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Ich will die Wiedervereinigung (1957)

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Vom Ernst des Lebens hört man die Leute dauernd reden und denkt sich nichts dabei. Aber, es erwischt nun mal jeden. Es packt und beutelt den Ahnungslosen, wie den Ahnungsvollen und drückt ihm seinen Stempel auf. Das nennt man dann Schicksal. Und dieses Schicksal warf dann auch über mich seinen drohenden Schatten und verdunkelte meine Zukunft. Vorbei die Zeit der aufgeschlagenen Knie und der blauen Flecken, vorbei die bittere Süße der Kindheit. Jetzt lernte ich langsam zu schätzen, was es bedeutete, dass man die Verantwortung für seine Person einfach an die Eltern abschieben konnte. Denn von nun an hieß es: Selbst denken, jedenfalls zum Teil.

Gottseidank blieb mir das aber noch erspart, jedenfalls fürs Erste. Ich durfte nämlich ein halbes Jahr länger zur Schule gehen, weil ich noch keine vierzehn Jahre alt war. Oh nein, ich bin nicht sitzen geblieben. Im Gegenteil, Herr Lorbach begrüßte es sehr, dass er mich noch länger genießen durfte. Schließlich gehörte ich noch zur alten Garde, die mehr oder weniger herzerfrischend seinen Unterricht unterstützt hatte. Ich war ein trauriges Überbleibsel der vergangenen Oberstufe, bei der er sich von seinen „Blasen und Nieten“ immer erholt hatte. Von mir bekam er eine perfekte Ballade, mit Augenrollen, Seufzern und Betonung. Alles an den richtigen Stellen. Die meisten Schüler leierten den Text nur so runter und wussten gar nicht, was sie da für eine schaurig schöne Geschichte verunstalteten, indem sie diese so stammelnd erzählten. Ich hatte das Buch immer unterm Tisch liegen und lernte das Gedicht, während die anderen mühsam ihre Versionen zum Besten gaben. Aber das brauchte der Lehrer ja nicht zu wissen. Herr Lorbach und ich lieferten uns auch schmissige Dialoge im mündlichen Sachunterricht. Außerdem sorgte ich nach alter Manier öfter mal für unterhaltsame Unterbrechungen des Unterrichts. Dafür war mir der Rest der Klasse sogar dankbar. Wenn Herr Lorbach so nebenbei aus dem Konzept gebracht wurde, erzählte er nämlich furchtbar gern von seiner glorreichen Zeit als Hauptmann im Zweiten Weltkrieg. Während er zum zehnten Mal den Schuss schilderte, der ihm seine Silberplatte im Kopf eingebracht hatte, konnten wir unseren eigenen Gesprächen nachgehen. Natürlich leise und hinter vorgehaltener Hand. Während ich Herrn Lorbach ab und zu einen bewundernden Blick zuwarf, spielte ich mit Heidi Walter Galgen und freute mich, wenn Heidi das gesuchte Wort nicht einfiel. Denn dann wuchs das Strichmännchen am Galgen und ich konnte mir vorstellen, das sei unser Lehrer beziehungsweise der Herr Hauptmann, aufgehängt von seinen verzweifelten Soldaten. O ja, so etwas war durchaus lehrreich.

Es gab natürlich auch Fächer, bei denen ich mich bescheiden im Hintergrund hielt. Immerhin war ich eine „Schulfreiwillige“!

Ich hatte auch sonst keine Probleme; denn die nachgewachsene Klasse, die ich jetzt besuchte, war mir bestens vertraut. Dafür sorgte schon unser mehrklassiges Schulsystem. Außerdem blieb mir Paul Wolf als Klassenkamerad erhalten, denn der hatte es nach all den Jahren doch noch fertig gebracht, sitzen zu bleiben.

Es war mein letzter Sommer in Freiheit. Ein Sommer mit Eis am Stiel und Hitzefrei, mit Waldmeisterbrause und Himbeerbonbons, mit genussvollem Dösen in der Sonne und Wasserknappheit.

Die Klassenfahrt mit der neuen Oberstufe war auch eine Klasse für sich. Sie führte uns in eine Jugendherberge in die fruchtbare Wetterau. Diese vorsintflutliche Bretterbude wurde von einer dazu passenden Herbergsmutter geführt. Nachdem wir uns heimisch gemacht hatten und der Streit um die oberen Betten beigelegt war, legten wir so richtig los! Die Nacht wurde zum Tag gemacht und war doch die Nacht. Herrlich!

Irgendwie tat mir die Hexenmutter leid. Sie konnte noch so schimpfen, und das tat sie so ausgiebig, dass ihr der Speichel aus den Mundwinkeln tropfte, gegen unseren Radau kam sie nicht an. Aber auch diese Nacht ging rum! Als die Morgenröte ihre sanften Strahlen aussandte, hatten die meisten von uns Halsweh und die Herbergsmutter war heiser.

Tagsüber besichtigten wir die mittelalterlichen Stadtmauern, das herrschaftliche Schloss, in welchem noch echte Fürsten wohnten und die fruchtbaren Felder, wohl wissend, dass hier das nächste Aufsatzthema lauerte. Wer also zu müde war zum Aufpassen, sammelte fleißig Prospekte, um später davon abzuschreiben.

Am Abend saßen die Älteren von uns am Waldrand zusammen. Wir spürten wohl alle irgendwie, dass der kühle Wind, der uns frösteln ließ, auch langsam unsere Jugend verwehte. Es war einfach schön und so still! Ich gab tiefsinnige Sprüche von mir und kuschelte mich fester in meine Strickjacke. Diese, eine Eigenproduktion meiner Mutter, war zwar nicht warm genug, dafür aber zu allen Gelegenheiten zu gebrauchen. Als der Mond majestätisch am hohen Himmel dahin segelte, besangen wir ihn, und kehrten seufzend in das Hexenhaus zurück. Ganz tief drinnen wusste ja jeder von uns, dass er diese besinnlichen Tage niemals vergessen würde.

Auf dieser Fahrt wuchs ich sportlich über mich hinaus und machte meinen Frei- und Fahrtenschwimmer in einem Rutsch. Der vorgeschriebene Sprung vom Einmeterbrett hätte mir eigentlich schon gelangt, aber für den Fahrtenschwimmer war noch ein Dreimetersprung erforderlich. Herr Lorbach tat alles, um uns die Angst vorm Springen zu nehmen. Das gelang ihm aber nicht so ganz. Der Abstand zum Wasser sah nämlich von oben wesentlich höher aus, als das von unten der Fall war. Aber ich sprang! Was für ein Erfolgserlebnis, das ich mit fünf anderen aus meiner Klasse teilte.

Ich war braun gebrannt, denn wir hatten wirklich Sommer, und ich hatte es erstmals fertiggebracht, mir Zöpfe zu flechten. Die Rattenschwänze waren zwar äußerst mickrig und lösten sich immer wieder von selbst auf, aber es waren Zöpfe! Ein mexikanischer Strohhut auf dem Kopf und eine Sonnenbrille im Gesicht krönte das Ganze. So ausstaffiert fühlte ich mich richtig flott und schick. Und frei! Dieses Gefühl, das Wissen darum, frei und jung zu sein, wurde mir in diesem wundervollen Sommer zum ersten Mal so richtig bewusst.

Die Ferien wurden in diesem Sommer auch voll genutzt. Ich verbrachte drei Wochen davon in der Ostzone. Mit Wolfgang Brandt und zwei jüngeren Kindern aus Kattenbach ging es in ein Ferienlager im verwunschenen Erzgebirge. Begleitet wurden wir von einer gemütlichen, halbkommunistischen Frau aus Auenheim, die ihren Enkel mitbrachte, das liebe Kläuschen. Der kleine Klaus ist ein blond gelocktes Engelchen, das es faustdick hinter den Ohren hat. Er könnte glatt Wolfgangs kleiner Bruder sein. Der guckt auch so treuherzig und ist es nicht.

Dies war ein Projekt der Völkerverständigung, das heißt, der Verständigung der Bundesrepublik mit der Ostzone, die aber nicht Ostzone heißen wollte, sondern sich Deutsche Demokratische Republik nannte. Unsere Kunstlederfabrik hatte damals, als Deutschland noch ein Land war, eine Tochterfirma im Sächsischen. Ja, und darauf besannen sich die Sachsen jetzt und luden ein paar Kinder, deren Eltern in der Kattenbacher Fabrik arbeiteten, zu sich ein.

Man fragte mich beiläufig, ob ich Lust hätte. Und ich hatte Lust. Schließlich sagte sogar meine Mutter immer, ich solle es nutzen, wenn ich Gelegenheit bekäme, etwas von der Welt zu sehen. Es war wirklich eine aufregende Sache. Ich musste mir sogar einen Kinderausweis ausstellen lassen. Darauf wurde mir bestätigt, dass ich wirklich ich sei. Ich durfte dieses Dokument auf keinen Fall verlieren, sonst könnte meine Ausreise aus der DDR gefährdet sein. „Die da drüben warten nur auf so was, die brauchen unverbrauchte junge Leute, um ihren Staat aufzubauen!“ Dies und noch eine Menge anderes dummes Zeug bekam ich zu hören. Als man mir dann auch noch zu meinem Mut gratulierte, freiwillig in die Ostzone zu fahren, wurde es mir doch ein bisschen mulmig zumute.

Der große Tag kam, die Reise ging los. „Lass Dich nicht aushorchen, rede nicht so viel und lehne Dich nicht aus dem Fenster“, meine Mutter lächelte leicht bekümmert und gab mir einen Kuss auf die Wange.

Bis Bebra ging es gut. Wir hatten uns in ein abgeschlossenes Abteil zurückgezogen und grinsten uns in Erwartung der Dinge, die da kommen sollten, verschwörerisch an.

Wolfgang erklärte geheimnisvoll, dass er Ostgeld, also eins zu vier Getauschtes, dabei hatte. „Selbst wenn die Vopos mich durchsuchen sollten, aber das machen sie ja bei Kindern sowieso nicht, die finden das nie!“ Er rieb sich genüsslich einen bestrumpften Fuß am anderen.

„Sicher, die fallen ja auch erst mal in Ohnmacht, wenn Du Deine Socken ausziehen musst, bei dem Käsegestank!“

Leiser Neid regte sich in mir. Ich hatte leider nur so viel Westgeld dabei, wie man mitnehmen durfte. Dafür hatte meine korrekte, oder besser gesagt, meine ängstliche Mutter, schon gesorgt. Das musste ich drüben auch noch eins zu eins umtauschen.

„Wir wollen da kein Risiko eingehen, Ulrike, man weiß ja nie!“ Ich sah das realistischer. Schwarzgeld war doch auch Geld! Im Vorfeld zu dieser Reise hatte ich von so vielen „sicheren Verstecken“ gehört, nicht nur für Geld, sondern auch für Kaffee, Micky Maushefte und Kaugummi. Nur, ich hatte nichts zu verstecken!

Der Rest der Reise war chaotisch, anstrengend und schrecklich. In Bebra warf man uns aus unserem gemütlichen Abteil raus, weil wir keine Platzkarten hatten. Bis Dresden saßen wir im Durchgang des Zuges auf unseren Koffern. Jedes Mal, wenn ich gerade am Einnicken war, musste ein Mitreisender aufs Klo. Das heißt, er stieg über mich hinweg und rempelte mich gründlich an. Das war kein Zug, das war eine Sardinenbüchse. Dazu die übernervösen Reisenden. Viele hatten Angst vor der Grenze. Man schnappte öfter mal Wortfetzen wie diese auf: „Hoffentlich komme ich diesmal rüber. Sie haben mich schon zwei Mal zurückgeschickt! Mein Gott, ich will doch nur meine Mutter besuchen!“

Aus einer anderen Ecke hörte ich die ängstliche Stimme einer Frau: „Hoffentlich lassen sie mich wieder zurück! Ach, wenn ich nicht müsste, keine zehn Pferde brächten mich hierher. Hoffentlich geht alles gut!“

Eine grauhaarige und zerbrechlich wirkende Frau stand am Fenster. Sie blickte unschlüssig in die Nacht, in der irgendwo in der Ferne die Grenze zum anderen Deutschland lag.

„Du weißt, Heinrich, dass ich mich streng nach den Vorschriften richte, niemand soll uns was nachsagen können. Aber meinst Du nicht auch, dass wir zu viele Bananen dabei haben? Iss doch lieber noch eine!“

„Willst Du mich mästen“, knurrte der Angesprochene und versuchte, das Fenster im Gang nach unten zu drücken.

Sofort ertönte es von allen Seiten: „Es zieht, lassen Sie das Fenster zu!“ Als ob dieser kleine Zug im Zug was geschadet hätte! Man kochte ja förmlich im eigenen Schweiß.

Der Mann, der keine Banane essen wollte, drückte das Fenster wieder hoch. Seine kleine Frau hatte aber immer noch so ihre Bedenken. „Ich habe Cousine Betty einen ganzen Schwung Schnittmuster mit genommen. Ob man die verzollen muss, was meinst Du, Heinrich? In den Merkblättern steht nichts davon!“

Der Mitreisende, der auf seinem Rückweg vom Klo wieder über mich kletterte, grummelte vor sich hin: “Sorgen haben die Leute, Sorgen!“

Bei all diesem Durcheinander schnaufte der Zug ungerührt weiter und fraß Kilometer um Kilometer. Ich bekam jedenfalls kaum etwas mit, als wir die Zonengrenze, Verzeihung, die Grenze zur Deutschen Demokratischen Republik passierten. Nicht einmal mein gut trainiertes „Unschuldig aus der Wäsche gucken“ musste ich spielen. Ich verschlief die Zollkontrolle. So einfach war das. Und dann waren wir in Dresden und mussten uns mit unseren unpraktischen, veralteten Koffern durch Menschenknäuel hindurch wühlen. Angelika und Dieter wurden zwischen Wolfgang und mir aufgeteilt. Der große Koffer mit dem kleinen Mädchen entwickelte auch noch ein eigenes Leben, er schlitterte ziemlich unkontrolliert über den Bahnsteig. Mir tat die Kleine leid. Was blieb mir da anderes übrig, als dem spindeldürren Kind auch noch seinen Koffer tragen zu helfen? Über Floh’s Gesichtchen liefen sowieso schon Rinnsale und gruben sich ihren Weg durch Schweiß und Schmutz. Das fing ja gut an! Ich hätte vor Zorn geknurrt, wenn ich nicht zu müde dazu gewesen wäre. Der erste Eindruck ist immer der Beste, lautet eine alte Lebensweisheit. Und dies waren meine ersten Eindrücke vom anderen Deutschland! Zwischendurch hörten wir immer wieder Frau Weinhebers schrille, aber durch die ständigen Wiederholungen kraftlos gewordene Stimme: „Bleibt zusammen, lauft hinter mir her! Passt auf die Kleinen auf!“ Obwohl der Tag noch jung war, schwitzte sie schon gehörig und zog mit letzter Kraft das müde, griesgrämige Kläuschen hinter sich her.

„Genossin Kathinka?“ Ein dürrer Mann kam auf Frau Weinheber zu und lüpfte einen Strohhut, der zu seinen strohblonden Haaren hundertprozentig passte. „Ich soll Euch abholen, Ihr kommt doch aus dem Westen?“

„Hans“, stellte er sich vor, „ich bin Hans, Hans Rascher!“

Mit einem Seufzer der Erleichterung reichte ihm Frau Weinheber die eine Hand und nestelte mit der anderen in ihrer Handtasche, um ihren Personalausweis herauszufischen.

„Ja, wir kommen aus Kattenbach“, strahlte sie.

Wolfgang grinste mich wölfisch an: „Kathinka heißt die, ich lache mich kaputt!“

Ich musste auch lachen, denn die ganze Zeit im Zug, als wir noch ungestört im Abteil saßen, hatten wir versucht, Frau Weinhebers Vornamen heraus zu bekommen. Jetzt wussten wir, warum sie daraus so ein Geheimnis gemacht hatte. Kathinka heißt man einfach nicht.

Kläuschen machte einen mehr oder weniger erzwungenen Diener. Das wunderte mich, denn schließlich war unser Kontaktmann doch Kommunist. Aber seine Oma hatte ihn gut erzogen, oberflächlich zwar, aber wirkungsvoll. Sie selbst schien von innen zu leuchten, so erleichtert war sie, dass man uns nicht vergessen hatte. Sie brachte ja auch ein großes Opfer, denn die Reise in die Ostzone bedeutete, dass sie drei Jahre nicht in die USA reisen durfte. Dort hatte sie nämlich eine Tochter. Wenn sie diese sehen wollte, durfte sie keinen Hauch eines wie auch immer gearteten Kommunismus an sich haben. Das hatte sie uns während der behaglichen Phase unserer Reise selbst erzählt. Aber sie hatte ja gerade eine Amerikareise hinter sich. Die war notwendig, da ihre Tochter im Frühjahr ihr zweites Kind bekommen hatte und sie wurde als Oma gebraucht. Jetzt konnte sie mit ruhigem Gewissen eine dreijährige Pause machen. Schließlich kostete so eine Schiffsreise auch ziemlich viel Geld. Also kümmerte sie sich jetzt um Kläuschen und verschaffte ihm und uns schöne Ferien im Land der Werktätigen und Bauern. Frau Weinheber strahlte stets eine wohlwollende Gerechtigkeit aus, linderte harte Worte, war zu jedermann freundlich und trug immer ein schmerzliches Lächeln zur Schau. Letzteres bestimmt, weil ihr sehr wohl bewusst war, dass wir uns immer noch mitten im Kalten Krieg befanden.

Der strohbehütete Hans wandte sich um, musterte mit geübtem Auge den Rest der Truppe und meinte forsch:

„Na, dann gehen wir erst mal frühstücken!“

Mittlerweile regnete es auch noch und der Boden wurde schnell matschig. So nahmen unsere Koffer zu allem Überfluss noch ein nettes Schlammbad. Aber diese markigen Worte gaben uns mit einem Schlag unseren geballten Lebensmut zurück.

Das Frühstück fand in einer Mitropa Gaststätte statt und bestätigte meine ersten Eindrücke vollkommen.

Das Ferienlager war eine Schule, eine richtige, nach Mief, Gelehrsamkeit und den verhallten Seufzern mehrerer Schülergenerationen riechende Schule. Die Klassenzimmer waren vollgestellt mit Feldbetten, die viel zu schmal waren, besonders für Frau Weinheber. Das konnte man Nacht für Nacht erleben, und zwar immer dann, wenn sie sich umdrehte. Da knirschte und knarzte es bedrohlich. Frau Weinheber selbst ächzte auch. Sie hatte einfach Angst, raus zu fallen. Die Koffer schob man der Einfachheit halber unter das Bett und holte sie morgens vor, um sich was anzuziehen. Große Verschämtheit konnte man sich nicht leisten. Die Bettenzahl hatte sich nämlich in etwa an der Klassenstärke orientiert, also standen jeweils an die dreißig Stück im Zimmer. Alter sechs bis vierzehn, nicht der Betten, sondern der Kinder. Die Betten waren älter, die hatten schon geschichtliche Reife. In unserer Klasse schliefen nur Mädchen. Aufpassen durfte Frau Weinheber. Deshalb hatte man ihr auch zugestanden, dass das Kläuschen neben ihr schlafen durfte. Obwohl er ein Junge war. Und mir wurde die Verantwortung für Angelika aufgebürdet. Umso mehr, als die es fertigbrachte, selbst in dem schmalen Bett klein, ängstlich und hilflos auszusehen. Abends wurde „Gute Nacht“ gesagt von den Helfern, dann ging das grelle Deckenlicht aus und man konnte reden. Ich hatte in weiser Voraussicht eine Taschenlampe mitgebracht, denn ich brauchte abends im Bett mein Quantum Lesestoff. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, so etwas wie ein Papagei unter Spatzen zu sein. Nicht, weil ich so schillernd gewesen wäre, nein, es war ganz einfach. Ich kam eben aus dem Westen, dem Gelobten Land, in dem man so viele Bananen kaufen konnte, bis man sie rückwärts aß. Und der ganze Saal vibrierte vor Neugier. Alle anderen kamen aus Coswig bei Dresden und kannten sich schon ihr ganzes Leben lang. Und weil sich alle so gut kannten, durften sie auch gemeinsam Ferien machen. Sie kannten auch die Helfer, die freiwillig im Ferienlager ihre Ferien opferten, um die Kinder zu betreuen und sie bei der Fahnenstange zu halten. So erfuhr ich, dass unser Abholer Hans ein verdientes Parteimitglied war. Ein anderer Hans, der den schönen, gesamtdeutschen Namen Schmitt trug, war ein drahtiger Sport- und Russischlehrer, nicht verheiratet und erst sechsundzwanzig Jahre alt. Die älteren Mädchen verdrehten schon die Augen, wenn sie ihn nur mal so von ferne witterten. Karla, die grazile Brünette mit dem verhangenen Blick, seufzte immer, wenn sie ihn sah. Dementsprechend hatte er es auch leicht. Jeder seiner Befehle (er nannte sie selbstverständlich Anordnungen oder sogar Bitten), wurde bereitwillig und in null Komma nichts ausgeführt. Morgens, beim Fahnenappell, noch vor dem Frühsport, warf sich jeder ins Zeug, so gut er konnte, um vor ihm zu glänzen. Auch die Jungen, in deren Schlafsaal er seine Nächte verbrachte. Mit Inbrunst schleuderten sie ihre Bannflüche gegen alle möglichen Klassenfeinde hinter der Fahne her, während sie hochgezogen wurde. Dann rannte die ganze Meute enthusiastisch im „frischen Morgenwind“ durch das Gelände. Der flotte Hans immer vorne dran, mit wehenden schwarzen Haaren. Er hatte wirklich etwas von einem Piraten an sich. Aber von einem Feuerroten! Er sprach nicht, er brüllte. Und das so zackig, wie es eben nur ein Anführer oder ein Lehrer kann.

Ich kam immer rechtzeitig zum Frühstück, weil ich die ganzen Spielchen nicht unbedingt mitmachen musste. So genoss ich in aller Ruhe mein Marmeladenbrot und meinen durchsichtigen Kräutertee aus volkseigenem Anbau. Die hungrige Meute fiel immer erst mit Verspätung in den Speisesaal ein, weil sie sich vorher noch duschen musste.

Im Speisesaal thronte unsere Frau Weinheber, die wir jetzt alle Genossin Kathinka nennen sollten. Zu unserem heimlichen Vergnügen und zu ihrem heimlichen Verdruss. Neben ihr saß der andere, der blonde, dürre Hans. Für Ordnung war also gesorgt. Amanda, eine junge Frau mit braunen Locken, einem Grübchen auf der Wange und einem fröhlichen Lachen in ihrem hübschen Gesicht, wieselte zwischen den Tischen herum und passte auf. Also konnte ein Helfer, in diesem Fall eine Helferin, auch hübsch aussehen! Und das in einem Arbeiter- und Bauernstaat! Jeder hatte sie gern. Ich mochte sie auch auf Anhieb! Aber den jüngsten Helfer, der mit seinem warmen Lächeln und den sanften und doch glutvollen Augen einem Filmmagazin entsprungen zu sein schien, den hatte ich noch mehr als gern. Bei dem klopfte mein Herz unkontrolliert und mein Mund wurde trocken, wenn ich ihn nur so nebenbei ansah. Richtig ansehen, so von vorne und ohne was zu denken, konnte ich ihn sowieso nicht. Dann wurde ich knallrot. Und das ganz gewiss nicht aus politischer Überzeugung! Seine kleine Schwester schlief auf der Pritsche neben mir. So hatte ich ein paar Sekunden mehr von ihm, wenn er abends „Gute Nacht“ sagte. Denn auch hier zählen Familienbande. Und Siegfried, der in meiner Vorstellung zum wahrhaftigen „Jung Siegfried“ wurde, hatte Hannelore, die blond und fein wie Kriemhild wirkte, sehr gern.

Sie erzählte mir viel über ihren großen Bruder, auf den sie sehr stolz war. Er war sportlich. Das war ich nicht. Er war überaus musikalisch. Das war ich nicht. Er war begeisterter FDJ’ler. Das war ich auch nicht. Und er war sehr intelligent, Jahrgangsbester in seiner Klasse. Er hatte fest vor, Ingenieur zu werden. Ich hatte mal läuten hören, dass man in der Ostzone nicht unbedingt das werden durfte, was man wollte. Es gab junge Leute, die hätten hervorragende Chirurgen abgegeben, aber aus irgendwelchen Gründen war ihnen dieser Beruf versagt. So mussten sie sich damit zufriedengeben, Friseur zu werden und Haare zu schneiden. Na, immerhin arbeiteten sie auch so mit dem Messer am lebenden Objekt. Hannelore meinte, ihr Bruder würde auf jeden Fall Hoch- und Tiefbau studieren. „Meine Eltern“, meinte sie, „sind sehr pflichtgetreue Staatsbürger!“ Sie sagte wirklich: „pflichtgetreu!“ Also gute Genossen dachte ich. Aber das änderte nichts daran, dass himmelweite Unterschiede zwischen uns klafften. Und doch entwickelte sich ein zartes Pflänzchen in meinem Herzen, das ich mit meinen heimlichen Tränen begoss. Es war so ein Hauch von Frühlingsahnen, eine unbestimmte Sehnsucht in mir, die mich hoffen und bangen ließ. Allerdings wuchs sich das Frühlingsahnen schnell zu einem Wirbelsturm der Gefühle aus. Nämlich immer dann, wenn ich merkte, wie mein Idol ausgerechnet von der süßen Amanda angehimmelt wurde. Und das gefiel ihm auch noch und er himmelte zurück! Da meine furchtbaren Kämpfe sich ganz tief in meinem Inneren abspielten, merkte niemand etwas davon. So lernte ich, mit meinem Schmerz zu leben.

Wir wanderten wenn es regnete, wir wanderten wenn es trüb war, und wir wanderten wenn die Sonne schien. So lernten wir das Erzgebirge kennen. Wir lernten auch, dass, wenn man einen Kirschkern lange im Mund behielt, dieser den Durst verhinderte. So man denn auch nur eine einzige Kirsche hatte, die einen Stein hinterlassen konnte! Obst schien es hier kaum zu geben. Der dürre Hans lächelte, als ich ihn mal daraufhin ansprach. Das Klima sei zu rau. Die verschrumpelten Äpfelchen, die wir manchmal zum Nachtisch bekamen, waren holzig und schmeckten sauer. Aber Hans rief mich manchmal zu sich und steckte mir mit Verschwörermiene einen ganzen, rohen Kohlrabi zu. Und das, obwohl wir, wenn es Kohlrabigemüse gab, immer nur eine Handvoll auf den Teller bekamen. Wohlgemerkt, eine Kinderhand! Das war mir irgendwie peinlich, schließlich wollte ich den Arbeitern und Bauern nicht auch noch ihre Reserven wegessen. Und wenn ich dann, einsam, irgendwo auf dem Gelände, in die Kohlrabi biss, schmeckte sie mir lange nicht so gut wie zu Hause. Das schlechte Gewissen aß nämlich mit. Wir Westler wurden sowieso bevorzugt. Seltsamerweise, ohne den Neid der anderen zu wecken. Ich hatte so meinen Verdacht. Neid, oder besser gesagt, Neid zu zeigen, war strikt verboten. Wir Westdeutschen bekamen auch die Hauptrollen bei dem bunten Abend, den wir am Besuchertag veranstalteten. Ganz egal, wie schlecht wir waren. Als Königin im Dornröschen machte ich mich ja noch ganz gut. Das erhabene Gefühl, eine Krone zu tragen, gefiel mir sehr. Da machte es auch nichts, dass ich mich halb tot schwitzte in dem königlichen Kunststoffgewand aus dem volkseigenen Betrieb in Coswig. Meine Tochter Dornröschen wurde von Hannelore gespielt und die war richtig niedlich. Da die meiste Zeit in diesem Stück geschlafen wird, hatte ich auch nichts weiter zu tun, als still zu sitzen, königlich auszusehen und aufzupassen, wann das allgemeine Aufwachen wieder einsetzte. Da hörte ich, wie Siggi, der einfach so im Publikum saß, seinem Nachbarn etwas zuflüsterte:

„Wenn die Ulrike nicht so jung wäre, könnte man sich glatt in sie verlieben!“

Ich dachte, das Herz bleibt mir stehen. Ansonsten konnte ich überhaupt nicht mehr denken, nur das Eine: „Ich werde älter, das verspreche ich, und dann …“ Ja, was dann? Wir sprachen zwar dieselbe Sprache, lebten aber in zwei verschiedenen Welten. Das hatte ich mittlerweile begriffen, und das Herz tat mir richtig weh bei dem Gedanken.

Der Hofstaat erwachte langsam und ich musste mich auf meine königliche Rolle besinnen. Hundert Jahre waren im Schlaf vergangen. Kommt Zeit, kommt Rat. Wenn die Zeit vergeht, wird man zwangsweise auch älter.

Beim Reporterwettbewerb schilderte ich einen Boxkampf. Ich verstand nicht nur weniger als nichts vom Boxen, ich verabscheute diesen Sport auch, gab aber mein Bestes. Ich kam mit meiner leidenschaftlich vorgetragenen Reportage sogar bis zum Sieg durch k. o. Nachdem ich das Mikrofon falsch gehalten, öfter mal gebrüllt hatte und wie wild herum gestikulierte, wurde ich zum Sieger erklärt und bekam die Medaille. O, es war ein ausgesprochen erfolgreicher Tag gewesen, für uns alle. Wir bekamen viel Applaus von den Eltern. Besonders von Siegfrieds Eltern, die nicht nur ihr Dornröschen beklatschten, das wir uns kurzfristig als Tochter geteilt hatten. Nein, auch die Nebenrollen erhielten viel Lob von ihnen. Und meinen Boxkampf fanden sie so richtig spannend. Nette Leute waren das, richtig lieb. Man merkte ihnen überhaupt nicht an, dass sie Volksgenossen waren. Sie nannten mich doch tatsächlich Fräulein Scholl! Natürlich blühte ich in ihrem Dunstkreis auf und versuchte meine Nervosität zu zügeln. Schließlich waren das Siggis Eltern. „Pflichtgetreue Staatsbürger“ hatte Hannelore von ihnen gesagt. Meine Eltern waren das auch, denn sie gingen immer zur Wahl. Mama meinte nämlich, man sei dazu verpflichtet als guter Bürger. Ob man da immer richtig liege mit seinem Kreuzchen, das stünde auf einem anderen Blatt.

Hier aber, im anderen Teil Deutschlands, gingen die Menschen auch wählen. Sie mussten sogar. Aber, letztlich hatten sie doch keine freie Wahl. Denn: was hat man denn schließlich für eine Auswahl, wenn nur eine einzige Partei auf dem Zettel steht? Meine Schwester hatte mir mal erzählt, wie sie mitgekriegt hat, dass an Wahltagen in der DDR, so gegen Abend, Lautsprecherwagen durch die Gegend fuhren, die dann die Säumigen zur Wahl aufriefen. Das hörte sich etwa so an: „Berliner Straße Nummer achtundfünfzig hat noch nicht gewählt, Berliner Straße … und so weiter. Da wusste sofort jeder, wer sich da drücken wollte und die betreffenden Leute rannten schnellstens in ihr Wahllokal. Das fiel auf!

Lachend und schwatzend schlenderten wir zur „Futterkrippe“, und Siggi schlenderte mit Amanda am Arm davon!

Wenn wir abends noch nicht so richtig müde waren, erzählten wir uns gern Geschichten. Erfundene und wahre. Ich verstand mich besonders gut mit Karla, die in meinem Alter war. Sie hatte ein zartes Näschen, große Augen mit dichten Wimpern, die wie Vorhänge aussahen, und sechs kleinere Geschwister. Sie war also das Erzählen gewöhnt. Von ihr hörten wir all die Geschichten von den volkseigenen Helden der Revolution. Die Story vom kleinen Trompeter, der mit einem so mutigen Lächeln fiel, rührte mich besonders. Ich liebte auch das Lied. Unser Ferienlager hieß „Ernst Thälmann“ und das war natürlich auch ein Held, und zwar einer, den die Nazis im KZ ermordet hatten. Nazis gab es natürlich immer noch, aber im Westen, wusste Karla zu berichten. Ich hatte es nicht gewusst! Und die „Siechreische Sowjetunion“ wimmelte nur so von „Einzischartschen Menschen“, die ihr Leben oder ihr Blut, oder beides, der großen Sache geopfert hatten. So was gab es bei uns genau so wenig, wie Bannflüche ausgestoßen wurden. Ich konnte da nicht mithalten.

Als ich dann dran war mit Erzählen, war ich arm dran! Aber wozu gibt es griechische Tragödien? Da wimmelt es doch auch nur so von Mord, Totschlag, Schuld und Sühne. Ich erzählte also die schaurig schöne Mär von Agamemnons Heimkehr aus Troja und brachte sie wohl recht gut rüber. Als ich zu der Stelle kam, als Agamemnon nach zehn Jahren Belagerung endlich wohlig zuhause in die Badewanne sank und seine liebe Frau bereits die Axt schärfte, war es mucksmäuschenstill im Saal. Das gefiel mir und ich ließ Agamemnon genüsslich in seinem Netz zappeln. Plötzlich verdunkelte ein Schatten den Eingang. Eine Taschenlampe blitzte auf und wanderte in meine Richtung. Ich zuckte vor Schreck zusammen. Da stand der schwarze Hans, wie der Leibhaftige persönlich, in der Tür, und brüllte zornig:

„Was erzählst Du da?“

Mir verschlug es die Sprache, und ich stotterte irgendetwas. Gleichzeitig packte mich ein hehrer Zorn, schließlich hatte ich eine uralte Sage vorgetragen. Wobei, wenn man es genau nimmt, Ehegattenmord eigentlich zeitlos ist.

Eingedenk dessen, dass Hans Lehrer ist, müsste er eigentlich gebildet sein und über Agamemnon und den Troianischen Krieg und das alles Bescheid wissen. Also versuchte ich, mein Herzklopfen einzudämmen und ihm die Sachlage zu erklären.

„Du hältst Dich in Zukunft zurück“, schnarrte er, drehte sich um seine eigene Achse und verkündete:

„Kapitalistischer Blödsinn reinsten Wassers. Schlaft gut!“

Weg war er samt seiner Taschenlampe.

Stille! Nur Karla kroch etwas näher, immer schön vorsichtig, da das Feldbett ziemlich knarzte. Sie kicherte ein bisschen in ihr Kissen und flüsterte:

„Nu, wie geht’s weiter?“


Wir machten auch einen Tagesausflug nach Elbflorenz, wie Dresden so poetisch genannt wird. Als ich nachfragte, wann wir endlich in Dresden wären, wurde ich milde belächelt. Wir waren längst in der Innenstadt. Das begriff ich nicht ganz, da die Häuser fehlten. Der Bus fuhr stundenlang durch leere Straßen. Hans Rascher erzählte von den Bombenangriffen während des Krieges. Dresden hatte darunter wie kaum eine andere Stadt in Deutschland gelitten. Unwiederbringliche Kunstschätze hatten die Amerikaner zerstört. Ganz zu schweigen von dem Völkermord auf dem Dresdner Bahnhof, wohin sich die verzweifelte Bevölkerung geflüchtet hatte. Fünfundzwanzigtausend Menschen kamen in einer einzigen Nacht im Bombenhagel um. Das geschah am dreizehnten Februar 1945, also kurz vor Kriegsende.

Der Bahnhof sieht heute wie ein normaler Großbahnhof aus, das kann ich bestätigen, denn auf dem liefen wir rum, als wir im Land der Werktätigen eintrafen. Die Häusertrümmer waren auch aufgeräumt, beziehungsweise weggeräumt, aber alles wirkte so trostlos und leer und machte mich irgendwie traurig. Meine Heimatstadt war im Krieg auch zu neunzig Prozent zerstört worden, wie man immer wieder hörte, aber man konnte förmlich sehen, wie sie wieder wuchs. Unser Lagerleiter erzählte das alles so, dass ich mich irgendwie schuldig fühlte. Er ließ nämlich des Öfteren einfließen, dass der Westen bei allem ruhig zusehen würde, und wieder ganz dick mit den Amis täte. Ich konnte nichts dafür, aber ganz heimlich in Hinterstübchen freute ich mich, dass ich im Westen zuhause war und wieder dahin zurück fahren konnte. Dort fühlte ich mich freier, weil ich reden konnte, was ich wollte, auch wenn es Unsinn war. Außerdem musste ich mein Gemüse nicht heimlich verzehren, sondern konnte, wenn ich wollte, sogar mit Bananen handeln. Die gab es äußerst selten hier. Und wenn, dann nur auf Zuteilung. Ja, selbst mein Geld, das ich brav eins zu eins umgetauscht hatte, konnte ich nicht ausgeben. Kostbares Meißner Porzellan, für das meine Mutter so schwärmte, durfte man nicht ausführen. Das heißt, kaufen konnte man es schon, aber man durfte es nicht mitnehmen, also außer Landes bringen. Die Schokolade schmeckte fürchterlich, obwohl sie in Dresden erfunden worden war. Auch die übrigen Süßigkeiten ließen zu wünschen übrig. Aus lauter Verzweiflung kaufte ich eine Babydecke für meinen neuen Neffen. Sie war für wärmere Tage bestimmt, da sie aus kühlender himmelblauer Baumwolle bestand und ein Muster aus weißen, hüpfenden Äffchen hatte. Was sollte ich machen, das Geld musste schließlich ausgegeben werden. Wolfgang hatte auch nichts von seinen schwarzen Devisen, außer ab und zu einem heimlichen Bier. Und das hat ihm nicht mal sonderlich geschmeckt.

Der Pavillon des „Zwingers“, dessen Überreste zaghaft restauriert worden sind, gefiel mir jedoch sehr. Darin hatte man eine glanzvolle, zurzeit aber leere Gemäldegalerie untergebracht. Dazu gehörte noch ein Wohnschloss, das aber auch den Bomben zum Opfer gefallen war. Die ganze barocke Pracht hatte der Kurfürst August der Starke erbauen lassen. Das war der kraftvollste Herrscher Sachsens, der schnell mal katholisch wurde, damit er nebenbei noch König von Polen werden konnte. Dieser Klassenfeind der ersten Kategorie verkörperte schlechthin alles, was aufrechte Kommunisten hassen. Bei all der Verachtung und dem rechtschaffenen Zorn, den die Menschen diesem Ausbeuter entgegenbrachten, konnte man förmlich spüren, wie sehr dieselben Leute ihren „Schtorken August“ liebten. Er konnte nämlich echte Hufeisen verbiegen, aber auch massenhaft Kinder zeugen. Das mit den Kindern, das war ja auch reichlich übertrieben. Es sind nur neun gewesen, und bei diesen neun war sogar der Thronfolger eingerechnet. August hatte auch was für Kultur übrig. Dresden wurde unter seinem Zepter zur „Perle Europas“. Die protestantischen Bürger der Stadt, die geschlossen gegen seinen Glaubenswechsel protestierten, durften trotzdem ihre Marienkirche bauen. Bezahlen mussten die Dresdener dieses Wunderwerk aber auch selbst, August war notorisch pleite, weil er in Polen nichts als Krieg, das heißt, ständig Ärger hatte. Der junge Karl, der Zwölfte seines Namens und König von Schweden, kämpfte gegen Peter den Großen. Das Königreich Polen aber war damals mit Russland verbündet. Also waren der Zar und August Freunde. Das wiederum hatten auch die Sachsen auszubaden. Schließlich kostete so ein Krieg viel Geld und die Untertanen wurden auch hier kräftig zur Kasse gebeten. Was für ein Glück, dass der starke August seinen Böttcher hatte. Und das dieser Böttcher zwar kein Gold machen konnte, dafür aber das deutsche Porzellan erfand.

Freunde sind sie jetzt wieder. Nur heißt das jetzt: Die sowjetischen Genossen sind die großen roten Brüder der Bauern und Werktätigen in der Deutschen Demokratischen Republik.

Jetzt spricht man sogar offen davon, das Schloss des Klassenfeindes wieder aufzubauen. Das Elbufer war auch schon wieder schön hergerichtet. Ganz im Sinne Augusts, singend und klingend, und barock. Ja, Sachsen hatte eine Vergangenheit und zwar eine glanzvolle, auch wenn es eine kapitalistische war.

Ein Kunstgenuss ganz anderer Art erwartete uns in Kipsdorf. Ein Heimatabend! Die Veranstaltung fand in einem Wirtshaus statt, das wir von einer unserer Wanderungen kannten. Wir hatten uns dort mal untergestellt, als es wie aus Kübeln goss und wir dem Himmel eine Chance geben wollten, wieder blau zu werden. Was dann auch geschah, aber er wurde doch mehr graublau und nieselte weiterhin verdrießlich. Jetzt jedenfalls war alles aufgeregt, denn wir fuhren mit dem Bus, hatten uns fein gemacht und sahen überhaupt nicht wie Werktätige aus. In dem Wirtshaus gab es eine Bühne für alle, aber für jeden Einzelnen eine Limonade und ein Stück Brot mit Margarine, einer blassen Wurst und einem noch blasseren Stückchen Käse darauf. Die ästhetische Schönheit des Brotes wurde durch einen dekorativen Petersilienstängel abgerundet.

Dann ging das Licht aus, das Publikum verstummte und der Vorhang wehte wie von Geisterhand beiseite. Drei Männer und zwei Frauen in Landestracht begrüßten das herbeigeströmte Volk in der Landessprache. Das Volk, das auch aus Leuten aus dem Ort und der Umgebung bestand, freute sich und grüßte zurück. Wir, das heißt, auch die Sachsenkinder aus dem Ferienlager Ernst Thälmann verstanden kein Wort!

Danach machten sie Musik und sangen traurige Sachen dazu. Man dachte dabei an arme Leute, die, in ihrem Stübchen frierend, an einem Stück Holz herumschnitzten, Hunger in den Augen und Sehnsucht nach Liebe und Wärme in ihren Herzen. Das verstand jeder. Und das gefiel auch den Leuten. Verstohlen sah ich mich um. Karlas dichte Wimpern flatterten verdächtig. Der dürre Hans schnäuzte sich verstohlen, und Siggi – nein, Siggi hatte in seiner Ergriffenheit den Arm um Amanda gelegt. Einfach so, und sie lächelte, ja, sie lächelte ganz entspannt.

Jetzt war mir wirklich zum Heulen!

Die Szene änderte sich jäh. Zuerst erschallten einige Jodler, dann kam die ganze Mannschaft in Lederhosen und Dirndlkleidern auf die Bühne zurück. Die Männer schlugen sich fortwährend auf die Oberschenkel und die beiden Mädchen juchhuten dazu. Dann taten sie so, als kletterten die Burschen bei den Mädchen zum Fenster rein. Aber das war ein ziemlich kläglicher Abklatsch von den hochwertigen Filmszenen, wo echte bayrische Burschen fensterln. Dazu wurde diesmal zünftig gesungen. Es wäre zu schön gewesen, wäre da die Belehrung nicht gekommen. Die Schauspieler erklärten nämlich weitschweifig, dass sie nicht echt seien, es aber so gerne wären. Nämlich vereint, als Bayern und als Erzgebirgler. Schön wäre das und der größte Wunsch jedes Werktätigen ... und natürlich auch der jedes Bauern (das setzten sie schnell hinzu, weil sie merkten, dass es im Saal vor Landvolk nur so wimmelte). Das Volk will es. Aber es darf nicht. Die Regierenden in der Bundesrepublik wollen keine Wiedervereinigung! Und die Amerikaner, diese Kriegshetzer, wollen erst recht kein vereinigtes Deutschland!

Mir wurde warm, ich hatte so ein unbestimmtes Gefühl im Nacken, als würde man mich beobachten. Wolfgang wurde wohl auch ins Visier unserer Helfer genommen. Aber, wie ich den kenne, war ihm so was egal. Mit der ihm eigenen Wurstigkeit grinste er weiterhin dümmlich vor sich hin. Hauptsache, ihm ging's gut. Was scherte ihn der Rest der Welt? Ich hoffte allerdings sehr, mein Gesicht würde genau das ausdrücken, und unseren Gastgebern genau das zeigen, was ich mich jetzt zu denken zwang:

„Ich will die Wiedervereinigung!“

Auch bei uns wurde so viel davon geredet. Jeder Politiker nahm dieses Wort bei jeder Gelegenheit in den Mund. Naja, Klappern gehört zum Handwerk und jeder weiß sowieso, dass diese Politiker, egal zu welcher Partei sie gehören, selbst nicht an die Wiedervereinigung glauben.

Jetzt kommen mir selbst so viel Zweifel. Ich muss daran denken, dass beide deutsche Staaten nach ihrem jeweiligen Geschmack wieder vereinigt werden wollen. Wenn es nach uns geht, das heißt, wenn der Westen darüber bestimmen dürfte, dass wir wieder zu einem Volk verschmelzen würden, wäre es ja gut. Andererseits, wenn es nach denen geht, dann sollen wir auch kommunistisch werden. O je, seit ich hier bin, ist mir erst richtig klar geworden, was für ein Glück ich habe, im westlichen Teil Deutschlands geboren zu sein. Der durchsichtige Tee, die ungenießbare Schokolade und all das, worüber ich nicht reden darf. All die herrlichen Bücher, die regelrecht verboten sind. Ja, da fragt man sich doch, ob das Denken noch erlaubt ist. Ich habe jetzt noch die harte Abfuhr vom schönen Hans im Ohr. Schließlich hielt er Agamemnons Ermordung für kapitalistischen Blödsinn reinsten Wassers. Und so was ist noch dazu Lehrer! Das ist das Schlimmste, nicht denken zu dürfen, was man will, obwohl die Gedanken bekanntlich frei sind. Und jetzt fallen mir auch noch Bananen ein, ganze Bündel davon. Ausgerechnet Bananen. Komisch, ich mag diese Früchte nicht mal besonders. Aber, ich kann, wenn ich will, so viel essen, wie ich will. Also, kann man daraus schließen, dass zumindest der Symbolgehalt von Bananen sehr hoch angesetzt wird. Im Osten wie im Westen!

Nur der Siggi, ja, mit dem zusammenzukommen, das wäre natürlich leichter. Genau so leicht wie für Amanda. Jetzt werde ich richtig rot. Mir kommen einfach die falschen Gedanken. Auf meinem Gesicht sollte man jetzt doch ausschließlich lesen können:

„Ich will die Wiedervereinigung!“

Jetzt gibt es noch so ein Trompetensolo, so eines, das einem durch und durch geht. Die übrigen Ensemblemitglieder singen dazu Seufzer. Ab und zu verirrt sich darin noch ein schluchzender Jodler. Nur eines ist mir nicht klar: „Warum wollen die Erzgebirgler ausgerechnet mit den Bayern wieder vereinigt werden?“

Du, mein Erzgebirge, leb wohl! Alles geht mal zu Ende, auch die Ferien in der Deutschen Demokratischen Republik. Man war „Drüben“ gewesen und hatte was zu erzählen. Im Hochmoor tat ich heimlich einen Schritt vom Wege, nur um ebenfalls erzählen zu können, dass ich mit einem Bein in der Tschechoslowakei gewesen bin. Ein bisschen traurig war ich schon. Besonders der Abschied von Siggi fiel mir noch schwerer als gedacht. Aber, wir versprachen, uns zu schreiben. Und damit der liebe Siggi auch Wort halten konnte, wollte mir Hannelore ebenfalls schreiben. So wurde ihr Bruder immer an seine Briefschulden erinnert. Das war ganz klar eine Prüfung. Denn, wie heißt es so schön:

“Ein kleines Feuer verlischt in der Ferne, doch ein großes wird durch die Entfernung zu einer lichterlohen Fackel!“


Lockenkopf 3

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