Читать книгу Ursian und die unsichtbare Unterwelt - Ursina Schmid - Страница 6

1. KAPITEL

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In der warmen Stube des Pfarrhauses von Bacus sitzen der Pfarrer Romuald Rommel, seine beiden Ziehkinder Ursian und Pia sowie ihr Freund Willi vor dem prasselnden Kaminfeuer. »Romuald«, fragt Pia, »erzählst du uns bitte die Geschichte, wie Ursian zu dir gekommen ist?«

Romuald Rommel hat eine füllige Figur und die wenigen grau-blonden Haare bilden einen Ring um den Kopf. Mit der Grösse von 183 cm ist er eine imposante Erscheinung, er hat eine gerade Haltung und einen wachsamen, jedoch sehr netten Blick.

Alle drei Kinder haben diese Geschichte bereits einhundert Mal gehört, können aber nie genug davon bekommen. »So, so, genau diese Geschichte wollt ihr wieder hören?«

»Au ja.«, antworten alle drei wie im Chor.

»Also gut, dann will ich mal nicht so sein.« Mit diesen Worten beginnt der Pfarrer, die Geschichte zu erzählen.

»Es trägt sich in einer bitter- und eiskalten Winternacht zu. Diese eine Nacht ist so bitterkalt, dass jedem Lebewesen, das sich im Freien aufhält, der Atem direkt vor dem Gesicht einfriert und mit einem leisen Klirren auf den Boden aufschlägt. In dieser eiskalten Nacht geht niemand freiwillig auf die Strasse, keine Menschenseele ist draussen anzutreffen. Unheimlich gleitet der Bodennebel erst über die Strassen, danach über den Gehsteig an den Schaufenstern vorbei, bis er die kalten Fassaden erklommen hat, kriecht hinauf zu den Fenstern und seine Reise endet erst am Giebel der Häuser und die ganze Gegend ist in dicken, undurchdringlichen Nebel eingehüllt. Dieser Nebel ist feucht, kalt und so dicht, dass die Hand vor den eigenen Augen kaum erkannt werden kann. In solch trüben Winternächten bleiben die Menschen gerne in der warmen Stube. Wenn jemand doch das Haus verlassen muss, kleben demjenigen schon nach wenigen Metern die Kleider auf der Haut und die feuchtkalte Nässe beginnt sich im Körper auszubreiten. Eine Eiseskälte erfasst langsam und schleichend sämtliche Glieder.

Jedoch genau in dieser bitterkalten Nacht tragen sich die merkwürdigsten Dinge zu.

Ganz an den Rand einer Häuserreihe gedrückt, bewegt sich ein ganz in schwarz gekleideter Mensch. Man kann an der Art, wie sich dieser Mensch vorwärts bewegt, nicht erkennen, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt. Diese Gestalt geht in einer gebückten, ja fast krummen Haltung ganz langsam, gerade so, als würde die Gestalt über Eier oder brennende Kohlen gehen, vorwärts.

Nur sehr gute Beobachter können diese dunkel gekleidete Gestalt überhaupt wahrnehmen, sie schiebt sich ganz eng an den Häusern vorwärts und bleibt immer wieder stehen, um sich umzusehen. Es schneit grosse dicke Flocken, die Gestalt kommt nur langsam, sehr bedächtig vorwärts, ganz sachte bewegt sie sich, sie macht den Eindruck als wenn sie eine schwere, sehr schwere Last mit sich herumschleppen würde und diese Last scheint die Gestalt zu Boden zu drücken. Bei näherem Betrachten kann man ein kleines schmächtiges Bündel in den Armen der Gestalt erkennen, geschützt durch eine lumpige, ebenfalls ganz schwarze Decke.

Unvorstellbar, was die Gestalt bei diesem unwirtlichen Wetter hier draussen macht. Träge und schleppend bewegt sie sich durch die Gassen, der Schritt verlangsamt sich, der Atem dringt nur noch stossweise aus der Lunge. Sie bleibt stehen und wickelt den Umhang noch fester um sich, nur so ist es ihr möglich, ein wenig schützende Wärme zu erhalten und nicht von der klirrenden Kälte erfasst und direkt eingefroren zu werden. Weiter bewegt sich die dunkle, schwarz gekleidete Person durch das ganze Dorf, immer wieder innehaltend und sich nach allen Seiten umblickend, sie wirkt wie ein gehetztes Tier und dabei sehr träge. Erst als die Gestalt das Dorf verlässt, beschleunigt sie ihren Schritt und nähert sich langsam dem Friedhof mit der dahinterliegenden Kirche. Hier verlangsamt sich der Schritt der Gestalt.

Sie drückt sich durch das kleine Tor hindurch, geht vorsichtig, sich immer wieder nach allen Seiten umblickend, zur Pfarrhaustüre. Die Gestalt nimmt das kleine Bündel und legt es sorgfältig und sehr, sehr behutsam vor die Türe des hiesigen Dorfpfarrers.

Mit voller Kraft klopft die Gestalt an der Tür des Pfarrers, sie wiederholt das Klopfen zweimal. Letzte Blicke nach beiden Seiten, und schon entschwindet die Gestalt unbemerkt und ohne sich noch einmal umzuwenden.

Ich, Pfarrer Romuald Rommel, sitze gerade gemütlich vor meinem Kamin und freue mich, dass ich nicht mehr nach draussen muss. Wie ich solche Momente liebe! Nach meinen Tagesgeschäften bin ich froh, wenn ich mich einem guten Buch widmen kann.

Gerade schön in meine geliebte Wolldecke eingewickelt, das Kaminfeuer prasselt, lege ich die Füsse hoch und greife nach meinem Buch. Mit einem lauten Seufzer der Erleichterung schlage ich die Seite auf, auf der ich zuletzt gelesen hatte. Doch auf einmal höre ich ein kratzendes Geräusch an meiner Tür. ›Ach, wird bloss eine Katze sein, bei diesem unwirtlichen Wetter wird wohl niemand mehr unterwegs sein‹, sage ich zu mir selbst. Also lehne ich mich erneut zurück und schlage die Seite in meinem Buch auf. Jetzt widme ich mich wieder voll und ganz meinem Buch.

Da, erneut höre ich ein Geräusch diesmal ist es aber ein lautes Klopfen. ›Was zum T…, oh, Entschuldigung‹, sage ich und werfe einen demütigen Blick nach oben. ›Muss ich wirklich nachschauen?‹ Also lege ich schweren Herzens meine heiss geliebte Wolldecke zur Seite und mache mich auf den Weg zur Tür.

Da, wieder … das Klopfen wiederholt sich und wird lauter und heftiger, auf einmal läuft mir der kalte Schweiss den Rücken hinunter. Vorsichtshalber schaue ich zuerst durch das kleine Fenster neben der Tür. Ich kann beim besten Willen nichts erkennen. Also schliesse ich sehr langsam die Tür auf. Da! Ich höre dieses Wimmern wieder, langsam macht sich bei mir die Furcht breit. Doch jetzt lasse ich mich nicht mehr aufhalten.

Mit einem Ruck ziehe ich die Tür schwungvoll auf. Nichts! Einfach nichts ist zu sehen! Schon auf dem Weg, die Tür wieder zu schliessen, wimmert es wieder, diesmal direkt zu meinen Füssen. Als ich nach unten schaue, entdecke ich ein kleines Bündel. Eine etwas fadenscheinige Wolldecke und darin eingewickelt – ich kann es kaum glauben, dass ausgerechnet mir so etwas zustösst. In Büchern habe ich ja schon davon gelesen, aber dass es so etwas wirklich gibt! Und dann noch bei mir, das hätte ich mir wirklich nicht träumen lassen.

Sofort packe ich das Bündel und lege es behutsam, schon fast ehrfürchtig auf meine grossen starken Arme. Sofort beginnt mein Herz zu klopfen, was mache ich jetzt nur? Also, zuerst muss ich es aufwärmen, bei dieser Kälte draussen, dass hält ja niemand aus. Ich wickle das Bündel sofort aus seiner schäbigen Wolldecke. Ganz erstaunt schaue ich zu dem Bündel hinunter und es verschlägt mir, Romuald Rommel, erstmal die Sprache. Wie angewurzelt stehe ich da und starre auf das von mir Entdeckte hinab.

Aus grossen Kulleraugen lächelt mir ein kleiner Knabe entgegen, aber schon verzieht er wieder sein winziges Gesicht und beginnt von Neuem zu weinen. ›Na, du kleiner Racker, wirst wohl Hunger haben? Aber zuerst muss ich dich mal richtig aufwärmen.‹ Nicht mal eine Windel hat der kleine Knabe an. Schnell packe ich meine eigene Wolldecke und wickle den Knaben fest darin ein. Die Decke reibe ich ein bisschen über den kalten Körper. Der Kleine soll es schnell wieder ganz warm haben. Als ich die schwarze fadenscheinige Decke wegstreife, fällt ein winziges Stück Papier zu Boden. Ich, Romuald sehe es, kümmere mich jedoch zuerst um den Jungen. Jetzt kann ich erkennen, dass der Junge lächelt und gähnend fallen ihm vor Erschöpfung die Augenlider zu. Jetzt erst lege ich den Jungen hin, gerade so, dass er ja nicht zu Boden fallen kann. Als ich sicher bin, dass er in Sicherheit ist, hebe ich den kleinen Zettel auf. Darauf steht ganz krakelig und fast unleserlich etwas geschrieben. ›Das muss jetzt warten‹, sage ich mehr zu mir selbst.

Zuerst will ich mich um den Kleinen kümmern. Danach kümmere ich mich um diesen Zettel und um alles Weitere. Der Knabe hat bereits wieder eine leicht rosige Gesichtsfarbe angenommen und döst friedlich vor sich hin. Wie aus heiterem Himmel schiesst mir der Gedanke durch den Kopf, dass der Junge eben erst vor der Türe niedergelegt wurde. Sofort mache ich kehrt und schiesse wie vom Blitz getroffen aus der Tür, direkt hinaus in die Eiseskälte. Wieder umgekehrt und eine warme Jacke und richtiges Schuhwerk angezogen, renne ich den Weg über den Friedhof hinunter, um die Person, die das Kind hierhergebracht hat, einzuholen. Also eile ich an der Kirche vorbei über den Friedhof bis zum Törchen, das in die Kirchenanlage hineinführt.

Ich schaue nach rechts, dann nach links. Einfach nach allen Seiten, danach gehe noch ein Stückchen den Weg hinunter, doch nichts, niemand ist zu sehen. Der dicke Nebel erschwert die Sicht gewaltig, ich kann beim besten Willen nichts erkennen. Also mache ich kurzum kehrt und gehe schnurstracks ins Haus zurück. Der kleine Wurm braucht mich jetzt, um alles andere kann ich mich auch noch morgen kümmern.

Wieder im Pfarrhaus. Der Junge ist eingeschlafen, so kann ich also in Ruhe nachsehen, was auf dem Zettel steht. Ich begebe mich zu meiner Leselampe und halte den Zettel ans Licht.

Ursian und die unsichtbare Unterwelt

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