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Samstag, 21. Juli 2012

Punkt acht Uhr morgens stoppte der Polizeiwagen vor dem Hotel Rosenlaui, ein junger Polizist in Uniform stieg aus und eilte zur Rezeption.

»Ach, wie bin ich froh, dass du da bist!«, rief ihm Hotelchefin Claudia Dietrich schon von weitem entgegen.

»Bei uns ist ja der Teufel los. Guten Morgen, Peter!« Sie schüttelte Peter Kehrli die Hand. Obwohl Claudia ziemlich gross war, wurde sie von Kehrli um einen ganzen Kopf überragt. Er mass exakt einen Meter siebenundneunzig und wirkte mit seinem dünnen Körper eher wie ein schlaksiger Jüngling als wie ein gestandener Polizist. Immerhin gaben ihm seine runde Brille und sein kurz geschnittener, dunkler Bart ein etwas männlicheres Aussehen.

»Ich begreife das überhaupt nicht«, sagte Peter, »Onkel Matthias soll erstochen worden sein?«

»Ja, auch wir stehen vor einem Rätsel«, erwiderte Claudia.

»Möchtest du zuerst zu Tante Linda oder vorher den Toten sehen?«

»Gehen wir zunächst zum Tatort«, sagte Peter, und sie stiegen gemeinsam zum Zimmer siebzehn hoch. Claudia schloss mit dem Schlüssel auf und begab sich dann wieder zur Rezeption, während Peter begann, den Toten und das Zimmer zu inspizieren. Zehn Minuten später war er schon wieder unten bei Claudia.

»Also, liebe Claudia, wie ich schon vermutet hatte, ist dieser Fall eine Schuhnummer zu gross für unseren kleinen Meiringer Polizeiposten. Deshalb habe ich bereits telefonisch die Kriminalpolizei in Bern aufgeboten. Sie werden im Laufe des Vormittags eintreffen, um alle Spuren zu sichern und die Leiche zur Obduktion zu überführen. Das Zimmer habe ich versiegelt, so dass bis dahin nichts passieren sollte. Jetzt möchte ich aber gerne Linda und Elena sehen.«

Als Peter Kehrli die Türe zu Zimmer vierunddreissig öffnete, stiess Linda einen Schrei aus.

»Endlich, Peter, wie schön, dass du hier bist!« Sie sprang auf, umarmte ihren Neffen und wisperte: »Ist das doch furchtbar! Du weisst ja, wie Matthias und ich zueinander standen, aber trotzdem... Wer kann denn so etwas getan haben?« In diesem Moment kam Tochter Elena aus dem Bad zurück. Auch sie umarmte ihren Cousin, dem sie nicht einmal bis zu den Schultern reichte.

»Wurde er wirklich… erstochen?«, fragte sie mit zittriger Stimme.

»Es sieht ganz so aus«, erwiderte Peter, »aber sonst wissen wir noch gar nichts. Für mich ist es unbegreiflich, was da passiert ist. Aber bald wird die Kriminalpolizei aus Bern eintreffen und euch dann sicher auch befragen. Und Matthias werden sie zur Obduktion mitnehmen müssen, um die genaue Todesursache abzuklären.«

»Was sollen wir denn jetzt machen, bis die hier sind?«, fragte Linda. Peter überlegte kurz.

»Habt ihr schon gefrühstückt?« Beide Frauen schüttelten den Kopf.

»Dann hole ich euch jetzt etwas vom Buffet. Oder möchtet ihr doch lieber mit den anderen Hotelgästen zusammen frühstücken?« Wiederum Kopfschütteln. Peter wandte sich zum Gehen, da fragte ihn Linda noch: »Sind eigentlich die übrigen Familienmitglieder schon orientiert?«

»Oh, das weiss ich auch nicht. Ich werde Claudia fragen.«

Als Peter gegangen war, nahm Linda ihre Tochter in die Arme. Lange standen sie so, eng umschlungen, mitten im Zimmer, und wiegten sich sanft hin und her. Schliesslich lösten sie sich voneinander, nahmen die beiden alten, runden Holzstühle und setzten sich vor die offenstehende Balkontüre. Elena hatte Tränen in den Augen.

»Armer Papa, jetzt bist du tot, kommst nie, nie wieder. Weisst du, Mama, ich schäme mich so!«

»Aber warum denn, mein Herz?«

»Ich müsste doch jetzt wahnsinnig traurig sein. Den eigenen Vater zu verlieren! Aber irgendwie spüre ich nichts. Es ist einfach leer in mir. Das kann doch nicht normal sein!« Linda drückte ihrer Tochter die Hand.

»Das kann ich gut verstehen. Bitte mache dir keine Vorwürfe, lass es einfach zu, wie es ist. Vielleicht kommt die Trauer erst viel später, vielleicht auch gar nie. Meine liebste Elena, wir brauchen uns ja nichts vorzumachen. Matthias war ein äusserst spezieller Mensch und hat sich immer mehr in eine Richtung entwickelt, die wir beide nicht verstehen konnten. Ich wünsche mir jetzt vor allem, dass wir zwei ganz fest zusammenhalten in dieser Zeit.« Elena schaute ihrer Mutter in die Augen.

»Mama, ich habe dich so gern!« Ein Weinkrampf schüttelte Elena, sie sank auf die Knie und legte Linda ihren Kopf in den Schoss. Sie liess sich willig über die Haare streichen und beruhigte sich allmählich.

Es klopfte, und Peter trat mit einem grossen Tablett ein. Er stellte es auf dem kleinen, runden Tisch ab und holte dann aus dem Flur noch einen dritten Stuhl für sich selbst. Er setzte sich und sagte dann: »Unterdessen hat Daniel Dietrich unsere ganze Familie, und ebenso die übrigen Gäste, über Matthias‘ Tod orientiert. Niemand darf das Hotel verlassen, bis die Kriminalpolizei mit den Untersuchungen und Befragungen fertig ist.« Die beiden Frauen nickten nur. Eine ganze Weile sassen die drei dann stumm beisammen, in ihre Gedanken versunken, nippten an ihrem Kaffee und kauten auf ihrem Brötchen herum. Schliesslich schenkte Peter Kaffee nach und schaute dann auf die Uhr.

»Oh, schon halb zehn. Ich nehme an, die Leute aus Bern werden jeden Moment eintreffen, da gehe ich jetzt wohl besser nach unten. Bleibt doch bitte hier im Zimmer, ich komme euch dann holen.« Mit einer kurzen Umarmung verabschiedete er sich.

Peter Kehrli traf Claudia Dietrich vor der Hotelrezeption.

»Du, Claudia, ich nehme an, die Leute aus Bern werden bald hier sein. Hättest du uns irgendwo ein ruhiges Zimmer für die Befragungen? Und, ehm, vielleicht auch Kaffee dazu?« Claudia lächelte.

»Natürlich, lieber Peter. Wenn du schon an einem Samstag arbeiten musst, sollst du es gemütlich haben. Hier, siehst du, unser zweites Büro könnt ihr gerne benutzen, und den Kaffee bestelle ich gleich.« Kaum war Peter in das Büro getreten, klingelte die Hausglocke, und Claudia ging nachsehen. Kurz darauf klopfte es, und im Türrahmen erschien ein mittelgrosser, leicht korpulenter Mann um die fünfzig, in Jeans und kariertem Hemd, mit nicht allzu gepflegten, graumelierten Haaren und einem Dreitagebart. Als er den Meiringer Polizisten erblickte, überzog ein breites Grinsen sein rundliches Gesicht.

»Schau mal an, der Peter Kehrli, grüss dich! Was habt ihr denn angestellt hier oben? Es freut mich sehr, wieder mal im hintersten Oberland tätig zu werden. Auch wenn ich zugebe, es hätte mir gestern Freitag besser gepasst als jetzt am Wochenende, hahaha.« Kriminalkommissar Rolf Ramseier, immer noch im Türrahmen stehend, lachte schallend laut. Dann drehte er sich um und führte eine junge Frau herein.

»Übrigens, das ist meine Assistentin, Anna Burger. Sie hat soeben ihre Ausbildung zur Kriminalkommissarin abgeschlossen. Anna ist ein kluges Köpfchen, und wenn ich nicht aufpasse, wird sie mir bald meine Stelle streitig machen, hahaha!«

Peter Kehrli hatte kein Wort von dem mitbekommen, was Rolf Ramseier soeben gesagt hatte. Wie gebannt war sein Blick auf dem Gesicht der Frau vor ihm hängen geblieben. Wie wunderschöne dunkle Augen sie doch hatte, welch zartes Lächeln um die Lippen, wie schön die dunkelbraunen Haare das gleichmässige Gesicht umrahmten! Auch sie war in Zivil gekommen, trug schwarze Jeans und eine kurzärmlige pinkfarbene Bluse. Jetzt streckte sie ihm lächelnd die Hand entgegen.

»Guten Tag, ich bin die Anna.«

»Hm«, stotterte Peter, während ihm das Blut heiss ins Gesicht schoss, »freut mich, Sie, hm, pardon, dich, kennenzulernen. Hm, ja, Peter heisse ich.« Was ist denn nur los mit mir, fragte sich Peter entsetzt, so ein furchtbar peinlicher Anfang ist mir noch gar nie passiert, sonst bin ich doch nicht dermassen leicht aus der Ruhe zu bringen… Wenn ich mich doch nur ins nächste Mauseloch verkriechen könnte... Aber nein, jetzt muss ich erst recht durchhalten!

»Können wir jetzt zum Tatort gehen?«, fragte Rolf Ramseier, schon leicht ungeduldig.

»Natürlich, sofort«, erwiderte Peter, führte die beiden zum Zimmer siebzehn und entfernte das Siegel an der Türe. Der tote Mann lag noch genauso da wie vorher.

»Hier ist das Opfer«, sagte Peter, »aber vom Tötungswerkzeug, wir vermuten einem Messer, fehlt bis jetzt jede Spur.«

»Wir suchen natürlich überall nach Spuren«, erwiderte Rolf.

»Und, sag mal, wurde eigentlich etwas gestohlen?« Peter bekam erneut einen heissen Kopf.

»Hm, das wissen wir noch gar nicht. Die Frau des Verstorbenen, die den Toten gefunden hat, ging danach ins Zimmer ihrer Tochter zum Schlafen, und ich habe sie noch nicht befragen können. Und übrigens wäre das sowieso etwas heikel für mich, sie ist nämlich meine Tante.«

»So etwas war ja zu erwarten«, frotzelte Rolf grinsend, »im Oberland sind doch alle irgendwie miteinander verwandt. Dann machen wir es doch so: Zuerst nehmen wir hier die Spuren auf und packen den Toten ein, und dann holst du, Peter, die Frau, und Anna befragt sie.« Ohne eine Antwort abzuwarten, öffnete Rolf den grossen Koffer, den sie mitgebracht hatten, und packte das für die Spurensicherung benötigte Material aus. Während Anna das Zimmer nach Spuren absuchte, machte Rolf unzählige Fotos vom Tatort. Erst am Schluss untersuchten beide vorsichtig den toten Mann und wickelten ihn danach in ein grosses weisses Tuch ein.

»Wie wollt ihr eigentlich vorgehen«, fragte Rolf, »um die Tatwaffe zu finden?« Anna überlegte einen Moment.

»Was könnte der Täter damit gemacht haben? Gereinigt und bei sich behalten? Dann könnten wir wahrscheinlich immer noch Reste von Blut nachweisen. Aber wir müssten vielleicht sämtliche Räume durchsuchen, um das Ding zu finden, eine Heidenarbeit. Oder hat er das Messer irgendwo entsorgt? Mitten in der Nacht keine einfache Aufgabe, wenn man kein Risiko eingehen will, entdeckt zu werden. Vermutlich wird es dann nicht allzu weit weg sein, aber in dieser unübersichtlichen Landschaft trotzdem schwierig zu finden. Wenn er es allerdings vergraben hat, sogar sehr schwierig…« Rolf nickte.

»Dann schlage ich vor, dass ihr heute mal die Umgebung des Hotels grob durchkämmt. Wenn ihr nichts findet, könnt ihr Verstärkung anfordern für eine detailliertere Suche.«

»Einverstanden«, erwiderte Anna.

»Und noch etwas«, fuhr Rolf fort, »das ja eigentlich selbstverständlich ist. Niemand darf heute, bevor die Durchsuchungen und Befragungen abgeschlossen sind, ohne eure Bewilligung das Haus verlassen.« Peter nickte.

»Das haben wir schon veranlasst.« Zu dritt hoben sie dann den eingewickelten Toten hoch, schleppten ihn hinunter und luden ihn in den Leichenwagen der Polizei. Rolf Ramseier holte noch das übrige Material aus dem Zimmer, verabschiedete sich und machte sich auf den Weg nach Bern.

»Siehst du, Anna, hier können wir in aller Ruhe die Befragungen durchführen. Und der Kaffee steht auch schon bereit.«

»Ausgezeichnet«, lobte Anna Burger und setzte sich an den kleinen Besprechungstisch.

»Dann hole ich jetzt die Frau des Verstorbenen«, sagte Peter Kehrli und ging hinaus.

Anna schaute sich im Raum um. So etwas wie dieses Hotel hatte sie noch nie in ihrem Leben gesehen. Sie betrachtete die alten lilafarbenen Tapeten mit dem gelblichen Lilienmuster, die mit geschwungenem Stuck verzierte Decke, den uralten Schreibsekretär aus dunkel gebeiztem Holz, das viel zu massige Büchergestell, den klobigen Schreibtisch mit den gebogenen Beinen. Sie fühlte sich vollkommen deplatziert, als befinde sie sich plötzlich in einem anderen Leben. Eine verrückte Idee ist das schon, dachte sie, in diesem abgelegenen Tal ein solches Hotel zu bauen. Und mit dieser altertümlichen Einrichtung auch im einundzwanzigsten Jahrhundert noch Erfolg zu haben! Offensichtlich sehnen sich viele Leute nach der früheren, einfacheren Lebensweise.

Es klopfte, und Peter trat mit einer Frau mittleren Alters ein.

»Ich lasse euch jetzt allein«, sagte er und verschwand gleich wieder. Die Kommissarin kam auf Linda Moser zu.

»Guten Tag Frau Moser, es tut mir sehr leid, dass ihr Mann so hat sterben müssen, und ich fühle mit Ihnen.« Sie legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.

»Bitte nehmen Sie Platz und erzählen Sie mir, was sich gestern Nacht zugetragen hat.« Linda Moser setzte sich seufzend.

»Nun, da gibt es nur wenig zu berichten. Nach dem gemeinsamen Abendessen gingen wir, das heisst alle zehn Mitglieder der Familie Moser, in die Bar zu einem Schlummertrunk. Die Brüder Moser, also Samuel und mein Mann Matthias, hatten sich gegen elf Uhr verabschiedet, und die drei Jugendlichen gingen auch bald nachher. Wir anderen blieben noch in der Bar sitzen. Um halb zwölf wurden wir wie üblich hinauskomplimentiert und gingen alle zusammen ins Hotelgebäude zurück. Ich stieg hinauf zu unserem Zimmer und fand… Matthias leblos da liegen. Hm, weiss man denn schon etwas Genaueres darüber, wie mein Mann… zu Tode gekommen ist?«

»Erst die Autopsie wird genaue Klärung bringen. Aber er wurde wohl mit einem Messer von hinten niedergestochen.«

»Ach wie furchtbar. Wer könnte denn sowas tun?«

»Ja«, erwiderte Anna Burger, »es ist manchmal unbegreiflich, wozu Menschen fähig sind. Und leider treffen wir dies in unserem Beruf häufig an. Frau Moser, wir gehen jetzt zusammen in das Zimmer, wo Sie den Toten gefunden haben. Aber haben Sie keine Angst, es ist nichts mehr von den nächtlichen Ereignissen zu sehen.«

Die beiden Frauen stiegen langsam die Treppe hoch. Als sie das Zimmer siebzehn betraten, schien darin tatsächlich nichts mehr auf die Geschehnisse der Nacht hinzudeuten.

»Bitte schauen Sie sich jetzt ganz genau um hier im Zimmer«, sagte die Kommissarin, »fällt Ihnen irgendetwas auf, hat sich etwas verändert, wurde vielleicht etwas gestohlen?« Linda blickte um sich.

»Ach je, darauf habe ich doch in der Nacht gar nicht geachtet. Wissen Sie, nachdem ich gegen Mitternacht meinen Mann hier tot gefunden hatte, packte ich nur schnell Nachthemd und Zahnbürste zusammen und ging dann zum Schlafen in das Zimmer meiner Tochter Elena.«

»Das verstehe ich gut«, meinte die Kommissarin mitfühlend. Linda öffnete die oberste Schublade der grossen Kommode und stiess sogleich einen spitzen Schrei aus.

»Nein, das darf nicht wahr sein! Mein ganzer Schmuck ist weg, und das Bargeld auch! Warum nur habe ich ausgerechnet gestern das teure Armband und den Diamantring nicht getragen, wie schade!«

»Also doch ein Diebstahl«, murmelte Anna Burger, öffnete ihre Tasche und reichte Linda Moser ein Formular.

»Hier können Sie dann eintragen, was fehlt. Aber schauen Sie vorher noch alles ganz genau durch.« Linda, mittlerweile verunsichert und zittrig, öffnete hastig die weiteren Schubladen, den grossen Schrank und ihre Gepäckstücke, fand jedoch keine weiteren Hinweise auf einen Diebstahl.

»Und, was passiert jetzt?«, fragte sie schliesslich, »müssen meine Tochter und ich noch länger hier im Hotel bleiben?« Anna Burger dachte kurz nach.

»Nun, Sie dürfen sicher heute noch heimreisen, wenn Sie dies wünschen. Die Anmeldung des Todesfalles beim Zivilstandsamt können Sie allerdings erst am Montag vornehmen. Ich möchte Sie aber bitten, heute noch bis Mittag hier zu bleiben, falls wir noch weitere Fragen hätten. Und vielen Dank für Ihre Hilfe.« Linda Moser nickte zerstreut und verliess ohne ein weiteres Wort das Zimmer.

»Nun, wie ist es gelaufen?«, fragte Peter Kehrli, als Anna Burger wieder zurück ins Büro kam. Er fühlte sich jetzt schon viel weniger gestresst in Annas Gegenwart, der Schreck über sein ungeschicktes Benehmen bei der ersten Begegnung war abgeflaut, er konnte ihr jetzt, ohne innerlich zu zittern, in die Augen sehen. Von oben herab zwar, weil er so gross war, aber das ging ihm ja mit fast allen Menschen so. Erneut zog ihn ihre Erscheinung völlig in den Bann. Wie wunderschöne dunkle Augen sie doch hatte! Und dazu das wohlproportionierte Gesicht, die von einigen Sommersprossen verzierten Wangen, die leichte Stupsnase und die vollen, sanft geschwungenen Lippen! Und diese Statur, dieser leichte Gang! Wie alt mochte sie sein? Um die dreissig, schätzte er, also genau richtig…

Peter zuckte zusammen, als Anna auf seine Frage antwortete.

»Ganz gut, denke ich. Diese Linda Moser ist wirklich eine aussergewöhnliche Frau. Äusserst feminin, gleichzeitig sehr sportlich, aber auch offen und sympathisch. Ich nehme an, die Männer laufen ihr scharenweise nach. Und wenn ich das im Vertrauen sagen darf, ohne dir zu nahe zu treten: Ich hatte den Eindruck, dass sie über den Verlust ihres Schmuckes fast ebenso traurig war wie über den Verlust ihres Mannes.«

»Oh«, rief Peter erstaunt aus, »es wurde also gestohlen! Das ist aber eine wichtige Neuigkeit. Und… na ja, die beiden Eheleute waren schon lange nicht mehr ein Herz und eine Seele…« Anna zuckte nur mit den Schultern.

»Allerdings haben weder Linda Moser noch ihre Tochter neue Erkenntnisse zum Fall beitragen können. Der Verstorbene sei eine knappe Stunde vor seiner Frau ins Hotelzimmer gegangen, und sie habe ihn dann dort tot gefunden. Und noch etwas, Peter. Mein Chef, Rolf Ramseier, hat mir die Hauptverantwortung für diese Ermittlungen übertragen. Eine Ehre und eine grosse Herausforderung für mich. Aber ich möchte auf keinen Fall, dass du dich dadurch zurückgesetzt fühlst. Der Fall ist einfach für die Dorfpolizei eine Nummer zu gross. Ich hoffe, dass ich weiterhin auf deine gute Mitarbeit zählen darf?«

Peter Kehrli staunte. Zum einen über sich selbst, wie locker er sich jetzt in Gegenwart dieser schönen und gleichzeitig so intelligenten und zielstrebigen Frau fühlte. Zum anderen darüber, wie selbstverständlich sie mit ihm umging, so als würden sie schon jahrelang zusammenarbeiten. Wie sie ganz ungezwungen ein heikles Problem ansprechen konnte, das imponierte ihm sehr.

»Du kannst voll auf mich zählen«, antwortete er und war ein wenig stolz auf sich selbst.

»Darf ich vorschlagen, dass wir zunächst die Angestellten des Hotels befragen?«

»Auf jeden Fall«, nickte Anna, und Peter verliess den Raum. An der Rezeption traf er auf Claudia Dietrich.

»Claudia, wir möchten jetzt alle Angestellten des Hotels befragen. Könnten wir vielleicht gleich bei dir und Daniel beginnen?«

»Ja, sicher. Das Frühstück ist beendet, und Daniel hat den Hotelgästen mitgeteilt, was geschehen ist und sie gebeten, vorläufig im Haus zu bleiben und sich für Auskünfte zur Verfügung zu stellen.«

»Ausgezeichnet«, lobte Peter Kehrli.« Claudia ging ihren Mann holen. Dieser war noch mehr vom Schock gezeichnet als seine Frau, seine Hände zitterten leicht und er blickte unruhig im Raum hin und her. Peter machte sein Schreibzeug bereit, und Anna Burger eröffnete die Befragung.

»Jetzt erzählen Sie einfach mal, was gestern Abend passiert ist.«

Claudia räusperte sich.

»Also, punkt halb zwölf machte, wie jeden Abend, unsere Bar im Nebengebäude zu, und die letzten Gäste, es waren ungefähr fünfzehn, kamen zurück durch den Hoteleingang. Ich war noch in der Rezeption, wünschte allen eine gute Nacht, und sie stiegen die Treppe empor zu ihren Zimmern. Eine Minute oder zwei später hörte ich eine Frau schreien. Wenige Sekunden danach stürzte Linda Moser die Treppe herunter, packte mich an den Armen und schrie in einem fort, ihr Mann sei tot. Plötzlich sah ich, dass Herr Valentin Wolf, einer unserer Gäste, auf der Treppe stand, und hiess ihn meinen Mann holen.«

Claudia blickte auffordernd zu Daniel, und dieser fuhr fort: »Ich hatte Schreien gehört und war schon auf dem Weg. Herr Wolf und ich rannten dann sofort die Treppe hoch und fanden Matthias Moser. Er lag gleich hinter der halb offenen Zimmertür am Boden. Herr Wolf blieb dann bei ihm und ich rief sofort den Arzt an.«

»Und wann haben Sie den Verstorbenen zum letzten Mal lebend gesehen?«

»Was mich betrifft«, erwiderte Daniel, »kann ich das ziemlich exakt beantworten. Ich hielt mich zwischen neun Uhr und halb zwölf immer in der Bar auf. Die ganze Sippe Moser, also alle zehn Personen, kam nach dem Abendessen auf einen Drink herüber. Die zwei Brüder, Samuel und Matthias, verabschiedeten sich als erste. Das war, da bin ich ganz sicher, um viertel vor elf. Die drei Jugendlichen habe ich dann auch aus den Augen verloren. Die übrigen fünf bleiben noch bis halb zwölf in der Bar.«

»Aber«, fragte die Kommissarin nach, »sind Sie denn sicher, dass niemand von ihnen zwischendurch die Bar verlassen hat?«

»Das natürlich nicht. Es waren mindestens dreissig Leute in der Bar, und jeder könnte mal für eine Weile hinausgegangen sein.«

»Und du, Claudia, wo warst du während des Abends?«, fragte Peter Kehrli.

»Im Prinzip war ich immer in der Hotelrezeption, aber natürlich ging ich ab und zu für einige Minuten nach hinten ins Büro, um Reservationen zu bearbeiten und Bestellungen zu machen. Was ich bestätigen kann, ist, dass die Brüder Samuel und Matthias Moser so gegen elf Uhr vorbeikamen und gute Nacht wünschten. Und auch die jungen Leute, Elena, Luca und Remo, kamen wenig später bei mir vorbei.« Anna Burger nickte.

»Gut, immerhin wissen wir jetzt, dass Matthias Moser etwa zwischen zehn vor elf und halb zwölf gestorben sein muss. Eine Frage hätte ich aber noch. Wissen Sie, ob es unter den übrigen Gästen, die zurzeit im Hotel logieren, jemanden gibt, der mit der Familie Moser, insbesondere mit dem Verstorbenen, bekannt ist?« Claudia Dietrich musste nicht lange überlegen.

»Ziemlich sicher nein. Jedenfalls sind keine anderen Gäste aus der Region Meiringen oder Interlaken hier. Und ich habe auch nicht bemerkt, dass jemand die Mosers speziell begrüsst hätte. Aber ausschliessen kann ich es natürlich nicht.«

»Vielen Dank. Ich bitte Sie aber trotzdem, mir eine Liste aller Gäste zu machen, die letzte Nacht im Hotel waren. Und ich würde dann gerne noch die anderen Angestellten des Hotels befragen.« Claudia erhob sich.

»Selbstverständlich, ich werde sie der Reihe nach zu Ihnen schicken.«

Die halbe Nacht hatte ich mich im Bett herumgewälzt, immer wieder hatte ich in meinem Kopf die Schreie der Frau gehört und den toten Mann daliegen gesehen. Auch gegen Morgen fand ich keinen richtigen Schlaf. Kurz vor acht Uhr zog ich mich an und ging hinunter ins Erdgeschoss, wo Maria Manzoni gerade sorgfältig die letzten Zutaten auf dem Frühstücksbuffet platzierte. Da hörte ich einen Wagen vor das Haus fahren, und Augenblicke später betrat ein junger, ausserordentlich grosser und hagerer Polizist in Uniform die Eingangshalle, wo er von Claudia Dietrich kollegial begrüsst wurde. Die beiden verschwanden dann die Treppe hoch. Ich holte mir eine Tasse Kaffee und setzte mich an einen Fenstertisch. Nach und nach füllte sich der Frühstücksraum mit Gästen, und die Nachricht von einem mitternächtlichen Todesfall machte schnell die Runde. Aber niemand ausser mir wusste etwas Genaueres darüber, und ich hielt mein Wissen zurück.

Plötzlich stand Daniel Dietrich im Raum. Er berichtete kurz, was geschehen war und dass die Polizei bereits im Hause sei. Er bat alle Gäste, im Hotel zu bleiben und sich für Auskünfte zur Verfügung zu halten. Die Nachricht von einem Tötungsdelikt drückte die Stimmung im Raum augenblicklich nieder. Es wurde fast nur noch im Flüsterton gesprochen, und viele Gäste gingen bald zurück in ihre Zimmer. Obwohl ich nicht viel zu essen vermochte, blieb ich noch lange sitzen.

Gegen halb zehn Uhr parkten zwei weitere Polizeiautos vor dem Haus, eines davon war offensichtlich ein Leichenwagen. Ein älterer, etwas ungepflegt wirkender Mann mit einem grossen Koffer und eine jüngere Frau, beide in Zivil, betraten das Hotel. Aha, dachte ich, jetzt werden wohl die Spuren gesichert und dann die Leute befragt. Ich wartete noch eine Weile und ging dann zur Rezeption, wo Claudia Dietrich routiniert eine telefonische Reservation entgegennahm, fast so, als wäre überhaupt nichts geschehen.

Sie beendete das Telefonat und lächelte mir zu.

»Guten Morgen, Herr Wolf. Eine furchtbare Geschichte haben wir da in unserem sonst so friedlichen Tal. Ich möchte Ihnen noch für den nächtlichen Einsatz danken. Ich nehme an, Sie haben auch nicht gerade gut geschlafen?« Ich bejahte leise. In diesem Augenblick kamen die drei Polizeibeamten langsam die Treppe herunter. Sie trugen den in ein weisses Tuch eingewickelten Toten ins Freie hinaus und luden ihn in den Leichenwagen. Als sie wieder zurückkamen, stellte mich Claudia Dietrich ihnen vor und berichtete von meinem nächtlichen Mitwirken. Der Mann in Zivil bat mich ins Büro und stellte mir einige Fragen. Anscheinend konnte ich ihm aber nichts Neues erzählen und durfte bald wieder gehen. Dankbar, diesen Ort des Schreckens für eine Weile verlassen zu können, fuhr ich mit dem nächsten Postauto nach Meiringen hinunter und kehrte erst zum Abendessen zurück.

Mosers Ende

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