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Februar: Schneeschmelze
ОглавлениеGabriele stand vor dem kleinen Hexenhäuschen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Das also hatte Tante Hetti, die gute Seele, ihr vererbt! Nach dem Lärm der Großstadt war die Stille am Dorfrand, die nur von fröhlichem Vogelgezwitscher unterbrochen wurde, die reinste Erholung.
Vorsichtig öffnete sie das quietschende Gartentor und schlenderte die leicht verschneiten Trittplatten entlang auf die Haustür zu. Links und rechts vom Weg streckten Rosen ihre nackten Zweige der kalten Winterluft entgegen, hier und da lugten blaue oder terrakottafarbene leere Blumenkübel hinter kahlen Büschen hervor. Die grünen Fensterläden waren geschlossen, aber das Häuschen machte trotzdem einen freundlichen Eindruck und schien sie willkommen zu heißen. Ein bisschen Herzklopfen hatte sie schon, als sie den Hausschlüssel hervorkramte, den ihr der Notar am Vormittag übergeben hatte und sie war froh, dass sich die Tür leicht öffnen ließ.
Als sie sich im Halbdunkel des kleinen Flurs zu orientieren versuchte, wurde sie von plötzlich auf sie einstürmenden Erinnerungen fast überwältigt. Natürlich, der Lichtschalter war gleich rechts neben der Tür. Und „ihr Zimmer“ befand sich im ersten Stock. Ob die zweitoberste Stufe noch knarrte? Im Küchenbuffet hatte sie ihr eigenes Fach – und im Wohnzimmer „ihren“ Sessel, auf der nur sie und Hummer, der Kater, sitzen durften. Wie glücklich war sie als Kind gewesen, wenn sie hier ihre Ferien verbringen konnte! Und der verwunschene Garten mit den vielen Versteckmöglichkeiten – und den leckeren Beeren und Früchten! Sie grinste leicht betreten, als ihr einfiel, wie ihre Mutter wegen der Obstflecken auf ihren T-Shirts Stress gemacht hatte.
Das Herzklopfen setzte wieder ein, als sie die Fensterläden öffnete, das Licht hereinließ und langsam durch die Zimmer schritt. Ihr schien alles unverändert, ordentlich aufgeräumt und urgemütlich. Ihre Hetti-Tante hatte immer ein Händchen für ein wohnliches Ambiente gehabt. Tatsächlich, „ihr“ Sessel stand noch am selben Platz. Nur Hummer fehlte, vermutlich war er längst gestorben. Was für ein wunderbarer Spielgefährte er doch gewesen war!
Sie ließ sich mit einem Seufzer in „ihren“ Sessel sinken und schaute durch die großen Türen auf die Terrasse, die in eine kleine, von Büschen und Bäumen umrahmte Rasenfläche überging. Zu Hause. Bei diesem Gedanken spürte sie, wie sich der enge Knoten in ihrem Herzen allmählich löste. Ein warmes Gefühl der Geborgenheit breitete sich in ihr aus und es schien, als ob ihr Blut, das vor Wochen vereist war, aufzutauen begann. Sie lehnte sich zurück und gab sich diesem wunderbaren Aufblühen ihrer Lebensgeister uneingeschränkt hin.
Gabriele wusste nicht, wie lange sie so gesessen hatte – aber als sie aufstand, war sie ein neuer Mensch. Sie war Tante Hetti unendlich und von Herzen dankbar für dieses einmalige Geschenk. Jetzt hatte sie eine solide Basis und konnte voller Zuversicht und Freude ihr Leben neu ordnen.
Zuerst einmal konnte sie endlich aus dem Gästezimmer ihrer Kollegin ausziehen, die sie mitleidig aufgenommen hatte, nachdem ihre Existenz buchstäblich zusammengebrochen war. Seltsam, jetzt konnte sie tatsächlich daran denken, ohne zu einem Eisblock zu erstarren oder in Trauer zu ertrinken. Klaus hatte sie letzten Sommer von heute auf morgen verlassen. Dafür hatte es nicht die geringsten Anzeichen gegeben, alles war wie immer gewesen. Nach dem Frühstück war er zur Arbeit gegangen, sie hatte noch kurz aufgeräumt und war dann wie sonst auch mit der Straßenbahn ins Büro gefahren. Als sie abends heimkam, war er noch nicht zu Hause, was sie nicht erstaunte, weil er in letzter Zeit geschäftlich oft unterwegs war und viele Überstunden gemacht hatte. Dann fand sie die Nachricht. Er war weg. Die Wohnung und das Mobiliar überließ er ihr. Und natürlich die Zahlung der horrenden Miete.
Für sie brach damals eine Welt zusammen. Diesen Mann hatte sie innig geliebt und ihm blind vertraut. Und er hatte ihr nie den geringsten Anlass gegeben, an seiner Liebe zu ihr zu zweifeln. Wie niederträchtig und feige konnte ein Mensch sein? Am nächsten Morgen war sie außer Stande, zur Arbeit zu gehen und meldete sich bei ihrer Kollegin krank. Ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie, die hoch sensible und zart besaitete Frau, nicht seelisch an diesem Tiefschlag zugrunde ging. Carola kam sie am Abend nach der Arbeit besuchen, hörte sich mit versteinerter Miene ihr laut herausgeschluchztes Elend an, packte alles Nötige in einen Koffer und nahm sie mit zu sich. Sie kümmerte sich auch um die Versteigerung der Wohnungseinrichtung und die Suche nach einem Nachmieter. Gabriele wäre dazu nicht in der Lage gewesen.
Die folgenden Monate waren für Gabriele die Hölle gewesen. Der Kummer nagte Tag und Nacht an ihr und ließ sie nicht zur Ruhe kommen, ihr Selbstvertrauen war zerstört, und ihr Lebenswille erlahmte zusehends. Nur die Arbeit und die liebevolle Fürsorge der Kollegin gaben ihr noch Halt. Dann, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, erreichte sie die Nachricht eines Notars, dass ihre Patentante Hetti gestorben war und ihr das Häuschen vermacht hatte. Zum ersten Mal vergaß sie eine Zeit lang ihr Elend und beschäftigte sich in Gedanken mit dieser wunderbaren Überraschung.
„Carola, echt, ich frage mich, wann sie dieses Testament verfasst hat. Sie hat mir nie etwas davon erzählt. Das muss lange vor ihrer Demenz gewesen sein – sie hat mich ja zum Schluss im Heim gar nicht mehr erkannt!“ Carola überlegte. „Du hast mir doch mal erzählt, dass Deine Hetti-Tante Klaus nie wirklich mochte. Sie hatte ja immer einen sechsten Sinn. Vielleicht ahnte sie, dass eure Beziehung eines Tages in die Brüche gehen würde“. Gabriele nickte. Ja, das war durchaus möglich. Die Menschenkenntnis ihrer Tante war in der Tat nicht berühmt, sondern berüchtigt gewesen. „Dann werde ich mich mal um den Busfahrplan kümmern und rausfahren“. Sie lächelte zum ersten Mal nach langer Zeit ihre Kollegin fröhlich an. „Nein, du nimmst mein Auto und ich die Tram“, bestimmte Carola. Es sind nur 20 Minuten und die Busse auf’s Land verkehren ja nur dreimal am Tag. So bist du unabhängig.“
Ja – und nun stand sie hier und konnte es nicht fassen, wie leicht und froh ihr Leben auf einmal war. Sie hatte bisher keine bezahlbare Wohnung in der Stadt gefunden, und plötzlich hatte sie ein Haus! Sie würde sich einen kleinen Gebrauchtwagen leisten und hier in Frieden leben können. Da bewegte sich doch etwas hinten am Fliederstrauch? Sie beugte sich vor. Das war doch …. Nein, das konnte nicht sein. Hummer! Sie riss die Terrassentür auf und rannte ungeachtet der Kälte und der Wasserpfützen auf die Katze zu. Aber nein, das war nicht Hummer. Dieses Kätzchen hatte zwar die gleiche rötliche Farbe, war aber doch noch viel zu jung und schlank. Hummer hatte schon vor ein paar Jahren ein stattliches Gewicht gehabt. Trotzdem, es lief auf sie zu, als würde es sie erkennen und strich schnurrend um ihre Beine. Sie streichelte das Kätzchen ausgiebig und sprudelte all die Koseworte heraus, die sie damals ihrem lieben Hummer gegeben hatte.
Sie war so vertieft, dass sie ihren Beobachter gar nicht bemerkte. „Hallo Gabi! Das ist eine von Hummers Töchtern!“ hörte sie eine Männerstimme rufen und fuhr erschreckt herum. Dicht am Zaun zum Nachbargrundstück stand ein großer, schlanker Mann mitten in voll erblühten Schneeglöckchen und lachte sie an. „Du bist es doch, Gabi, oder?“ „Ja, schon“, erwiderte sie, und überlegte fieberhaft, während sie auf ihn zuging, wer um Himmels Willen er sein könnte. Dann lachte sie befreit auf. „Mensch, Manfred, dich hätte ich fast nicht erkannt! Wie lange ist das jetzt her?" Sie reichte ihm die Hand, die er herzlich drückte. „Das müssen mindestens 10 Jahre sein“, mutmaßte er. „Ich hab in England studiert und gearbeitet und bin letzten Monat hergekommen, um mich um Opa zu kümmern. Er sieht nicht mehr gut. Ich hab echt Glück, dass meine Firma Niederlassungen in Deutschland aufbauen will. So kann ich immer mal herkommen und nach ihm sehen.“
Sie strahlten sich an. „Weißt du noch, wie ich den Apfelbaum deiner Tante geplündert habe? Du hast mich nie verpfiffen! Seitdem hast du bei mir einen ganz großen Stein im Brett!“ Sie lachte. „Und du bist mein Held, seit du mich gegen diesen fiesen Ulrich verteidigt hast. Du hattest Kratzer und blaue Flecken wegen mir und hast sie so stolz getragen, als hättest du eine Schlacht gewonnen!“ Er grinste. „Es war mir eine Ehre. Du warst das hübscheste und netteste Mädchen hier im Dorf und ich habe mich jedes Mal wie Bolle auf die Sommerferien gefreut, weil ich wusste, du würdest da sein. Ich war total verknallt in dich, wusstest du das?“ „Echt“? Gabriele wurde verlegen und schaute kurz zu Boden. „Nein, das wusste ich nicht. Hätte ich auch nie gedacht. Du warst doch der Schwarm der gesamten Weiblichkeit hier im Dorf. Was hätte ich dir schon bedeuten können?“ „Jetzt mach aber mal nen Punkt!“ lachte Manfred. „Hast du wirklich nicht gemerkt, dass dich alle Jungs hier im Dorf angehimmelt haben? So blond, so blauäugig, so grazil – du warst unsere Prinzessin! Ich war mächtig stolz, dass du gern mit mir zusammen warst. Mensch, haben die anderen Jungs mich beneidet!“ Man sah ihm an, dass ihm die Erinnerung daran sehr gefiel. „Was hast du?“ fragte er besorgt, als ihre fröhliche Miene von einer Sekunde zur anderen einem traurigen Ausdruck wich. „Hab ich etwas Falsches gesagt?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Ich dachte nur eben daran, dass mein Lebensgefährte das wohl anders gesehen hat. Der hat mich nämlich Knall auf Fall sitzen lassen.“
Manfred schaute sie mitfühlend an. „Hey, das muss ein echter Idiot sein. Sei froh, dass du den los bist. Weißt du was? Unser Wiedersehen müssen wir feiern. Wollen wir nicht in die „Eiche“ gehen, so wie früher? Aber diesmal genehmigen wir uns etwas Stärkeres als Apfelsaft. Was ist, hast du Lust?“
Gabriele wusste nicht, wie ihr geschah. Sie hatte Manfred immer sehr gemocht und sich manchmal gefragt, was wohl aus ihrem Gefährten aus Kindertagen geworden war. Jetzt stand er leibhaftig vor ihr – irgendwie größer als früher, aber mit dem gleichen verwegenen Grinsen und demselben warmen Leuchten in seinen dunklen Augen. Ja, warum nicht? Sie fühlte, wie eine neue Leichtigkeit in ihr erwachte und ein Hauch ihrer kindlichen Unbeschwertheit zurückkehrte. Sie lächelte ihn an. „Klar, lass uns gehen!“ Er sprang behände über den Zaun, legte ritterlich den Arm um sie, und gefolgt von Hummers Töchterchen liefen sie einträchtig auf das Häuschen zu.