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Die beiden Schriftsteller: Wie man in eine Kriminalgeschichte einsteigt und Glausers Zweifel

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Simenon dreht sich zu seinem Begleiter um.

So, den Anfang hätten wir! Selbstverständlich lässt sich daran noch herumfeilen und das eine oder andere Adjektiv streichen, wie üblich. Aber mal eine erste Skizze. Es kommt ja sehr darauf an, nicht wahr, cher collègue, wie man in eine Geschichte einsteigt. Ob man dem Leser die Möglichkeit gibt, den künftigen Toten erst als lebendigen Menschen kennenzulernen, oder ob das Opfer bereits zu Beginn tot ist. Diese Variante scheint mir für unser Vorhaben besser geeignet …

Die beiden stehen im Sand am Rand der Düne. Weiße Wolken mit grauen Bäuchen jagen vor der Sonne durch, ihre Schatten rasen über den Sand, hell, dunkel, hell, dunkel.

Also, Glosère, was halten Sie von dieser Ausgangslage für eine Kriminalgeschichte? Eröffnet dieser Anfang genügend Möglichkeiten für die weitere Entwicklung der Handlung? Sie müssen jetzt Ihren Stüdère in die Geschichte bringen und ich übernehme danach wieder mit meiner Amélie und ihrem In­spek­torneffen und so weiter. Mal sehen, wohin uns das führen wird …

Der große Simenon fragt, was er, Friedrich Glauser, vom Anfang der Kriminalgeschichte halte! Glauser ringt zwischen Stolz und Verlegenheit um die richtigen Worte.

Er wüsste nicht, was ändern, murmelt er schließlich neidvoll.

Seine Anfänge … Herrjeh … Auch er wirft sie zügig hin und dann – geht meist nichts mehr. Die Handlung verliert sich wie ein Trampelpfad im dichten Unterholz und man kommt nicht weiter … Oder man sieht wie beim «Matto» vor lauter Details die ganze Handlung nicht mehr. So abgeplagt wie mit diesem Roman letztes Jahr hat er sich nicht mal mit seinem Legionsroman! Den ganzen Anfang musste er mehrmals umschmeißen. Und die unzähligen Umarbeitungen der leidigen «Fieberkurve» … der Roman will einem einfach nicht gelingen. Man muss immer wieder von vorne anfangen, und er will und will keine Form annehmen, obwohl man Erfindungsgabe und Ar­beit daran vergeudet!

Man kommt so langsam dahinter, wie schwer es ist, einen passablen Kriminalroman zu schreiben. Er hat gemeint, dass man mit ein paar gelungenen Details einen Roman auf die Beine stellen könne. Das stimmt nicht, leider gar nicht. Das ist es, was man in Selbsterkenntnis und Selbstkritik festgestellt hat. Es ist immer die alte Geschichte! Man merkt plötzlich, dass man eigentlich noch gar nichts kann.

An die Amélie Morel, lacht Simenon, muss er sich allerdings erst gewöhnen … aber die eigenwillige kleine Dame wird es schaffen, ihrem etwas naiven Neffen die Würmer aus der Nase zu ziehen und hartnäckig ihre eigenen Ideen zu verfolgen. Mal sehen, was hinter dem merkwürdigen Tod des Monsieur Miller steckt ...

Messieurs! Messieurs!

Die Stimme klingt seltsam tönern, beide Männer drehen überrascht die Köpfe.

Nur wenige Meter hinter ihnen sitzt auf dem Dünenrand eine merkwürdige Gestalt. Wie ist sie dahingekommen? Weder Simenon noch Glauser haben etwas gesehen oder gehört. Gut, nicht verwunderlich, so vertieft in ihre beginnende Kriminalgeschichte, wie die beiden waren. Die Gestalt winkt mit einer Holzkrücke.

Messieurs! Kommen Sie näher!

Wie eine Stimme – eine Männerstimme – aus dem Grab, Glauser überfällt eine Gänsehaut. Erst als Simenon ein paar Schritte auf die Gestalt zugeht, folgt er ihm. Der Mann trägt ein braunes Kostüm, altmodisch aber sauber, eine Hand steckt in der Jackentasche. Der Ärmel flattert seltsam schlapp im Wind. Da steckt kein Arm mehr drin. Und das Gesicht des Einarmigen … Glauser weicht zurück. Ebenmäßige Züge, ein faltenloses Gesicht … Ein Frauengesicht!

Der Mann mit dem schönen Frauengesicht schwingt sich mit Hilfe der Krücke auf die Beine. Messieurs! In seiner Stimme hört Glauser nun unverkennbar einen spöttischen Unterton. Sie haben Glück, Messieurs, heute steht Kassandra vor Ihnen. Eine Prophezeiung für einen Sou! So billig erfahren Sie nirgends die Wahrheit!

Sein Lachen klingt schauerlich und hohl. Der Mann trägt eine Maske, eine stilisierte griechische Frauenmaske.

Simenon schmunzelt und kramt in den Hosentaschen nach Kleingeld. Er scheint den Einarmigen zu kennen und drückt ihm ein Geldstück in die Hand. Wir hören!

Merci, Monsieur! Sehr großzügig! Ich kenne Sie. Sie sind Gast im Hôtel de la Plage. Sie bekommen Ihre ganz persönliche Weissagung …

Die Maske schweigt und schaut über das Meer. Das nicht schön blau ist, sondern bräunlich wegen des aufgewühlten Sandes. Glauser, gebannt zwischen Schauer und Faszination, rührt sich nicht.

Im Anfang ist schon das Ende gespiegelt, nickt die Maske – hoheitsvoll kommt es Glauser vor – den beiden Männern zu und wendet sich zum Gehen.

Der Einarmige entfernt sich mit seiner Krücke seltsam elegant durch das hohe Dünengras, obwohl er ein Bein nach sich zieht, und verschwindet in einer Senke.

Glauser rührt sich nicht, wer ums Himmels willen war das?

Simenon zuckt die Schultern, ein Kriegsversehrter, einer der vielen … das halbe Gesicht weggeschossen … Er hat ihn schon mehrmals am Strand gesehen. Ein Bettler, wie es scheint. Aber nicht aufdringlich, er weiß, was sein Anblick auslöst.

Einer der vielen jungen Männer, denen der Krieg die Zu­kunft amputiert hat. Dem Großen Krieg hat man eine ganze Generation geopfert, man hat ihr Leben auf dem Schlachtfeld zerstört oder verstümmelt. Vielleicht schlimmer noch, in all den Körpern, die äußerlich heilten, bleiben die verstümmelten See­len zurück. Und die sieht man nicht.

Für Simenon ist der Einarmige eine Mahnung, die immer wieder die Narbe des Vergessens aufreißen soll, damit nie wieder … Er holt Luft, er hat Glück gehabt, er war bei Kriegsbeginn erst elf.

Glauser ebenfalls. Hat Glück gehabt. Dass er Schweizer war und sein Land sich irgendwie aus dem Krieg rauszuhalten vermochte. Denn er war bei Kriegsbeginn achtzehn, und wäre er Franzose oder Deutscher … Er erzählt Simenon nicht, dass er die Rekrutenschule als Gebirgsartillerist absolviert hat, danach aber als dienstuntauglich entlassen worden ist.

Jetzt holt Glauser tief Luft, seine Weissagung – was halten Sie davon?

Simenon zuckt erneut die Schultern, schweigt diesmal. Er lässt sich nicht von irgendwelchen Sprüchen beeinflussen.

Auch Glauser schweigt. Und wenn die Prophezeiung stimmt? Wenn der Anfang ihrer Geschichte das Ende unweigerlich schon enthält? Vielleicht spiegelbildlich, als Palindrom? Ohne dass man als Autor sich dessen bewusst ist? Bei einem Kri­minalroman – ist der Autor nur das Werkzeug der Geschichte eines Verbrechens, die erzählt werden will? Völlig absurd! Glauser schüttelt energisch den Kopf.

Lassen wir den Einarmigen! Sind bloß Sprüche, der hat einige solche in petto. Simenon legt die Hand auf Glausers Arm, der aufgeschlagene Ärmel seines Hemds flattert.

Monsieur Glosère, wir müssen nun ihren Commissaire Stüdère in unseren Fall mit dem ertrunkenen Montgomery Miller einführen. Offiziell wird er mit Inspektor Picot ermitteln, aber in Wirklichkeit wird er es mit Amélie Morel zu tun bekommen, denn sie wird ihre Nase überall reinstecken … Ich lasse ihren Spürsinn die Zusammenhänge aufdecken und nicht den un­er­fah­renen Neffen Laurent Picot …

Glauser verzieht skeptisch den Mund. Die Jungfer Morel wird seinen massigen Wachtmeister Studer nicht so leicht um den Finger wickeln können wie ihren Inspektorneffen. Sein Sturkopf von Studer holt in verzwickten Situationen zwar schon mal Rat bei seiner Frau Hedy, aber den Fall löst immer noch der Mann! Jawoll! In ihrer Geschichte muss Studer auf unbekanntem Terrain im Ausland eine Ermittlung durchführen, schwierig genug, und dann kommt ihm noch eine gwund­rige Weibsperson in die Quere, die ihre eigenen Ideen zum Fall hat … Wenn das nur gut kommt ...

Glauser wagt nicht, etwas zu sagen, ein Wort zu viel und der Traum als der Glauser mit dem Simenon … löst sich auf wie Rauch im blauen Himmel …

Er fröstelt im aufkommenden Wind und ist hungrig, Geld für ein Mittagessen hat er keines.

Erwartungsvoll schaut Simenon seinen Begleiter an. Legen Sie los, cher collègue, das ist ihr Part! Haben Sie eine Idee, wie wir den Stüdère hierher an den Atlantik und in die Geschichte bringen?

Ja, hat er. An Geld mangelt es Glauser immer, an Ideen nie.

Die schiere Wahrheit

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