Читать книгу Mosers Ende - Urs W. Käser - Страница 8
ОглавлениеDonnerstag, 19. Juli 2012
Bruno Brawand war gar nicht zufrieden. Leise fluchte er vor sich hin, während er seinen Laptop startete. Verdammt, die miese Geschäftslage wäre schon schlimm genug. Aber dann noch dieser Brief, der setzt dem Fass den Deckel auf… Bruno, seit drei Jahren Geschäftsführer der Moser Bau AG, sass nachmittags um fünf im Garten des Hotels Rosenlaui unter einem Ahornbaum, starrte auf den Bildschirm und machte sich Sorgen. Sein grosses Glas Bier hatte er, etwas allzu schnell, leergetrunken und soeben bei Daniel Dietrich ein zweites bestellt. Er öffnete jetzt sein Buchhaltungsprogramm und studierte intensiv die Lage der zahlreichen Haben- und Soll-Konten. Aber, wie er auch die Ergebnisse in seinem Kopf drehte und wendete, es wollte einfach nicht aufgehen. Die hohen Löhne und die Schuldzinsen frassen einen zu grossen Teil des Ertrages auf, und es war absehbar, dass das Geschäftsergebnis auch heuer, wie schon letztes und vorletztes Jahr, im Minus ausfiele. Und dies trotz seiner beileibe nicht geringen Anstrengungen, die Auftragslage zu verbessern, insbesondere dem kleinen Deal mit seinem Schwager Samuel… Wenn es nur mit der Familienvilla endlich vorwärts ginge! Und dann kam noch dieser vermaledeite Brief…
Bruno hatte seine Augen geschlossen und war ins Grübeln geraten. Bin ich denn unfähig, ein Baugeschäft zu führen? Früher, unter dem alten Samuel Moser, habe ich doch als Bauführer eine gute Figur abgegeben. Sonst hätte mich mein Schwiegervater doch nicht zum Nachfolger ernannt! Na ja, zugegeben, ich musste noch etwas nachhelfen, und Barbara hat sich auch mächtig stark gemacht für mich, aber wer würde das nicht tun? Jetzt reiss dich zusammen, Bruno, du musst das Ding einfach zum Laufen bringen!
Oh, wer legt denn da seine Hände auf meine Schultern? Bruno drehte den Kopf.
»Ach so, du bist es!« Seine Ehefrau Barbara stand hinter ihm und lachte ihn strahlend an. Bruno liebte ihre schon etwas mollige Figur, ihre kurzen, dunklen Haare, ihre braunen, nie geschminkten Augen, ihre Fältchen um die Nase herum, ihren kleinen, stets ein wenig offenen Mund, ihr kehliges Lachen.
»Sorgen, mein Herz?«, fragte sie. Bruno murmelte einen Fluch in sich hinein.
»Das kann man wohl sagen. Sieht von Monat zu Monat schlechter aus.«
»Ganz so schlimm wird es nicht sein«, meinte Barbara betont optimistisch.
»Komm, wir schauen uns die Sache mal gemeinsam an.« Erleichtert stimmte Bruno zu. Barbara würde bestimmt, wie schon so oft, eine Lösung finden!
Barbara setzte sich neben ihn und begann, die Tabellen zu studieren. Mehrere Minuten lang sagte sie gar nichts, dann holte sie aus ihrer Handtasche Block und Farbstifte hervor und fing am, ein Schema zu malen. In die Mitte des Blattes zeichnete sie einen schwarzen Kreis und schrieb hinein: Defizit. An diesen Kreis setzte sie etwa ein Dutzend Pfeile an, in alle Richtungen weisend. An die Enden der Pfeile malte sie Kästchen in verschiedenen Farben und schrieb Stichworte hinein, etwa Lohnkosten, Kapitalkosten, Steueraufschub, Verzögerung bei Matter, Einspruch von Meyer, Kostenüberschreitung bei Sieber. Dann malte sie weitere Pfeile, neue Kästchen, bis das ganze Blatt wie ein Labyrinth aussah.
Bruno schaute fasziniert zu. Frauen denken einfach irgendwie anders! Am Ende notierte Barbara, immer wieder in den Computertabellen nachschauend, neben jedes Kästchen eine Zahl. Sie lehnte sich zurück, schaute auf das Blatt und meinte: »So, jetzt haben wir, auf diesem sogenannten Mindmap, die grafische Übersicht unserer geschäftlichen Probleme.« Bruno war perplex.
»Wo hast du das nur gelernt?« Barbara lächelte, der Stolz war ihr anzusehen.
»Schliesslich habe ich die Management Akademie in Thun abgeschlossen. Da lernt man eben, Probleme mal anders anzugehen, als man es schon immer gemacht hat. Du zum Beispiel marschierst, wenn ein Problem vorliegt, einfach schnurgerade darauf zu, du denkst sozusagen eindimensional, gehst von A zu B und dann nach C. Ein Mindmap hingegen ist zweidimensional, da kannst du Abhängigkeiten, Rückkopplungen und Blockaden besser darstellen. So wirst du, wenn es optimal gemacht wird, mit einem Blick die kritischen Schwachstellen der Projekte überblicken.« Bruno umfasste Barbaras Kopf mit beiden Händen.
»Ich staune, Frau Professorin.« Barbara lachte und drückte ihrem Mann einen dicken Kuss auf den Mund.
»Hoffentlich auch, mein Männlein!«
»Aber«, meinte Bruno zaghaft, »was heisst jetzt das konkret für unser Geschäft?« Barbaras Miene wurde eine Spur besorgter.
»Ja, Reserven haben wir tatsächlich kaum mehr. Ich sehe drei Alternativen, um über die Runden zu kommen: Entweder holen wir nächstes Jahr zwanzig Prozent mehr Aufträge herein, oder wir kaufen die Ware um mindestens zehn Prozent billiger ein, oder wir bauen beim Personal ab und erledigen die ganze Administration selber.« Bruno war die Enttäuschung ins Gesicht geschrieben. Auch Barbara hatte kein Wunderrezept!
»Das scheint mir aber alles unrealistisch. Die ersten beiden sind auf legalem Weg unerreichbar, und die dritte würde für uns eine Siebentagewoche ohne Ferien bedeuten.« Barbara nickte.
»Apropos legalem Weg: Was machen wir mit dieser Drohung?« Bruno erwiderte schulterzuckend: »Da müssen wir wohl oder übel bezahlen. Ich will nicht noch grösseren Ärger im Haus.«
»In dem Fall erhöht sich aber unser Defizit nochmals um ein Drittel«, meinte Barbara trocken und fügte dem Mindmap ein weiteres Kästchen mit einer negativen Zahl zu.
»Das heisst doch im Klartext«, sagte Bruno, »unser Geschäft können wir nur retten, wenn die Familienvilla sehr bald zum Verkauf kommt. Wir müssen Matthias umstimmen. Ach, ich könnte ihn erwürgen, ihn mit seiner blödsinnigen Sturheit!«
Linda Moser stieg aus der Duschkabine, trocknete sich ab, schlüpfte in ihren pinkfarbenen Morgenmantel und trat auf den langen Gang hinaus, an dessen Ende ihr Zimmer lag. Morgen würde sie, da war sie sicher, in Beinen und Armen einen tüchtigen Muskelkater verspüren, aber im Augenblick fühlte sie sich rundum wohl. Die Klettertour mit Michael hatte ihre Laune beinahe in den Himmel gehoben, hatte ihr ein Stück Glück geschenkt. Das war der Mann, mit dem sie wirklich zusammen sein wollte! Und er wollte doch auch, begehrte sie seit Jahren, wie noch kein Mann sie begehrt hatte. Linda blieb vor ihrer Zimmertüre stehen. Ihre gute Laune sank im Bruchteil einer Sekunde in den Keller hinunter, ihre Gedanken begannen zu kreisen.
Und jetzt? Da drinnen sitzt mein miesepetriger Ehemann Matthias. Nein, er wird nicht fragen, wo ich gewesen sei. Mit keinem Wort wird er meine Eskapade erwähnen. Seine Rache besteht darin, mich anzuschweigen und mich traurig anzublicken. Warum lässt er mich dann nicht gehen? Warum will er um jeden Preis nach aussen die heile Familie spielen, will sogar in die alte Villa seiner Eltern ziehen, damit alle Welt sieht, er hat es geschafft, er hat seine Ehe gerettet, seine weisse Weste ist unbefleckt, er bleibt der untadelige Anwalt, er leistet perfekte Arbeit in seiner klinisch sauberen Kanzlei an der Bahnhofstrasse… Oh ja, er glaubt, er sei gerecht, jeden Verstoss gegen das Gesetz müsse er aufklären und den Übeltäter seiner Strafe zuführen. Oh ja, er ist gerecht, vor allem aber selbstgerecht bis zum Überdruss. Und ich? Nach dem Gesetz bin ich seine Ehefrau, müssen wir ausharren, bis der Tod uns scheidet… Nein, aber nicht mit mir! Linda erschrak ob ihrer eigenen Stimme. Energisch drückte sie die Türklinke nach unten.
Aber das Zimmer war leer. Ihr Mann würde wohl irgendwo im Garten sitzen. Linda stellte sich vor den Wandspiegel, liess den Morgenmantel zu Boden gleiten und drehte sich langsam zweimal um ihre Achse. Ja, sagte sie sich, für meine siebenundvierzig mache ich doch eine durchaus gute Figur. Sie trat näher zum Spiegel. Und auch mein Gesicht ist noch passabel, wenn auch jetzt, ohne Schminke, etwas langweilig, beinahe allzu gleichmässig. Meine straffe, sonnengebräunte Haut, meine symmetrischen, dunklen Augen, meine schön gerade Nase, meine vollen Lippen, mein gut abgerundetes Kinn, mein schlanker Hals. Doch, ich gefalle mir! Linda legte sich, wieder im Morgenmantel, auf das Bett und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.
Matthias ging ihr nicht aus dem Sinn. Wir sind ja doch immerhin fast zwanzig Jahre zusammengeblieben, da muss doch mal mehr gewesen sein? Habe ich ihn mal richtig geliebt? Ich kann es beim besten Willen nicht sagen. Jedenfalls hat er mir damals mächtig imponiert. Ein durchaus gutaussehender Mann, studierter Rechtsanwalt, mit Aussicht auf eine eigene Kanzlei, redegewandt, ohne auf Angeber zu machen, zwar ohne viel Humor, aber doch mit einem gewissen spröden Charme. Und ich? Fünfundzwanzigjährige Apothekenhelferin, wohl allzu hübsch und zu sexy, um die seriösen Männer anzuziehen, war ich schon mehrmals an den Falschen geraten.
Und dann kommt so ein Studierter und wirbt um mich. Ja, das war es, eine Werbung, ganz klassisch, mit rosaroten Nelken und dunkelroten Rosen, exquisiten Pralinen, Einladungen zum Essen, Ausfahrten im Cabriolet. Richtig verliebt war ich wohl nicht, aber geschmeichelt in allen Farben und Tönen. Die ersten Monate unserer Freundschaft waren wirklich schön. Matthias war ja ziemlich zurückhaltend, ich hätte mir ein wenig mehr den stürmischen Liebhaber gewünscht. Ich glaube nicht, dass ich damals eine allzu grosse rosarote Brille trug, aber, wie es eben ist, man lernt die schwierigeren Eigenheiten eines Menschen erst so nach und nach kennen.
Was man am Anfang noch als zuvorkommend, korrekt, tugendhaft, gerecht und sauber tituliert, empfindet man drei Jahre später als kontrollierend, penibel, selbstgerecht und pingelig. Natürlich ging es uns materiell ganz prächtig, aber emotional hat sich immer mehr die Wüste ausgebreitet…
Und das war beileibe nicht nur meine eigene Empfindung! Matthias hat sich wirklich extrem stark verändert, wie mir auch andere bestätigen. Wie konnte das geschehen? Ich kann es mir nicht genau erklären. Eine gewisse Überheblichkeit hatte er immer schon an sich. Als Lieblingskind seiner Eltern kommt man eben schnell zur Einsicht, man sei etwas Besseres. Aber es war wohl auch die Arbeit mit seinen Klienten, mit den Gesetzes-Paragraphen, der stete Kampf gegen den politischen Filz im Dorf, der alle Probleme unter dem Deckel hielt… Wahrscheinlich hat ihn das fertig gemacht, hat ihn so extrem intolerant werden lassen. Eigentlich hätte ich Mitleid mit ihm haben müssen. Aber er war unterdessen so unnahbar geworden, so abweisend, dass ich mich Michaels Annäherungsversuchen noch so gerne überliess… Würde es mir mit Michael genauso gehen? Ich kann es mir nicht vorstellen, er ist so vollkommen anders… Linda war eingeschlafen.
Kurz vor acht Uhr abends fuhr ein dunkelblauer Mercedes auf den Parkplatz des Hotels Rosenlaui. Ein Mann stieg aus und ging, in der Rechten eine Aktentasche, in der Linken eine kleine Reisetasche, auf den Hoteleingang zu. Dieses lästige Familientreffen, seufzte er vor sich hin, hat mir gerade noch gefehlt. Dabei hätte ich im Amt mehr als genug zu tun. Die Baugesuche häufen sich, ebenso die Einsprachen, und überall wird meine Stellungnahme gefordert. Ich wollte ja unbedingt in den Gemeinderat gewählt werden, aber unterdessen muss ich sagen, es bedeutet mehr Bürde als Würde. Und die Bezahlung ist auch an der untersten Grenze. Und als hätte ich nicht schon genug Ärger, funkt mir jetzt noch dieser verfluchte Matthias dazwischen, mit seinem unseligen Brief… Der Mann liess sich an der Rezeption seinen Zimmerschlüssel geben, stellte aber sein Gepäck in der Bibliothek ab und ging direkt in den Speisesaal, wo die meisten Hotelgäste gerade beim Hauptgang sassen. Er steuerte auf den grossen Tisch in der Saalmitte zu, begrüsste seine Tischgenossen nur mit einem angedeuteten Winken und setzte sich auf den einzigen noch freien Stuhl.
»Endlich«, rief ihm Linda Moser zu, »warum kommst du denn so spät, Samuel?« Samuel Moser, der ältere Bruder von Lindas Mann Matthias, brummte vor sich hin.
»Ach, wie mich das ärgert, immer diese sinnlos langen Sitzungen im Gemeinderat, das ist doch eine reine Zeitverschwendung.«
»Das kann ich verstehen«, pflichtete ihm seine Schwester Barbara bei, »und die Sitzungshonorare sind eine reine Verschleuderung von Steuergeldern.« Samuel lächelte säuerlich. Er war nicht gerade das, was man gemeinhin einen schönen Mann nennt. Etwas korpulent, mit dickem Hals und einem Ansatz von Doppelkinn, einem breiten Gesicht mit unregelmässiger Haut, flachem Schädel mit nur noch wenigen, langen, rötlichen Haaren. Er wirkte viel älter als der nur um zwei Jahre jüngere Matthias.
Da trat Maria Manzoni an den Tisch.
»Guten Abend und willkommen, Herr Moser. Möchten Sie noch gerne das komplette Abendmenu essen?« Samuel winkte ab.
»Nein, nein, ich beginne mit dem Hauptgang. Und bringen Sie mir einen Dreier Merlot.« Samuel hatte plötzlich realisiert, wie hungrig er nach der langen Sitzung geworden war, und ass seinen Teller viel zu hastig leer. Gleich darauf erschien Maria schon mit dem Nachtisch. Die anderen hatten ihr Dessert schon beendet und diskutierten in Zweier- oder Dreiergrüppchen miteinander. Samuel wartete ab, bis die Gespräche am Tisch für einen Moment erloschen waren, und warf dann trocken in die Runde: »Und, habe ich recht, wenn ich ahne, dass in der Familie noch kein Verhandlungsergebnis erzielt wurde?«
Eine bedrückende Stille entstand am Tisch. Samuels Schwestern, Susanna und Barbara, hielten sich eine Hand vor den Mund und warfen sich ängstliche Blicke zu, während Bruder Matthias nur finster vor sich hin starrte. Auch die Eingeheirateten der Familie, Michael, Linda und Bruno, wagten nichts zu sagen. Samuel blickte der Reihe nach alle in der Runde an.
»Na, wohl alle aufs Maul gefallen, ihr Feiglinge?« Weitere Sekunden verstrichen. Plötzlich stiess die sechzehnjährige Elena Moser einen Schrei aus, erhob sich so ruckartig, dass ihr Stuhl nach hinten umkippte, und rannte schluchzend aus dem Saal hinaus. Vetter Luca und Mutter Linda eilten ihr sofort nach. Das war nun das erlösende Zeichen zum Aufbruch. Es dauerte keine Minute, und Samuel Moser war allein am Tisch zurückgeblieben. Er machte sich nicht daraus, bestellte sich einen Cognac und trank ihn in aller Ruhe genüsslich aus. Eine tolle Familie haben wir da, überlegte er grimmig vor sich hin, ein richtig explosives Gemisch! Zum Glück müssen das unsere Eltern nicht mehr erleben!