Читать книгу Das Lachen meines Vaters - Urs Schaub - Страница 8
ОглавлениеDie Ankunft
Wie jedes Jahr vor den grossen Ferien erreichen wir den Hof um die Mittagszeit. Wir halten vor der Sonntagstür. Sie öffnet sich, der Onkel schaltet den Motor aus. Die beiden Tanten winken zur Begrüssung. Beide kneten gleichzeitig mit den Händen ihre Schürzen. Sie machen das, auch wenn sie keine nassen Hände haben. Die eine ist alt, die andere sanft.
Der Rest der Familie sitzt bereits am langen Tisch in der Küche.
Die Küche ist der wichtigste Raum. Im dunklen Teil wird gekocht und geheizt, im Hellen wird gegessen.
Neben dem Holzofen steht ein grosser Kochherd mit pechschwarzen Eisentüren. Darin wird auch Brot gebacken. Die Decken und Wände sind voller Russ.
Auf der Grenze zwischen hell und dunkel steht, ein wenig schief, ein kolossaler Küchenschrank. In seinem Innern warten Heerscharen von Töpfen, Pfannen, Schüsseln, Schalen, Tellern, Tassen, Gläsern und Bestecken.
Ein heilloses Durcheinander drängt sich auf der Ablagefläche. Dosen, Flaschen, Vorratsgläser, Medikamente, Gewürze, ein Radio. Eine Schachtel mit Schlüsseln und viel Kleinkram.
An den Seitenwänden des Schranks baumeln getrocknete Pflanzen und Kräuter.
Ganz oben auf dem Schrank stapeln sich Blechschachteln für Gebackenes, neben irdenen Gefässen und Krügen.
Ein hoffnungslos überladener Dampfer, der hier vor langer Zeit gestrandet ist.
Vor dem Fenster steht der grosse Tisch. Neben der Tür, die zu den Ställen führt, gibt es ein Waschbecken mit einem kleinen Spiegel. Jeder, der zum Essen kommt, wäscht sich die Hände mit kaltem Wasser und sieht sich flüchtig ins Gesicht. Fünfmal am Tag.
Jetzt sehen alle dem eintretenden Besuch aus der Stadt entgegen.
Ich begrüsse der Reihe nach. Ich nenne alle Frauen Tante, ausser meiner Cousine. Ihre blauschwarzen Zöpfe sind schon wieder länger.
Alle Männer nenne ich Onkel, ausser dem Knecht.
Am liebsten begrüsse ich den ältesten Onkel.
Im Sommer sitzt er vor dem Haus. Im Winter auf dem Ofen. Er weiss alle Geschichten vom Friseur, der viel gescheiter und schlauer ist als wir alle.
Ich lehne mich an sein Knie und höre ihm zu. In seiner Westentasche steckt eine silberne Taschenuhr, die ich manchmal in der Hand halten darf. Mir gefällt das leise Pling, mit dem der Deckel aufspringt.
Vor dem zweitältesten Onkel habe ich Angst.
Er mistet die Ställe aus. Manchmal finden wir ihn bewusstlos auf dem Miststock oder in einer Stallecke. Er erhält täglich eine Ration aus dem grossen Kellerfass. Wenn eine Kuh Bauchweh hat, bekommt sie das Gleiche. Nach der Arbeit geht er ins Dorf. Wenn er mir über die Haare streicht, tut es weh.
Im Spätsommer pflückt er Früchte, in den wes – penumschwärmten Kronen der Birnbäume und in den Kirschbäumen. Oder in buschigen Zwetschgenbäumen. Man sieht nur noch seine Beine. Er ist auch schon von der Leiter gefallen.
Später wird er in einem Männerheim verrecken, sagen sie im Dorf.
Der jüngste Onkel ist der Chef, weil er die Meisterprüfung gemacht hat und eine schöne Frau geheiratet hat. Er fährt den grossen Traktor.
Sein Bruder hat die Meisterprüfung nicht gemacht und findet keine Frau. Er fährt den kleinen Traktor.
Die beiden Tanten, die uns unter der Tür begrüsst haben, arbeiten in der Küche und im Garten. Sie betreuen die Hühner und kochen den Schweinen Kartoffeln. Die jüngere Tante arbeitet auch auf dem Feld. Sie ist die Sanfte.
Die schöne Frau vom Chef hilft nicht in der Küche.
Sie hat ihr eigenes Motorfahrrad. Damit flitzt sie im ganzen Dorf herum. Sie kann auch Traktor fahren und melken. Die Frauen im Dorf sind eifersüchtig auf sie. Einmal im Monat ist sie die Königin. Die Wäschekönigin.
Der Tag der Wäsche ist etwas ganz Besonderes. Die Männer stellen am Vorabend den grossen Waschofen hin. Sonst haben sie mit der Wäsche nichts zu tun.
Die Frauen heizen früh am Morgen mit grossen Holzscheiten ein, schleppen Wasser, bringen die Wäsche und türmen sie zu Bergen.
Dann beginnt der grosse Tanz.
Der Hof hüllt sich in Dampf. Es riecht nach Seife, der Waschofen glüht.
Brühen, rühren, schöpfen, spülen, wringen, strecken, bleichen und aufhängen. Die Wäscheteile fliegen von einer Hand zur andern. Alle Frauen sind an der Schlacht beteiligt. Sie tragen schwere Stiefel und Schürzen. Die Ärmel ihrer Blusen sind bis unter die Achseln aufgekrempelt. Mittendrin die schöne Tante, wie eine Befehlshaberin aufrecht im Pulverdampf.
Gespült wird die Wäsche im grossen Brunnen, ausgewrungen von Hand. Die grossen Leintücher zu zweit. Was die immer lachen! Man hört es über den ganzen Hof. Danach ist jeder freie Platz mit Wäschestücken beflaggt.
Armeen von steifen Männerhosen, aufgeregte Hemdchen und Leibchen, wild gewordene Hemden, unbegreiflich grosse Unterhosen, Schwärme von Socken und Strümpfen, eine fröhliche Kompanie Taschentücher. Und wie immer, an der Wäscheleine im Garten, verschieden grosse BHS und Höschen.
Die locken freche Winde an.
Einmal verweht ein stürmischer Sommerwind die zarten Wäschestücke. Verstreut liegen sie auf Rosen und Himbeersträuchern.
Ich weiss beim Pflücken, welche von meiner Cousine sind. Und welche von der schönen Tante.
Wenn die Gäste aus der Stadt endlich an dem langen Tisch Platz gefunden haben, wird es still in der grossen Küche. Die alte Tante spricht ein Gebet.
Es wird aufgetragen. Bis auf dem Tisch kein Platz mehr ist. Und in den Bäuchen bald auch nicht mehr.
Ich möchte endlich in den Stall zu meinen Freunden.
Die Leute lachen über mich, denn ich begrüsse jedes Tier einzeln.
In den Winterferien, wenn es schwerfällt, das warme Bett in der bitterkalten Dachkammer zu verlassen, ist es besonders schön, in den warmen Stall zu kommen. Ich lege meine Wange an den seidenwarmen Bauch der Kuh. Ein paarmal schlafe ich wieder ein. Der Eimer kracht auf den Boden und die schäumende Milch fliesst in den Graben. Dann schäme ich mich.
Das Essen dauert viel zu lange. Ich bin schon fertig. Ich sammle auf einem Teller alle Knochen. Dann endlich darf ich zu ihm.
Prinz lebt feudal in seinem eigenen Haus. Es steht an einer strategisch günstigen Stelle des Hofes. Er kann das gesamte Geschehen überblicken. Prinz ist ein Wesen mit Prinzipien. Beim Essen darf man ihm nicht zuschauen. Solange man schaut, isst er nicht. Er liebt es nicht, wenn man ihm lange in die Augen guckt. Auch langes Reden macht ihn unsicher. Am liebsten hat er Schweigen. Oder knappe Anweisungen. Zur Begrüssung hält er unaufgefordert die rechte Pfote hin.
Manchmal darf ich mich in sein Haus legen. Dann wachen wir gemeinsam. Kommt ein Fremder, runzeln wir die Stirne, gucken uns an und knurren gemeinsam. Er mit tiefer Stimme.
Zweimal am Tag spanne ich ihn vor den Milchwagen, und wir fahren zur Käserei. Er bestimmt das Tempo. Und weiss auch den Weg. Man darf ihn nicht hetzen. Aber er kennt seine Pflicht.
Und so traben wir zweimal täglich durchs Dorf und zurück. Ich mit vor Stolz geschwellter Brust. Er mit gutmütiger Grandezza.
Da ich noch klein bin, wuchtet der Käsereigehilfe die vollen Kannen. Ich sorge dafür, dass jeder Deckel wieder seine Kanne findet. Und ich darf den grossen Hahn des Molketanks bedienen. Die Kunst besteht darin, den Hahn im richtigen Moment wieder zu schliessen, kurz bevor die heisse Flüssigkeit die volle Kanne überschwemmt. Durch den Dampf ist die Sicht behindert. Man muss sich auf sein Gefühl oder besser noch auf seine Ohren verlassen.
Wenn ich grösser bin, werde ich die schweren Milchkannen mit eigener Hand vom Milchkarren nehmen und sie genauso sicher und elegant zur Milchwaage rollen können wie all die starken Bauernsöhne. Ich werde die Kanne kippen und auf ihre Kante stellen. Mit einer Hand am Deckelgriff. Zur Stabilisierung und Richtungsweisung. Mit der anderen Hand die Drehbewegung der Kanne um ihre eigene Achse antreiben. Bis sie schön ins Rollen kommt.
Wenn alle Arbeit getan ist, streune ich herum.
Dunkle Gänge münden in helle Scheunen oder überdachte kleine Höfe. Steile Treppen führen zu heimeligen Zimmern oder Dachböden, auf denen Zwiebeln, Früchte, Teeblätter oder Gewürze zum Trocknen ausgebreitet liegen.
Der Pferdestall im alten Teil des Hofes ist durch schmale Gänge mit den Schweineställen verbunden. Und diese mit dem Kuhstall. Es gibt Wege über die schwindelnden Höhen der Heuböden und feuchte Gänge und Gewölbe unter der Erde, in denen die Erwachsenen zum Teil gebückt gehen müssen.
Auch wenn es tagelang regnet, hat man nie genug Zeit, alle Winkel zu erkunden. Ganz zu schweigen von all den Truhen, Schränken, Besenkammern, Bodenluken, Dachkammern, vergessenen Kommoden, ölverschmierten Werkzeugkästen, Kisten und Säcken voller Krimskrams.
Seitlich der Scheune führt eine steile Treppe in ein Gewölbe, dort werden Futterrüben aufbewahrt. Im Winter raffelt eine ratternde Maschine die Rüben.
Der Keller riecht nach Tod. Ich gehe nie alleine hinunter.
Solange der älteste Onkel noch lebt, werden die Rüben in Körben in den Keller getragen, damit sie keine Verletzungen bekommen. Nach seinem Tod kullern die Rüben fröhlich mit Gepolter über ein schräg gestelltes Brett durch die Kellerluke.
Daneben ist der Stall für die Kälbchen. Mein Revier.
Ich miste aus, streue extra dicke Lagen mit frischem Stroh, schleppe zweimal am Tag eimerweise Milch und halte den ganz Kleinen meinen Finger in den Mund, damit sie saugen können. Ich striegle und bürste sie. Putze ihre Nasen. Wasche mit warmem Wasser die kleinen Hufe. Allerdings heimlich, denn das finden Bauern übertrieben. Frühmorgens singe ich Lieder und erzähle ihnen Geschichten.
Wird ein Kälbchen geschlachtet, verkrieche ich mich im Heustock. Den Schlachtbatzen schleudere ich in den Garten.
Wenn es dunkel wird, gehe ich zum Brunnen. Zuerst spielen die Grossen Römisch Beichten. Wer verliert, muss küssen und die Gruppe bestimmt wen.
Später verstecken sie sich paarweise und ich darf suchen. Alle finde ich nie.
Taucht der Ford Taunus siebzehn M wieder auf, ist die Zeit um.
Zum Abschied bekomme ich einen Lebkuchen geschenkt. Auf der Vorderseite ist ein Bär aus Zuckerguss. Auf der Rückseite kleben Geldstücke. Die Anzahl richtet sich nach den Wochen, die ich auf dem Hof verbracht habe.
Ein stolzerer Zahltag war nie.