Читать книгу Winterzeit in der Amselstraße - Ursula Häbich - Страница 7

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Rettung in letzter Minute

Endlich war der Winter da. Der See, der sich ganz in der Nähe der Amselstraße befand, war zugefroren. Viele Kinder standen am Ufer. Einige Jungs warfen Steine auf das Eis. Silke hatte schon Schlittschuhe mitgebracht. Die kleine Monika zog einen Schlitten hinter sich her. Alle standen am See, aber keiner traute der Eisdecke.

„Wir sollten einen Versuch wagen“, raunte Michael seinem Freund Stefan zu. Nach kurzem Zögern gingen sie einige Schritte von den anderen Kindern weg.

Stefan setzte sich an das Ufer und hielt Michael an der ausgestreckten Hand fest, der sich vorsichtig auf das Eis gestellt hatte. Er hielt Stefans Hand fest umklammert, dann stieg er wieder ans Ufer. Er traute der Eisdecke nicht. Niemand wusste, wie dick sie war und ob sie wirklich tragen würde. Da kam ein rotbackiger Junge angeradelt. Es war Oliver. Einige Kinder kannten ihn vom Sehen. Er war neu in der Amselstraße. Vor wenigen Wochen war er mit seinen Eltern in Haus Nr. 7 eingezogen.

Oliver beobachtete die Kinder. War das seine Gelegenheit? Sollte er seinen Mut beweisen? Er hatte auch Angst, aber er wollte nicht daran denken. Er wollte den Kindern aus der Amselstraße zeigen, dass er kein Feigling war. Wenn das gelingen würde, dann wollten sicher alle mit ihm spielen. Er stellte sich vor, wie Stefan und Michael seine Freunde sein würden. Selbstsicher, mit erhobenem Haupt, alle Angst vertuschend, schob er sein Fahrrad ans Ufer.

„Was soll da passieren?“ rief er keck. Alle Blicke waren neugierig auf ihn gerichtet. Oliver hob zuerst sein Fahrrad aufs Eis, dann stieg er selbst nach. „Ob das gut geht?“ tuschelten einige Mädchen. Der Eiskünstler hatte sich aber schon auf den Sattel geschwungen und gab eine Vorführung. Immer noch schauten die anderen abwartend und kritisch zu. Da drehte Oliver eine Runde, fuhr freihändig, streckte die Beine kurze Zeit aus. Die Kinder waren begeistert. Einige klatschten, andere verlangten Zugabe. Das feuerte Oliver so richtig an. Er setzte zur zweiten Runde an. Da passierte es.

Oliver hatte die Kontrolle über sein Fahrrad verloren. Mit voller Wucht knallte es auf das Eis. Der Lenker hatte beim Aufprall ein Loch in die Eisdecke geschlagen.

„Lass dein Fahrrad! Leg dich flach auf die Eisdecke. Beweg dich nicht!“ Es war Stefan, der jetzt Befehle austeilte. „Michael, du rennst zu Olivers Mutter, Haus Nr. 7. Ich rufe die Feuerwehr an!“ Die beiden rannten los. Nach einigen Schritten drehte sich Stefan nochmals um und rief den Kindern am Ufer zu: „Passt auf, dass er liegenbleibt! Keiner von euch geht aufs Eis, ihr könnt ihm nicht helfen!“ Letzteres hätte er nicht zu sagen brauchen, das war allen klar.

Reglos lag Oliver auf dem Eis, neben ihm war ein dunkles Loch. Die Minuten erschienen ihm wie Stunden. Seine Jacke fühlte sich sehr nass an, weil das Eis unter ihm schmolz. Plötzlich krachte es wieder. Ein weiteres Stück Eis brach ein und damit sein Fahrrad. Es verschwand im dunklen Wasser. Olivers Herz schlug bis zum Hals, so groß war seine Angst.

„Tatü-tata ...“, alle waren erleichtert, dieses Signal zu hören.

Der Feuerwehrhauptmann ließ das Fahrzeug so dicht wie möglich an den See heranfahren. Dann ließ er die am Auto angebrachte Rettungsleiter in ihrer ganzen Länge ausfahren. Nun wurde sie in Olivers Richtung ausgesteuert. Oliver war inzwischen starr vor Kälte. Seine Jacke war ganz nass, das bedeutete, dass das Eis unter ihm taute. Am liebsten wäre er der Leiter entgegengekrochen. Er hörte den Hauptmann aber immer wieder rufen:

„Bleib liegen! Beweg dich nicht!“

Das summende Geräusch verstummte. Die Leiter war also in ganzer Länge ausgefahren. „Noch mehr nach rechts aussteuern, senken!“ Das war das letzte Kommando. Ein anderer Feuerwehrmann setzte sich ans Steuer. Der Hauptmann kletterte, mit einem Strick ausgerüstet, auf die Leiter. Wieder hörte man seine laute Stimme:

„Oliver, näher heran kann ich nicht. Ich werfe dir ein Seil zu. Versuch es mit den Händen zu fassen. Steh nicht auf! Achtung!“

Das Seil kam, aber Oliver konnte es nicht greifen. Der Hauptmann zog das Seil ein, um es erneut zu werfen. Unter den Kindern am Ufer herrschte größte Spannung. Inzwischen waren viele Leute aus der Amselstraße herbeigekommen. Olivers Mutter stand ganz dicht am Ufer. Sie war vor Schreck ganz blass.

„Lass dich nicht entmutigen“, rief der Hauptmann, denn der zweite Versuch missglückte ebenso.

Noch etwas nach links aussteuern!“ befahl der Hauptmann den Leuten im Auto.

„Achtung, jetzt!“ Das Seil flog zu Oliver, er griff danach. In diesem Moment hörte man ein lautes Krachen. Durch seine Bewegung gab das Eis nach. Der Hauptmann zog das Seil ein. Oliver hing wie ein nasser, tropfender Sack dran. Er hatte das Seil erwischt.

Am Ufer jubelten die Kinder. Olivers Mutter weinte vor Erleichterung.

Kurze Zeit später lag Oliver in Decken gehüllt und mit Wärmflaschen versehen im Bett.

Keiner schimpfte oder tadelte ihn wegen seines leichtsinnigen Verhaltens. Die Angst, die er auf dem brüchigen Eis ausgestanden hatte, war Strafe und Lehre genug.

Eigentlich fühlte er sich sehr müde. Sobald er jedoch seine Augen zumachte, sah er die Rettungsleiter und das Rettungsseil über sich. Dann sah er den Hauptmann. Ja, der Hauptmann war sein Retter in letzter Minute. Einige Minuten später und er wäre eingebrochen. Oliver mochte sich gar nicht vorstellen, was beinahe passiert wäre.

Plötzlich fiel ihm ein, dass er auf das Eis ging, weil er den Kindern gefallen wollte. Er wollte ein Held sein, um Freunde zu kriegen. Nun war er ein Verlierer. Er schämte sich.

„Ich möchte sie alle nicht mehr sehen“, flüsterte er vor sich hin, wusste aber, dass er die Kinder schon am nächsten Tag in der Schule sehen würde.

Wenige Minuten später flüsterte er wieder, nun war es kein Selbstgespräch mehr, sondern ein Gebet: „Bitte, Jesus, vergib mir, dass ich so ein Angeber war, das magst du nicht. Bitte schenke mir Freunde in der Amselstraße, ich möchte dazugehören. Amen.“


Winterzeit in der Amselstraße

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