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Erster Tag, Amélie Morels Urlaub wird unerwartet aufregend

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Man hätte an diesem klaren Morgen, die Sonne gab sich redlich Mühe, die frische Juniluft zu erwärmen, nicht weiter weg von der dunklen, der verbrecherischen Seite des Lebens sein können als die kleine Dame, die sich seufzend in ihren Liegestuhl fallen ließ und sich sogleich wieder mühsam und schimpfend hochzog, wer hatte ihr den Stuhl verstellt? Sie schob das Rü­ckenteil zwei Kerben höher, viel steiler, sie mochte es nicht, so flach zu liegen, man fühlt sich so ausgeliefert.

Aufrecht saß Amélie Morel jetzt in ihrem Liegestuhl, der ihr nicht zum Liegen diente, und schaute sich um, ihre Hände lagen auf dem Buch im Schoß. Sie liebte die ruhigen Morgenstunden am Strand. Erst wenige Kindermädchen beaufsichtigten ein paar Kleine, die brav Sand in ihre Eimerchen schaufelten.

Heute Morgen war es warm, geradezu heiß, wenn die Sonne auf die winterblasse Haut brannte, und kühl, geradezu kalt, wenn sie hinter einer Wolke verschwand. Was sie alle paar Minuten tat.

Die kleine Dame im Liegestuhl schloss seufzend die Knöpfe ihrer selbstgestrickten Jacke, die sie ein paar Minuten zu­vor erst aufgeknöpft hatte, holte die Brille aus der Jackentasche und schlug das Buch auf ihren Knien auf.

Heute war das Umblättern ein regelrechter Machtkampf mit dem Wind. Er rüttelte dermaßen an den Seiten, dass man das Buch mit beiden Händen fest umklammern musste. Was Amélie Morel las, hätte einen zufällig vorbeikommenden Spaziergänger höchst erstaunt, wäre sein Blick auf die seltsamen Illu­strationen im Buch gefallen. Ein aufgeschnittener Augapfel, ein gehäuteter Arm mit Knochen und Sehnen, ein trauriges Herz mit abgeschnittenen Gefäßen, roten und blauen … Die Dame las und blätterte konzentriert im gewichtigen Anatomiehandbuch von Poirier, zwar eine alte Ausgabe, aber der menschliche Körper war ja derselbe wie vor vierzig Jahren, nicht wahr.

Es hatte einmal Onkel Fernand gehört. Ein kleiner Landarzt, aber er besaß ein Regal voller medizinischer Fachbücher, die er stolz seine Bibliothek nannte. Niemand wusste nach sei­nem Tod etwas damit anzufangen, so gelangten die Bücher in Amélie Morels Besitz. Wenn überhaupt, würden die Bücher vielleicht ihr als Krankenschwester von Nutzen sein. Und wie sie das waren! Hätte Amélie ein halbes Jahrhundert später gelebt, wäre aus ihr bestimmt ein Fräulein Doktor geworden. Aber zu ihrer Zeit kam keiner auch nur im Entferntesten bei einem Mädchen auf eine solch absurde Idee, ganz abgesehen davon, dass auf dem Land keiner studierte, das war für die fei­nen Leute in der Stadt.

Der wertvolle Bücherschatz blieb in den Kisten während all der Jahre, als sie noch im Krankenhaus Hôtel-Dieu in Nantes arbeitete und im Saal schlafen musste. Auch danach bei Monsieur Milcent, den sie die letzten zehn Jahre gepflegt hatte, gab es in der abgeschrägten Dachkammer keinen Platz für ein Bücherregal. Die Kisten warteten auf dem Dachboden im Elternhaus in Le Breuil. Dort wohnte seit einigen Jahren ihre verwitwete Schwester und seit dem Tod von Monsieur Milcent auch sie wieder. So sah sie Laurent etwas öfter, ihren Lieblingsneffen und ihr Patenkind, Amélie war mächtig stolz auf ihn, aus dem kleinen Laurent war was Rechtes geworden, ein Polizei­inspektor!

Germaine war nicht sehr erbaut über ihren Einzug vor einigen Wochen, aber es war auch Amélies Elternhaus. Die Schwester neidete ihr die zehntausend Francs, die der gute Monsieur Milcent Amélie vermacht hatte. Noch nie hatte sie so viel Geld besessen. Ein kleines Vermögen! Ein Almosen, meinte Laurent, für all die Jahre, die er dich ausgebeutet hat, Tag und Nacht zu Diensten, sechseinhalb Tage die Woche, das hast du mehr als verdient, Tante! Ach Junge, das verstehst du nicht. Bei den Nonnen im Hôtel-Dieu, ja, da hab ich buchstäblich für Gottes Lohn geschuftet. Monsieur Milcent war ihr Patient gewesen und als er sie nachher gefragt hatte, ob sie bei ihm als private Pflegerin arbeiten wolle – zum doppelten Lohn! –, da hatte sie keine Minute gezögert.

Amélie Morel lächelte über das Meer hinaus. Es waren stren­ge Jahre, aber sie hatte viel zu sehen bekommen. Und dann, kaum im Elternhaus eingezogen, hatte sie endlich die Bücherkisten heruntergeholt und war ohne Zögern kopfüber in die Welt der großen Medizin eingetaucht …

An einem solchen Frühsommertag am Atlantik rechnet man mit allem, nur nicht mit den Kapriolen der Wirklichkeit. Die kleine Dame im Liegestuhl, vertieft in das Studium des menschlichen Knies, verspürte nicht den leisesten Hauch eines Vorge­fühles. Obwohl das Ereignis, das in den kommenden Tagen den sorgfältigen Ablauf ihrer Urlaubstage gründlich über den Haufen werfen sollte, bereits geschehen war.

Dabei hätte man hinter der Schaukel den Jungen schon sehen können, der aufgeregt dahergerannt kam.

Aber erstens vermied Amélie Morel den Blick zur großen Strandschaukel, von wo der Wind zeitweise das störende Schrei­en und Lachen der Kinder bis zu ihrem Liegestuhl blies, obwohl der in größtmöglicher Entfernung zur Lärmquelle stand. Und zweitens hatte sie den Hut wegen des Windes tief in die Stirn gezogen. Der heftige Wind der letzten beiden Tage gab heute zwar endlich langsam auf, aber er schob die wenigen grauen Wol­ken, die er finden konnte, vor die Sonne, bauschte mit letzter Anstrengung die blaugestreiften Tücher der Strandkabinen, flatterte über die leeren Liegestühle, fuhr Amélie un­ter den Rock, aber das gewichtige Anatomiebuch auf ihren Knien stoppte ihn, und danach hatte er, wohl aus Rache, um ein Haar mit einer boshaften Böe Amélies Strohhut fortgeblasen.

Der Junge kam näher, man vernahm deutlich seine Rufe.

– Madame! Madame!

Eine solche Anrede betraf Amélie Morel nicht, zudem war ihre ganze Aufmerksamkeit vom Wunderwerk der gekreuzten Kniebänder gefangen, ihr Zeigefinger folgte den verschiedenen Sehnen auf der Illustration. Da wagt man kaum mehr, das Knie zu bewegen, wie leicht könnte solch ein dünnes Riemchen reißen! Man wird ab sofort etwas vorsichtiger die Treppe im Ho­tel hinauf- und heruntersteigen.

Ihr Zimmer befand sich nämlich in der zweiten, günstigeren Etage des Hôtel de la Plage, ohne Aufzug, zudem lagen die kleinen Einzelzimmer alle seitlich, ohne direkten Meerblick. Man braucht schließlich das Meer nicht auch noch vom Bett aus zu sehen, wenn man es am Strand den ganzen Tag vor Augen hat, sagte sich Amélie.

Auf die verrückte Idee mit dem Urlaub im Hôtel de la Plage hat­te ihr Neffe Laurent sie gebracht. Als sie nach dem plötzlichen Tod von Monsieur Milcent, Gott sei ihm gnädig, von ei­nem Tag auf den andern ohne Stellung dastand und nicht wusste wie weiter, schlug er vor, jetzt erholst du dich erst mal, Tante, und machst richtig Urlaub im Hotel! Wie die feinen Leute aus der Stadt, hatte er gesagt und ihr ein Inserat aus dem «Journal de Challans» hingehalten:

«Saint-Georges: Grand Hôtel de la Plage, Zimmer, Speisesaal und Terrasse mit Meersicht – gute bürgerliche Küche – fließend kaltes und warmes Wasser – Badezimmer – Elektrizität – Ga­rage … »

Sie hatte den Kopf geschüttelt, das ist nicht für unsereins, mein kleiner Laurent! Sie kannte einige der ganz großen Grandhotels, sie hatte Monsieur Milcent jedes Jahr zur Kur nach Vichy oder im Frühjahr nach Nizza begleitet. In den Grandhotels gab es im Dachstock Kammern für die Angestellten der Gäste, für die Chauffeure, Kindermädchen und privaten Dienst­boten. Sie wurde meist bei den Zimmermädchen untergebracht. Zu den Mahlzeiten rollte sie Monsieur Milcent jeweils in den Speisesaal, danach aß sie mit dem Personal, oft die Reste. Obwohl sie als Pflegerin von Monsieur Milcent in der Hierarchie der Gästeangestellten ganz oben stand. Die Welten waren säuberlich getrennt, das war völlig in Ordnung. Und oft viel lustiger, was man in der Personalküche doch so alles erfuhr über die Herrschaften der andern! Das Reich der Gäste, nein, das war nichts für Amélie Morel, selbst wenn das Grand Hôtel de la Plage in Saint-Georges längst nicht so nobel war wie die großen Häuser an der Côte d’Azur.

Aber Laurent gab nicht auf, vermutlich hatte er genug vom täglichen Gezänke zwischen Mutter und Patentante. Mit dem Geld, das Monsieur Milcent ihr vermacht habe, könne sie sich mehrere Wochen im Hôtel de la Plage leisten. Ihr jungen Leute habt nie sparen gelernt, hat sie gebrummelt und das billigste Zimmer im Hôtel de la Plage für einen Monat gebucht, vom 20. Juni bis zum 19. Juli. Danach gab es keine freien Zimmer mehr.

Benimm dich aber wie ein richtiger Hotelgast, hatte Laurent ihr eingeschärft. Seit vier Tagen war sie jetzt hier und lernte jeden Tag, sich wie ein richtiger Hotelgast zu benehmen. Heute Morgen zum Beispiel hatte sie ihr Bett nicht mehr selbst gemacht, nachdem Marthe, das Zimmermädchen, eine mollige Kleine mit roten Wangen und zwei dicken Zöpfen um den Kopf, sie gestern beim Anblick des bereits gemachten Bettes verächtlich angesehen und dann wortlos die Tür wieder zugezogen hatte. Ihre Augen sagten, bist ja nur eine von uns, auch wenn du gerne zu denen gehören möchtest! Amélie Morel war ge­kränkt. Sie war doch keine Hochstaplerin!

Nicht einfach, seufzte sie, sich in der Welt der Wohlhabenden zu bewegen. Sie blätterte weiter zum Fußgelenk, dessen Kom­plexität sie noch nicht ganz ergründet hatte. Mitten in ihre Anstrengungen, das Zusammenspiel von Sprungbändern und Seitenbändern zu verstehen, platzte atemlos der Junge.

– Madame! Madame!

Er blieb keuchend vor dem Liegestuhl stehen, aber in respektvollem Abstand. Der Junge kannte sie. Die kleine Dame, die jeden Morgen gegen acht, manchmal noch früher, mit diesem schweren Buch an den Strand kommt und sich immer in den gleichen Liegestuhl setzt, so weit weg wie möglich von der Kinderschaukel, so nahe wie möglich am Wasser, aber auf dem trockenen Sand, so mag sie es, hatte ihm der Portier Monsieur Bertrand gleich am Tag ihrer Ankunft eingeschärft, diese Dame ist eine Frau Doktor aus Nantes!

Darum will er sie holen!

– Madame! Bitte kommen Sie schnell …

Es verschlug dem Jungen die Stimme, er schnappte nach Luft, fuchtelte mit den Armen.

– Madame! Bitte!

Sie reagierte nicht. Ängstlich näherte er sich und blieb dicht vor ihr stehen. Die Dame war in ein seltsames Bilderbuch vertieft. Endlich hob sie den Kopf, leicht verwirrt.

– Mademoiselle, Kleiner, Mademoiselle!

Amélie Morel kannte ihn auch, den Jungen, der bei schönem Wetter morgens die Strandkabinen öffnet und zurechtmacht, der die Liegestühle an den Strand trägt und gruppenweise aufstellt, der Junge, der die Sonnenschirme windsicher tief in den Sand bohrt, mit erstaunlicher Kraft für seinen schmächtigen Körper, dachte sie jedes Mal, wenn sie ihn von der Terrasse des Hotels aus beobachtete, der Junge, der mit dem Rechen über den Sand streicht, Unrat einsammelt, täglich auch die Burgen der Kinder schleift und die ausgehobenen Wassergräben wieder mit Sand füllt, damit keiner darüber strauchle.

– Was willst du denn, Kleiner?

Stirnrunzelnd schaute sie ihn über die Brillengläser an. Sie mag es nicht, wenn man ihre Lektüre unterbricht. Und sie zu allem Übel noch mit Madame anspricht!

Ängstlich ließ der Junge die Hände fallen, schaute zu Bo­den. Er hatte die Frau Doktor gestört und die war jetzt böse ... Die Gäste dürfen nicht angesprochen werden!, hatte ihm Monsieur Bertrand mehrmals eingeschärft.

– Nun erzähl schon, ich beiß nicht!

– Da, da hinten, bei den Dünen, am Boden liegt er, ich hab ge­rufen, Monsieur, geht es Ihnen nicht gut? Monsieur, was fehlt Ihnen? …

Der Arm des Jungen zitterte, als er den Strand entlangwies, in Richtung des wilden Bereiches der Dünen, dort, wo die Bade­gäste nie hingehen.

– Tot ist der, ganz sicher! Ermordet!

– Woher willst du das denn wissen … Wie heißt du eigentlich?

– Gaston, Mada … Mademoiselle.

Über ihre Brillengläser hinweg sah sie den Jungen mit strengem Blick an. Ein Toter, hier am Strand … und sie die erste, die … Nein, eine solche Gelegenheit lässt Amélie nicht ungenutzt vorbeigehen!

– Halt das mal!

Sie drückte Gaston das schwere Anatomiebuch in die Hand und zog sich ächzend hoch, natürlich wird sie nachsehen, wie könnte es auch anders sein. Sie legte das Buch in den Liegestuhl, das würde schon keiner stehlen, nahm die Tasche unter den Arm und stapfte hinter dem Jungen her. Der drehte sich nach ein paar Metern ängstlich um, ob das Fräulein Doktor ihm auch folgte, ob sie ihm glaubte.

Sie gestikulierte mit der freien Hand und murmelte vor sich hin. Was rennst du diesem Jungen nach! Zurück ins Hotel und dem Portier sagen, er soll telefonieren, die Polizei in Les Sab­les-d’­Olonne verlangen, Inspektor Laurent Picot persönlich! Das solltest du tun, Amélie! Sei still! Warum gleich den Laurent belästigen, vermutlich ist es ja nur ein alter Säufer aus dem Dorf, der es gestern Nacht nicht mehr nach Hause geschafft hat ... Die Neugier übernahm jetzt das Kommando, endlich durchbrach mal etwas Außerordentliches die Monotonie der viel zu ordentlichen Urlaubstage …

Der schmächtige Junge hüpfte leichtfüßig über den Sand, er war wie alle Dorfjungen barfuß. Aber Mademoiselle Morels Schnürschuhe sanken bei jedem Schritt tief ein. Sie schnaufte heftig.

Es war weiter als gedacht. Viel weiter. Und die Sonne hatte die letzte Wolke verbrannt und machte sich nun über die Menschen am Strand her.

– Warte Kleiner! Renn nicht so!

Sie zog die warme Strickjacke aus, fächelte sich mit dem Strohhut etwas Luft ins rote Gesicht, bevor sie ihn seufzend wieder aufsetzte und mit der Jacke über dem Arm weiterstapfte. Du hast es gewollt, Amélie, das Abenteuer! Dazu gehört auch der eklige Sand, der in die Schuhe, gar in die Strümpfe drang, wie sie so gezwungen war, hinter dem Jungen her durch den Sand zu hasten.

Ja, der Kleine hatte recht gehabt. Es war kein alter Säufer, der da auf dem Strand seinen Rausch ausschlief, das erkannte die Krankenschwester auf den ersten Blick, als sie zehn Minuten später vor dem Mann stand, der reglos auf dem Rücken im Sand lag. Der war richtig tot und zwar schon seit Stunden. Sie hatte im Krankenhaus einige Tote gesehen.

Und was sie ebenfalls auf den ersten Blick erkannte: Es war kein Fischer, kein betrunkener Vagabund oder sonst ein armer Kerl aus dem Dorf. Ein großer, drahtiger Mann, dem man auch nach Stunden im Meerwasser noch ansah, dass er ein Sommergast aus einer der Familienpensionen oder einem Hotel im Ort sein musste.

Wie kam der Tote an diese verlassene, einsame Stelle weit draußen in den Dünen?

Gaston trat von einem Fuß auf den andern, schwankend zwi­schen Angst, Neugier und Stolz – er hat den Toten gefunden! Man wird in den Zeitungen über ihn schreiben! Er wagte aber nicht, näher heranzukommen.

Amélie Morel ging langsam und in sicherem Abstand um den Toten herum, man darf keine Spuren verwischen, das weiß sie aus den Kriminalromanen. Unnötige Vorsicht, die nächtliche Flut hat alle Spuren, wenn es denn solche gegeben hatte, überspült und verwischt.

Weil sich das Fräulein Doktor nicht mehr rührte, wagte sich Gaston zwei Schrittchen näher.

– Ist er ertrunken?

– Wie soll ich das denn wissen, vermutlich schon.

Sie stemmte die Arme in die Seite und betrachtete den To­ten stirnrunzelnd. Er trug nur einen Schuh, einen leichten ledernen Halbschuh, um den sich braune Algen schlangen und den das Salzwasser ruiniert hatte … der linke Fuß war nackt, nicht nur den Schuh, auch die Socke hat das Meer als Tribut genommen. Seltsam. Eine Hand war zur Faust geballt … Er­trinkt man so?

Sie starrte den Mann auf dem Boden lange an, etwas flimmerte durch ihr Gedächtnis, aber sie konnte es nicht fassen. Flüchtige Bildfetzen tauchten auf und verschwanden wieder, als ob ein Scheinwerfer im Dunkel der Erinnerung über Gesehenes streift und sucht …

Das war es! Die Kleider!

Was war mit den Kleidern des Toten? Tatsächlich war er auf­fällig gekleidet, grünrot kariertes Sporthemd mit weichem Kragen, eine ebenso ungewöhnliche, knallgrüne Hose.

Diese Kleider kannte Amélie Morel.

Vorgestern war ihr im Frühstücksraum des Hotels ein mo­disch gekleideter Herr in grüner Hose mit passendem Karohemd aufgefallen, der allerdings am andern Ende des Speisesaales und von ihr abgewendet saß, sodass sie dessen Gesicht nicht sehen konnte. Sie fand die Kombination sehr apart, sie hatte in all den Jahren mit Monsieur Milcent einen Kennerblick für modische Kleidung entwickelt, es gab in seinem Umfeld einige extravagante Damen und Herren.

Es war der Mann, der jetzt vor ihr lag. Ein Gast aus ihrem Hotel!

Ja, vermutlich war der Mann ertrunken, Algenreste hatten sich in den wirren Haaren verfangen, die Kleider waren durchnässt, er lag auf dem feuchten Strandteil, aber ganz oben, beim Übergang zum trockenen Sand.

Amélie Morel betupfte mit dem Taschentuch die Stirn und fächelte sich etwas Luft unter den Hut. Ihre Gedanken arbeiteten mit Volldampf. Sieht nicht alles so aus, als ob die Flut ihn herangeschwemmt und hier liegen gelassen hat? Ertrunken könnte er an einer ganz andern Stelle sein ...

– Gaston, weißt du, wann Fluthöchststand war?

Das Fräulein Doktor brauchte ihn! Gaston schaute eifrig hin­unter, das Wasser war weit weg, Ebbe, aber es begann zu steigen. Er legte den Finger an die Lippen, eine Geste, die er den Großen abgeschaut hatte …

– Vor etwa sieben Stunden, in der Nacht, Mademoiselle!

Kaum zu glauben, mit welcher Präzision dieser Kleine re­dete. Sie wusste nicht, wie spät es jetzt war, sie nahm ihre kostbare Armbanduhr, auch ein Geschenk von Monsieur Milcent, nie mit an den Strand.

– Gut. Hör mal, du rennst jetzt ins Hotel zurück, sagst dem Portier – aber so, dass es niemand hört! –, er soll sofort den Gen­darmen und den Doktor anrufen. Du kennst die beiden bestimmt? Wenn sie im Hotel ankommen, bringst du sie diskret hierher! Diskret, hast du verstanden?

Der Junge zögerte, auch den Doktor? Aber Sie sind doch hier? …

– Mach, was ich dir gesagt hab! Beeil dich!

Amélie Morel, die leider kein Fräulein Doktor war, aber praktisch so viel wie ein Doktor wusste, schaute lächelnd dem Jungen nach, der im weichen Sand davonhüpfte, als wäre der Teufel hinter ihm her.

Die Sonne brannte auf den Toten mit der grünen, jetzt verschmutzten Hose und dem dazu passenden Karohemd. Sollte man ihn nicht vielleicht zudecken?

Sie sah sich um. Außer Dünengras, trockenen Algen, ausgebleichten Muscheln und wenig Treibholz gab es nichts am Strand. Die Totenwache wird etwas dauern, bis die andern kommen.

Sie setzte sich neben den Toten in den Sand und betrachtete ihn lange – aristokratische Gesichtszüge, männliche Nase, schmale Lippen, zu gerne hätte sie seine Augen gesehen – ein schöner Mann und erfolgsverwöhnt, es gab einige solche Herren um Monsieur Milcent herum.

Sie war aufgeregt. Vielleicht war es ja nur ein banaler Unfall. Vielleicht aber ein Verbrechen! Und sie mittendrin! Denn … gibt es da nicht zu viel Merkwürdiges? Was hatte der Mann so weit draußen in der wilden Düne zu schaffen? Mitten in der Nacht? Und seine auffallende Gesichtsfarbe, rosig, als ob er noch atmen würde, aber gleichzeitig auch dieser verkrampfte Mund …

Gibs zu, Amélie, du möchtest gerne, dass es ein richtiges Verbrechen ist, ein Mord! Sie schnürte ihre Schuhe auf. Dann klopfte sie die Schuhe gegeneinander, damit aller Sand hinausrieselte. Ihre Wangen glühten. Endlich kommt etwas Bewegung in diesen geruhsamen Urlaub! Das erzwungene Nichtstun lähmte sie wie … ja, wie ein Nervengift! Mit Giften kannte sie sich als Krankenschwester ein bisschen aus ... alles eine Frage der Dosierung.

In Strümpfen im Sand sitzend, mit dem Blick aufs Meer, murmelnd und gestikulierend, so fand Inspektor Laurent Picot eine Stunde später seine Patentante neben dem Toten.

Er hatte sich gerade in der Gendarmerie in Challans aufge­halten, als der Anruf kam, und eine halbe Stunde später war er im Hotel eingetroffen und danach gleich mit dem Dorfarzt, Doktor Billaud, in dessen Automobil bis ans Ende des Dünenweges gefahren, unter der Führung des aufgeregten Jungen. Der Portier Monsieur Bertrand hatte auch den Hausburschen mitgeschickt.

Der Hoteldirektor Eugène Leroy, geradezu in Panik, hatte nur ein Fräulein Doktor erwähnt, das den Toten gefunden und als Gast seines Hauses identifiziert habe – welch eine Kata­strophe! Mon dieu! Absolute Diskretion meine Herren! Wer will schon in einem Hotel wohnen, wo die Gäste unter merkwürdigen Umständen ums Leben kommen!

– Das erklärst du mir nachher, Tantchen, warum die glauben, dass du ein Fräulein Doktor bist! Und wie kommt es, dass ausgerechnet du den Toten gefunden hast?

– Es war der Strandjunge. Er hat mich geholt. Außer mir wa­ren nur wenige Kindermädchen am Strand. Sag mal, ist er ertrunken?

Mit roten Wangen zog Amélie Morel sich an Laurents Hand aus dem Sand hoch. Für diese Doktorsache konnte sie wirklich nichts, da hat der Portier sich etwas zusammengereimt.

Der junge Inspektor sah sich um. Die Spurensuche nach der Flut kann man vergessen, zudem sieht es aus, als hätten die Wellen den Körper nur hier angeschwemmt.

Der echte Doktor beugte sich über den Toten, Billaud un­ter­suchte ihn oberflächlich und brummte, ziemlich sicher er­trunken, der Inspektor durchsuchte die Hosentaschen und fand einen amerikanischen Führerschein auf den Namen «Montgomery R. Miller». Ziemlich aufgeweicht, aber noch lesbar.

– Ich hab doch gleich vermutet, dass es ein Ausländer ist!, rief Amélie Morel, kein Franzose würde sich so exzentrisch kleiden! So modisch. Schade eigentlich … fügte sie hinzu.

Niemand kümmerte sich um sie, zu dritt schleppten sie den Toten auf die Düne bis zum Automobil, bestimmt über hundert Meter weit. Der Doktor platzierte ihn wie einen Fahrgast im Fond des Wagens, anders war es nicht möglich, und den Hausburschen daneben, stütz ihn! Kreideweiß war der arme Kerl. Er hatte noch nie eine Leiche gesehen. Der tote Monsieur Miller wurde ins Hotel zurückgebracht, der Doktor wollte ihn noch genauer untersuchen. Der Direktor – absolute Diskretion! – gab ihnen dafür einen unbenutzten Raum im Erdgeschoss, das Zimmer des Chauffeurs, der seine Saisonstelle erst in ein paar Tagen antreten würde. Das Zimmer hatte einen direkten Zugang zum Hof, wo sich die Garagenboxen für die Auto­mobile der Gäste befanden. So würden sie den Toten unbemerkt ins Haus schaffen können.

Amélie Morel und Gaston gingen zu Fuß über den Strand ins Hotel zurück. Da war kein Platz mehr im kleinen Wagen, aber selbst wenn, hätten keine zehn Pferde weder Amélie noch den Jungen in dieses Leichengefährt gebracht. Auf dem Rückweg tanzte Gaston aufgedreht um das Fräulein Doktor herum, die Zeitung … sicher kommt morgen ein langer Artikel … die stellen mir bestimmt viele Fragen … Ihnen auch Mademoisel­le! … Wir werden berühmt …

– Sei endlich still, Kleiner! Du sollst mit niemandem da­r­über reden, hat der Inspektor dir doch eingeschärft. Und geh schon voraus!

Sie musste nachdenken, das Geplapper des Jungen störte sie, etwas mit dem Toten beschäftigte sie, etwas zwickte ihre Gedanken und sie bekam es einfach nicht zu fassen, dieses Etwas ...

Erhitzt und durstig kam sie im Hotel an und ging gleich in die Bibliothek neben dem Frühstücksraum, wo sich auch die Bar befand. Dort war es noch angenehm kühl und ruhig. Sie bestellte eine Limonade mit Eis und ließ sich in einen Sessel fallen.

Zwei Tische weiter saß eine Dame und blätterte durch eine Illustrierte. Sie wirkte mädchenhaft, aber ihr weißes Tailleur war für die Tageszeit und den Urlaubsort doch zu elegant, Amélie Morel musterte sie ungeniert. Ihre Haut war von einer ungewöhnlichen Blässe, sie hatte mit Bestimmtheit nicht den kleinsten Sonnenstrahl abbekommen. Dass mir bloß niemand zu nahe kommt, schien ihre ganze Erscheinung auszudrücken.

Amélie hatte sich gerade etwas von ihrem Strandmarsch erholt und nippte an der erfrischenden Limonade, als die Tür aufging und der Portier eintrat, hinter ihm der junge Inspektor.

Der zog die Augenbrauen hoch, nicht sonderlich erfreut, seine liebe Tante erneut und unerwartet anzutreffen, er hatte sich mit ihr für halb zwölf zum Aperitif auf der Hotelterrasse verabredet. Wohl wissend, dass sie vor Neugier fieberte und al­les wissen wollte. Er ging an ihr vorbei, misch dich ja nicht ein!, warnte sein Blick.

Gekränkt nahm sie das «Journal de Challans» zur Hand, das auf dem Tisch lag, schließlich hatte sie ihn holen lassen. Sie verschwand hinter der Zeitung und spitzte die Ohren.

– Vermissen? Weshalb sollte ich Monsieur Miller vermissen?

Amélie blickte überrascht über den Rand der Zeitung. Die weiße Dame war die Ehefrau des Toten! Sie schaute sich die Dame jetzt unverhohlen an. Ein nettes Gesicht mit regelmäßigen Gesichtszügen, das man gleich wieder vergisst. Sie mochte dreißig, vielleicht auch fünfunddreißig sein. Eine rebellische Haarsträhne stand über ihrem linken Ohr ab, sie hatte sich aus dem strengen Knoten im Nacken befreit, in den Madame Miller ihr dünnes Haar gezwungen hatte.

Die Dame wirkte erleichtert, als sie neben dem unbekannten Herrn, der sie angesprochen hatte, den Portier erkannte. Monsieur Bertrand wand sich nervös.

– Weshalb fragen Sie mich das, Monsieur? Mein Gatte ist heute sehr früh nach Paris gefahren, er muss dort verschiedene Geschäftsleute treffen, die Weltausstellung, Sie wissen schon. Er kommt in einer Woche zurück.

Madame Miller sprach gut Französisch, distinguiert, mein Gatte sagte sie, nicht mein Mann, aber mit einem merkwürdigen Akzent, den Amélie Morel, die keine fremde Sprache beherrschte, als amerikanisch einordnete.

Mit einer Handbewegung bedeutete der Inspektor dem Portier, sich zu entfernen. Er wollte mit Madame Miller unter vier Augen sprechen. Dann warf er einen strengen Blick in ihre Rich­tung – Amélie verschwand hurtig hinter der Zeitung und horchte mit größter Anstrengung, denn Laurent sprach leise.

– Madame, Sie haben ihren Gatten also heute früh noch ge­sehen? Unwillkürlich passte der Inspektor seine Wortwahl an.

– Nein … ich … ich bin leidend und liege nachts oft wach … wir haben eine Suite mit zwei Schlafzimmern … er hat um halb sechs ein Taxi nach Nantes genommen, von dort die Eisenbahn, er musste um ein Uhr in Paris sein … eine Verabredung zum Mit­tagessen … Aber weshalb fragen Sie mich das alles? Ist et­was passiert?

Amélie äugte über den Blattrand. Die Wangen der Madame Miller überzogen sich plötzlich mit roten Flecken, ihre Augen bekamen einen fiebrigen Glanz.

– Was ist passiert, Monsieur? … Ein Unfall mit dem Taxi?

Der junge, unerfahrene Inspektor verabscheute solche Si­tuationen. Gerade als er sich Madame Miller gegenübergesetzt hatte und nach den passenden Worten für seine schlechte Nachricht suchte, stürmte eine junge Dame in den Raum, an Amélie vorbei und blieb dann beschützend neben Madame Miller und mit blitzenden Augen vor dem Inspektor stehen.

– Mit wem haben wir die Ehre?

Das Misstrauen in ihrer Stimme war unüberhörbar. Fürsorglich legte sie ihre Hand auf die Schulter von Madame Miller.

Laurent erhob sich und stellte sich vor:

– Inspektor Picot … und mit wem habe ich die Ehre?

– Adrienne, die Schwester von Madeleine, Madame Miller.

Da Laurent ihr den Rücken zudrehte, guckte Amélie nun un­geniert über die Zeitung.

Adrienne hatte die gleichen ebenmäßigen Züge wie ihre Schwester, aber sie war wie die lebendige Version von Madame Miller, die einer Wachsfigur ähnelte. Selbst ihr Haar glänzte lockig und lebenslustig in einem goldenen Blond, während dasjenige ihrer Schwester fahlblond zu einem braven Chig­non gebunden waren. Adrienne dürfte zahlreiche Verehrer un­ter den jungen Malern hier im Hotel haben! Amélie lächelte.

Ihre Stimme klang jetzt nicht mehr so forsch.

– Was wollen Sie von uns, Herr Inspektor?

Ihr Neffe druckste herum. Aber warum schonungsvoll um den ungenießbaren Brei herumreden, es muss ja gesagt werden.

– Monsieur Miller ist heute Morgen tot am Strand aufgefunden worden. Wir haben ihn ins Hotel gebracht, er liegt in einem Raum im Erdgeschoß. Wenn Madame bitte mit mir kommen würde, um ihn zu identifizieren …

Der junge Inspektor war völlig unvorbereitet, als er den spitzen Schrei hörte und sah, wie Madeleine Miller langsam zu Bo­den glitt, wo sie reglos liegenblieb. Flehend sah Laurent Picot jetzt zu seiner Tante hinüber. Amélie war bereits aufgesprungen und drückte sich zwischen den Tischen hindurch. Jetzt brauchte er sie!

– Hol einen Calvados an der Bar!

Mit Hilfe von Adrienne bettete sie die ohnmächtige Ma­da­me Miller auf das Sofa und hielt ihr dann den Schnaps un­ter die Nase. Die zartbesaitete Dame kam schnell wieder zu sich.

Auf keinen Fall will sie ihren toten Mann sehen, das würde sie nicht verkraften!

Auf ihrer weißen Stirn glänzten winzige Schweißperlen, die geschlossenen Augenlider, durchscheinend wie Pergament, zuckten, sie atmete hektisch, die zarten Nasenflügel flatterten. Es war nichts zu machen, Madame Miller weigerte sich standhaft.

Amélie schaute ihren Neffen mit strengem Blick an und schüttelte den Kopf. Sie befürchtete einen weiteren Schwächeanfall. Die Dame, die zur Witwe geworden war, tat ihr leid. Die Schwester soll sie auf ihr Zimmer bringen und Laurent soll den Doktor nachher zu Madame Miller schicken. Wenn er mit der Untersuchung des Toten fertig sei.

Adrienne sah mit offenem Mund von einem zum andern.

– Sie kennen sich?

Das brachte Laurent Picot auf die Idee.

– Mademoiselle, Sie kennen den Toten ja auch. Würden Sie so freundlich sein und mit mir kommen, um ihn zu identifi­zieren?

– Und? Er war es, nicht wahr? Erzähl schon!

Amélie Morel sprach mit unterdrückter Stimme, denn sie saßen auf der Terrasse des Hôtel de la Plage und rundum waren alle Tische besetzt. Man kümmerte sich jedoch gegenseitig nicht um die Gespräche an den Nachbartischen, wie immer vor dem Mittagessen herrschte eine heitere, appetitanregende Stimmung unter den plaudernden Hotelgästen. Sie beugte sich ungeduldig über den Tisch und hätte beinahe ihr Glas Trousse­pinette umgestoßen.

Laurent Picot zog an seiner Zigarette und stieß den Rauch hastig aus. Bereits die dritte Zigarette in einer halben Stunde, er war nervös. Vor einem Jahr hatte er seine Stelle als Inspektor im kleinen Kommissariat von Les Sables-d’Olonne an­ge­treten, dies hier war sein erster Toter. Der erste Tote, bei dem die Todesursache nicht klar war. Sein erster richtiger Fall! Viel­leicht gar ein großer Fall, von dem jeder Kriminalist träumt … mit Beförderung! … Jetzt bloß keinen Fehler machen, Pi­cot!

Im vorderen Teil der Veranda, wo Tante und Neffe saßen, wurde es wärmer und wärmer, die Mittagssonne brannte prall auf die Markisen. Die Terrasse begann sich langsam zu entvöl­kern, Alt und Jung schritt zum Mittagessen in den Speisesaal, den man den ganzen Vormittag lang mit Zugluft kühl gehalten hatte.

Er bemerkte sehr wohl das Funkeln in Amélies Augen, als sie ihn drängte zu erzählen, was sich danach im Zimmer des Chauffeurs, wo der tote Monsieur Miller lag, abgespielt hatte.

Selbst wenn der junge Inspektor eine bessere Intuition ge­habt hätte, wäre er nie auf die Idee gekommen, dass die ganze Identifiziererei mit einer solchen Überraschung enden würde! Was durfte er seiner Tante erzählen, was nicht? Er schwitzte und rieb seine Handflächen an der Hose ab.

Er steckte die vierte Zigarette an.

– Gib mir auch eine! Amélies Hand kam fordernd über den Tisch.

– Seit wann rauchst du denn?

– Seit jetzt!

Amélie Morel war höchst erregt, ihr erster Toter, nicht wie die im Krankenhaus, nein, ein richtiger Toter, bei dem man nicht wusste, wie er gestorben war, ein Verbrechen! Zu diesem außerordentlichen Ereignis passte die erste Zigarette!

Laurent zuckte die Schultern, die Tante war schließlich alt ge­nug, er zog eine Zigarette und ein weiteres Kartonmundstück aus dem Päckchen, reichte es Amélie und gab ihr mit dem Streichholz Feuer.

– Na ja … mit ziemlicher Sicherheit handelt es sich um einen Unfall, also kein Grund zur Sorge, Tante!

Ach, ihre Sorge war doch, dass es nur ein Unfall sein könnte! Amélie hielt die Zigarette zwischen Zeigfinger und Mittelfinger, wie sie es bei den eleganten Damen gesehen hatte, und zog mit spitzen Lippen am Mundstück. Der Rauch brannte grässlich im Hals, sie hustete heftig.

Laurent Picot schmunzelte.

– Doktor Billaud meint, angesichts der Totenstarre liege der Todeszeitpunkt vermutlich zwischen Mitternacht und zwei Uhr. Niemand weiß, weshalb Montgomery Miller um diese Zeit so weit draußen in der wilden Düne war.

Amélie Morel blickte auf den flimmernden Sand hinaus. Von Zeit zu Zeit nahm sie so nonchalant wie möglich einen kleinen Zug, stieß den Rauch aber sogleich wieder aus. Hörte sie überhaupt zu?

Der Strand hatte sich bereits geleert und brütete unter der Mittagshitze. Nur zwei Köter jagten sich gegenseitig um die geschlossenen Strandzelte herum. Auf der Terrasse flaute das Stühlerücken und Aufstehen um die beiden herum langsam ab. Laurent Picot leerte sein Glas Weißen.

Sie schlug sich mit der Hand vor die Stirn, ich hab’s! Endlich!

– Laurent, den Monsieur Miller hab ich gestern Abend gesehen!

Dieser Herr, dessen Namen sie gestern noch nicht kannte, saß einige Tische von ihr entfernt hier auf der Terrasse, er hatte ihr den Rücken zugekehrt und trank einen Whisky. Sie saß bei ihrem Schlummertrunk, Pflaumenlikör, und hatte sich mit Madame Legrand, ihrer Tischnachbarin im Speisesaal, darüber gewundert, weshalb die Engländer und Amerikaner Whisky, dieses bittere Getränk, so liebten. Gegen elf war Monsieur Miller aufgestanden und an den Strand hinuntergegangen. Er hatte den Lichtschein durchquert, den die Terrassenlaternen auf den Sand warfen, und sich Richtung Strandcafé entfernt, das noch geöffnet war, und war dann im Dunkeln verschwunden ...

– Ich habe mir nichts dabei gedacht, Laurent ... er muss da­nach in den Dünen spazieren gegangen sein ... Weshalb? Der Himmel war bedeckt, die Nacht war dunkel und windig ...

– Und jetzt kommt’s, Laurent! Es ging mir die ganze Zeit im Kopf herum: die Kleider!

– Was ist mit seinen Kleidern? Ziemlich ausgefallen, ja.

Amélies Stimme überschlug sich beinahe:

– Monsieur Miller trug gestern Nacht, als er in die Dünen spazieren ging – was wir vermuten, nicht wahr! – andere Kleider! Eine unauffällige dunkle Hose und ein gestreiftes Hemd!

– Bist du dir da ganz sicher, Tante?

– Ja, ja! Mit der grünen Hose und dem Karohemd hab ich ihn nur einmal an einem Vormittag gesehen. Das ist doch sehr merkwürdig, nicht wahr, Laurent?

– Hm, nicht unbedingt, vermutlich ist er einfach zurückgekommen und hat sich umgezogen.

Amélie Morel sah ihn zweifelnd an. Diese Erklärung war ihr viel zu banal …

Auf der Terrasse saßen jetzt nur noch sie beide, alle andern Ho­telgäste hatten ihre Plätze im Speisesaal eingenommen. Un­geduldig wartete sie auf die angekündigte Sensation. Sie war hungrig und es wurde langsam unerträglich heiß draußen. Sie hatte ihren Neffen zum Mittagessen ins Hotel eingeladen.

– Komm, gehen auch wir endlich essen! Der Service hat be­stimmt schon begonnen. Du erzählst mir alles auf dem Weg zum Speisesaal!

Laurent nickte, drückte seine kaum angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und stand auf. Galant reichte er seiner Tante den Arm. Sie errötete. Das noble Hotel färbte auf ihren kleinen Neffen ab.

– Jetzt erzähl endlich!

Doktor Billaud hatte den Inspektor im Chauffeurzimmer ungeduldig erwartet. Man hatte ihn heute Vormittag mitten aus der Sprechstunde geholt. Über zehn Patienten warteten vermutlich geduldig oder weniger geduldig auf seine Rückkehr. Der Hoteldirektor Monsieur Leroy schwirrte wie eine aufgeregte Hornisse im Gang umher und hielt allfällige Angestellte, die sich dorthin verirren sollten, von der Tür fern, die ins Zimmer führte, wo der Tote einstweilen lag. Bis man weiß, was weiter mit ihm geschehen soll.

Als der Inspektor mit Adrienne im Zimmer stand, in dem ihr toter Schwager lag, war das selbstsichere Fräulein doch ziemlich blass, ihre Lippen zitterten ...

– Mademoiselle Adrienne gefällt dir, gib’s zu!, Amélie tätschelte lächelnd den Arm ihres Neffen.

– Ach was!, Laurents Wangen röteten sich, unterbrich mich nicht ständig, Tantchen, wenn du hören willst, was sich ereignet hat …

Im engen Raum war es stickig, die Läden vor dem Fenster waren zugezogen, ein kümmerliches elektrisches Deckenlicht brannte. Laurent Picot schwitzte in der drückenden Stille, die der Tod verbreitete. Ein modriger Algengeruch hing im Raum, vermutlich von den Kleidern des Toten, vom auffälligen rotgrünen Karohemd und der grünen Hose. Auf der andern Seite der Zimmertür, die auf den Flur hinter der Rezeption führte, lachte fröhlich das ahnungslose Leben, helles Stimmengemurmel drang von außen in den dämmrigen Raum.

Der Tote, der auf der mit einem Leinen abgedeckten Matrat­ze lag – das Bett war nicht gemacht, Kissen und Wolldecke hat­te man schnell zur Seite geräumt – war mit einem zweiten Laken zugedeckt. Die rechte Hand blieb sichtbar, zur Faust geballt.

Doktor Billaud wandte sich leise an ihn, der Tote habe verschiedene Schürfungen und Kratzer im Brustbereich, am Hals und im Gesicht, die könnten von Steinen im Wasser stammen …

Es herrschte eine nervöse Reglosigkeit im Raum, die ihm merkwürdig vorkam. Aber die Situation, der ertrunkene Miller, aufgebahrt auf dem Bett des künftigen Chauffeurs, war ja alles andere als alltäglich.

– Darf ich?

Doktor Billaud war bereit, das Laken vom Gesicht des Toten zu ziehen. Er nickte und bemerkte mit Erleichterung, dass der Doktor das Gesicht des Toten etwas gereinigt und ihn gekämmt hatte.

Zögernd trat die Schwägerin des Miller Montgomery näher. Ihre Augenlider bebten.

– Ich … ich hab noch nie einen Toten gesehen … der Tod verändert das Gesicht.

– Ja, zudem hat der Mann mehrere Stunden im Salzwasser gelegen ...

– Geht es, Mademoiselle?, fragte der Doktor nach einer Weile besorgt.

Sie nickte tapfer.

– Es ist Montgomery, ja.

In dem Augenblick – Doktor Billaud wollte gerade das La­ken wieder über das Gesicht des Toten ziehen – wurde die Tür aufgerissen und Madame Miller stürzte ins Zimmer, gefolgt vom händeringenden Hoteldirektor Leroy, der es nicht ge­schafft hatte, sie aufzuhalten.

Sie rannte zum Bett und blieb wie angewurzelt vor ihrem toten Mann stehen, sie zitterte am ganzen Körper und schrie mit dünner Stimme, die dem jungen Inspektor in den Ohren wehtat:

– Nein, nein, das kannst du mir nicht antun … Montgomery, nein!

Dann warf sie sich über den Toten und schluchzte fassungslos.

War das ein Tumult in dem engen Zimmer! Die untröstliche Madame Miller auf dem Gesicht des Toten … ihre erschrockene Schwester … der hysterische Hoteldirektor … der brummige Doktor Billaud, der endlich nach Hause wollte ... und mittendrin er selbst, der jetzt dringend eine Zigarette gebraucht hätte.

Laurent brach ab, er blieb vor dem Speisesaal stehen und hielt seine Tante zurück, er will die Geschichte draußen zu Ende erzählen, das ist nichts für die allzu neugierigen Ohren und Münder der Tischnachbarn.

Amélie brannte vor Neugier.

– Erzähl endlich, beeil dich! Die tragen schon die Suppe auf!

Hinter der Glasscheibe der Doppeltür sah man die Kellner ihre Servicewagen, auf denen große silberne Schüsseln dampften, zu den Tischen fahren.

– Ja. Jetzt kommt’s!

Der Doktor hatte versucht, Madame Miller sachte wegzuziehen. Sie aber klammerte sich an das Laken, zog so die Bedeckung, ohne es zu wollen, mit sich ... ihr toter Mann lag bis zum Hosenbund nackt da, das Hemd war offen. Madame Miller bemerkte durch die Tränen ihr Ungeschick, sie wollte das Tuch wieder auf den Körper ihres Mannes legen … und stutzte ab­rupt ... sie beugte sich über seinen Bauch und starrte, reglos ...

Im Zimmer war alles verstummt. Draußen ging das Leben weiter, die Tür zum Hof schloss nicht sehr gut, das Zufahrtstor quietschte, man hörte einen Motor knatternd in den Hof fahren und schließlich stehen bleiben, eine Fehlzündung knallte im Auspuff, Stille, dann schlug eine Wagentür zu, und eine Stimme rief etwas Unverständliches.

– Das … das kann nicht …

– Wie bitte?

– Der … der Mann da … ich glaube, es ist nicht mein Mann …

Verschüchtert schaute Madeleine Miller, die wie ihre Schwester nie zuvor einen Toten gesehen hatte, den Doktor an.

Der Doktor kratzte sich am Hinterkopf und schaute den Inspektor an.

– Aber Ihre Schwester und der Herr Hoteldirektor ebenfalls haben ihn eindeutig …

– Nein!

Die Stimme der zarten Witwe Miller klang mit einem Male resolut, als ob eine unerwartete Hoffnung ihr plötzlich Kraft verliehen hätte.

– Der da ist nicht mein Gatte! Der sieht aus wie Montgo­mery, aber er ist es nicht!

Amélie Morel riss die Augen auf.

– Das hat sie tatsächlich gesagt, die Ehefrau?

– Ja, Doktor Billaud meinte, wohl ein klarer Fall von Augenverschließen vor der Realität.

Durch die Glasscheibe der Speisesaaltür drang das vertraute Stimmengemurmel beim Mittagessen, Gelächter, eifriges Besteckeklappern und Gläserklirren. Als Laurent die Schwingtür öffnete, wurden die Geräusche sehr laut, und die Fischsuppe dampfte schnell ihre Düfte in die Eingangshalle hinaus.

– Man kennt das, Kinder machen vor etwas Bedrohlichem die Augen zu, dann existiert es nicht mehr … Madame Miller wird akzeptieren müssen, dass ihr Mann tot ist, meinte der junge Inspektor altklug.

– Die merkwürdigen Umstände seines Ertrinkens reichen mir vollauf als Komplexität! Jedenfalls habe ich eine Autopsie angeordnet. Um sicherzugehen, dass er ertrunken ist. Die Leiche wird nach La Roche-sur-Yon ins Gerichtsmedizinische gebracht ...

Amélie kribbelte ein Schauder über den Rücken. Denn ein verwegener Gedanke drängte sich in ihrem Kopf hervor.

Da Laurent vor seiner Tante in den Speisesaal trat, sah er nicht, wie sie eine hoffnungsvolle Augenbraue hochzog.

– Und wenn sie recht hat, die Ehefrau?, fragte Amélie Morel hinter seinem Rücken.

Die schiere Wahrheit

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