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Januar: Raureif auf der Seele

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Agnes fror wie ein Schneider. Noch nie war es in diesem Badezimmer so kalt gewesen! Die heiße Dusche hatte nicht viel bewirkt, denn noch beim Abtrocknen blühte die Gänsehaut wieder auf. Was zeigte denn das Thermometer? 15 Grad! Sie schnappte nach Luft. Seit Tagen stand fest, dass sie ihn am Wochenende besuchen würde und er wusste auch, wie verfroren sie war. Warum hatte er dann nicht eingeheizt? Fröstelnd und hastig zog sie sich an. Der Empfang war auch nicht gerade herzlich gewesen, wenn sie es recht bedachte. Hatte sie irgendetwas falsch gemacht? Sie war sich keiner Schuld bewusst.

Vielleicht hatte seine impertinente Schwester wieder gestänkert. Darauf verstand sie sich ja besonders gut. Konnte es sein, dass Eifersucht dahinter steckte? „Blödsinn“, sagte sich Agnes laut. „Bilde Dir keine Schwachheiten ein!“ Vorsichtig stieg sie die steile Treppe hinab und blickte sich suchend um. Das Haus war trotz seiner 100 Jahre ein echtes Schmuckstück. Das Esszimmer, sein eigentliches Herz, wurde von einem großen Kamin beherrscht, in dem ein Schwedenofen bollerte. Ah – immerhin, hier hatte er für Wärme gesorgt! Sie war erleichtert. Der Tisch war schon für das Abendessen mit Großmutters wunderschönem geblümten Geschirr eingedeckt und das warme Licht der Jugendstillampe spiegelte sich funkelnd in den Kristallgläsern. Sogar an Kerzen hatte er gedacht. Na ja, vielleicht hatte sie sich seine Kühle doch nur eingebildet. Ach herrje, es waren ja drei Gedecke! Die Schwester wurde also auch erwartet. Hatte sie es doch geahnt.

Wieso konnten sie beide nicht öfter ein Wochenende allein verbringen, wie es für andere Paare ganz selbstverständlich war? Nein, immer wieder musste sie die Monologe der Schwester ertragen, denen Fritz gebannt lauschte und die nicht unterbrochen werden durften. Wenn sie wenigstens einen geistreichen Inhalt gehabt hätten. Aber nein! Es wurde das Schicksal der näheren und weitläufigeren Verwandtschaft, enger und entfernter Freunde zuzüglich diverser Nachbarn in ihrer weit entfernten Heimatstadt durchgehechelt. Selbstredend kannte sie niemanden dieser illustren Gesellschaft und konnte daher nicht mitreden. „Das ist ja wohl auch der Zweck der Übung“ überlegte sie missmutig. „Sie will mich mit allen Mitteln vergraulen. Aber warum?“ Ihr blieb dieses Verhalten ein Rätsel.

„Ach, da bist du ja! Du siehst blass aus. Hattest du denn eine gute Reise?“ begrüßte Susanne sie zuckersüß und bot ihre linke Wange dar, die Agnes pflichtschuldigst küsste. Echt, ihr blieb auch nichts erspart. Dieser Person musste sie jetzt stundenlang gegenübersitzen! Für ihr nichtssagendes Gesicht und das kraftlos herunterhängende aschblonde Haar konnte sie ja nichts. Aber statt das Beste daraus zu machen, unterstrich sie mit ihrer nachlässigen Kleidung ihre hausbackene Erscheinung auch noch. Und die Spitze hatte Agnes sehr wohl herausgehört. Blass? Von wegen! Sie war mit einem frischen Teint gesegnet, der wunderbar mit ihrem lockigen dunklen Haar harmonierte. Auch, wenn sie nicht übermäßig eitel war, wusste sie, dass der taillierte rote Pullover, den sie heute zum ersten Mal trug, ihre Farbgebung vorteilhaft unterstrich. Wie konnte eine Frau nur so neidisch sein!?

Aber sie ließ sich nichts anmerken. „Danke, ich bin gut durchgekommen. Den Schneesturm, der sich über uns zusammenbraut, haben sie im Radio erst für heute Nacht angekündigt. Da hab ich nochmal Glück gehabt.“ „Das freut mich“ gurrte Susanne. „Weißt du, wo Fritz ist? Ich will seine Meinung zum Nachtisch hören, den ich mitgebracht habe“. Susanne hielt sich für eine gute Köchin und Fritz unterstützte sie in diesem Glauben. Zu Agnes‘ unvergleichlichem und von ihrem verzückten Freundeskreis zum Kult erklärten Rehrücken hatte er nie mehr als ein „ja, geht“ hören lassen. „Nein, keine Ahnung. Er ist gleich nach unserer Begrüßung verschwunden. Vielleicht wollte er im Garten noch ein paar Kräuter…“ „Hallo, Schwesterherz! Du bringst wieder Glanz in meine bescheidene Hütte!“ Die Geschwister umarmten sich herzlich. Agnes zuckte zusammen, als hätte eine kalte Hand sie berührt. Wann hatte Fritz sie zum letzten Mal so freudig begrüßt? Hatte er das jemals? In diesem Moment wäre sie am liebsten in ihr Auto gesprungen und wieder nach Hause gefahren, in ihre helle, warme Wohnung, in der sie mit ihren Freunden gemütlich zusammensaß und auf deren großem Balkon sie an manchem langen Sommerabend fröhlich feierten. Aber so kurz vor dem Schneesturm? Und wollte sie wirklich klein beigeben?

„Jetzt zeig doch mal, was du uns als Dessert mitgebracht hast!“ forderte Fritz seine Schwester auf und zog sie in die Küche. „Apfelkuchen! Lecker!“ schallte es begeistert durch die offene Tür. Agnes folgte ihnen und schaute sich das Exemplar gepriesener Backkunst näher an. Ein Boden, Apfelschnitze und Zucker darüber. Das hatte sie schon mit 12 Jahren in Mutters Küche alleine fabriziert. Aber gut, sie wollte sich nicht noch weiter in eine negative Stimmung hineinsteigern. Der Kuchen schmeckte sicher besser als der missglückte Schokoladenpudding vom letzten Mal.

Susanne strahlte über das Lob des Bruders. „Du bist doch sicher froh, dass du von uns so verwöhnt wirst, liebe Agnes?“ fragte sie mit einem unschuldigen Augenaufschlag. „Vermutlich hast du wieder nichts Kulinarisches beisteuern können, weil dich dein Salon so auf Trab gehalten hat, stimmt’s?“ Autsch. „Ja, das ist leider richtig. Das neue Produkt von Biostethique hat so toll eingeschlagen, dass ich mich vor dem Ansturm neuer Kundinnen tatsächlich nicht mehr retten kann. Ich bin rundum zufrieden, dass ich da die richtige Nase hatte“, lächelte Agnes, soweit ihr das mit zusammengebissenen Zähnen möglich war. „Aber Fritz, mein Rehrücken an Weihnachten mit dem Mousse au Chocolat als Nachtisch hat dir doch bestimmt sehr gut geschmeckt, oder?“ „Ja, ging so“, meinte Fritz und drehte sich mit seinem Gulaschtopf zur Tür. „Kommt zu Tisch“.

Agnes war der Appetit eben vergangen. Da war er wieder, dieser Spruch. Diese mangelnde Wertschätzung schmerzte sie von Mal zu Mal mehr. Sie strampelte sich ab, um mit ihm die Wochenenden zu verbringen, beteiligte sich zur Hälfte an den Urlaubskosten, an den teuren Geschenken für die Schwester und am Unterhalt für dieses ständig reparaturbedürftige Anwesen und klagte nicht einmal mehr über die mangelnde Zärtlichkeit zwischen ihnen beiden. Sie erwartete keinen Dank, denn in einer Partnerschaft war ein Geben und Nehmen für sie selbstverständlich. Aber Undank? Nein, den hatte sie nicht verdient.

Schweigend nahm sie das Abendessen ein und hörte nur von Ferne das lebhafte Geplänkel zwischen den Geschwistern. Endlich kam die Schlafenszeit und Agnes war froh, sich nach einem anstrengenden Tag und einer langen Autofahrt ausruhen zu können. Als sie aus dem nach wie vor viel zu kalten Bad kam, wollte sie sich noch ein Glas Milch in der Küche heiß machen und tastete sich auf leisen Sohlen, um Fritz und die Schwester nicht zu wecken, die Treppe hinunter.

Eigenartig, durch die halb offene Küchentür drang ein Lichtschein. Und hörte sie da ein Flüstern? Eine seltsame Ruhe und kühle Klarheit überkam sie und sie näherte sich geräuschlos. Was sie sah, drehte ihr den Magen um. Fritz und Susanne standen eng umschlungen am Buffet und küssten sich leidenschaftlich. Nach Atem ringend löste sich Susanne gerade, lehnte ihre Wange an seine Schulter und fragte Fritz: „Wie lange soll das Theater noch weitergehen? Wann hast du sie denn endlich so weit, dass sie sich an deinem Geschäft beteiligt? Nicht, dass sie nochmal in ihren Friseurladen investiert, und wir gehen leer aus! Außerdem bin ich das Schwesterspielen leid! Ich kann es einfach nicht mehr ertragen, euch zusammen zu sehen. Wir beide sind doch ein Paar! Ich hoffe, du vergisst das nicht!“ Sie schien den Tränen nahe. Er drückte sie noch enger an sich. „Susi, ich liebe doch nur dich. Du bist meine ganz große Liebe seit der Schulzeit, das weißt du doch. Mach dir keine Sorgen. Es dauert nicht mehr lang, dann sind wir am Ziel. Wenn ich sie ab dem nächsten Mal wieder umschwärme, wird sie mir überglücklich aus der Hand fressen und …“ Agnes hatte genug gehört.

Mit letzter Kraft hielt sie ihre Panik in Schach, entfernte sich so leise, wie sie gekommen war und packte oben angekommen in wilder Hast ihren kleinen Koffer. Halb angezogen rannte sie Hals über Kopf die Treppe wieder hinunter und schlug die Tür hinter sich zu. Der Schneesturm war im vollen Gange, als sie sich verzweifelt zu ihrem Auto kämpfte. Ohne sich um die dicke Schneeschicht darauf zu kümmern, stieg sie ein, warf ihren Koffer neben sich und fuhr los. Sie wollte weg, nur weg! Halb blind kämpfte sie sich durch das dichte Schneetreiben, umklammerte zitternd das Lenkrad und schrie ihre Verzweiflung laut heraus. Dieses Elend, diese Enttäuschung, diese Niedertracht! In ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander und alles in ihr verkrampfte sich. Die Scheinwerfer der vereinzelten Autos auf der Straße blendeten sie, aber sie steckte in einem tiefen schwarzen Loch und bohrte ihre tränenblinden Augen geradeaus in die flimmernde Nacht.

Nach einer halben Ewigkeit schimmerte von fern ein Licht und beim Näherkommen holten sie die hellen Umrisse einer Raststätte aus ihrer Schockstarre. Hier hielt sie sonst immer an, um sich für die lange Rückfahrt mit allem Nötigen einzudecken. Wie ferngelenkt bog sie ab und hielt auf dem Parkplatz. Lange saß sie dort reglos, den Kopf an das Lenkrad gelehnt. Die Kälte kroch allmählich an ihr hoch und sie fühlte einen Gedanken mehr als dass sie ihn innerlich hörte: „Willst Du denn hier erfrieren? Das ist keiner wert!“

Sie schaute auf und wurde sich jetzt erst des heftigen Sturms, der am Auto rüttelte, und des dichten Schneegestöbers richtig bewusst. Langsam und mit klammen Fingern öffnete sie ihren Koffer, wickelte sich aus ihrem Bademantel, zog sich Jeans und Pullover über ihren Schlafanzug und zog den Reißverschluss ihrer Stiefeletten hoch. Mantel und Mütze angelte sie sich vom Rücksitz. So ausgestattet stapfte sie steif und ungelenk durch den Schnee auf das Gebäude zu, vor dessen großen Fenstern die Schneekristalle im hellen Licht glitzerten.

Bei einer Tasse Kaffee und einem belegten Brötchen, das sie mechanisch kaute, kam sie langsam wieder zu sich. Sie war allein mit der Bedienung, die sich nicht um sie scherte. Was jetzt? Was sollte sie tun? Was machte noch Sinn? Sinn. Die Dinge des Lebens, die sie oft mit Martina diskutierte, ihrer philosophierenden, lebenserfahrenen Nachbarin und Freundin. Sie fand immer eine Erklärung und lieh ihre starke Schulter. Sie griff nach ihrem Handy wie eine Ertrinkende nach dem rettenden Strohhalm.

„Martina Baumgartner“? klang es nach längerem Klingeln verschlafen an ihr Ohr. Sie war zu Hause, Gott sei Dank! Eine Welle der Erleichterung schwappte über sie. Sie war doch nicht allein und verloren.


Wie das Leben so spielt

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