. Er fragt sich, ob er nicht doch von Menschen kommt. Von Menschen, die Sex haben.
Mit schwerem Kopf zieht er sich an, denn er ist überzeugt, dass nur er selbst das Problem lösen kann. Er öffnet die Tür, und obwohl der Flur nur schwach beleuchtet ist, sieht er einen fülligen Mann durch die Nachbartür verschwinden. Es stellt sich ihm die Frage, ob es bei diesem Geräuschpegel überhaupt Sinn macht, an Zimmertüren zu horchen, was aber seinen Zorn nicht verringert. Er war es wieder, ist er sicher: Auf dem Schlafanzug des Lauschangreifers waren Blüten im inseltypischen Stil gedruckt.
Zu dieser Uhrzeit sind nur gedimmte Lampen an, aber das reicht ihm, um hinunter in die Lobby und von dort aus in den Garten zu gelangen. Die Rezeption ist verwaist. Was ihn stutziger macht, ist, dass die Terrassentür offen gelassen wurde. Über die Holztreppe erreicht er den Bereich, in dem sich die Bungalows befinden. Aus dieser Richtung kommt der Lärm. Diese Nacht ist eine Neumondnacht und es ist stockfinster. Kurz bevor er die genaue Position des tierischen Lautsprechers bestimmen kann, bricht das Gejaule ab. Für Sekunden ist es still und er hört nur das Schlagen der Wellen auf den Sand. Gerade, als er sich umdrehen will, weil er das Problem für gelöst hält, fängt es wieder an.
Dann sieht er das Tier. Es ist an das Verandageländer eines Bungalows gebunden. Es heult den unsichtbaren Erdtrabanten an; es weint um den Mond, der nach dem Sonnenuntergang verschwunden blieb. Die Melodie ist markerschütternd. Stallmeister kann sich nur an der grünen Notbeleuchtung vor dem Bungalow orientieren. Der Hund beachtet ihn nicht, als er näher kommt.
In Indien wurde er oft von Hunden wachgehalten. Es gibt sie dort wie Sand am Meer. Überall stößt man auf streunende, herrenlose Geschöpfe, die sich zum Wolf zurückentwickeln. Rotten sie sich zusammen und treten in Rudeln auf, sind sie sehr gefährlich. Bei seinen ersten Besuchen in Indien waren noch Prämien auf das Töten von Hunden ausgesetzt; man lieferte Hundeschwänze bei der Polizei ab und bekam dafür einen kleinen Betrag, für manche Einheimische ein Vermögen. Obwohl viele Inder arm waren und Hundeschwänze sammelten wie Pfandsammler in Deutschland Flaschen, wurde die Hundeplage nie ausgerottet. In den letzten Jahren haben Tierschützer ein Tötungsverbot erwirkt, so dass die Viecher ihre einstmaligen Herren ungestörter denn je terrorisieren. Stallmeister hat es nie wegen des Geldes getan, aber wegen Bedrohung oder Ruhestörung hat er schon Hunde in die ewigen Bellgründe geschickt. Natürlich weiß Kerstin nichts davon.
Er beschließt, allen Folgeschwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Er wird das Problem direkt und nachhaltig lösen. Er wird das tun, was am wenigsten Aufwand verspricht. Hunde, dass weiß er von den Indern, werden ohnehin sofort irgendwo wiedergeboren. Mord ist für die Anhänger der Reinkarnationslehre nichts weiter als das Betätigen eines kosmischen Beamers. Es ist also besser, er beamt dieses Wesen nun weit weg von hier.
Er findet einen größeren Stein, der mit anderen ein Blumenbeet umfriedet, und nimmt ihn heraus. Dann schleicht er sich von hinten an den Hund heran. Hilfsbereite Inder haben ihm gezeigt, wohin er zielen muss. Mit einem genauen Schlag trifft er das Tier zwischen den Augen. Das Geheule stirbt mit seinem Interpreten. Ein kurzes Winseln, und es ist Ruhe.
Plötzlich geht im Bungalow das Licht an. Stallmeister streift dem Hund die Leine über den Kopf und zerrt den nicht gerade leichten Tierkörper in einen nahegelegenen Busch. Der Schlag war beinahe unblutig und so gibt es außer der gelockerten Hundeleine keine Spuren.
„Janina“, ruft eine Frauenstimme. „Wo bist du?“ Die Frau spricht schweizerdeutsch. Das Verandalicht wird angemacht. Er wirft den Stein ins Unterholz, stellt sich in den Schatten. Eine junge Frau im langen Schlafhemd tritt auf die Veranda. Als sie die hundelose Leine sieht, erschrickt sie. „Janina? Mein Gott! Janina!“
Er versucht, so leise wie möglich zu atmen, aber das ist gar nicht nötig, die Schweizerin spricht aufgeregt vor sich hin, sie läuft um den Bungalow und kurz in den Palmenhain hinein. Immer wieder ruft sie den Namen ihres Hundes. Dann kehrt sie wieder zurück. Sie macht zwei Meter vor Stallmeister halt. Ihm bleibt das Herz stehen. „You, stop hiding. Come out!“
Er erschrickt, aber dann bemerkt er, dass die Spitzen seiner Flip-Flops aus dem Schatten der Palme herausragen. Notgedrungen macht er einen Schritt ins Licht. Sie sieht ihn feindselig an. Ihre Wut ist so groß, dass sie offenbar keine Angst vor ihm hat, obwohl er als Mann nachts um ihren Bungalow herumschleicht. „Where is my dog?“, herrscht sie ihn an.
„Sie können deutsch sprechen“, sagt er mit so unschuldiger Stimme wie möglich.
„Wo ist meine süße, kleine Hündin? Sagen Sie schon!“
„Ich habe keine Ahnung, wo Ihr Hund ist“, lügt er.
„Und was machen Sie dann hier?“
„Ich habe den Hund gehört und wollte wissen, warum er so jämmerlich... ähm... weint.“
„Sie hat nicht geweint!“
„Dann eben jault.“
„Janina jault nicht!“ Das Gesicht der Schweizerin sieht jetzt aus, als wolle sie ihm an die Gurgel.
„...warum er nicht schläft“, verbessert sich Stallmeister.
„Und dann war nur noch die Leine da?“, will sie wissen.
Schauspielernd zuckt er mit den Schultern. „Die Leine habe ich gar nicht gesehen.“
Sie glaubt ihm. Zögerlich kommt sie auf ihm zu. „Es tut mir leid, dass ich so reagiert habe, aber ohne Janina kann ich nicht leben. Niemals.“ Sie hält ihm die Hand hin. „Ich heiße Nicola.“
Er reicht ihr die Hand. „Ich bin Mark. Er wird schon zurückkommen.“ Erstmals lässt ihn der kaltblütige Totschlag frösteln.
„Sie! Sie wird zurückkommen. Sie muss zurückkommen!“
„Hunde kommen immer zu ihren Herrchen zurück“, sagt er. Er weiß genau, dass sich Hunde immer verlaufen.
„Frauchen. Ich bin ein Frauchen. Merken Sie sich das!“
„Okay. Frauchen. Sie können mich übrigens duzen.“
„Du mich auch“, sagt sie und plötzlich fällt sie ihm an die Brust und weint los. Er tätschelt ihr die Schulter, dann streichelt er ihr zurückhaltend die Haare. Sie ist vollkommen aufgelöst und er spürt ihre Tränen durch sein T-Shirt sickern. Er meint eine Spur von Likör in ihrem Atem ausmachen zu können.
Die beiden setzen sich auf die Stufen der Veranda und sie zündet sich eine Zigarette an. Stallmeister, der seit dem Start in Deutschland nicht mehr geraucht hat, lässt sich ebenfalls eine Zigarette geben. Er findet, ein Mord ist ein feierlicher Grund, die erste Zigarette zu rauchen. Die schmeckt jedoch ekelhafter als das Bier vorhin und er muss husten.
Nicola klopft ihm auf den Rücken. „Nichtraucher, was?“
„Nein“, keucht er. „Aber die hier ist schrecklich.“
Sie wird nachdenklich. „Morgen muss ich Janina suchen. Du musst mir helfen, sie zu suchen.“
„Ja“, sagt er unaufrichtig, um dann auch noch sich selbst etwas vorzumachen: „Aber sie kommt sicher schon vorher zurück.“
„Und was mache ich in der Zwischenzeit?“, fragt sie und schaut ihn Mitleid heischend an.
„Schlafen“, sagt er.
Sie bläst Rauch aus. „Ich kann nicht schlafen, so lange Janina nicht bei mir ist.“
„Dann musst du etwas lesen“, schlägt er arglos vor.
„Ich kann nicht lesen, wenn nicht irgendjemand bei mir ist“, gibt sie zurück.
„Dann musst du eben wachliegen“, sagt er und steht auf. Die halb gerauchte Zigarette landet in dem Busch, in dem der Hund liegt. Er überlegt, wie er den Kadaver dort weg bekommt, bevor sie ihn womöglich am nächsten Tag findet.
„Bleib du doch bei mir“, fleht sie und klammert sich im Sitzen an sein Bein.
„Oh, nein“, sagt er. „Ich muss zurück zum Hotel. Meine Freundin... “ Er kann sich befreien.
Sie zieht ihr Schlafhemd über die Knie hoch und entblößt ihren Slip. „Bleib bei mir“, flüstert sie und drückt die Zigarette aus.
„Ich würde gerne“, sagt er, furchtbar in Versuchung. Gerne würde er es jetzt doggystyle mit ihr treiben, und seine Lust wirft ihm im wahrsten Sinne des Wortes einen Knüppel zwischen die Beine. Eilig zieht er sein T-Shirt weiter nach unten. „Aber es geht wirklich nicht. Tschüss, Nicola.“
„Tschüss“, sagt sie enttäuscht, bevor er entschwindet. “Kommst du morgen zum Suchen?“
Er antwortet nicht mehr.
In der Lobby des Hotels wartet er. Dann steigt er über die Terrasse wieder die Treppe hinunter. Er schleicht sich zum Strand und macht einen weiten Umweg um den Palmenhain, um sich dann von hinten an den Bungalow heranzupirschen. Eine Weile muss er suchen, dann findet er den Busch wieder, in dem Janina ihren ewigen Schlaf schlummert. An den Vorderläufen zerrt er den Corpus Delicti zwischen den anderen Bungalows und Palmen hinunter zum Meer. Manchmal bleibt er damit an Büschen, Steinen oder heruntergefallenen Palmwedeln hängen, die er in der Dunkelheit nicht sieht. Manchmal stößt er mit dem Rücken an einen Palmenstamm. Die Arbeit der Nacht kostet ihn eine Menge Kraft und da er trotz Restrausch aufgewühlt ist, hofft er, dass die körperliche Betätigung ihn so erschöpft, dass er noch ein paar Stunden Nachtruhe bekommt, bevor er sich am nächsten Morgen in Gefahr begibt, wie das Tier als Wasserleiche zu enden. Er betet, dass er keine tiefen Spuren im Sand hinterlässt, über den er die Leiche ins Wasser zieht. Die Sterne werfen ihr dünnes Licht auf den leblosen Hundekörper, dessen Gliedmaßen von der Brandung hin und her bewegt werden. Stallmeister murmelt eine Seegrabrede mit den Worten zu dir nehmen oder den Fluten übergeben oder in Frieden leben. Dann streift er Flip-Flops und Shorts ab, watet ins Wasser und schleudert das Ding mit aller Kraft einen Meter hinaus. Wellen verschlucken es und es treibt ein Stück ab, bevor es sinkt.
Blut dürfte nirgendwo zurückgeblieben sein. Der Hund wies nur oberhalb der Nase eine kleine dunkelrote Einfärbung des Fells auf. Sollte man den Leichnam finden, wird es aussehen, als wäre es ein Badeunfall gewesen. Die Methode, die er angewandt hat, ist schnell, sauber und stubenrein. Die Inder nennen sie aus diesem Grund die Windhund-Methode.
Stallmeister wischt den Sand dort glatt, wo der Pflug aus Fleisch und Fell eine Furche gezogen hat. Dann macht er sich endgültig auf den Rückweg. Im oberen Hotelflur lauscht er an der Tür des Nachbarzimmers; es fühlt sich wie eine Revanche an. Der Gast schnarcht, als wolle er die Geräuschproduktion brasilianischer Waldarbeiter durch den Kakao ziehen. In Stallmeisters Zimmer stöhnt Kerstin leise auf, als er sich ins Bett legt. Obwohl er abgekämpft und sein Kopf leer ist, kann er nicht schlafen, weil sein Körper wieder nach einer Zigarette verlangt. Die vorhin hätte er niemals rauchen dürfen. Er hatte nicht nur keine Zigarette mehr gebraucht, er hatte sogar vergessen, dass ihn der lange Flug entwöhnt hatte. Er hat nicht einmal mehr Zeit gehabt, stolz auf sich zu sein, und jetzt ist er wieder vollständig abhängig. Irgendwo in seinem Gepäck müssen die Duty-Free-Zigaretten stecken, die man dort am billigsten kaufen kann, wo man sie nur in verqualmten Boxen rauchen darf. Aber er kann sie nicht lärmend raus kramen. Er kann Kerstin nicht wecken, nur weil er jetzt leidet.
Irgendwann schläft er ein und genießt den traumlosen Schlaf der Gerechten, bis er schließlich von ins Zimmer flutendem Sonnenlicht geweckt wird.
Noch im Halbschlaf beginnen sie ihren Beischlaf, an dessen Ende sie vollkommen ausgeschlafen sind. Das Frühstücksbuffet ist festlich. Sie schlagen sich den Bauch voll, obwohl sie noch Sport treiben sollen. Ein wenig brummt Stallmeister vom Trinken am Vorabend der Schädel, aber nach dem Konsum von einem Liter Kaffee fühlt er sich besser. Er zündet sich eine Zigarette an, während er auf der Terrasse steht und den Hotelangestellten zuhört, die in heller Aufregung sind. Mehrfach hört er das Wort dog, und so zieht er sich schleunigst wieder ins Innere des Gebäudes zurück. Kerstin dient ihm als Alibi.
In der Lobby warten sie auf Jim. Sie haben sich in Badesachen gekleidet, die man leicht wieder ausziehen kann, wenn man sich für den Tanz auf den Wellen in Schale werfen muss, und die man laut Jim für die Trockenübungen braucht; auch tragen sie nur die nötigsten Wertsachen wie Kamera und Zimmerschlüssel mit sich.
Kerstin hat seit dem Abflug Angst, dass ihnen etwas geklaut wird. Geldbeutel, Pass und Handy liegen im Zimmer. Dort gibt es einen Safe, den Stallmeister für unknackbar hält, weil man ihn nicht entdeckt. Er hat die Form und das Aussehen eines DVD-Players und steht unter dem Fernseher, ist aber fest mit dem Zimmerboden verschraubt. Diebe, die nur die Elektronik klauen wollen, würden sich ganz schön über diese Extremsicherung wundern. Diebe, die es dagegen auf den Safeinhalt abgesehen haben, würden sich die Augen wund suchen.
Das rote Ledersofa eignet sich wunderbar dazu, noch einmal die Augen zuzumachen, bevor man sie für immer schließt, weil man in mannshohen Wellen ertrunken ist. Stallmeister döst, bis er seine Freundin sich mehrfach räuspern hört. Durch die halbgeöffneten Augen erkennt er den dicken Deutschen, der Schlüssellöcher für Kopfhörer hält, den legendären König der Belästigung. Als er die Augen ganz aufgeschlagen hat, muss er feststellen, dass ihn der Dicke unverhohlen anlächelt. Es ist das verschlagene Lächeln eines Mannes, dem es egal ist, ob er abgelehnt wird oder nicht. Sofort setzt er sich kerzengerade hin und blickt zu Kerstin. Noch bevor er eine Zeitschrift als Sichtschutz ergreifen kann, spricht ihn der Mann an: „Na, auch zum Surfen hier?“
Stallmeister tut so, als wäre nicht er gemeint.
Der Mann wiederholt seine Frage.
Stallmeister schaut Kerstin an, die zurückblickt und dabei in Richtung des Mannes nickt.
Er versucht den Angriff zurückzuschlagen, indem er sich taub stellt: „Bitte?“
„Sind Sie auch zum Surfen hier?“, fragt der Mann beharrlich.
„Sie auch?“
„Ja. Muss ich mal ausprobieren.“
„Ja“, meint Stallmeister knapp. Wie man mit einem solch aufgedunsenen Körper surfen will, leuchtet ihm nicht ein.
Er will sich endlich in eines der Hefte vertiefen, da spricht ihn der Mann wieder an: „Jim sollte doch schon längst hier sein.“
Stallmeister sieht diesen Kerl, der auf seinem Sessel mehr hängt als sitzt, fragend in die Augen: „Wer?“
„Jim. Mein deutsch sprechender Betreuer. Ich dachte, der wäre auch für die anderen deutschen Gäste zuständig.“
„Sie meinen den Chinesen?“ Stallmeister versucht die lästige Fliege mit allen Mitteln weg zu wedeln, indem er sich ahnungslos und ignorant gibt.
Dr. Leibesfülle streicht sich über die Glatze. „Ich glaube, er ist Vietnamese, also vietnamesischer Herkunft. Auf jeden Fall ist er Amerikaner und spricht deutsch. Ein netter Kerl.“
„Sicher“, sagt Stallmeister.
Der Mann lächelt offenherzig. „Surfen Sie zum ersten Mal?“
„Ja.“
„Sie auch?“, spricht der Dicke Stallmeisters unverkennbar beschäftigte Freundin an. Unverfroren. Frech? Unverfroren.
Sie hebt den Kopf. „Ja.“
„Dann bin ich ja nicht der einzige Anfänger.“ Er grinst.
Stallmeister lässt die Feststellung unkommentiert. Als er gerade meint, dass er nun Ruhe hat und seine Finger die Surfzeitschrift beinahe berühren, kommt ihm der Mann erneut von der Seite: „Mein Name ist übrigens Trogbert. Dieter Trogbert. Sie können mich Dieter nennen.“
„Angenehm“, sagt Stallmeister und zieht die Hand vom Zeitschrifteinstapel zurück. „Sie können mich Herr Stallmeister nennen.“
Trogbert grinst schief, ringt sich aber dann ein Lächeln ab. „Ich bin Architekt. Was machen Sie denn, wenn Sie nicht gerade surfen, Herr Stallmeister?“
„Ruhe vor zu gesprächigen Menschen suchen“, gibt Stallmeister bissig zurück.
Trogbert lässt sich nicht abschrecken: „Na?“
„Ich bin Journalist.“
„Ach? Worüber schreiben Sie denn?“
„Ich bin Reisejournalist.“
„Aha. Sie kennen sich hier aus, was?“
„Richtig geraten.“ Stallmeister hofft, damit das Gespräch endgültig abzuwürgen. Dass er Schriftsteller ist, verschweigt er deswegen.
„Warten Sie mal“, sagt Trogbert und schließt nachdenklich die Augen. „Stallmeister.... hm.... Da gab es doch mal einen Schriftsteller. Ich hab da mal so ein Buch gelesen. Ich komme deswegen drauf, weil es da auch ums Reisen ging. Wie hieß der noch mit Vornamen? Max? Markus? Mark? Mark! Mark Stallmeister, jetzt hab ich's. Sie heißen nicht zufällig Mark mit Vornamen?“ Er sieht ihn drängend an.
„So heiße ich“, gibt sich Stallmeister geschlagen.
„Dann sind Sie es?“
„Ja.“
„Das ist ja eine Ehre. Ist mir noch nie passiert. Ich muss allerdings zugeben, dass ich mich nicht mehr gut an das Buch erinnern kann.“
„Das macht nichts“, sagt Stallmeister und freut sich. Er hasst nichts mehr als Gespräche über seine alten Machwerke. „Ich war jung und brauchte das Geld.“
„Jungendsünden, was?“, sagt Trogbert amüsiert.
„So ist es.“
„Aber erfolgreiche Jugendsünden.“
„So ist es.“
„Und Sie?“, Trogbert lässt Kerstin nicht in Ruhe.
Sie sieht abermals auf. „Ich bin Übersetzerin.“
„So? Das passt ja. Der Schriftsteller und die Übersetzerin.“
„Der Journalist“, verbessert ihn Stallmeister.
„Dann eben der Ex-Schriftsteller und die Übersetzerin“, beharrt Trogbert.
„Der Ex-Schriftsteller und die Ex-Dolmetscherin“, präzisiert Kerstin.
Trogbert guckt interessiert. „Ach? Ex-Dolmetscherin?“
Stallmeister sieht Kerstin gekränkt an: „Ex-Schriftsteller?“
Dann kommt endlich Jim. Er weht in die Lobby hinein.
„Hallo, moine Froinde!“, singt er. „Soid ühr guut ausgeschlofen? Heute göht ös sum Surfen! Endlik! Euer Fohrer Justin wortet schon auf euk!“ Er wedelt mit Papieren und grinst, als müsse er ihnen noch etwas verkaufen.
Stallmeister und Kerstin stehen auf. Trogbert erhebt sich mühsam und schwingt dann seine Badetasche in einer Hand.
Jim drückt jedem ein Papier in die Hand. „Dos is oier Ticket. Förgesst ös nikt. Ühr musst ös bei dör Surfschule obgeben.“
Stallmeister liest den Aufruck Wimea Surf School auf dem gelben Papierstück im DIN-A5-Format. Es gefällt ihm. Er findet den Namen sehr originell.
Jim schaut zufrieden und macht schon wieder auf dem Absatz kehrt. „Wür söhen uns heute Obend, Leute. Donn wördet ühr dön Kurs bewörten können. Wür wollen, doss ühr dön goilsten Urlaub eures Löbens hobt!“
„Wie bewerten?“ Stallmeister sieht Arbeit auf sich zukommen.
„Müt oinem Frogebogen“, sagt Jim mit unerschütterlichem Grinsen, sprungbereit wie eine Katze. „Nur 250 Frogen. Fur jöde Froge oine Note. Ühr musst die Bewörtung regelmäßig maken.“
„Einmal in der Woche?“, will Stallmeister wissen.
„Oinmal om Tag“, gibt Jim zurück.
Stallmeister rechnet aus, wie viele Noten er im Laufe des Urlaubs vergeben wird. Er wird sich vorkommen wie ein Lehrer, der Korrekturen mit in die Ferien genommen hat.
Jim verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. Die drei gehen nach draußen vor den Haupteingang. Auf der Wendefläche des Parkplatz steht ein Golfmobil. Vorne sitzt ein Mann am Steuer. Ein alter Mann. Sie gehen auf das Fahrzeug zu. Ein sehr alter Mann.
„Hi. I am Justin“, sagt der magere Greis mit ausgetrockneter Stimme und nickt den dreien zu. Er hat einen äußerst dünnen Hals und einen ausgeprägten Kehlkopf. Auf seiner Glatze schimmern Altersflecken. Mit zittriger Hand betätigt er Bremse und Gangschaltung seines Gefährts. „Hi, Justin“, sagt Kerstin als einzige.
Trogbert setzt sich vorne zu dem Mann, der gut und gerne der Vater des deutschen Beinahe-Rentners an seiner Seite sein könnte. Kerstin und er sitzen hinten und halten sich an der Karosseriestange fest.
Mit schwacher Hand lässt Jim den Motor an. Stallmeister bezweifelt, dass der Mann die Kraft hat, das Steuer zu halten. Doch dann ruckelt das lahme Golfmobil auf Rädern, die für Rasenfahrten gemacht sind, über die Hotelzufahrt auf die Hauptstraße. Kerstin und Stallmeister gucken sich befremdet an. Kaum sind sie auf der Straße, beginnen die ersten Autos zu hupen. Kerstin fragt den Fahrer, ob man nicht über den Strand auf die andere Seite der Bucht fahren könne. Der Mann, dessen Nacken über den Faltenwurf einer Schildkrötenhaut verfügt, bescheidet ihr mit krächzendem No, dass es sicherer ist, wenn sie die Straße benutzen.
Nach zehn Minuten Todesangst und dem Einatmen abgasgetränkter Zugluft vorbeirauschender PKWs, biegen sie links auf eine Seitenstraße ab. Kerstin umklammert voller Erleichterung ihren Freund. Trogbert gibt sich Mühe zu lachen. Vor einem einstöckigen Gebäude aus Bambusstäben bringt Justin sein Opa-Mobil zum Stehen. Er wartet, bis sie ihre Sachen herausgenommen haben, dann tuckert er grußlos davon.
Sobald sie vor der Surfschule stehen, kommt jemand heraus. Es ist eine junge, sportliche Frau mit kurzen blonden Haaren. Sie trägt ein Bikinioberteil und einen bis zur Hüfte hinunter gerollten Neoprenanzug. „Da sind Sie ja“, freut sie sich.
Mit holländischem Akzent spricht sie weiter: „Ich bin Antje, Ihre Surflehrerin. Wenn Sie wollen, können sie mich auch duzen.“
Kerstin macht einen Schritt auf sie zu und reicht ihr die Hand: „Kerstin.“ Die beiden lächeln sich gegenseitig einschätzend an.
Jetzt macht Antje einen Schritt auf Stallmeister zu und hebt fragend die Augenbrauen.
„Mark“, sagt er widerwillig. Das mit dem Duzen geht ihm hier deutlich zu schnell.
„Dieter“, sagt Trogbert verschmitzt, als sie sich den Architekten vornimmt. „Aber du kannst mich Didi nennen.“
Sie muss schmunzeln. „Alles klar.“
Dann wendet sie sich wieder an alle: „Die anderen Surfgäste sind schon drinnen. Wenn ihr eure Sachen angelegt habt, kann es losgehen.“
„Wie sieht es mit den Wertsachen aus?“, fragt Stallmeister und rührt sich nicht vom Fleck.
Wir haben wasserdichte Taschen, damit ihr Geld mitnehmen könnt. Aber wir haben auch einen Safe.“
Als sie hineingehen und ihre Sachen abgelegt haben, muss Kerstin feststellen, dass der Safe nichts weiter ist als eine Metallschatulle. Sie legen ihren Fotoapparat und das wenige Geld hinein. Als Trogbert seine Badetasche präsentiert, meint Antje: „Die brauchst du nicht. Du brauchst den da.“ Sie zeigt auf einen Neoprenanzug. Dieser sieht aus wie die Haut, die man einem mittelgroßen Wal abgezogen hat.
Die Surfschule ist zum Meer hin offen, so dass genug Licht in den ansonsten fensterlosen Raum fällt. Es riecht nach Meer, Sonnencreme und Gummi. An einem Tisch sitzen ein japanisches Pärchen und zwei jugendliche Schweden. Sonst sind nur noch vier Stühle frei. Sie setzen sich und Antje beginnt mit ihrer Einführung. Erst geht es um versicherungstechnische Dinge, dann um Krankheiten und Risiken. Sie spricht ein hervorragendes Englisch, jedoch ohne den holländischen Akzent wie im Deutschen. Danach steht sie voller Tatendrang auf.
Die Anzüge, erklärt sie, müssten anhand der Größe ausgewählt werden, ebenso die Surfbretter. Dann gehe es hinaus auf den Sand, für die Trockenübungen. Da alle Teilnehmer Anfänger seien, würden sie im Inneren der Bucht mit dem Surfen beginnen. Sollten sich rasche Fortschritte zeigen, gehe es im Verlauf der Woche weiter hinaus ins offene Meer. Sie behauptet, ihr Kollege sei in der Stadt, komme aber später zurück.
Aus der Kabine hört man Trogbert beim Umziehen stöhnen. Als er selbst an der Reihe ist und sich mühsam sämtliche Schmerzensschreie verkneift, bereut er bitterlich, am Morgen die Rasur an Brust und Beinen vergessen zu haben.
Als sie alle in ihren hautengen schwarzen Anzügen stecken, machen sie sich auf den Weg zum Scheitelpunkt der Bucht. Antje erklärt, dass sie ihr die nun folgenden Übungen nachmachen sollen. Trogbert steht daneben und sieht aus wie ein Frosch, in dessen Teich ein Tanker havariert ist. Kerstin wirkt ausgesprochen sportlich in ihrem kleinen Schwarzen, von den beiden schwedischen Jungen ganz zu schweigen. Die Japaner sehen in dieser Kluft aus wie Japaner. Stallmeister wird heiß. Die Sonne brennt auf sein Gummikleid und er will sich sofort ins Wasser werfen.
Antje legt ihr Surfbrett in den Sand und sich dann auf den Bauch. Dann macht sie ein paar Bewegungen vor: Sie hebt den Oberkörper, zieht dann ein Bein nach, dann das andere. Sie begibt sich in die Hocke und steht schließlich auf. Es wirkt alles ganz logisch und leicht nachvollziehbar. Alle machen es ihr nach, mit mehr oder minder großem Erfolg. Der japanische Mann meint, sie solle die Demonstration wiederholen. Sie wiederholt die Übung, nur in anderer Reihenfolge. Alle machen sie nach. Mit Trogberts B-Note ist sie unzufrieden und dieser bittet sie daher, die Abläufe nochmals zu wiederholen. Wieder ist es eine vollkommen andere Choreographie als zuvor. Klaglos machen alle nach, was Antje ihnen sagt. Dann meint Stallmeister aus Jux, sie solle die Schritte nochmals vormachen. Sie Bewegungsabläufe sind auch diesmal vollkommen neu. Inzwischen sind alle ziemlich verwirrt. Also schlägt er vor, sie solle es im Wasser probieren, in gewohnter Umgebung mache man intuitiv alles richtig.
Sie steigt in die Fluten und zieht das Brett hinter sich her. Als das Wasser ihr bis zur Hüfte reicht, zieht sie das Board zu sich heran und legt sich umständlich darauf. Dann paddelt sie hinaus. Die Wellen werden stärker, und Stallmeister ist sich nicht sicher, ob er noch irgendetwas erkennen kann, was ihm später weiterhelfen könnte. Man kann erahnen, dass sie gerade versucht, auf dem Brett aufzustehen. Alles sieht ziemlich wacklig aus. Der Japaner sagt irgendetwas Japanisches zu seiner Frau. Alle Kursteilnehmer starren wie gebannt auf die Wellen, zwischen denen Antje gerade die Grundbewegungen des Surfens durchexerziert. Es macht nicht den Eindruck, als würde sie hochkommen, auch nicht bei stillerer See zwischen den Wellen. Mehrfach bricht sie den Versuch ab. Dann steht sie auf. Sie fällt sofort vom Brett. Zwischen den wogenden Wassern sieht man sie wieder am Brett Halt finden. Mühsam kriecht sie darauf. Eine Welle kommt und verschluckt sie. Sie taucht unter ihrem Brett wieder auf. Abermals klammert sie sich an das Stück Holz. Zwei Wellen wirbeln sie herum. Nach weiteren zehn Sekunden liegt sie wieder halb auf dem Board, kriegt aber ein Bein nicht darauf. Eine weitere Welle macht den kleinen Fortschritt zunichte. Ihre Bewegungen werden hektischer, unkoordinierter, als sie wieder aufgetaucht ist und das Brett zum Greifen bekommt. Die zwei schwedischen Jungs reden miteinander, lachen. Dann bricht das Lachen ab. Kerstin ist wie erstarrt, Trogbert hat sich hingesetzt und hält sich eine Hand vor den Mund. Die japanische Frau vergräbt ihr Gesicht in der Achselhöhle ihres Mannes. Stallmeister beschirmt seine Augen mit einer Hand gegen die Sonne. Er versucht zwischen den Reflexionen des Lichts auf dem Wasser irgendetwas zu erkennen, was ihm Aufschluss geben könnte. Antje treibt immer weiter draußen, wo die Wellen stärker werden. Es sieht so aus, als würde sie winken, etwas rufen, aber sie hören sie nicht. Zwischen den Wellen sieht man sie nur noch ab und zu erscheinen. Das Brett ist überhaupt nicht mehr auszumachen, nur noch ein schwarzer Punkt, der Spielball der Meereslaunen geworden ist. Für den Hauch von Sekunden lebt sein Glaube an ihre Surfbefähigung noch. Dann erstirbt er. Stallmeister springt ins Wasser und krault hinaus.
Er ist kein schlechter Schwimmer und mit der richtigen Atemtechnik umgeht er die Pausen, die ihm die Wellen auferlegen würden. In Kürze ist er draußen bei Antje. Nun hört er sie schreien. Sie hustet, prustet, taucht auf, taucht ab. Er bekommt sie zu greifen und zieht das Surfbrett zu sich hin, das an ihrem Neoprenanzug festgemacht ist. Er legt ihren Oberkörper über das Brett und zieht dieses mit einer Hand hinter sich her, während er mit einer Hand in Richtung Strand paddelt.
Zurück in der Surfschule raucht er erst einmal die Zigarette, die auf einem Tisch lag. Er ist ziemlich außer Atem und so schlägt das Nikotin besonders an. Alle außer ihm und Antje sitzen sie mit vollkommen trockenen Surfanzügen herum. Die Surflehrerin sagt nichts. Immer wieder hat sie einen Hustenanfall. Ihre halbnassen kurzen Haare stehen struppig in alle Richtungen ab. Kerstin sieht ihn bewunderungsvoll an, aber ihm ist nicht nach Heldenverehrung. Er möchte einfach nur ins Hotel zurück und ein Bier trinken. Und viele Zigaretten rauchen.
Die Stimmung ist am Tiefpunkt. Die Japaner diskutieren heftig. Die Schweden murmeln bedrückt etwas vor sich hin. Der immerfrohe Architekt sitzt zusammengesunken in einer Ecke.
Antje zieht sich den Ganzkörperanzug, den sie nach dem Vorfall bis zur Leiste heruntergezogen hatte, vollkommen aus, so dass ihre Oberschenkel zum Vorschein kommen. Auf den ansonsten perfekten, glatten Hautrundungen erkennt Stallmeister zwei große hässliche Verfärbungen. Zweifelsfrei handelt es sich um Tätowierungen. Er kommt unauffällig näher und betrachtet die Bilder immer dann, wenn Antje gerade mit dem Japaner redet oder voller Verlegenheit eine Surfbroschüre durchsieht. Die eine Tätowierung zeigt ein Steigeisen, die auf dem anderen Schenkel einen Kletterpickel. Kurz darauf zieht sie sich eine Shorts an und seine Studien sind beendet.
Als Kerstin einmal auf der Toilette ist, nimmt er Antje beiseite. Sie sei ihm nach der Lebensrettung einen Gefallen schuldig, erklärt er ihr mit Nachdruck. Er wolle wissen, warum sie sich ein Steigeisen und einen Kletterpickel auf die Oberschenkel habe tätowieren lassen.
Sie sieht ihn an, als sei er von allen guten Geistern verlassen.
„Und?“
Ob er nicht genau hingesehen habe, erwidert sie.
„Warum?“
Weil es kein Steigeisen sei, sondern ein Steigbügel.
„Bitte?“
Und auch kein Kletterpickel, sondern eine Reitgerte.
Was sie nicht sage.
Sie habe diese Tätowierungen, weil sie gerne reite. Und sie seien damit auch gewissermaßen eine Hommage an ihr wahres Metier: Das Reiten auf Wellen.
Er glaube ihr kein Wort.
In Wimea-City gebe es eine Koppel, dort könne sie ihm ihre Reitkunst gerne zeigen. Er lehnt dankend ab.
Man verabschiedet sich. Die beiden Schweden gesehen gesenkten Haupts davon. Die Japaner sprechen leise und geben sich nachdenklich. Antje ruft im Hotel an, damit Justin die Deutschen abholt. Sie bedankt sich nochmal bei Stallmeister und meint, morgen könne man dann zu den nächsten Übungen fortschreiten.
Vor der Rückfahrt stellt sich Stallmeister neben die Fahrerkabine des Golfmobils und drückt den alten Mann auf den Beifahrersitz. Der will mit ihm kämpfen, sieht aber ein, dass das keinen Sinn macht. Trogbert quetscht sich neben Kerstin. Sie freut sich. Stallmeister lässt den Motor an und findet einen kleinen Weg, der zwischen der Surfschule und einem Restaurant hindurch führt. Auf diesem fährt er hinunter zum Strand. Das Golfmobil passt gerade so hindurch, ohne Schrammen abzubekommen. Dort, wo der Sand beginnt, gibt er Gas. Noch bevor die Räder durchdrehen, schaffen sie es durch den Schwung in den Bereich, in dem der Sand durch die Wellen glatt- und festgespült ist. Stallmeister drückt das Gaspedal durch und weicht geschickt dem Wasser aus, das in Intervallen über den Sand spült. Er holt alles aus dem Minitaturmotor heraus und Justin ist begeistert. Nur Kerstin hat Angst und klammert sich an Trogberts massige Arme, weswegen Stallmeister am Ende des Strandes beinahe vor Wut eine Palme hochfährt. Aber nur beinahe, denn das Golfmobil steckt fest. Trogbert und er befreien es und schieben es nach oben zum Hotel. Kerstin hilft dem Tattergreis hinauf. Man sehe sich später an der Bar, droht der Architekt.
Gerade als sie den ersten Fuß auf die Treppe zu ihrem Zimmer gesetzt haben, spricht sie jemand von hinten an. Es ist der Hotelmanager, Andros. Er spricht mit bedrückter Stimme. Es habe sich etwas ereignet, was die Abendplanung verändert habe. Man könne nicht wie sonst um sieben Uhr das Abendessen servieren. Ein weiblicher Hotelgast habe heute morgen seinen Hund vermisst gemeldet. Seitdem seien mehrere seiner Angestellten auf der Suche nach dem armen Tier gewesen, doch ohne Ergebnis. Zwei Stunden nachdem man die Suche aufgegeben habe, habe ein älteres Ehepaar jedoch beim Baden eine schreckliche Entdeckung gemacht. Unweit des Pavillons sei eine Hundeleiche angetrieben worden. Als man die vermeintliche Angehörige des Haustiers hinzurief, habe diese unter Tränen die Identität ihres geliebten Halbmenschen bestätigt. Es habe sich laut dem hinzugezogenen Rechtsveterinär aus Honolulu um einen Badeunfall mit Todesfolge gehandelt, bei dem der Hund wohl mit der Achillesferse des Hundes, dem Stirnbein, gegen einen Stein geprallt war. Es habe viel Trauer, Heulen und Zähneknirschen unter den Hotelgästen und Angestellten gegeben. Auch er selbst sei untröstlich. Wegen des Schreckens und der Tragik dieses Ereignisses habe man den Tag im Hotel zum Trauertag erklärt. Alkoholische Getränke erhalte man heute zum halben Preis. Bei Einbruch der Dunkelheit gebe es eine Feuerseebestattung, bei der man ein Boot mit der Leiche des Hundes zu Wasser lasse und es anzünde, um den brennenden Schwimmsarg auf den Ozean hinaustreiben zu lassen. Dabei handele es sich um eine hawaiianische Begräbniszeremonie. Im Anschluss gebe es im Pavillon ein Barbecue.
Stallmeister und Kerstin gönnen sich ein Bier und einen Caipirinha, und er muss seine Freundin beruhigen - wegen der Geschichte mit dem Hund. Er versichert ihr, dass kein Hundemörder hier sein Unwesen treibe. Als sie wissen will, warum ein Hund mitten in der Nacht baden gegangen sein soll, meint er, das täten Hunde bei Neumond öfter; sie seien dann besonders verwirrt. Später geht er hinaus auf die Terrasse, um zu rauchen, drinnen ist wie im ganzen Land Rauchverbot. Er vermisst die Rauchboxen.
Danach gehen sie auf ihr Zimmer, ziehen sich aus und sehen nackt fern. Als auch das Kerstin nicht von der Hundegeschichte ablenken kann, haben sie Sex.
Pünktlich um halb sieben geht die Sonne unter. Sie beschließen, der Begräbniszeremonie aus einiger Entfernung zuzusehen. Von der Terrasse aus betrachten sie das Schauspiel. Der Bereich um den Pavillon herum ist hell erleuchtet. Zusätzlich zu den Fackeln hat der Manager Scheinwerfer aufgetrieben. Stallmeister kann Nicola erkennen, die in einem weißen Kleid mit schwarzem Schleier in der Mitte der Leute steht. Außerdem sieht er den Hotelmanager, Jim und Trogbert, der als einziger nicht steht, sondern sich mit einem Drink auf einen Stuhl gesetzt hat. Ein Hawaiianer polynesischer Herkunft im Lendenschurz leitet die Zeremonie. Er scheint ein paar Beschwörungen und Himmelsanrufungen zu sprechen. Dann tanzt er und Stallmeister meint ihn singen zu hören. Die Menge teilt sich und gibt den Blick frei auf das Boot, das auf dem Strand liegt. Der Hund ist nicht zu erkennen. Drei weitere Hawaiianer in traditionellem Kostüm schieben das Boot hinaus, einer führt es. Dann lässt sich der Priester von einem Hotelangestellten eine Fackel geben. Er macht mehrere Verbeugungen und zündet dabei beinahe eine betagte Frau an, die von ihrem Mann vor den Flammen gerettet wird. Als sich die Aufregung darum gelegt hat, wirft er die Fackel ins Boot. Die Holzscheite flammen auf. Sein Gehilfe schiebt das schwimmende Feuer in die pechschwarze See hinaus. Es geht ein Raunen durch die Menge. Stallmeister sieht, wie Nicola zusammenbricht. Erst fällt sie auf die Knie, dann mit dem Oberkörper vornüber in den Sand. Jim und der Manager helfen ihr hoch. Jeder der Anwesenden scheint ihr anschließend sein Beileid auszusprechen.
Stallmeister hat jetzt Hunger. Er überredet Kerstin, deren Augen feucht sind, hinunter zu gehen. Tränenüberströmt und ohne sie zu beachten rennt Nicola an ihnen vorbei zum Hotel. Die Leute haben schon die Plätze an den Tischen eingenommen. Da sitzen sie und warten auf den Leichenschmaus, den besten Teil einer jeden Beerdigung - oder Bewasserung, wie man das heutige Spektakel treffender nennen sollte. In der Ferne, wo man den Himmel nicht vom Meer unterscheiden kann, flackert ein hellgelber Punkt.
Als wäre es verabredet gewesen, sind an Jim und Trogberts Tisch noch zwei Plätze frei. Der Touristenbetreuer winkt ihnen zu und sie nähern sich. Trogbert gefällt es sichtlich, dass sie gekommen sind. Er begrüßt die beiden überschwänglich und macht Anspielungen auf den Surfkurs. Jim hat noch Tränen in den Augen, die Beisetzung hat ihn mitgenommen, seltene Spuren in seinem sonst makellosen Gefühlskleid hinterlassen. „Die Trauernde“, erfahren sie von Trogbert, „will sich später auch noch zu uns setzen. Nur jetzt ist ihr nicht danach.“
„Kein Wunder“, sagt Kerstin.
Alle blicken Stallmeister an, aber dieser sagt nichts.
„Schlimm, die Geschichte mit dem Hund“, meint Trogbert.
Jim verzieht theatralisch das Gesicht. „Ja. Würklik!“
„Sprechen wir nicht mehr darüber“, befindet Stallmeister.
„Rue düses Wösen ün Früden“, sagt Jim mit brechender Stimme. Dann schüttelt er ungläubig den Kopf.
„Beinahe hätten wir heute eine weitere Leiche zu beklagen gehabt“, meint Trogbert zu Jim.
„Wos?“
„Die Surflehrerin. Sie ist fast ertrunken.“
„Wie bütte?“ Jim traut seinen Ohren nicht.
„Stallmeister hat sie gerettet“, informiert der Architekt ihn trocken. „Dann hat er uns gerettet. Er hat uns über den Strand gefahren. Große Leistung, mein Lieber!“
Jim sieht Stallmeister an und es erscheint ein Lächeln auf seinem tränengeröteten Gesicht. „Ja, Justin hot mür das schon örzählt. Du büs großortig göfohren.“
Stallmeister ist die Lobhudelei peinlich. „Na, ja.“
„Die Straßen hier sind ja richtig gefährlich“, nimmt Kerstin das Thema zum Anlass, sich zu echauffieren.
„Fünde ik nikt“, meint Jim. „Wönn mon fohren konn... “
Es müsste mehr Ampeln geben, Geschwindigkeitsbegrenzungen, Bremsschwellen, beschwert sich Kerstin.
Es gebe genug Ampeln. Zu viele, meint der leidenschaftliche Autofahrer mit dem Hang zu sentimentalen Ausbrüchen. Dann fällt ihm eine Anekdote ein. Dass es hier auf einer der Nebeninseln keine Ampel gebe, erwähnt er stolz. Nicht eine einzige, noch nicht einmal an der größten Kreuzung des Ortes. Dort gebe es nach englischem Vorbild einen Kreisverkehr.
Trogbert greift die Bemerkung auf. Manche der dort aufgewachsenen Kinder wüssten dann noch nicht einmal, was das sei, wenn sie einmal in Honululu, Waikiki, Tiki-Taka oder sonstwo die Straße überqueren wollten.
Der Halbvietnamese stimmt ihm zu, sagt aber, diese rückständigen Polynesier brauche man in Honolulu sicher nicht.
Trogbert entrüstet sich über diese abschätzige Bemerkung, kommt dann aber wieder auf das Thema Ampeln zurück. Er wolle unbedingt mal auf diese Insel. In Indonesien gebe es die Gili Islands, wo Fahrzeuge verboten seien. Dort habe er nie eine Ampel gesehen. Aber dort, wo es Fahrzeuge gebe, müsse es auch Ampeln geben. Stallmeister sieht Kerstin entnervt an.
Trogbert ist in Fahrt. Irgendwie, sagt er, komme ihm da die berühmte Aussage von Walter Ullbricht in den Sinn, nach der eine Ampel die Menschen hüben wie drüben jeweils für kurze Zeit zu einer Gemeinschaft mache: Man sehe sich an, warte gemeinsam, starre zusammen auf denselben Punkt, habe dasselbe Ziel. Wie bedauerlich, dass auf dieser Insel niemand in den Genuss dieser spontanen Gemeinschaften komme. Über diesen Gedanken Ullbrichts wisse er auch nur durch einen Zeitungsartikel über Kim Jong Un. In diesem wurde auch kurz dessen legendärer Großvater porträtiert. Kim Il Sung habe alle Bücher und Schriften des großen Ullbricht studiert, und deshalb sei auf sein Geheiß Pjöngjang zur Stadt mit den meisten Ampeln pro Einwohner geworden, obwohl dort kaum Autos führen. Alle Pjöngjangnesen hielten sich sklavisch an die Verkehrsregeln, auch wenn nur Steppenbusch vom Wind über die Straße gefegt würde. Gruppenbildende Maßnahmen, sozusagen. Kim Il Sung habe sich davon einen größeren Zusammenhalt in der Gesellschaft erhofft, mehr sozialistische Brüderlichkeit mit Kuss von Mund zu Mund unter Männern. Später habe er aber festgestellt, dass Gewehre für denselben Zusammenhalt sorgten. Die Asiaten würden in Sachen Ampeln zum Extremen neigen. Die Hauptstadt von Bhutan, jenes verwunschenen Landes im Himalaya und Shangri-Las der Reichen, sei die einzige Hauptstadt der Welt ohne Ampel. Den Tractatus socialistico-philosophicus von Ullbricht, der seine großartigsten Überlegungen zu Gott und der Welt beinhalte, habe er nie gelesen. Kim Il Sung, also der Vater von Kim Jong Il, dem Vater von Kim Jong Un, habe der DDR sämtliche gedruckten Exemplare noch vor der Veröffentlichung für Unsummen abgekauft, bis auf ein einziges, dass im Besitz seines Autors geblieben sei. Dieser habe es bei der Übergabe des SED-Vorsitzes an Honecker mit persönlicher Widmung versehen und seinem Nachfolger geschenkt. Nach dem Ende der DDR sei das Exemplar mit seinem Besitzer nach Chile gelangt. Dort sei es kurz nach dem Tod des sächselnden Saarländers gestohlen worden; zum Unmut Helmut Kohls, der den gesamten Nachlass Honeckers habe kaufen wollen, nach der Nachricht vom Diebstahl aber davon abgesehen habe. Außerhalb Nordkoreas gebe es nur dieses eine Exemplar, und das sei mittlerweile in den Händen einer Splittergruppe des Sendero Luminoso, des Leuchtenden Pfads, einer militanten maoistischen Gruppe aus Peru, deren Anhänger zum Teil vor den Regierungstruppen nach Chile geflohen waren. Natürlich ließen sämtliche kommunistischen Regierungen dieser Welt ihren Geheimdienst nach diesem Buch suchen. Zumal bekannt geworden sei, dass Kim Jong Il sämtliche auffindbaren Exemplare des Buches habe vernichten lassen, weil er ein Zeichen gegen das Buch und für den Film habe setzen wollen. Bücherverbrennung aus ideologischen Gründen, sozusagen. Er sei ein großer Filmliebhaber gewesen. Einmal habe er sogar einen japanischen Regisseur entführen lassen, damit dieser ihm persönlich Filme drehte. Aber das, so sagt Trogbert, sei eine andere Geschichte. Jedenfalls seien Ampeln eine sterbende Spezies. Überall auf der Welt würden jetzt Kreisverkehre gebaut. Es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis der Times Square auch in einen Kreisverkehr umgewandelt würde.
Stallmeister ertappt sich dabei, wie er nach einem Stein Ausschau hält, mit dem er dieses Geschwätz verstummen lassen kann.
Jims Gesicht hat sich bei den Ausführungen über die DDR immer mehr verdunkelt. Überhaupt lässt seine Miene jetzt darauf schließen, dass er Trogbert für einen Kommunisten hält. Seine Freundlichkeit dem dicken Architekten gegenüber ist binnen Sekunden nichts weiter mehr als Fassade. Die Stimmung ist nun aber auch am Gefrieren, weil Stallmeister hungrig ist, die Bedienung aber nicht mit seinem Schweineschenkel kommen will. Trogbert isst bereits und nimmt die Tatsache, dass sein Mund voll mit Fleisch ist, zum Anlass, einmal nicht zu reden. Jim hat sich ein Tofusteak geben lassen und kaut lustlos auf diesem herum.
Stallmeister knurrt zusammen mit seinem Magen. Kerstin isst bereits. Sie hat gegrillte Paprika mit „Weißbrot“ bestellt. Missgünstig sieht er Trogbert beim Herunterschlingen seines Steaks zu. Warum hat man einen Mann vor ihm bedient, der noch Tage von seinem Körperfett zehren könnte? Dann sieht er sich Jim an. Warum nur hat Gott einen Menschen zum Mann gemacht, der falsches Fleisch aus Tofu isst?
Jim, Kerstin und Trogbert sind fertig mit dem Essen, als er seinen Schweineschenkel bekommt, der außen ziemlich verkohlt ist; so verkohlt, dass man nicht mehr bestimmen kann, von welcher Art Tier er eigentlich stammt.
Mit vollem Mund muss er nun Jim Rede und Antwort stehen. Es geht um den Beinahe-Badeunfall. Stallmeister spielt das Ereignis herunter, während Trogbert dessen Dramatik mit seinen Worten befeuert. Schließlich sagt Jim, sie müssten den Kurs nur bewerten, so ließen sich alle Probleme am schnellsten lösen. Er schiebt den dreien jeweils einen vierseitigen Fragebogen zu. Stallmeister schiebt seinen unter sein Platzdeckchen.
Dann kommt Nicola. Sie hat sich umgezogen und trägt jetzt gelbe Hotpants, eine Jeansjacke wie aus den Achtzigern und grellroten Lippenstift. Sie scheint sich gefangen zu haben. Als sie sich Kerstin und Trogbert vorstellt, lächelt sie sogar schwermütig. Zurückhaltend macht sie sich mit Kerstin bekannt. Bei Stallmeister verbirgt sie, dass sie ihn schon gesehen hat. Schließlich setzt sie sich zu ihnen, sagt aber, dass sie keinen Hunger habe.
„Hawaii ist wunderschön“, verkündet Trogbert urplötzlich. „Ich kann schon verstehen, warum die Marine der Westküste hier stationiert war und nicht in Oregon“, sagte er, an Jim gewandt. „Wussten Sie eigentlich, dass die Idee, Hawaii anzugreifen, Hitlers Idee war? Das ist gar nicht auf dem Mist der Japaner gewachsen. Die wollten die Amerikaner gar nicht angreifen, weil dies einem Gesichtsverlust gleichgekommen wäre. Sie wollten sich ehrenhaft verkaufen. Aber wie damals Kaiser Wilhelm die Österreicher in den Krieg gebettelt hat, lag Hitler dem Tenno, dem japanischen Kaiser, so lange in den Ohren, bis dieser sich bereit erklärte, Hawaii zu überfallen, also genauer Pearl Harbour. Die Lösung für das Problem des Ehrverlusts durch Angriffskrieg war schnell gefunden: Hawaii wurde zu genuin japanischem Gebiet erklärt. Waren die Hawaiianer nicht auch Asiaten? Waren die Ainu, die rundäugigen Bewohner Hokkaidos nicht genauso Japaner wie der Tenno selbst? Und war nicht Japan von allen asiatischen Ländern das, das Hawaii geographisch am Nächsten lag? Diese Fragen waren schnell beantwortet. Die Stationierung amerikanischer Soldaten auf dem Archipel wurde umgehend als Kriegserklärung gewertet. So konnten die japanischen Kamikaze bald ruhigen Gewissens Richtung Hawaii aufbrechen. Es war ein bisschen wie zwischen England und Argentinien beim Falklandkrieg, nur umgekehrt. Wenn Sie verstehen, was ich meine.“
Stallmeister versteht, will aber trotzdem nicht weiter zuhören. Er ist so eingelullt, dass er nicht mehr bestimmen kann, wen der Architekt mit den ganzen Storys beeindrucken will. Vielleicht am Ende sich selbst? Er braucht ein Bier.
Jims folgende Äußerungen zu Trogberts Spekulationen lassen darauf schließen, dass er die Argentinier, Japaner und Hitler für Kommunisten hält und Trogbert für mit diesen geistig im Bunde. Er straft den Architekten mit einer Freundlichkeit, der man die Verlogenheit umgehend anmerken soll.
Stallmeister bestellt sein zweites Bier. Dann lässt er sich von Jim die Erlaubnis geben, zu rauchen. Sein Rauch weht Nicola ins Gesicht, aber ihr scheint nicht nach Zigaretten zumute zu sein.
Kerstin versucht die Konversation wieder in Gang zu bringen. „Barack Obama kommt ja auch von dieser Insel“, flötet sie versöhnlich zu Jim.
Der guckt eisig. „Obama kommt aus Ofrika, moine Frau.“
„Aber er ist doch Amerikaner.“
„In soinem Pass, ja.“
„Aber du als Kind von Einwanderern, Jim, müsstest doch stolz auf so einen Präsidenten sein.“
„Ik bin stolz auf moinen Voter. Ör üs Omerika ümmer troi göwesen. Obama hot Omerika verroten.“
„Verraten? Wodurch?“
„Durk die Gösundhoitsreform.“
Jim trägt seiner Laune Rechnung und meldet sich ab. Nicola sieht sich auch nicht mehr in der Lage, in Gesellschaft zu weilen, und so bleiben sie beide allein mit dem Architekten sitzen. Ein von Jims Akzent erleichterter Stallmeister bestellt Bier.
„Eine tolle Frau“, tönt Trogbert, nachdem Nicolas hochhackigen Schuhe auf den Steinplatten verklungen sind. „Ich könnte mir schon vorstellen... Aber wahrscheinlich hat sie einen Mann. Und leider sind die Leute so grässlich... Wie soll ich sagen? Verklemmt? Jeder hat ein Problem damit, seinen Partner mal für eine Nacht abzugeben. Früher, als ich jung war, in den Siebzigern, war das noch kein Ding. Aber die Leute sind so spießig geworden, so konservativ. Jedenfalls bei uns in Europa.“
„Ich bin da gerne spießig“, sagt Stallmeister.
„Die Amerikaner nicht. Wissen Sie, was hier auf Hawaii in Privatkreisen der letzte Schrei ist? Und vermutlich in den gesamten Staaten? Burkapartys. Das ist eine Art Swinger-Party. Ich bin sogar schon zu einer eingeladen worden. Die Männer kleben sich einen Bart um, die Frauen sind in Burkas unterwegs. Darunter sind sie natürlich nackt. Die Frauen erkennen die Männer durch ihr Sehgitter eh nicht, und die Männer die Frauen genauso wenig. Keiner erkennt keinen und so geht es gleich rund. Früher gab es ja die Schlüsselpartys, bei denen der Mann seinen Schlüssel am Anfang in eine Schale gelegt hat und am Ende von einer der anwesenden Frauen gezogen wurde, mit ihr nach Hause gegangen ist. Das war der große Spaß verheirateter Paare. Jetzt kommt man gleich an Ort und Stelle zur Sache, weiß aber gar nicht, mit wem man es getrieben hat. Das heißt, es gibt keine Eifersüchteleien, keine Peinlichkeiten, keine Schuldzuweisungen bei Geschlechtskrankheiten. Am Ende gehen die Ehepaare befriedigt nach Hause und niemand muss sich Sorgen machen. Jedenfalls keine größeren Sorgen. Die meisten Leute in Ihrem Alter sind ja sterilisiert, weil sie schon Kinder haben. Die können sich also schön austoben. Und für die erzkonservativen Südasiaten springt dabei auch noch etwas heraus: Die Burka-Hersteller in Pakistan haben riesige Bestellungen aus den USA zu bearbeiten. Verrückt, nicht?“
„Geisteskrank“, meint Kerstin.
„Ich habe mir gerade Jim mit Vollbart vorgestellt“, erwähnt Stallmeister.
Der Architekt verzieht das Gesicht, halb amüsiert, halb angeekelt, fängt sich dann wieder und redet munter weiter: „So, Herr Ex-Schriftsteller, um endlich auf Sie zu sprechen zu kommen. Wissen Sie, was ich gerade lese? Nein? Sie erraten es niemals.“
Stallmeister bläst Rauch aus. „Die neuesten Verschwörungstheorien?“
„Nein. Ein Buch von Markus Markstahler. Den kennen sie doch?“
Im Hintergrund spielt seichte Surfermusik. Stallmeister nickt.
„Die Diebe in den Zeiten der Kohl-Ära. Der zweite Teil seiner berühmten Kohl-Trilogie. Haben sie die gelesen?“
„Nur den ersten Teil.“
„Und sie?“ Trogbert sieht Kerstin fragend an.
„Nichts davon“, gibt sie zurück. „Trivialpseudofiktiodokumentarischer Quatsch.“
Trogbert zuckt mit den Schultern. „Also ich finde es großartig. Bin mal auf den dritten Teil gespannt. Der kam ja erst letztes Jahr raus. Den habe ich auch dabei. Wenn ich so schnell weiterlese, schaff ich den locker auch noch im Urlaub. Das Buch ist sehr fesselnd. Wie er die Spendenaffäre mit der privaten Affäre verknüpft, ist einfach großartig.“
„Ach. Kohl. Das ist doch ein alter Hut“, sagt Stallmeister. Er sieht Kerstin an, die ihm wissend zuzwinkert.
Trogbert winkt ab. „Ich habe nichts gegen ihn. Ich habe ihn zwar nie gewählt, aber er war ein ordentlicher Bundeskanzler. Und, na ja, die Spendenaffäre, so schlimm war die doch auch nicht. Von wegen nicht richtig versteuert und so weiter. Ich zahle doch auch kaum Steuern. Aber das liegt wohl daran, dass ich nicht so viel verdiene.“
„Das könnte der Grund sein“, sagt Stallmeister lakonisch. „Die brauchen Ihr mickriges Geld in einer Bananenrepublik nicht.“
„Oder in der Schweiz“, bedauert ihn Kerstin.
Trogbert hebt den Finger. „Wissen Sie, welches das größte Steuerparadies der Erde ist?“
„Nein. Die Bahamas?“
„Nein. Auch nicht die Cayman-Islands. Sie erraten es nie. Na? Es ist Pakistan. Dort werden gar keine Steuern gezahlt. Der Staat hält sich aus allem raus. Wilder Westen, sozusagen. Sollten Sie irgendwann einmal wieder einen Bestseller schreiben, können Sie ihr Geld ja dort unterbringen.“
„Was bringen einem niedrige Steuern, wenn die Bank einen betrügt und man das Geld nie wieder sieht, weil es den Staat nicht interessiert?“, will Kerstin von ihm wissen. Und ihr Freund schließt sich ihren Vorbehalten an: „Dann kann man auch gleich sein ganzes Geld versteuern.“
„Da ist was dran“, sagt der Architekt und sieht Stallmeisters Freundin einen Hauch zu innig an.
„Viele Leute verdienen sich ja mittlerweile in den Emiraten eine goldene Nase“, sagt Stallmeister.
„Sie meinen Inder?“
„Die auch. Für indische Verhältnisse verdienen die sich sogar einen goldenen Kopf. Aber die meine ich nicht.“
„So, wen dann?“
„Leute wie Sie. Dort gibt es eine Art Bauboom. Geschäftsleute aus dem Westen und Fußballspieler sahnen da so richtig ab. Und Architekten: Hochhäuser, Stadien, Gaspipelines.“
„Muss ich mir noch mal genauer ansehen, ob das was für mich wäre“, sagt Trogbert und deutet der Bedienung mit Fingerzeichen, dass er auch noch ein Bier haben will. „Aber generell bin ich dagegen, dort zu arbeiten.“
„Wieso? Sie kommen doch überall klar“, frotzelt Stallmeister.
„Leute werden da nach Ablauf ihres Arbeitsvertrages auf unbestimmte Zeit festgehalten. Ohne Genehmigung des Arbeitgebers darf man nämlich nicht ausreisen. Macht der pleite, kann es sein, dass man überhaupt kein Ausreisevisum mehr bekommt. Manchmal dauert das Jahre. Ein Bekannter von mir sitzt dort fest. Die Botschaft kann ihm auch nicht helfen.“
„Hört sich ja schrecklich an“, sagt Kerstin mit Bestürzung in der Stimme.
„Ja, schauerlich“, gibt Stallmeister von sich. Es würde ihn freuen, wenn stattdessen Bekannten der Architekt jetzt dort festsäße.
„Ist es auch. Er könnte sich freikaufen, aber das würde heißen, dass er überhaupt nichts während seiner Zeit dort verdient hätte.“
Stallmeister presst Luft zwischen den Lippen hindurch. „Pech.“
„Sie kennen dieses Problem nicht, was?“, fährt Trogbert fort. „Sie können überall auf der Welt schreiben.“
„Könnte ich, ja.“ Stallmeister möchte nicht darüber reden, dass er ein Manuskript dabei hat. Er will nicht, dass Trogbert ihn darüber ausfragt. Er will überhaupt nicht übers Schreiben reden. Er will überhaupt nicht mit diesem Mann reden.
Trogbert lehnt sich neugierig vor. „Kein Projekt dabei?“
Stallmeister antwortet nicht.
„Ein Freund von mir schreibt auch. Er ist damit sogar ziemlich erfolgreich, aber wahrscheinlich kennen Sie ihn nicht. Er sagt, das Schreiben mache ihn zu einem Superhelden mit überirdischen Kräften. Mit Worten kann er physische Dinge bewegen, eine ganze Welt bauen, ohne Kraftanstrengung. Verstehen Sie, was ich meine? Wenn da ein Haus stehen soll, steht da ein Haus, man muss nicht mühsam mit Händen und Maschinen das Gebäude hochziehen. Glauben Sie mir, so ein Hausbau, das ist ein Riesenschlauch. Als Architekt habe ich es noch am leichtesten. Während die anderen Steine schleppen und Fassaden anmalen, kann ich in Ruhe in meinem Sessel hocken und was essen.“
„Das sieht man“, murmelt Stallmeister.
„Was haben sie gesagt?“
„Wie Superman“, habe ich gesagt.
Trogbert guckt zunächst überrascht, dann spielt ein stolzes Lächeln um seinen Mund. „Ach so.“
Es entsteht eine Pause, nach der der Architekt wieder das Wort ergreift: „Markstahler hat übrigens... “.
Stallmeister steht auf. „Was dagegen, wenn ich mich zurückziehe?“ Er fordert Kerstin mit einem Blick auf, mitzukommen.
„Wenn Sie jetzt wirklich schon müde sind... “, sagt Trogbert und nippt an seinem Bier.
Kerstin hat seine Geste verstanden und verabschiedet sich ebenfalls mit knappen Worten von dem dicken, vollgefressenen Mann, der keine Anstalten macht, schon die Zelte abzubrechen. Er bestellt noch ein Bier und sieht sich nach anderen Gesprächspartnern um.
„Endlich sind wir da los gekommen“, knurrt er in Kerstins Ohr, als sie sich bei ihm einhängt.
„Warum? So unsympathisch ist er doch gar nicht.“
„Wie bitte? Das ist ein Aufschneider. Ich schätze, nichts von dem, was er da erzählt hat, ist wahr.“
„Ich finde eher, unsere Surflehrerin ist eine Aufschneiderin.“
„Die auch. Vielleicht sollten die beiden ja heiraten.“
„Sei nicht so gemein.“
„Wieso nicht? Ich finde, die beiden passen super zusammen.“
Kerstin schüttelt den Kopf. „Ich finde, er hat jemand besseren verdient. Schlimm genug, dass er in seinem Alter alleine ist.“
„Folgerichtig, würde ich sagen.“
„Du hast ihm auch nicht gesagt, dass du ein Buch schreibst. Du bist ein negativer Lügner, er ein positiver.“
„Was soll das heißen?“
„Die einen sagen zu viel, die anderen zu wenig.“
„Dann bist du auch einer.“
Kerstin blickt verdutzt, als sie auf der Terrasse stehen bleiben und kurz aufs Meer hinausschauen. „Warum?“
„Du hast nicht gesagt, dass du Kohl kennst.“
„Ach Kohl.“ Sie winkt müde ab. „Das ist doch ein alter Hut.“
„Ja. Du hast Recht. Vergessen wir Kohl. Vergessen wir Markstahler.“ Er schaut hinauf in den Sternenhimmel.
Kerstin betrachtet den Großen Wagen. „Lass uns ficken.“
Der Satz bringt etwas bei Stallmeister in Wallung. Er geht jetzt schneller. „Ja“, sagt er fliegenden Schrittes.
Nach dem benebelten Quickie sind sie schlafbereit. Sie rollen voneinander weg und wünschen sich süße Träume. Die Schwere des gaumenfeindlichen Biers legt sich auf seinen Schläfen- und Frontallappen. Bald schläft er ein.
Mitten in der Nacht wacht er auf. Kerstin ist in der Traumwelt. Das Anbranden der Wellen wiegt sie in ihrem erholsamen Urlaubsschlaf. Er hat einmal gelesen, dass die Polynesier meinen, das Rauschen sei der Atem des Meeres. Apropos Atem. Er meint wahrzunehmen, dass das Geräusch der Gezeiten von einem anderen Ton unterlegt wird. Jemand atmet und es ist nicht Kerstin. Er durchquert den Raum. Jemand atmet durch das Schlüsselloch. Stallmeister geht in Sprungstellung. Mit ein, zwei Schritten sollte er bei der Türe sein. Er spannt die Glieder an, ist mucksmäuschenstill. Dann rennt er los, er springt. Die Dielen federn und geben ein dumpfes Knarren von sich. Er drückt die Klinke herunter, aber kriegt die Türe nicht auf. Sie ist von innen abgeschlossen. Hastig dreht er den Schlüssel im Schloss und reißt die Türe auf. Als er den Kopf hinaus in den Flur steckt, hört er etwas die Treppe hinunter poltern.
Er geht zurück ins Zimmer, zieht sich Schuhe und Shorts an, und sieht nach, wer oder was da die Treppe hinuntergefallen ist. Wenn es ein Ding war, muss es noch dort liegen. Wenn es ein Mensch war, auch. Es sind mindestens 20 Stufen.
Unten liegt nichts. In der Lobby ist niemand. Auch nicht im Speisesaal oder auf der Terrasse. Er steigt die Terrassentreppe hinunter in den Garten und läuft dort in Richtung Palmenhain. Auf halber Strecke hört er über sich Schritte auf den Holzbohlen der Terrasse. Dann schlägt eine Tür. Er geht ein paar Meter in Richtung Treppe zurück, sagt sich dann aber, dass es zu spät ist.
Stallmeister stellt fest, dass er sich unweit von Nicolas Behausung befindet. Kerstin schläft. Es gibt keine Hundeleiche mehr zu entsorgen, und damit keinen Grund, das gestrige Angebot von Nicola auch heute auszuschlagen. Er schleicht zu ihrem Bungalow und sieht, dass drinnen noch Licht ist. Also betritt er die Veranda und klopft vorsichtig. Dann klopft er lauter. Er erkennt, wie die Vorhänge des Fensters zurückgezogen werden, hört Schritte und sieht schließlich die Tür aufgehen. „Was willst du hier?“ Nicola hat gerötete Augen und In-Ear-Kopfhörer auf. Sie pult sie sich aus den Ohren.
„Ich habe nachgedacht.“
„Worüber?“, fragt sie ungehalten. Likörgeruch schlägt ihm aus dem Bungalowinneren und dem Inneren ihres Mundes entgegen.
„Dein Angebot von gestern.“
„Welches Angebot?“
„Dass du... dass wir beide... Du weißt schon“, stottert er.
„Nein. Auf keinen Fall.“
„Warum?“
„Das war doch gestern. Heute ist mir nicht danach... “
„Aber es hat sich doch seitdem nichts geändert“, gibt er flehend zu bedenken. „Dein Hund war doch gestern auch schon tot.“
Ihr Gesicht verdüstert sich. „Woher willst du wissen, dass sie schon tot war?“
Er rudert zurück: „Das weiß ich nicht, aber ich vermute es, ich... “
„Woher willst du es also wissen?“ Sie kommt auf ihn zu. „Was weißt du darüber?“ Sie trommelt ihm wütend auf den Brustkorb. „Hast du was damit zu tun?“
„Nein. Nein. Natürlich nicht. Es war ein Badeunfall, ein natürlicher Tod, wenn man so will.“
„Janina hat nie gebadet! Nie! Sie ist ermordet worden.“ Sie weicht von ihm zurück, um ihn mit bösen Augen zu durchbohren.
„Natürlich war es kein Badeunfall. Natürlich war es Mord.“
Sie schluchzt. „Ja.“
Er scharrt mit seiner Sohle auf dem Holz. „Wenn wir hier Trübsal blasen, kommt sie auch nicht mehr zurück.“
Über diese Bemerkung denkt sie nach. „Stimmt. Aber mir ist trotzdem nicht danach. Komm, wir trinken was.“ Schnell ist sie im Bungalow und kommt mit einer Flasche Likör heraus.
Stallmeister verzieht das Gesicht. „Keinen Likör, bitte.“
„Das ist alles, was ich zum Trinken da habe. Du musst mit mir trinken. Schließlich ist meine engste Gefährtin gestorben.“
„Okay“, gibt er nach. „Gläser?“
„Ich hab keine Gläser. Wir müssen aus der Flasche trinken.“
Sie setzen sich auf die Verandatreppe. Die Flasche ist halbleer.
„Auf Janina!“, sagt er feierlich und hebt sie.
Stallmeister muss den Inhalt fast ausspucken.
„Und?“
„Köstlich. Was ist das?“
„Eierlikör. Ganz normaler Schweizer Eierlikör. Ich habe ein paar Flaschen davon mitgebracht.“
„Aha.“ Er würgt das Zeug hinunter. „Und das trinkst du einfach so aus der Flasche?“ Mit verzogenem Mund sieht er sie an.
„Ja“, sagt sie und bekommt einen Schluckauf.
„Wie viel?“
„Jeden Tag eine Flasche“, hickst sie.
Er nimmt die Flasche wieder entgegen und nippt daran. „Nicht schlecht. Gutes Pensum.“
„Ja“, sagt sie und reißt ihm die Flasche aus der Hand, um den Rest hinunterzustürzen. Stallmeister ist erleichtert.
Rasch steht sie wieder auf zwei Beinen. „Ich hol noch eine Flasche.“
Er hebt die Hände. „Wegen mir muss das nicht sein.“
„Komm. Du musst mit mir trinken!“
Bevor sie sich wieder neben ihn setzt und ihm die zweite Flasche reicht, nimmt sie noch einmal einen großen Schluck. „Ich kann nicht schlafen heute“, erklärt sie und stößt auf. „Ich werde schlechte Träume haben. Wegen dem Janinas Tod.“
„Glaubst du wirklich?“
„Ja. Ganz sicher. Auf dieser Insel werden die Träume für einen gezogen. Und zwar so, wie die Tiere die Welt erleben.“
„Du meinst gewoben.“
„Nein. Gezogen.“ Sie hickst wieder. „Der Traumzieher ist ein Gott in der polynesischen Mythologie. Er zieht die Träume wie Kerzenmacher Kerzen. Der Zweck der Träume ist es, zu erfahren, wie Tiere unsere Welt erleben. Wenn ein Tier getötet wird, so wird man selbst im Traum getötet.“
„Also eine Art Karma, nur im Traum?“
„Genau. Janina war meine engste Verwandte. Wenn ich hier einen Traum vom Traumzieher gezogen bekomme, dann einen mit ihrem Tod.“
Stallmeister, der eigentlich nicht abergläubisch ist, wird ein wenig mulmig zumute. Er hofft, dass Nicola nicht in ihrem Traum von einem Mann mit einem Stein erschlagen wird, der aussieht wie er selbst. „Ach, du wirst sicher so träumen wie in der Schweiz. So wie du letzte Nacht geträumt hast.“
„Das ist es ja grade. Gestern Nacht habe ich geträumt, ich wäre eine Hündin und würde in einem Schwimmbad mit Nadeln gequält.“
„Wie bitte?“
„Und am Morgen habe ich gewusst, dass im Hotelpool Tiere gefoltert wurden“, raunt sie.
„Ist nicht wahr. Von wem denn?“
„Ich glaube, es war der Architekt. Er hat eine Hündin mit Nadeln gestochen, weil sie ihn beim Sonnenbaden nassgespritzt hat.“
„Ach. Das war doch nur ein Traum.“
„Auf Hawaii ist ein Traum nicht einfach nur ein Traum.“ Sie zieht gierig an ihrer Pulle.
„Und wenn wir das erlebt haben, vergeben uns die Tiere dann?“
„Ja. Unsere Schuld ist abgegolten. Wenn wir danach um Vergebung bitten.“
„Am nächsten Tag?“
„In den nächsten Wochen. Wir müssen ein tägliches Ritual machen. Das Ho?oponopono.“
„Popo... Was?“
„Ho?oponopono.“
„Und wenn wir das Pono Pono gemacht haben... “ Stallmeister überlegt. „Wird uns dann Vergebung zuteil?“
„Wenn wir es richtig gemacht haben.“
„Also wenig Chancen für den Architekten?“
„Sehr wenig.“
„Sehr gut.“
Sie reden noch ein bisschen über Polynesien und Asien, dann ist sie total besoffen. Er musste sich nicht vor dem Likör drücken, weil sie ihm ständig die Flasche aus der Hand genommen hat. Nun ist sie so zu, dass der Zustand absoluter Müdigkeit mit dem absoluten Rausches zusammenfällt. Er legt sie auf ihrem Bett ab.
Zurück im Hotelflur hört er eine Tür ins Schloss fallen. Er tritt an die Zimmertür von Trogbert und lauscht. Jemand im Inneren imitiert auf äußerst amateurhafte Weise ein Schnarchen.
Nach dem Frühstück lässt sich Justin das Golfmobil zum Strand hinuntertragen und fährt dann unter den Anweisungen Stallmeisters den Strand entlang. Er hat sichtlich Spaß auf seiner neuen Rennstrecke.
Der Surfkurs ist eine Enttäuschung. Sie kommen zu nicht sonderlich viel. Immerhin hat Stallmeister Gelegenheit, einmal auf dem Board ein Stück hinauszupaddeln. Kerstin traut sich nicht. Trogbert legt sich auf sein Brett ins seichtere Gewässer und prustet Salzwasser aus. Dann rudert er im Rückwärtsgang durch die Gegend. Er scheint sich blendend zu amüsieren. Antje bleibt an Land und studiert die Trockenübungen ein. Die Schweden sind nicht noch einmal gekommen, auch die Japaner bleiben dem Kurs fern. Der angebliche Assistent von Antje ist ebenso wenig zu sehen. Nach etwas mehr als einer Stunde brechen sie die Ausbildung für diesen Tag ab und laden Antje zum Abendessen in ihr Hotel ein.
Den Rest des Tages verbringen Kerstin und Stallmeister am Pool. Trogbert weicht ihnen nicht von der Seite. Später taucht Nicola auf, gibt sich aber verkatert und wortkarg. Sie trägt eine Sonnenbrille und röstet ihren käsigen Körper in der Sonne. Trogbert hat das Surfbrett gegen eine Luftmatratze eingetauscht, ansonsten macht er dasselbe wie zuvor im Meer. An seinem Rücken sowie an Oberschenkeln und Oberarmen schmücken den beleibten Rentner blaue Flecken.
Zum Abendessen kommt Antje und gesellt sich zu den drei Deutschen und der Schweizerin, die sich zum Zeichen der Trauer einen schwarzen Lidschatten gemalt und die Lippen dunkel geschminkt hat. Nach ein paar Drinks lösen sich Erstarrung und Befangenheit in alkoholseligem Geplauder auf. Antje sagt, dass ihr Partner später dazustoßen werde.
Der Mann, der dann zum Nachtisch erscheint und sich mit dem Namen Robin vorstellt, sieht so gar nicht aus wie ein Surfer. Er ist nicht dick, aber er versteckt ein kleines Bäuchlein unter seinem T-Shirt und hat außerdem ziemlich dünne Oberarme. Sein holländischer Akzent ist im Englischen wesentlich ausgeprägter als im Deutschen. Er erzählt irgendetwas von Geschäften in Honolulu und Stallmeister will dieses Thema nicht weiter vertiefen.
Als sie mit dem Abendessen fertig sind, kommt Jim in Begleitung einer sehr jungen blonden Kaukasierin. „Dos is moine Frau, Kimberley“, sagt er, während er sie vor sich stellt wie eine Schaufensterpuppe. Sie ist nicht älter als zwanzig, aber Stallmeister findet sie zumindest körperlich äußerst anziehend.
Frau Sofarius sagt den ganzen Abend kaum etwas und sitzt nur da wie ein abgerichtetes Haustier. Sie hat ein schönes Gesicht, mehr aber auch nicht. Zwar ist sie die Tochter eines Niederländers, ist aber auf Hawaii aufgewachsen und spricht kein Wort Niederländisch. Zur geringen Überraschung Stallmeisters zeigen die beiden Landsleute ihres Vaters darüber keinerlei Bedauern. Auch auf Herrn Sofarius Senior kommen sie nicht zu sprechen. Ständig tuscheln und flüstern sie miteinander.
Zu fortgeschrittener Stunde nimmt Jim Stallmeister zur Seite und will, dass dieser seine Frauenwahl lobt. Ob Frau Sofarius sie nicht eine geile Braut sei, heischt er um Bestätigung.
Stallmeister ringt sich dieses Lob ab. Es ist die Wahrheit, aber er findet, dass Jim eine solche Zustimmung nicht verdient. Und er sagt Jim, dass er das Wort geil von nun an nicht mehr hören will.
Ihr Vater, erklärt der Vietnamerikaner, stelle die Zahnräder für Panzer und andere Militärfahrzeuge her, und obwohl er nicht die amerikanische Staatsbürgerschaft habe, mache ihn das zum lupenreinen amerikanischen Patrioten. Nichts, so meint Jim, kennzeichne einen so als Vaterlandsliebenden wie die Unterstützung des Militärs. Eine Menge Amerikaner, die zwar Bürger dieses schönen Landes seien, aber für Waffen und Kriegsführung keinen Sinn hätten, könnten sich bei diesem rechtschaffenen Mann eine Scheibe abschneiden. Zum Beispiel die eingeborenen Hawaiianer.
Jim erzählt ihm, ursprünglich habe er eine andere Frau heiraten wollen. Eine Einheimische, eine hübsche Polynesierin. Eine Woche vor der Hochzeit habe er sie dann nicht mehr sehen dürfen, ihre Verwandten hätten sie auf die Hochzeit nach traditioneller Zeremonie vorbereitet. Am vierten Tag sei er in das Haus seiner zukünftigen Schwiegereltern gekommen, in der Annahme, sie sei nicht da. Er habe sie doch getroffen. Sie sei gerade von einem polynesischen Tätowierer tätowiert worden, Zeichen für verheiratete Frauen. Leider habe sich das größte Zeichen in ihrem Gesicht befunden; auf der Stirn und am Kinn. Nach dieser Verunstaltung habe er die Hochzeit leider absagen müssen. Der Vater der Braut habe ihn entrüstet gefragt, ob er denn vorhabe, mit Frauen zu schlafen, die nicht im Gesicht tätowiert seien, und wie er so etwas Hässliches in seinem Bett dulden könne. Seit sie die Liebe seines Lebens entstellt hätten, habe er etwas gegen dieses Völkchen.
Apropos Tattoos, sagt Stallmeister. Er wolle von Jim wissen, ob dieser eine Reitgerte von einem Kletterpickel unterscheiden könne.
Natürlich.
Und ein Steigeisen von einem Steigbügel?
Selbstverständlich.
Dann müsse er bald einmal auf Jims Hilfe zurückgreifen.
Er könne sogar eine Burka von einem Tschador unterscheiden. Schließlich sei er in muslimischen Ländern aufgewachsen.
Apropos Burka. Stallmeister fragt Jim, ob er etwas von den Burkapartys wisse.
Jim gibt zu, dass er Kenntnis davon hat. Geschmacklos.
Ob er schon mal bei einer gewesen sei?
Nein, niemals. In Bordellen schon oft, aber noch nicht bei einer Swingerparty.
Warum nicht dort? In Bordellen betrüge man seine Frau doch auch.
Aber das Problem sei nicht das Betrügen.
Sondern?
Das Fremdgehen.
Und was sei der Unterschied?
Beim Fremdgehen teile man einen Menschen mit einem anderen, umsonst.
Und was sei daran so schlimm? Man werde doch selbst auch mit jemandem geteilt.
Dass sei es ja gerade.
Was?
Das Teilen sei das Problem.
Wieso?
Teilen sei Kommunismus. Er könne seine Frau mit niemandem teilen. Das würde die Prinzipien der freien Marktwirtschaft verraten.
Ob es etwas anderes wäre, wenn er seine Frau verkaufen würde, will Stallmeister wissen.
In gewisser Weise sei dies etwas anderes.
Ob er Jims Frau theoretisch kaufen könnte, hakt Stallmeister nach.
Gut möglich.
Und praktisch?
Der Preis müsse stimmen.
Wie hoch sei dieser denn?
Der Preis sei Kerstin.
Also doch Swingen?
Ja, aber mit der Garantie, das niemand etwas gratis bekomme, dass der Wert für alle Geschäftsteilnehmer gemehrt werde.
Stallmeister sagt, dass er sich das überlegen müsse.
Ansonsten, mein Jim, könne er es bei der Schweizerin versuchen.
Wie er darauf komme?
Die sei äußerst promisk. Jeden Abend habe sie einen anderen.
Wirklich?
Jetzt vielleicht nicht mehr.
Warum nicht mehr, fragt Stallmeister mit aufgestellten Ohren.
Jim sagt, jeder im Hotel wisse, dass sie den Hund ausgehungert und dann nachts jaulen gelassen habe, um Männer anzulocken. Wie die Sirenen in der Odyssee.
Stallmeister sagt nichts mehr.
„Aber jetzt etwas Anderes“, meint Jim.
„Was denn noch?“
Ob Stallmeister mit ihm eine Line Koks ziehen wolle. Er habe geiles Kokain bei sich.
Stallmeister lehnt ab.
Dann bitte er zumindest um den ausgefüllten Fragebogen.
Er sagt Jim, er könne sich den Fragebogen sonstwohin stecken.
Statt um seine Nase in den Schnee zu stecken, geht er aus anderem Grund auf die Toilette. Dass Antje und ihr männlicher Kollege Robin zusammen auf den Örtlichkeiten verschwunden sind, macht ihn argwöhnisch. Drinnen muss er feststellen, dass sich beide in die Damentoilette zurückgezogen haben. Sie sprechen nicht holländisch miteinander, sondern ein Deutsch mit starker österreichischer Färbung. Er nennt sie Anja, sie ihn Robert. Es geht um die Surfschule und darum, dass deren Betreiber bald aus dem Urlaub zurückkommen würden.
Am nächsten Tag weigert sich Stallmeister, den Kurs zu besuchen. Stattdessen lässt er sich am Pool ein Bier nach dem anderen bringen. Er lässt Antje von Justin ausrichten, dass sie gerne mit ihrem Freund abends kommen könne, ihn und Kerstin aber würden sie nicht mehr in der Surfschule zu Gesicht bekommen.
Von da an artet der Urlaub ein wenig aus. Er schreibt keine Zeile an seinem Roman. Stattdessen krakelt er Seite um Seite im Buch seines Alkoholismus voll. Trogbert ist immer dabei. Antje und Robin sprechen mit noch stärkerem holländischem Akzent im Deutschen als zuvor, so dass Nicola diesen sporadisch auch annimmt.
Immer wieder kehrt er nachts zu ihr zurück, aber nie will sie mit ihm schlafen. Sie wehrt seine Versuche ab und überredet ihn, mit ihr Likör zu süffeln. Er trinkt nun nicht nur tagsüber und abends, sondern auch die ganze Nacht. Den Schlaf holt er manchmal auf der Luftmatratze von Trogbert nach, wenn dieser zu einer größeren Sitzung entschwindet.
Stallmeister findet im Aufenthaltsraum ein Buch im Hardcover, dessen Einband fehlt. Der Buchrücken hat so sehr gelitten, dass nur noch Fetzen die Seiten zusammenhalten. Auch die ersten Seiten sind herausgerissen, so dass er keinerlei Möglichkeit hat, den Titel zu erfahren. Dafür ist das Buch auf Deutsch verfasst. Der Inhalt ist ziemlich trivial, die Figuren überzeichnet und die Handlung konstruiert. Für Stallmeisters seit Tagen im Sinkflug befindlichen Geisteszustand ist es genau das Richtige. Kurz nachdem er es in seinen Besitz gebracht hat, ist er bereits auf Seite 60 angelangt, dann macht ihm der Cocktail einen Strich durch die Rechnung und lässt ihn zwei Stunden schlafen. Als er erwacht, bestellt er sich einen neuen Cocktail, mustert die Poolnachbarn, kriegt bei Betrachtung einer schwerst operierten Milf einen Steifen und fragt sich, wo Kerstin gerade hingegangen sein mag. Dann sagt er sich, dass er so etwas auch einmal hätte verfassen sollen, dann wäre er jetzt reich wie dieser Schundautor und könnte sich ein Hotel ohne Trogbert leisten, dafür mit kompetenten Surflehrern. Er wischt die Gedankenspiele zur Seite und widmet sich wieder dem Machwerk, das ihm beim Einnicken aus der Hand gefallen ist. Es ist zum Teil in eine Wasserlache zum Liegen gekommen und die obere Hälfte ist durchtränkt von Chlorwasser. Er macht Trogbert für sämtliche Spritzer und Tümpel rings um den Pool verantwortlich und blättert verärgert das ohnehin schon stark ramponierte Buch auf.
Als ich aufwachte, bemerkte ich, dass es bereits dämmerte. Ich war mit dem Kugelschreiber in der Hand eingeschlummert, dieser war aus der erschlaffenden Hand gefallen und in eine Rille zwischen zwei Dielen gerollt. Im Ofen befand sich ein grauer Ascheschnee, von dem nur noch eine Ahnung von Wärme ausging. Ich selbst war furchtbar ausgekühlt, trotz des Vorhangs, in den ich mich auf dem Boden wie eine Leiche gewickelt hatte. Jetzt entrollte ich mich. Dann streckte ich meine steifen Glieder und schüttelte sie aus, um durch die Bewegung wenigstens geringfügig aufgewärmt zu werden.
Der Blick aus dem Fenster verriet mir, dass es ein wolkenloser Tag werden würde, nur dünne Dunstschlieren hingen über dem Berg. Also ging ich vor die Türe, um die ersten Sonnenstrahlen zu erhaschen, doch hier ging ein eisiger Wind, der mich den Rückzug antreten ließ. Ich sah mich nach etwas um, was ich im Ofen verbrennen könnte, hielt nach ein wenig Futter für ein Strohfeuer bis zum Erscheinen der Sonne Ausschau, aber da war nichts mehr. Abermals musste ich nach draußen und mir Holz beschaffen. Doch sowohl das Holz als auch Beil und Stumpf waren nicht mehr an ihrem Platz. Mich beschlich die dumpfe Ahnung, dass Janine sie mitgenommen hatte. Sie hatte sie verschwinden lassen.
Allmählich machten sich Entzugserscheinungen bemerkbar. Der Alkoholgehalt meines Blutes ließ nach. Nach so vielen Wochen ausdauernden Trinkens war mein Organismus für die reibungslosen Fortsetzung seiner alltäglichen Vorgänge vom morgendlichen Schnaps abhängig. Zum ersten Mal machten sich Anzeichen eines Katers bemerkbar. Ich hatte Gliederschmerzen, die nicht von der Kälte kamen, und Kopfschmerzen, die keiner Erkältung entstammten. Ein flauer Magen meldete sich mit Aufstoßen, während eine Grundübelkeit mich ständig zum Würgen reizte. Auch literweise furchtbar kaltes Wasser aus dem Gebirgsbach und eine ausgiebige Entgiftung meiner Blase taten diesem Zustand keinen Abbruch. In meinem Koffer kramte ich nach Medikamenten, doch nach ergebnisloser Suche kam mir, dass man mir meinen Medikamentenkoffer am Flughafen abgenommen hatte.
In diesem Zustand der Zermarterung beschloss ich, in der Hütte auf die Sonne zu warten, geschlungen in diesen dünnen Fetzen, den die Bhutaniker als geeignet für den Dienst an der Vorhangstange hielten. Allmählich entsann ich mich der Vorgänge vom Vorabend. Ich musste unaussprechbar betrunken gewesen sein. Nichtsdestotrotz hatte ich etwas geschrieben und ich meinte mich sogar daran erinnern zu können, dass ich dabei sehr zufrieden mit mir gewesen war. Heldenhaft ausdauernd hatte ich den Kugelschreiber geschwungen, bis ich vor Müdigkeit weggekippt war. Die Erinnerung weckte mein Interesse an dem Produkt meiner Selbstüberwindung. Ich hatte etwas zu Papier gebracht! Stolz erfüllte mich und ich stürzte voller Vorfreude zum Papierhaufen, der über den Schreibtisch verteilt war.
Das erste Stück Text, das ich in Händen hielt, war nicht zu verstehen. Wörter reihten sich aneinander, die aus syntaktischen und logischen Gesichtspunkten nicht nebeneinander gehörten. Sämtliche Sätze, wenn sie denn welche sein sollten, ergaben keinen Sinn, dazu war die Schrift so ungelenk und krakelig, dass ich zunächst der Überzeugung war, jemand anderes müsse diesen Mist dorthin geschmiert haben. Dann aber sagte ich mir, dass diese Zeilen ganz zum Ende hin, im Zustand größter Erschöpfung und Schlaftrunkenheit entstanden sein mussten. Also griff ich nach einem weiteren Blatt, doch mit diesem verhielt es sich genauso wie mit dem ersten. Je mehr Seiten ich mir durchsah, desto blasser wurde ich. Immer schneller griff ich nach den Blättern und immer schneller ließ ich sie fallen, weil ich feststellte, dass sie nichts als ein einziges großes Panorama der Sinnlosigkeit entwarfen. Das Entsetzen über meine Worte führte dazu, dass ich schließlich den gesamten Haufen vom Tisch wischte, aufhob und in den Ofen steckte. Erst jetzt ging mir auf, wie besoffen ich gewesen war, wie besoffen ich all die Tage, all die Abende gewesen war. Ich war ein Schriftsteller und hatte einen solchen Unsinn produziert. Beschämend. Das konnte ich mir selbst nicht durchgehen lassen. Aus diesem Grund musste ich mich nicht zum Schwur durchringen, dass ich von nun an keinen Tropfen Alkohol mehr zu mir nehmen würde. Nein, ich leistete ihn mit dem Gefühl der Erlösung. Jetzt musste nur noch Janine von ihrem Irrweg abgebracht werden. Auch wenn dies bisher nicht angewandte Methoden erforderte. Unmoralische Methoden.
Und dann war da Kim. Es fiel mir schwer, mich zu erinnern, wann ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. War es am Vorabend gewesen? Hatte er sich zu uns gesellt? Oder war dieses Bild, das ich von ihm hatte, auf dem er sich neben uns im Schneidersitz niederlässt und Reisschnaps kippt wie ein Alkoholiker Klosterfrau Melissengeist, nur eine Art Blaupause, die ich auf jeden Abend legen konnte, ohne ihn maßgeblich zu verfälschen? Es konnte auch durchaus sein, dass er seit zwei Wochen nicht mehr mit uns gesprochen hatte. Ich verwarf den Gedanken; all dies spielte keine Rolle. In meinem Kopf schlug ein winziger tibetischer Mönch wie wild mit einem Hammer gegen die Schädeldecke wie gegen einen Gong, so als wollte er mich daran erinnern, dass ich ein ernsthaftes Wort mit Kim sprechen musste.
Nach circa einer halben Stunde setzte ich mich, noch immer in den Vorhang eingewickelt, vor meine Hütte und ließ die Sonne mein Gesicht kitzeln. Ich döste sogar noch einmal ein, bis mich schließlich die Warmluft weckte, die sich unter dem Stoff angestaut hatte. Es kostete mich einige Überwindung, mich zu duschen, wie jeden Morgen. Ich konnte mich einfach nicht an das zwei Grad warme Wasser gewöhnen, das meine Haut wie fallende Eiszapfen zu durchbohren schien. Immerhin war ich danach hellwach und tatendurstig.
Ich ging hinunter in den Ort und ließ mir im Café ein Frühstück zubereiten. Weng, der junge Kellner, begrüßte mich routiniert und stellte ein gefülltes Schnapsglas vor mich hin, noch bevor er einen Saft und einen Becher vergorene Yakmilch brachte. Ich widerstand der Versuchung und schob den Schnaps von mir weg. Als Weng wiederkam, sah er mich mit schief gelegtem Haupt und ungläubigen Augen an, und fragte mich, ob es mir gut gehe. Ich sagte, alles sei gut, aber heute wolle ich keinen Schnaps. Mit missfälligem Grunzen nahm er das Glas und stürzte es.
Die Yakmilch war ohne vorherigen Schnapskonsum kaum herunterzubringen, ich zwang sie am Schluckmuskel vorbei und goss sie mit Saft die Speiseröhre hinab. Dann aß ich mein Porridge und bezahlte. Als ich schon auf der Straße stand, besann ich mich und ging noch einmal zurück zu Weng. Auf meine Frage, ob er Janine gesehen habe, sagte er, sie sei kurz nach dem morgendlichen Öffnen aufgekreuzt und habe zwei Schnaps getrunken. Dann sei sie mit seltsam abgedrehtem Blick hinausgegangen, habe eine Weile auf der Straße gestanden und sei in Zeitlupe auf jenem Weg davongegangen. Weng zeigte in Richtung ihrer Wohnung.
Die irrlichternde Janine. In mir wogte der Kampf zwischen dem Alkoholteufel und dem Abstinenzengel. Der Engel gewann durch unwiderstehliche Versprechungen: Alles würde gut werden. Ich würde mein Buch schreiben, meine Million einkassieren, Beate wiedersehen. Und zur Feier all dessen würde ich einen Bourbon trinken und einen Eid ablegen, dass nie wieder ein Tropfen Reisschnaps meine Lippen passieren würde.
Ich war der ungeliebte Missionar, der einem Alkoholiker den Schluckdämon austreibt und ihm die heilige Schrift der Entsagung bringt. Und so konnte ich mir gut vorstellen, dass ich, ähnlich einem jesuitischen Bekehrer bei den gottlosen Buddhamenschen der tibetischen Hochebene, bei Janine auf Ohren stoßen würde, die mit dem Schmalz des Glaubenseifers versiegelt waren. Ähnlich wie solch ein waghalsiger Diener des Herrn lief ich Gefahr, einen Märtyrertod zu sterben. Zumindest würde sie ihrerseits versuchen, ihren Heidenkult um das Feuerwasser einem abgefallenen Sünder wieder näher zu bringen.
Genau so war es. Ich klopfte an ihrer Tür. Ich klopfte und klopfte. Niemand öffnete mir. Also wartete ich eine Stunde, auf dem Boden des Hausflurs. Noch eine Stunde. Schließlich hörte ich, wie der Riegel zurückgeschoben und das Schloss herumgedreht wurde. Sie erschrak, als sie mich so vor sich sitzen sah. Ihre Augen waren mit einem Film überzogen, der ihr den Anschein von Entrückung verlieh, aber ihre Bewegungen waren zielstrebig. Ohne mich auf den Vorabend anzusprechen, sagte sie: „Komm, wir gehen was trinken.“ Ihr Atem war eine Mischung aus Zahnpastageruch und dem ätzenden Odem von Gebranntem.
„Ich gehe nichts trinken. Und du auch nicht“, sagte ich, stand auf und klopfte den Schmutz von meiner Hose.
„Was?“ Sie tat so, als hätte sie mich akustisch nicht verstanden.
„Du hast schon richtig gehört.“
„Was ist denn mit dir los?“ Sie sah mich verärgert an.
„Das muss alles aufhören, Janine.“
Wegwerfend wischte sie mit der Hand durch die Luft. „Ich weiß, was aufhören muss. Du musst aufhören, so prüde zu sein. Du musst aufhören, deine Natur zu verleugnen.“
„Ach was. Unsinn. Wir dürfen nichts mehr trinken. Gar nichts. Nicht einmal einen Schluck. Das macht uns alle noch verrückt. Wenn du wieder bei Besinnung bist, hört vielleicht auch deine fixe Idee auf, dass ich mit dir schlafen soll.“
„Das ist keine fixe Idee, Philipp. Das ist mein größter Wunsch. Du bist... du bist... du bist sexy. Ja, du bist attraktiv!“ Sie machte einen Schmollmund.
„Ich bin vor allem verheiratet. Und ich möchte jetzt endlich meine Arbeit machen.“
„Arbeit? Was soll denn deine Arbeit sein?“
Ich stockte. War ich mit zu viel herausgerückt? „Das sage ich dir, wenn du aufgehört hast, diesen Müll in dich rein zu kippen.“
Sie verlor den Halt und stützte sich an der Wand ab. „Das ist kein Müll. Das ist ein Lebenselixier. Ja, das ist es!“
„Hast du noch davon?“
„Ja, klar. Du kannst gleich ein Glas haben, wenn du willst...“
„Wo?“
„Auf der Anrichte. Es ist meine letzte Flasche, deswegen...“
Ich stürzte an ihr vorbei durch die Türe und hörte sie sogleich in meinem Rücken das Wettrennen mit mir aufnehmen. Doch ich war nüchterner und deshalb schneller. Ich packte die Flasche am Hals, sprang damit zum Fenster, das ich aufriss, und kippte den Inhalt auf die Straße. Unten hörte ich Überraschungsrufe.
Janine ergriff meinen Unterarm, und für eine Weile wogte der Kampf um den letzten Schluck, der sich noch in der Flasche befand. Dann ließ ich die Flasche los und blickte in fassungslose Augen. Sie löste den Griff um meinen Arm und scheuerte mir mit der freigewordenen Hand eine. Ich konnte mir ein triumphierendes Grinsen nicht verkneifen. „Du Arsch!“, keifte sie.
„Damit ist jetzt Schluss“, bekräftigte ich noch einmal.
Unten hatte sich die Überraschung in Aufregung verwandelt.
Janine sah besorgt hinunter. „Sieh mal, was du getan hast!“
„Ist mir schnurz. Ich habe gemacht, was ich machen musste.“
Sie wandte die aufgerissenen Augen nicht von der Straße ab. Bedenklich runzelte sie die Stirn. „Wie sollen wir so noch auf die Straße gehen?“
„Wir gehen nicht auf die Straße. Du bleibst jetzt hier, bis du nüchtern bist.“
Meine Worte beeindruckten sie weiterhin nicht. Immer noch blickte sie wie gebannt hinunter.
Allmählich glaubte auch ich, dass mein Flaschenwurf ernsthafte Folgen gezeitigt hatte. Beklemmung beschlich mich, noch bevor ich den Kopf aus dem Fenster steckte. Doch als ich schließlich hinuntersah, musste ich vor Erleichterung beinahe auflachen. Unten hatte sich eine Menschentraube gebildet, genauer gesagt, die Passanten hatten einen Kreis um die Einschlagstelle der Flasche geschlossen. In ihrer Mitte lag das Opfer. Es handelte sich um ein Huhn. Glasscherben und Federn verteilten sich um den zerschmetterten Vogelkörper, vereinzelte Daunen wurden weggeweht. Eine alte Frau schluchzte, Kinder zeigten mit offenen Mündern auf das arme Getier. Allen hatte es die Sprache verschlagen, so dass das Wimmern der Frau noch einmal lauter durch die Gassen schallte. Die Szene erschien umso absurder, als direkt neben der Menschentraube mindestens zwanzig quicklebendige Hühner im Staub herum pickten. Als die alte Frau sich aus der Hocke erhob, konnte ich erkennen, dass ihre Hände blutverschmiert waren. Sie hatte in ihrer Trauer ihr liebstes Huhn innigst umarmt. Dann zeigte jemand in meine Richtung. Ich zog den Kopf zurück.
„Philipp! Weißt du, was du da getan hast?“
Ich schmunzelte. „Ein Huhn geschlachtet?“
„Du hast eine Bombe auf die armen Dorfbewohner geworfen!“
„...und einen fetten Vogel abgeschossen.“ Mein Herz hüpfte vor Belustigung.
„Sie werden sich rächen.“
„Die Bhutaniker? Die können doch keinem Tier was zuleide tun.“ Erst jetzt bemerkte ich das Wortspiel. Mein Kater war wie weggeblasen. Die Kraft kam zurück.
Janine wandte sich angewidert ab. „Du bist ein Ekel.“
„Jetzt übertreib mal nicht. Es war auch deine Schuld.“
„Was du gemacht hast, ist Hiroshima“, übertrieb sie.
„Ach, bla, bla. Ich habe dich gerettet! Das habe ich getan!“
Sie ging zu ihrem Bett und ließ sich rücklings darauf fallen. Ich wagte noch einmal einen Blick nach draußen. Die Aufräumarbeiten hatten begonnen.
Dann klopfte es wie wild an der Tür. Ich dachte schon, der Mob habe sich versammelt, mit Heugabeln und Fackeln, und verlange die Herausgabe des Übeltäters. Doch dann erkannte ich die Stimme von Kim. Sein Getrommel wurde immer dringlicher, und bald waren es beide Hände, die gegen das Holz hieben. Janine rührte sich nicht mehr. Folglich ging ich zur Türe und zog sie auf.
„Ahh. Phili“, sagte Kim erleichtert.
„Hallo Kim... Ich...“
„Gut, dass da bis. Blauch Phili, schnell. Blauch Janine, aba Phili bessa. Blauch Aaz.“
„Einen Arzt? Das Huhn ist tot.“
„Huhn tot. Tlotzdem blauch Aaz.“
„Es tut mir leid, was passiert ist, Kim. Ich weiß nicht, wie ich es wieder gut machen kann...“
„Nix gut mach, Phili. Kinda schull. Wia klieg Kinda von Wohnung obe. Üba Janine Wohnung. Versteh. Kinda weafe Flasche, weil Kinda besoffe. Flasche von Schnaps von Leis.“
„Ihr habt Kinder festgehalten? Sie sind die Schuldigen?“
„Ja. Kinda schull. Kinda Gefängnis.“
„Was?“ Ich traute seinen Worten nicht. „Ihr habt Kinder ins Gefängnis gesteckt?“
„Sie könn nix bezahl Huhn. Eas wenn Elta bezahl Huhn, Kinda könn geh nach Haus. Jetz Zimma von Polizei. Kleine Gefängnis.“
„Seid ihr sicher, dass die Kinder besoffen sind?“
„Ja, weil wenn nix besoffe, nix welfe Flasche.“
„Ja klar“, gab ich jeglichen Einwand auf. Warum sollten Kinder auch mit Gegenständen, etwa Bällen, werfen?
So war ich zwar entsetzt über die Vorgehensweise, aber zugleich erleichtert, dass man nicht uns die Schuld zuwies. „Und wie soll ich euch bei der Suche nach einem Arzt helfen, Kim?“
„Du Aaz, Phili“, sagte er irritiert.
„Warum braucht ihr überhaupt einen Arzt? Ich bin kein Arzt. Ich bin... ich bin Buchhalter. Dies und das, du weißt schon...“
„Nei, nei, nei“, bestürmte er mich. Phili Universität Deutschlann. Phili bessa als Aaz von Bhutaan. Aaz füa Flau.“
Ich erwiderte: „Ich glaube nicht, dass...“ Doch Kim riss mich schon am Arm mit. An der sprachlosen Menschenmenge vorbei, zog er mich ins Erdgeschoss des gegenüberliegenden Hauses. Ich kam in einen Gang, der feucht roch. Der gestampfte Erdboden strahlte Kühle aus. In einem Hinterzimmer standen einige Leute um ein Bett herum. Durch ihr Flüstern hindurch ließ sich ein leises Jammern und Stöhnen vernehmen. Kim schob zwei Männer beiseite und gab so den Blick frei auf die alte Frau. Ihre Tracht war blutverschmiert, ebenso das Bett, auf dem sie lag. Nun wurde mir klar, dass das viele Blut an ihren Händen nicht vom Huhn stammen konnte. Bei genauerer Betrachtung, zu der man mich händeringend aufforderte, stellte ich fest, dass in ihren Handflächen unzählige Glassplitter staken, teilweise blutete sie immer noch. Ich blickte mich um, alle sahen mich gespannt an. Kim stieß mir in die Rippen. Der Brustkorb der alten Frau bebte, um den Mund herum zitterte sie, die Nasenflügel bewegten sich schnell und unter den geschlossenen Augenlidern schnellten die Augäpfel hin und her. Mir blieb nichts übrig, als die Glassplitter aus ihren Händen zu puhlen. Manchmal schnitt ich mich dabei, aber nur leicht. Die alte Frau stöhnte von Mal zu Mal vor Schmerzen, dann wieder seufzte sie vor Erleichterung. Noch immer ging ihre Atmung schnell. Man konnte ihr Herz rasen hören, während die Herzen der Umstehenden innegehalten hatten und ihrer aller Atmung für die gesamte Dauer der Operation auszusetzen schien. In ihrer unendlichen Trauer musste sie den von den Schrapnellen der flaschenförmigen Mörsergranate getroffenen Leib des Huhns geknetet haben, ansonsten ließ sich diese Fülle an Scherben in ihren Handflächen und Fingerkuppen nicht erklären. Erst nach etwa einer Viertelstunde war ich mit meinem Chirurgenwerk fertig. Sobald ich den letzten Splitter herausgezogen hatte, machte die Greisin einen Seufzer der Erleichterung und ihr Beben und Zittern ließ nach. Sie schien sofort in eine Art Starre gefallen zu sein.
Kim umarmte mich vor Freude. Die Angehörigen und Bekannten der Patientin taten es ihm nach. Ein junges Mädchen mit rabenschwarzem Haar sah mich bewundernd an, als es die Hände verband, nachdem ich diese mit Reisschnaps desinfiziert hatte.
Ich kehrte zu Janines Wohnung zurück und klopfte sie aus dem Schlaf, in den sie in Ermangelung an alkoholischem Treibstoff gesunken war. Sie sah nicht glücklich aus. Allmählich wurde der Griff kräftiger, in den sie ihr Kater genommen hatte. Sie fasste sich an die Stirn und ich brachte ihr ein Glas Wasser, bald ein weiteres. Kalter Schweiß zeigte sich unter ihrem Haaransatz. Sie, die keine Kraft mehr hatte, sich eine Flasche zu holen, bat mich nochmals, ihr ein Antiserum zu besorgen, aber ich lehnte ab. Also fiel sie auf ihr Kopfkissen zurück und ergab sich den Qualen des Entzugs. Ich fragte mich, bei wem ich nun die Hausbesuche fortsetzen sollte. Ich kam mir vor wie der Protagonist eines Schundromans mit dem Titel Der Landarzt von Bhutan.
Kurze Zeit später klopfte es wieder. Abermals war es Kim. Ich erwartete ein dankbares Lächeln, eine Aufforderung zum gemeinsamen Essen, zur Feier, wenigstens die Meldung, dass man die Kinder freigelassen hatten, aber was mir entgegenschlug, war eine Grimasse brunnentiefer Trauer. „Was ist, Kim?“, fragte ich ihn.
„Ohh. Nix gut Tag. Alt Flau tot.“
„Wie?“
„Flau Phili opalia tot. Nix mea lebe.“
„Was?“ Ich hatte Mühe, die Nachricht zu begreifen.
„Flau gestobe vol Schleck.“
„Schreck? Du meinst, ihr Organismus hat versagt?“
„Heaz geh aus, weil Schleck von Unglück.“
„Ein Herzinfarkt?“
„Ja. Kim nix finde Woat. Aba Phili finde Woat.“
Ich bekam weiche Knie und musste mich setzen.
„Phili okay?“, fragte Kim in eifriger Anteilnahme.
„Es geht schon, danke“, sagte ich. Dann schüttelte ich den Kopf. „Sie hatte also einen Herzstillstand“, nahm ich niedergeschmettert Notiz von der Katastrophe, die ich verschuldet hatte.
„Heut Beeadigung.“
„Heute noch? Warum habt ihr es so eilig?“
„Blauch in Bhutaan. Schnell Beeadigung.“
Ich rieb mir die Nase. „Eure Bräuche kenne ich, Kim. Wie war das nochmal mit Frau verleihen?“, setzte ich zum Scherz an, aber mir fehlte jegliche Laune, um meine Frage mit einem Lächeln zu unterlegen.
Über Kims Kopf stand ein imaginäres Fragezeichen.
„Was ist mit den Kindern, Kim?“
„Besoffe Kinda?“
„Wenn du so willst, ja, die meine ich.“
„Polizei Kinda wegbling, weil Flau gestobe. Muss untersuch Kinda in Thimpu.“
„Das kann doch nicht wahr sein!“, grummelte ich und sah dabei auf den Boden. Ich butterte mein Gewissen unter wie einen Kopf beim Waterboarding.
„Familie von Flau will Lache füa Tod. Familie von Kinda muss gebe Flau füa Albeit von andele Familie.“
„Rache? Mir reicht's mit euren Bräuchen“, schnaubte ich.
„Phili komm Beeadigung?“ Kim sah mich bittend an.
„Ich, ähh...“
„Muss komm, sons nix gut füa Phili in Stadt. Bessa komm.“
Ich presste die Lippen zusammen. „Meinetwegen. Wann?“
„In zwei Stunde. Kim hol Phili ab. Un Janine.“
„In Ordnung. Du findest mich hier.“
„Jaja, schon weiß. Phili un Janine Liebepaa.“
„Wir? Ein Liebespaar? Nein, Kim, das geht zu weit! Ich helfe hier nur einer Freundin. Ich bin verheiratet.“
„Helfe tlinke“, sagte Kim und sah mich mich mit Verschmitztheit an, die für einen Augenblick seine Trauermaske durchbrach. Und leiser, fast flüsternd fügte er an: „Phili veaheilat. Kim veaheilat.“ Dann ging er schweren Schrittes die Treppe hinunter.
Ich setzte mich zu Janine aufs Bett. Die ungewaschenen Haare hafteten ihr an der Stirn, flachsfarbene Strähnen verteilten sich auf dem Kopfkissen. Ein eigenartiges Aroma ging von ihr aus, ich öffnete das Fenster, um ein frisches Lüftchen hinein zu lassen.
Als sie erwachte und mich neben sich sitzen sah, erschrak sie, dann aber löste sich ein Lächeln aus ihrer starren Miene.
„Na, geht’s uns jetzt besser?“, fragte ich.
„Pff.“ Sie setzte sich im Bett auf und horchte in sich hinein. „Etwas besser, ja. Jetzt könnte ich einen Schnaps gebrauchen.“
„Nix da. Heute ist eine Beerdigung. Wenigstens da kannst du doch mal nüchtern bleiben.“
„Als hättest du nicht auch gesoffen, gestern. Und auf einmal bist du hier der Moralapostel?“ Sie kratzte sich am Hinterkopf. „Was hast du gerade gesagt? Beerdigung?“
Ich erklärte ihr alles, worauf sie mir vor Bestürzung das Kopfkissen an den Schädel warf und mich einen Verbrecher schimpfte. Ich erwiderte, dass, wenn sie nicht mit mir um die Flasche gekämpft hätte, wir es nur mit einem besoffenen Huhn zu tun gehabt hätten, mit einer Notschlachtung, einer Vogelleiche. So aber sei es zu diesem Unfall gekommen, in dessen Folge nun die alte Frau an der Seite ihres geliebten Haustiers bestattet werde. Sie nannte mich einen Zyniker und Unmenschen, erklärte sich nach einer Weile des Zauderns jedoch bereit, mich zu begleiten.
Nach unserer kräfteraubenden Diskussion nahm sie ein Bad. Sie ließ es sich nicht nehmen, nackt durch die Wohnung zu stolzieren, so als wollte sie immer noch demonstrieren, was ich mir entgehen ließ. Doch von Stunde zu Stunde fühlte ich mich immuner gegen diese Reizattacken auf mein libidinöses Nervensystem. Mochten die Hormone vielleicht kochen, diesmal hielt ich den Deckel drauf. Meine Entschlusskraft ließ mich meine Ziele klarer sehen und jegliche Ablenkung wie ihren saftigen, vollen Leib in einen nebulösen Hintergrund treten. Doch es war nicht die Abkehr vom Alkohol, die mir diese ungewohnte Sichtschärfe verlieh, sondern das Abstreifen von einem anderen, einem älteren Hemmschuh. Ich enthäutete mich einer schlechten Eigenschaft.
Während sie auf ihrem Bett saß, noch immer halbnackt, und sich mit einem Handtuch die Haare trocken rubbelte, sprachen wir kein Wort. Inzwischen hatte ich wieder Hunger. In einem Schrank fand ich ein paar haltbare Kekse, die sie wohl im Flieger hatte mitgehen lassen, denn es stand KLM darauf. Die Kekse bewirkten eine oberflächliche Sattheit, ohne meinen Geschmackssinn in irgendeiner Weise zu behelligen. In den letzten Wochen hatten sie ihre ohnehin geringe Würze gänzlich verloren. Ein menschlicher Geniestreich, dachte ich, der Natur hingegen gelang es irgendwie nie, nährreiche Früchte ohne jeden Geschmack anzubieten.
Noch bevor der Hunger erlosch und ich die letzte Zungenladung Keksbrei schluckte, hatte ich einen Geistesblitz. Was hatte ich gerade gelesen? KLM. Soweit ich mich entsinnen konnte, war dies das Kürzel für die Niederländische Königliche Luftfahrtgesellschaft. Hatte ich nicht Janine dabei belauscht, wie sie am Telefon ein astreines Niederländisch sprach? Hatte ich nicht daraufhin gemeint, dass ihr Schweizer Akzent etwas Aufgesetztes an sich hatte? Gleich nach den Beisetzungsfeierlichkeiten würde ich sie zur Rede stellen.
„Ich hab Hunger“, bemerkte Janine und drehte sich zu mir um.
„Hier.“ Ich hielt ihr die halbe Kekspackung hin. „Die muss ein holländischer Tourist hiergelassen haben.“
Sie sah mich aus den Augenwinkeln an und vielleicht hatte sie die Ironie aus meiner Bemerkung herausgehört, denn sie ließ nur ein kleinlautes Ja, wahrscheinlich vernehmen.
Es dauerte nicht lang und Kim machte sich wieder durch Klopflaute bemerkbar.
In der Tür erschien sein Betroffenheitsgesicht. Bedrückte, verdüsterte Augen sahen an mir vorbei zu Janine, die sich das Handtuch vor die Brust hielt und sich vom Bett erhoben hatte.
„Gut Tag, Janine“, sagte er tonlos.
„Hallo, Kim“, antwortete Janine und schlug die Augen nieder.
„Ia komm Beeadigung, beide?“
Ich überließ es Janine, die Antwort zu geben.
„Gut“, sagte Kim. „Dann nehm das auf Kopf un komm.“ Er reichte uns beiden jeweils eine weiße Mütze, die wir zu einem bestimmten Augenblick der Zeremonie aufsetzen sollten, wie er uns auf der Straße erklärte. Ich hob meine Mütze in Janines Blickfeld und deutete ein belustigtes Grinsen an, aber sie ließ mich spüren, dass sie die Situation alles andere als lustig fand.
Kim führte uns aus dem Ort hinaus, der wie ausgestorben schien, hinauf auf eine Anhöhe, eine Art hügeligen Vorsprung unterhalb des Bergmassivs, aber einige hundert Meter oberhalb der Ortschaft. Als wir an unserem Ziel ankamen, hatte ich mein Unterhemd schon durchgeschwitzt; Janine schien von ihrem Kater erholt. Ihre körperliche Fitness war ohnehin makellos.
Was uns erwartete, war bisher ungesehen. Ich schätzte, dass es die gesamte Einwohnerschaft von Tongsa war, die sich hier versammelt hatte. Alle, vom Greis bis zum Säugling, waren in weiß gekleidet. Als man mich erblickte, wurde getuschelt, freundliche Blicke und Gesten wurden mir entgegen gebracht. Ich war der vermeintliche Held; Janine hingegen ignorierte man. Kim war zwar ein Fremder, aber er führte sich auf, als orchestriere er das gesamte Geschehen, als einziger erhob er die Stimme, stellte Fragen und gab Anweisungen. Schließlich wurden wir als eine Art Ehrengäste in die erste Reihe gestellt. Sämtliche Anwesenden wirkten niedergeschlagen, ihre Gesichter erinnerten mich wieder an meine Schuld, aber irgendwie konnte ich nicht anders, als über das Geschehene zu lachen, und als mein innerliches Grinsen nach außen ausschlug und meine Zähne entblößte, tat ich so, als müsste ich gähnen. Von Janine erntete ich dafür einen vernichtenden Blick..
Keine drei Meter vor uns stand ein Scheiterhaufen. Das windschiefe, wacklige Bauwerk flößte mir Furcht ein. Würde man jetzt die Alte vor unseren Augen verbrennen? Würde das Fleisch in den Flammen erst die Farbe wechseln und dann verbrutzeln, zerschmelzen und verdampfen, und schließlich zu schwarzer Asche zerbröseln und zerfallen? Würde sich die Haut unter der Hitze vom Kopf lösen und sich somit ein Totenkopf aus dem Gesicht der Verstorbenen schälen? Würde der Geruch von brennendem Holz sich mit dem von verglimmendem Stoff und verkohlendem Fleisch vermischen, und so eine Art Weihrauch ergeben, bei dem ich direkt hier, vor der Versammlung, auf den Boden erbrechen müsste? Oder würde es nur eine Ansprache eines Mönchs oder Priesters geben, und wir könnten den Berg hinabsteigen, ohne Zeugen der vom Menschen beschleunigten Verwesung zu werden? Ich konnte Janine ansehen, dass sie sich ähnliche Fragen stellte und dass ihr nicht wohl zumute war. Ihr Unbehagen ertränkte sie in Gemurmel und nervösem Pendeln der Arme. Kim stellte sich neben uns und bat uns, die Mützen aufzusetzen.
Eine Weile war Stille. Dann hörte ich Gesang. Aber es war kein Totengesang, wie man ihn erwartet hätte, kein polyphones Moll, welches hier angestimmt wurde, sondern ein fröhliches Liedchen, das aus vielen Mündern zu einer Hymne der Freude anschwoll. Schon erblickte ich den Chor. Tanzend und springend kam er den Berg herauf. Er bestand nur aus jungen Frauen in weißen Kleidern mit roten Schärpen, rotem Unterrock und schwarzem Kopfschmuck. Die Mädchen hielten sich an den Händen, drehten sich im Kreis, sprangen aneinander vorbei, ohne jedoch dabei als Gruppe zum Stillstand zu kommen. Als sie die Menge sahen, leuchteten ihre Gesichter auf und ihr Gesang, ihr Jauchzen wurde lauter. Bald tanzten sie um den Scheiterhaufen herum, bahnten sich den Weg durch die Trauermenge, badeten in ihr und sangen Angehörigen wie Nachbarn das reinste Frohlocken ins Gesicht. Dann wieder vereinten sie sich und führten einen Wirbeltanz auf
Stirnrunzelnd fragte ich Kim, was das alles solle.
Er beugte sich zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Flaun sin Weiba füa Jubel. Mach viel Spaß. Alle Menschen soll jubel, weil Flau gestobe.“
„Warum? Hier sind doch alle todtraurig. Die Frau ist tot.“
„Ja. Aba Buddha sag, Tod nix schlimm, veasteh?“
„Ich verstehe gar nichts.“
Ungeduldig sah er mich an. „Weiba hia Jubelweiba. Jubel weil Flau wiedageboan als Kind oda Tia oda Baum. Nix tot füa imma.“
„Sie sollen die Leute aufheitern?“
„Jaa“, flüsterte er gerade so laut, dass ich ihn durch die zusammengelegten Hände verstehen konnte. „Alle Leut soll sein flöhlich. Klosta hol Jubelweiba aus Thimphu, damit mach gut Beeadigung.“
Skeptisch blickte ich auf die Menschen, die sich so gar nicht der guten Stimmung der bezahlten Bespaßer ergeben wollten. „Na, dann“, sagte ich, ohne Kim noch einmal anzusehen. Janine verzog ob dieser würdelosen Veranstaltung indigniert das Gesicht. Sie wirkte wie auf dem Sprung, als würde sie jederzeit ins Tal rennen wollen.
Der Gesang verebbte nicht, aber er brachte auch nicht die erhoffte Wirkung. Dann sah ich eine Traube Mönche den Berg herauf stolzieren, sie führten eine Prozession an. Inmitten der Leute wurde die alte Frau auf einer Bahre getragen. Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass sie nackt war. Bei der Leiche eines alten Menschen ist Nacktheit ein äußerst unschöner Anblick, denn der Tod vermag es nicht gerade, den verwelkten Körper wieder ansehnlicher zu machen. Ich wandte den Blick ab, als man die Frau auf den Scheiterhaufen legte. Janine hielt sich die Augen zu. Ein Mönch sprach etwas zu uns Trauergästen, die wir immer noch von den Tanz- und Gesangsprostituierten belästigt wurden. Die übrigen Mönche verbeugten sich erst vor uns, dann vor dem Scheiterhaufen. Ich wandte den Blick um, sah aber nirgends jemanden mit einer Fackel oder wenigstens einem Feuerzeug. Ein unbekanntes Gefühl durchschnitt mir die Brust; etwas Schwarzes.
Bald standen wir schon eine halbe Stunde in Erwartung des Ereignisses herum, noch immer das gesungene Süßholzraspeln in den Ohren, da fragte ich Kim, wann denn der Scheiterhaufen endlich angezündet würde.
Er sah mich verständnislos an.
Ich wiederholte meine Frage. Feuer, Holz, Leiche.
Entsetzen sprang ihm ins Gesicht. „Nix Feua. Feua heilig. Nix tot Körpa in Feua. Nix tot Körpa in Wassa, nix in Erde, nix in Luff. Alle heilig.“
„Was? Was meinst du damit, das Feuer ist heilig?“
„Nix nua Feua. Au Wassa, Luff, Erde.“
„Die Elemente sind heilig?“
„Ja. Genau. E-le-men-te. Nix tota Körpa wo heilig.“
„Ja, aber was passiert dann mit dem Leichnam, Kim?“
„Vogel komm un Flau esse.“
„Vögel essen den Leichnam? Das dauert doch ewig.“
„Gloße Vogel komm. Viel gloße Vogel.“
„Was für große Vögel?“ Ich hob eine Augenbraue.
„Vogel, die esse tot Tia.“
„Meinst du Geier? Gibt es Geier hier?“
„Ja, Geia. Kim nix weiß Woat, aba Phili weiß Woat.“
Mir drehte es den Magen um. „Das ist ja widerlich. Und wir sollen dabei zusehen?“
„Nei.“ Er sah mich belehrend an. „Nix ganz Zeit. Aba warte bis gloß Vogel komm. Dann geh, weil Vogel bessa allein esse.“
„Wie soll denn der Geier kommen, wenn hier so viele Menschen sind, Kim?“ Ich sah ihn ernst an.
„Geia Hunga.“ Er rieb sich den Bauch. „Geia komm schnell.“
Ich machte eine wegwerfende Handbewegung, deren Bedeutung er nicht verstand. Der Geier kam nicht schnell. Ich wusste zu wenig über den Buddhismus, aber ich meinte einmal über eine Religion gelesen zu haben, deren Anhänger auch ihre Toten von Tieren verzehren ließ. Abartig. Verachtenswert . Abstoßend. Je länger ich hier stand, desto stärker zwang der Leichnam meinen Blick auf sich. Immer wieder musste ich meine Augen zügeln.
Inzwischen hatten die Jubelweiber wenigstens die Kinder dazu bringen können, ein wenig mehr Lebensfreude zu zeigen als die Erwachsenen. Manche hatten sich den Mädchen angeschlossen und tollten herum, ohne eine Reaktion ihrer Eltern zu provozieren. Es war, als wäre das Gewicht auf aller Herzen um ein paar Gramm leichter geworden. Dennoch konnte ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass diese Horde weiblicher Jahrmarktsgaukler hier völlig deplatziert war. Janine hatte im Stehen den Kopf auf die Brust gelegt, wollte von all dem so wenig wie möglich mitbekommen. Sie war wie um zwanzig Jahre gealtert, machte nicht mehr den Eindruck einer frechen, jungen Verführerin auf mich, sondern den einer Mutter, der man ihr Kind weggenommen hatte. In diesem spätnachmittäglichen Licht konnte die Farbe ihrer Haare genauso gut grau sein, die Schatten in den Lachfalten genau so gut von Altersfurchen geworfen. Und lächerlich war gar kein Ausdruck für das Käppi auf ihrem hübschen Köpfchen.
Dann ein Aufschrei. Eine Frau hatte etwas über einem Bergkamm erblickt. Bald darauf sah auch ich etwas schweben und fallen, und auch die Menschen um mich herum konnten den massigen Leib und die Spannweite am Horizont allmählich größer werden sehen. Raunen, Gemurmel, Getuschel. Dann plötzlich Stille, als ein Mönch die Hand hob. Kurz darauf ein markerschütterndes Geschrei aus der Kehle des tierischen Leichenfledderers. Es erschallte nochmals, als er flügelschlagend mit den Krallen auf dem Scheiterhaufen Halt suchte. Dann begann er zu picken und zu reißen. Ich nahm Janine an der Hand und ging mit ihr zügig den Berg hinunter. Hinter dem erstbesten Haus erbrachen wir uns.
Wortlos gingen wir in ihre Wohnung. Nur einmal sagte sie etwas wie alles nur wegen dir. Ich nahm es ihr nicht übel. Sie musste erst wieder klar im Kopf werden. Beide ließen wir uns aufs Bett nieder. Sie sah mich zwar fragend an, warum ich hier blieb und nicht in meine Hütte ging, aber die Ereignisse des Tages hatten sie zu sehr ausgelaugt, um mich hinaus zu schmeißen. Auf einmal war ich hundemüde, ein gähnender Abgrund verschlang mich, aus dem ich mich erst nach einer Stunde ins Wachsein hoch hangelte.
Janine hatte nicht geschlafen. Wie erstarrt lag sie auf dem Rücken und blickte an die Decke. Sie war nicht mehr die Janine von zuvor, die zähe, forsche Frau, der das Herz auf der Zunge lag. Jetzt war sie ins Straucheln geraten. Ihre Belastbarkeit und Ausdauer waren brutal auf den Prüfstand gestellt worden. Als sie bemerkte, dass ich wach war, sagte sie: „Wir müssen abhauen.“
Ich betrachtete sie von der Seite, das Profil ihrer kleinen Nase, die Wimpern, die beim Blinzeln winzige Wirbel in die Luft schlugen. „Ja, das müssen wir wohl.“
„Das ist der Wahnsinn. Wo bin ich hier nur gelandet?“ Sie legte den Kopf zur Seite, um mir ihre Augen zu zeigen.
„Das frage ich mich auch.“
„Philipp, was passiert gerade mit uns?“
„Ich dachte, du wüsstest das.“ Ich bekam einen Steifen. Ich brauchte diese Frau jetzt. Ich konnte sie nicht länger abwimmeln, auflaufen lassen. Mit allen Mitteln musste ich sie an mich binden, denn zu zweit waren wir stärker als jeder für sich. Ich konnte nicht länger das Ideal einer Ehe hochhalten. Ich wusste noch nicht einmal, ob meine Frau noch immer treu war.
Sie rückte näher an mich heran. „Nimm mich in den Arm, Philipp.“ Ihr schnittiger Körper lag schutzlos da.
Mein Penis begann vor Lust zu pulsieren. Ich rutschte auch ein Stück auf sie zu. Als ich sie in den Armen hielt, näherte ich mich mit meinen Lippen ihrem Mund und presste meine Hose an ihren Oberschenkel, dass sie mein steifes Glied spüren konnte.
Doch sobald ich ihr die Zunge zwischen die Lippen schob, zuckte sie zurück. „Was machst du?“
„Was wohl? Das, worauf du schon die ganze Zeit wartest.“
„Moment“, sie rutschte noch ein Stück weiter weg, um mich gelinde empört aus der Distanz anzusehen. „Das war gestern, vorgestern. Heute ist ein anderer Tag. Und überhaupt hatte das nichts mit dir zu tun... Ich meine...“
„Was sagst du da, nichts mit mir? Es hatte sehr wohl mit mir zu tun. Ich war es, mit dem du schlafen wolltest.“
„Aber das war damals. Jetzt ist alles anders. Du bist so alt...“
„Wie bitte? Was willst du damit sagen? Dass du mich von heute auf morgen nicht mehr attraktiv findest?“
„Nicht genau. Ich würde eher sagen, jetzt mag ich dich mehr als früher.“
„Muss ich das verstehen?“ Ich blickte entgeistert, fast wütend.
„Nein. Musst du nicht. Ich kann es dir erklären...“
Doch noch ehe sie ansetzen konnte, hatte ich sie schon auf den Bauch gedreht und ihr die Hose von den Schenkeln gezogen. Es folgten das Höschen. Mit der gleichen Geschwindigkeit entledigte ich mich meiner eigenen Kleider. Ich nahm sie von hinten. Schon war ich in ihr. Sie ließ es anfangs geschehen, dann bewegte sie sich mit. Der Akt war heftig und von kurzer Dauer. Ich dachte an Beate, aber das Bild ließ sich nicht halten. Unmittelbar vor dem Orgasmus zog ich meinen Penis heraus und ejakulierte auf die Tätowierung auf dem Rücken. Mitten aufs Surfbrett ergoss ich mich, auf die Stelle des Bretts, wo gewöhnlich die beiden Füße des Surfers um Halt kämpfen und wo der Designer der Tätowierung eine stilisierte gelbrote Flamme über die Oberfläche züngeln ließ.
Ziemlich unwirsch bat sie mich, ihr den eintrocknenden Glibber vom Rücken zu wischen. Nun erst fragte ich, ob sie die Pille nahm. Sie sagte ja und überfiel mich mit einem innigen Kuss.
„Ich hole meine Sachen“, sagte ich und zog mir die Hose an.
„Ja, klar. Aber jetzt noch nicht.“ Sie streckte ihre Hand weit aus dem Bett und zog mich am Handgelenk zurück an ihre Seite.
„Du bist keine Kletterlehrerin“, sagte ich.
„Und du bist kein Urlauber“, sagte sie und stellte die Arme auf.
„Nein“, gestand ich freimütig.
Also fragte sie sanft: „Wieso bist du hier?“
„Ich soll ein Buch schreiben.“
„Ach, wirklich? Deswegen bist du so ein lausiger Sportler.“
Ich gab den Empörten: „Moment, nur weil ich Bücher...“
„Klettern ist auch nicht so mein Ding“, fiel sie mir ins Wort.
„Ach, was...“
„Und Schweizerdeutsch auch nicht.“
„Das habe ich schon bemerkt. Auch wenn es recht gut war.“
Sie wirkte glaubhaft überrascht. „Wann hast du das bemerkt?“
„Ich habe dich telefonieren gehört.“
„Du Spion! Wie kommst du dazu?“
„Wie kommst du dazu, mir so ein Theater vorzuspielen?“
Sie ließ die Arme neben sich fallen. „Das war Teil meines Jobs.“
„Aha. Und wer hat dich engagiert?“
„Das weiß ich nicht. Wer hat dich denn engagiert?“
„Ein Mann; ein reicher Mann. Wie lautet dein Auftrag genau?“
Sie sprach jetzt einwandfreies Holländisch mit mir. Holländisches Deutsch, um genauer zu sein. „Ich sollte dich den ganzen Tag beschäftigen. Am besten mit Sex.“
„Und warum hast du dir Klettern als Beschäftigung ausgedacht?“
„Das habe ich mir nicht ausgedacht. Ich glaube, jemand hat mich verwechselt. Man hat bei mir angerufen und gesagt, dass man eine Lehrerin braucht, jemand mit meinem Beruf gefragt ist. Dass es mit dem Surfen schwierig werden würde, wurde mir erst klar, als ich das Ticket nach Bhutan in den Händen hielt. Und dass ich klettern sollte, hat mir erst Kim deutlich gemacht.“
„Und du hast keine Ahnung, wer dich bezahlt hat?“
„Nein, wirklich nicht. Bei solchen Summen fragt man nicht.“
„Hmm. Entweder war es mein Auftraggeber...“
„... oder sein Feind. Ein Gegenspieler.“
„Genau. Irgendein Spiel wird hier gespielt. Und wir beide werden nur benutzt.“
„Gut geraten, Philipp.“
Bei der Nennung dieses Namens hob ich verneinend die Hand.
„Du heißt nicht Philipp, stimmt's?“, sagte sie wenig überrascht.
„Und du heißt nicht Janine.“
„Richtig geraten. Wie nennst du dich im wahren Leben?“
Ich nannte ihr meinen Namen und sie mir ihren.
„Ich bin so froh, dass ich hier nicht alleine bin“, sagte sie.
„Mir geht es genauso.“
Dann schliefen wir ein weiteres Mal miteinander.
Stallmeister ist von seiner Lektüre gleichermaßen enttäuscht wie begeistert. Enttäuscht ist er vom Verlauf der Geschichte, er hätte ihn sich tragischer, kafkaesker vorgestellt. Was ihm gefällt, ist die Wendung zur sexuellen Intimität hin, die geradezu makabren Szenen und die Verwandlung des Protagonisten vom Jammerlappen zum Actionhelden. Für seinen Geschmack ist diese Person sogar noch zu weich. Das Buch liest er in einem Schwung durch. Dann holt er sich ein neues. Beim Lesen trinkt er noch mehr als sonst.
So vergehen die nächsten Tage, ohne dass etwas passiert. Sie erleben einen Urlaub, wie ihn die meisten Pauschalreisenden erleben. Sich wund liegen, sich verkatert trinken, sich schwarz braten. Nur dass er hier für jeden einzelnen Drink zahlt.
Trogberts Worten ist wiederholt zu entnehmen, dass er mit einem Fortgang des Surfkurses rechnet. In der Zwischenzeit macht er seine Trockenübungen am Beckenrand und lässt sich von Justin ein Surfbrett zum Hotel transportieren, mit dem er im Pool herumschippert.
Kerstin ist ausgesprochen enttäuscht. Sie hat vor, das Geld für den Kurs vom Reiseveranstalter zurückzufordern. Dann will sie mit ihrem Freund auf die Philippinen reisen, um dort surfen zu lernen. Stallmeister kann ihr beides ausreden und ihr einreden, dass sie ja trotzdem einen Urlaub hätten, den sie nur genießen müsse. Sie schlürft an ihrem Cocktail und ist beruhigt. Vorerst.
Am vierten Urlaubstag macht sie ihm vor allen Badegästen lautstarke Vorhaltungen, warum er nicht wenigstens an seinem Buch arbeite, wenn er sonst schon zu nichts komme. Er sagt, apropos Buch, er müsse ihr im Zimmer etwas zeigen. Er führt sie ins Zimmer und nimmt sie hart von der Seite. Danach sagt sie nichts mehr. Vorerst.
Am fünften Tag sagt Kerstin, sie könne nicht weiter hier herumliegen, sie wolle etwas von der Insel sehen. Die Haiku-Stairs, berühmte Bergtreppen auf der Westseite der Insel, böten sich als Ziel an, sagt sie nach dem Studium ihres Reiseführers. Darüber hinaus gebe es auch noch andere Strände zu erkunden. Sie zeigt ihm eine Karte. Vielleicht könne man sich auch irgendwo ein Surfbrett leihen und auf eigene Faust Wellenreiten. Stallmeister ist von der Idee nicht sonderlich begeistert. Er hat sich mit dem Poolleben angefreundet. Trägheit ist in all seine Glieder gesickert und beschwert ihn wie Blei auf seiner Liege. Seine Freundin ist unglücklich mit dieser Situation, versucht ihn umzustimmen. Schließlich jedoch lässt sie sich alleine mit dem Taxi zu dem Startpunkt einer Bustour fahren.
Noch am selben Tag macht er eine aufwühlende Entdeckung. Er ist nach einigen Flaschen Gerstensaft schon recht angesäuselt und trottet vom Pool zur Rezeption, um sich über die Qualität des Bieres zu beschweren. Zumindest südostasiatisches Bier hätte man doch nach Hawaii importieren können. Und wenn es solches entgegen seiner Vermutung auf Hawaii gibt, dann hätte die Hotelführung es wenigstens bestellen und auf die Karte setzen können. Hinter der Rezeptionstheke sitzt ein junger Mann. Stallmeister lehnt sich darüber und sieht den Mann mit wässrigem Blick an. Er wolle den Manager sprechen, Andros.
Es gebe keinen Andros, hier, sagt der Rezeptionist. Und schon gar keinen Manager mit diesem Namen. Das macht Stallmeister stutzig. Er sagt, er wolle trotzdem den Manager treffen.
Nach einer Viertelstunde taucht ein hagerer Mann von fast zwei Metern Größe auf. Der Rezeptionist stellt diesen als Bill, den Chef des Hotels vor. Stallmeister geht es jetzt nicht mehr ums Bier. Er sagt dem Manager, die Sache sei erledigt. Dafür raunzt er den unschuldigen Rezeptionisten an, er solle ihm gefälligst sagen, wer Andros sei.
Es arbeite kein Andros hier, sagt der junge Mann.
Dann müsse es ein Gast sein.
Das sei im Bereich des Möglichen.
Dann solle er gefälligst den Gast ausfindig machen.
Der junge Mann sieht im Computer nach und erklärt, dass es keinen Gast mit diesem Nachnamen gebe.
Andros sei ein Vorname, belehrt ihn Stallmeister.
Ja, doch, sagt sein Gegenüber nach Durchsicht des Gästeregisters, ein Gast mit diesem Vornamen sei am Morgen abgereist.
An diesem Vormittag? Stallmeister will wissen, ob er sich an den Mann erinnere.
Ja. Tatsächlich erinnere er sich. Der Gast habe graues Haar und dunklen Teint gehabt. Er sei außergewöhnlich klein gewesen.
Aha, sagt Stallmeister.
Er bittet den jungen Rezeptionisten mit dem augenfälligen Schuppenbefall, ein Taxi kommen zu lassen. Er müsse dringend in die Stadt fahren. Er fordert ihn auf, genau denjenigen Taxifahrer kommen zu lassen, der Andros gefahren habe.
Es kommt ein Taxi, aber bei der Gegenüberstellung des Fahrers mit dem Rezeptionisten verkündet letzterer, dass dies nicht der Taxifahrer gewesen sei, der Andros gefahren habe. Der Fahrer bestätigt dies. Dafür stellt sich heraus, dass er derjenige war, der Kerstin gefahren hat. Aber nicht zu einem Sammelbus, sondern zu einem Hotel. Er nennt den Namen dieses Hotels.
Stallmeister ist verwirrt, will aber dennoch zunächst die Spur von Andros verfolgen. Er möchte, sagt er mit großer Bestimmtheit, dass der Taxifahrer komme, der Andros gefahren habe. Der Rezeptionist meint, dass dies schwierig werden könne. Stallmeister verkündet daraufhin, dass er unter keinen Umständen bei einem anderen Fahrer einsteigen könne als demjenigen, der Andros mitgenommen habe.
Nach einer Weile kommt ein zweites Taxi und der Rezeptionist erklärt, dass dies der richtige Taxifahrer sei. Dieser habe Andros zum Hotel gefahren. Der Taxifahrer sagt, dass er Stallmeister, wenn dieser wolle, zu besagtem Hotel bringen könne. Er nennt den Namen dieses Hotels.
Stallmeister ist sprachlos. Noch vor Ort lässt er sich ein Bier bringen und nutzt den Schalter als Bartresen. Aufgewühlt bläst er dem bemitleidenswerten Rezeptionisten Rauch ins Gesicht, während dieser per Telefon Buchungen entgegennimmt. Er verzichtet darauf, sich zum Hotel fahren zu lassen; noch will er der Wahrheit nicht in die Augen schauen. Stattdessen nimmt er sich vor, Kerstin am Abend zur Rede zu stellen. Dann zwingt er sich, zum Pool zurückzugehen.
Es kann sich nicht um Zufall handeln. Aber es muss sich um Zufall handeln! Warum ist Kerstin dort? Was will sie von diesem alten Zwerg? Fahren die Sammelbusse vor diesem Hotel ab? Nimmt Andros vielleicht an der Bergtour teil? Und was hat Jim damit zu tun? Bei all diesen Gedanken und Grübeleien vergisst er, dass er das Bier gar nicht mag, dass er sich von der Bedienung in Eiseimern bringen lässt und literweise in sich hineinschüttet. Vor Aufregung qualmt er die anderen Badegäste zu.
Er bleibt nicht lange am Pool, weil ihn die Sache zu unruhig gemacht hat. Mehrfach ist er kurz davor, doch ein Taxi zu nehmen und nachzuforschen. Doch dann geht er hinauf in sein Zimmer, um nach Hinweisen auf Kerstins verheimlichten Ausflug zu suchen. Er sucht im Kleiderschrank, in ihren Taschen, im Nachttisch. Selbst unter dem Teppich vermutet er Zettel oder Briefe. Als er die Suche nach einiger Zeit abbricht und sich aufs Bett legt, sieht er es. Es ist ein Buch. Es befindet sich dort, wo man es am wenigsten erwartet, auf dem Nachttisch genau neben dem Bett. Es handelt sich um ein Taschenbuch. Der Titel lautet: Fremdgehen leichtgemacht. 14 Wege zum verbotenen Orgasmus.
Stallmeister merkt sich, wo genau das Buch lag, so dass dessen Position nach dem Zurücklegen keinen Verdacht erweckt. Dann nimmt er das Buch in die Hand und schlägt es auf. Er blättert zum Inhaltsverzeichnis. Kapitel 1: Sex im Auftrag – Der befohlene Fehltritt. Kapitel 2: Sex im Surferparadies – Seitenspringen beim Reisen. In der Kapitelmitte ist ein Lesezeichen eingefügt. Kapitel 3: Sex nach dem Schwammprinzip - Wie Sie überall Affären aufsaugen. Kapitel 4: Sex nach der Flucht – Durchbrennen und Durchvögeln. Kapitel 5: Sex als Verschwörung – Wie Sie Ihren Ehepartner eifersüchtig und pleite machen. Kapitel 6: Sex für Millionäre: Wie Sie sich jeden Partner kaufen. Kapitel 7: Briefsex – Heimliche Erotik in Emails und SMS. Stallmeister ist bei der Hälfte angelangt und möchte nicht weiterlesen. Zu groß ist seine Ohnmacht und Erschütterung. Während er das Buch ordentlich an seinen Platz zurücklegt, beschleicht ihn ein übler Zorn. Sein Verdacht hat sich erhärtet. Er hätte niemals gedacht, dass Kerstin ihre Beziehung in derartiger Weise mit den Füßen tritt, dass sie sich durch ihre Untreue in Gefahr begibt, eine jahrelange harmonische Beziehung achtlos zu zerbrechen.
Nun kann er sich nicht mehr zusammennehmen. Eilig springt er die Treppe hinunter und reißt den Mann am Empfang aus einem Gespräch. Ganz, ganz schnell brauche er jetzt ein Taxi. Nach circa fünf Minuten trifft das Fahrzeug vor dem Hotel ein. Als er auf die Beifahrertüre zuschreitet, schwingt diese auf. Heraus kommt Kerstin. Sie sieht ihn glücklich an und streckt ihm die Arme entgegen. „Na so was! Was für ein Empfang! Du wartest ja sogar hier auf mich!“
In den folgenden Stunden findet er nie den richtigen Moment, sie auf ihren Ausflug anzusprechen. Mehr als sie nach dessen Spaßfaktor und ihren Eindrücken von der Insel zu fragen, bringt er nicht heraus. Obwohl er durchgehend trinkt, hat er einen trockenen Mund. Ein bisschen fühlt er sich an die Zeit erinnert, als er nicht in der Lage war, ihr zu beichten, dass er Bücher schreibt.
Am Abend hat er es immer noch nicht über sich gebracht, seine Freundin zu verhören. Sie sitzen sie an der Bar und schäkern mit dem Bartender, der es Kerstin ganz offensichtlich angetan hat. Plötzlich sitzt Trogbert neben ihnen.
„Soll ich Ihnen ein Geheimnis verraten?“
Kerstin blinzelt wissbegierig. „Was denn?“
„Verschonen Sie uns“, bittet Stallmeister matt.
„Ich weiß etwas über einen Hotelgast.“
„Ach, ja?“
„Einer unserer Mitgäste geht nachts immer zu dieser Schweizerin. Ich glaube, sie haben ein Stelldichein.“
„Wirklich?“, wird Kerstin noch hellhöriger.
„Wissen Sie was, Trogbert“, sagt Stallmeister. „Einer der Hotelgäste lauscht nachts immer an fremden Türen.“
„Ach, wirklich?“
„Und wissen Sie noch etwas?“
„Nein?“
„Die Leute vom Hotel haben diese Person in Verdacht, den Hund getötet zu haben.“
„Wirklich?“
„Wirklich.“
Trogbert schaut verunsichert, er nippt an seinem Bier. Es entsteht eine Pause. Dann sagt er: „Wissen Sie was, Mark. Ich muss mal kurz auf die Toilette.“ Er rutscht von seinem Barhocker und geht rasch davon.
Trogberts letztes Wort war das Stichwort für Kerstin. Sie lässt sich von ihrem Hocker fallen und sagt ihm, er solle noch einen Drink für sie bestellen. Nun ist er hoch nervös. Die Befragung steht kurz bevor. Endlich wird sie auspacken, ihm die schlimmsten Dinge ins Gesicht sagen, ihm sehr weh tun. Noch immer sucht er nach den richtigen Worten, nach einer Möglichkeit, das peinliche Prozedere anzupacken. Er bestellt sich und ihr ein Getränk. Dann wartet er. Und wartet. Wartet.
Er sieht zu, wie der Barmann, halb Hawaianer, halb Schwarzer, wie dieser Harry-Belafonte-Verschnitt mit seiner gezwungenen amerikanischen Lässigkeit zur Musik wippt, während er die Drinks mischt. Kerstin kommt von der Toilette. „Nett, wirklich nett, nicht?“, sagt sie zu ihm und meint den Architekten, der sie gerade wieder belästigt hat. Sie setzt sich neben ihn auf den Barhocker und bestellt zwei Cocktails. Während beide warten, nimmt er ihre Hand und sagt ihr, wie froh er ist, dass sie mit ihm gekommen ist. Sie belohnt diese Offenherzigkeit mit einem Kuss. Dann erhalten sie die Cocktails und er umschließt mit seinen Lippen den Strohhalm. Er sieht hinüber zu einer Sitzgruppe. Dort hockt der dicke Architekt mit einem unscheinbaren Mann im gleichen Alter. Er winkt dem
netten
, aber aufdringlichen Mann namens Dieter nochmals zu und fragt sich, ob dieser Gefallen an Kerstin gefunden hat. Dann wendet er sich wieder seiner Freundin zu und stößt mit ihr an, und im selben Moment sieht er aus dem Augenwinkel, wie der dicke Architekt auf sein Gegenüber einredet.