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Das Lachen meines Vaters

Fürs erste, was ich tat, als ich auf die Welt kam, war ich zwar nicht verantwortlich, aber ich tat es gründlich: Ich enttäuschte meinen Vater.

Sein Herzenswunsch war eine Tochter. Sogar wie sie heissen sollte, war längst ausgemacht. Warum sich allerdings ausgerechnet jener Name in seiner Seele eingenistet hatte, war aus ihm nie herauszubringen gewesen. Hatte er ein Pin-up der nationalen Schönheit gesehen, deren internationale Filmkarriere kurz nach meiner Geburt begann? Wie auch immer: Aus traditionellen Gründen war ebenso klar, dass zwei Kinder genügen mussten, es also auch in Zukunft für den geliebten Namen keine Verwendung mehr geben würde. Basta und aus. Kurzerhand wurde der Name um seinen weiblichen Teil amputiert, und die übrig gebliebenen drei Buchstaben wurden zu meinem Namen. Ein hierzulande sehr verbreiteter Name, der im Ausland – zumindest in zwei von vier Himmelsrichtungen – nicht besonders gut auszusprechen war. Mir hätten die drei abgeschnittenen Buchstaben besser gefallen. Vor allem in meiner Indianerphase wären mir diese mythisch klingenden drei Buchstaben unbedingt willkommen gewesen.

Trotz der Enttäuschung war Hans zu diesem Zeitpunkt das Lachen noch nicht vergangen. Das kam erst viel später. Er hatte ein ansteckendes Lachen.

Das Lachen hätte ihm schon bei seiner Geburt vergehen können. Geboren in einem der letzten proletarischen Winkel der Stadt, genauer: In einer miesen Mansardenwohnung eines miesen Mietshauses inmitten eines miesen Quartiers, die Luft verpestet von der Chemie, die Hauswände schrundig grau zerfressen von all den Schadstoffen, ausgespien aus den kleinen und grossen Kaminen, die den Horizont jenes Stadtteils verstellten. Sein Vater war ein Nichtsnutz, der seinen kargen Bauschreinerlohn Monat für Monat schon in der ersten Woche nach dem Zahltag versoffen hatte und die restlichen drei Wochen unerträglich für die Welt wurde; weshalb die Mutter Tag für Tag am Morgen um vier Uhr mit einem schweren Ungetüm von Handwagen Zeitungen austragen musste, um von diesem noch kärglicheren Lohn die Familie ernähren zu können. Denn der Vater, dieser harte Knochen, dem schon der Ansatz zu einer versuchten Zärtlichkeit zu einer Grobheit geriet, wollte jeden Abend sein Fleisch auf dem Teller. Für den Rest der Familie reichte es zu einer Tasse heissen Kakaos mit eingetunkten Brotrinden.

Nach den obligatorischen Schuljahren durfte Hans keinen Beruf erlernen. Er hätte für sein Leben gern einen technischen Beruf erlernt. Am liebsten Elektriker. Oder Feinmechaniker. Aber nichts da. Er musste in die Chemische. Dort begann seine Fabrikkarriere, die weit über vierzig Jahre dauern sollte. Hans wurde Reagenzgläserwäscher. Er reinigte neben dem klassischen Reagenzglas natürlich noch andere Glasbehälter, von denen es in den chemischen Laboratorien nur so wimmelt: Bechergläser, Dosierzylinder, Erlenmeyerkolben, Gasbüretten, Gaswaschflaschen, Kjeldahl-Kolben, Mehrhalskolben, Messkolben, Messzylinder, Mischzylinder, Petrischale, Retorte, Rundkolben, Rückflusskühler, Saugflasche, Scheidetrichter, Schlenkgefässe, Spitzkolben, Standzylinder, Standkolben, Tropftrichter und so weiter.


Nachdem er sich jahrelang durch Berge von Glas gewaschen hatte, durfte er nachts arbeiten und die laufenden Versuche der Chemiker – die seine Götter in Weiss waren – überwachen und nach akribischen Anweisungen der Herren Temperaturen verändern, Rührwerke ab- und einschalten oder die laufenden Versuche nach vorgegebenem Zeitplan stoppen. Hans liebte diese Arbeit. Sie war verantwortungsvoll und machte ihn in gewisser Weise selbständig. Allein auf weiter Flur, ging er zu nachtschlafender Zeit zuverlässig wie ein kleines Präzisionswerk von einem Labor zum anderen, drehte an Schaltern, verschob Regler, prüfte Gasflammen, notierte Temperaturen und hatte das Gefühl, am grossen Plan beteiligt zu sein. Sogar der Lohn wurde stetig etwas besser. Er konnte sich mit seiner Familie Ferien leisten, und am Sonntag gab es ganz neumodisch Poulet mit Pommes frites. Nur das Schlafen am Tage war nicht ganz so einfach – wehe, wenn die Kinder zu laut waren und ihn aus dem wohlverdienten Schlaf weckten.

So begann die schlechte Laune zu seiner zweiten Natur zu werden. Die Familie lernte das Leisetreten und das Ducken. Leise, leise, der Tyrann schläft. Wenn er erwachte, hörte man schon an seinem Husten, wie es um die Laune bestellt war. Gnade uns Gott, wenn sie schlecht war.

Die Erfindung des Computers mag der Welt grossen Segen gebracht haben: Für meinen Vater war es eine Katastrophe. Seine Arbeit wurde nicht mehr gebraucht – Computer ersetzten seine manuellen Kont-roll- und Steuertätigkeiten. Man brauchte ihn nicht mehr in den heiligen Labors. Er wurde gnädig nicht gekündigt und in die Fabrikbewachung versetzt. Eine Arbeit, die er zutiefst hasste. Er verkroch sich immer mehr in seine Kellerwerkstatt, wurde mürrisch, unzufrieden und verdrossen. Das Lachen war ihm gründlich vergangen.

Er rettete sich in die Idee einer frühen Pensionierung und verschob alle Erwartungen an ein besseres Leben in diesen kommenden Lebensabschnitt. Der grosse Tag kam – es änderte nichts. Hans verkroch sich immer mehr in seine mürrische Schale. Nicht mal ein fröhliches Enkelkind mochte seine Rüstung zu durchbrechen. Er sprach immer weniger und hustete umso mehr – ein dramatischer, hemmungsloser Husten dröhnte am Morgen aus dem Schlafzimmer, setzte sich ins Badezimmer fort und begleitete jeden seiner Schritte bis in die tiefe Nacht. Zum Arzt wollte er nicht. Bis er nicht mehr schlucken konnte und ins Spital musste. Man öffnete seine Brust und stellte fest, dass der Krebs ihn schon restlos ausfüllte. Zwei Tage später war Hans tot.

Der Husten gab jetzt Ruhe. Stille trat ein.

Als Hans mutterseelenallein auf dem Friedhof aufgebahrt war, konnte er gegen Mittag endlich loslassen, eine tiefe Entspannung durchfloss seinen Körper, und ein buddhahaftes, ein himmlisches Lächeln lag auf seinem Gesicht. Am frühen Nachmittag hatte sich sein seliges Friedensgesicht in ein unverschämtes, freches Lachen verwandelt, das Hans sich zu seinen Lebzeiten nie gestattet hätte.

Um vier Uhr war das Lachen meines Vaters gänzlich erloschen.

Das Lachen meines Vaters

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