Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 2 – Familienroman - Ursula Hellwig - Страница 6
ОглавлениеIm ganzen Haus war es noch still, nur vom nahe gelegenen Kirchturm hörte man die Glocke sieben Uhr schlagen, als Magda in die große Küche trat. Die tüchtige Köchin von Sophienlust war seit jeher eine Frühaufsteherin, und auch heute genoss sie die frühmorgendliche Ruhe im Haus. Sie ging zu den beiden großen Fenstern, von denen man in den weitläufigen Park schauen konnte, und öffnete sie weit.
Sofort strömte frisch duftende Morgenluft in die Küche. Magda schloss die Augen und nahm einen tiefen Atemzug. Dann schaute sie hinaus in den schönen, gepflegten Park und ließ ihren Blick langsam darüberschweifen.
Auf der großen grünen Rasenfläche lag noch der feuchte Morgentau und hinterließ einen funkelnden, silbrig glänzenden Schleier. In den Wipfeln der großen alten Bäume bewegten sich die Blätter sanft im leichten Wind. Die aufgehende Sonne strahlte ins Zimmer und Magda fühlte die Wärme auf ihren Armen.
Einige Momente blieb sie noch am Fenster stehen und freute sich über ihr großes Glück, in Sophienlust zu sein. Es war ein wunderbarer Ort, mit wunderbaren Menschen, und sie war schon lange ein Teil davon. Dafür war sie sehr dankbar und gab ihre ganze Liebe und Freude an alle Bewohner des Hauses weiter.
»Jetzt aber genug geträumt«, ermahnte sie sich selbst und streckte energisch die Arme aus. Dann begann Sie tief ein- und auszuatmen. Fast gleichzeitig ging sie, ein wenig steif in den Knochen, in die Knie und richtete sich anschließend langsam wieder auf.
Magda hatte in der letzten Zeit bemerkt, dass ihre Beweglichkeit ein wenig eingeschränkt war und ihr Rücken manchmal schmerzte. Ihr Arzt hatte aber keine Krankheit feststellen können und ihr geraten, täglich Gymnastik zu machen. Lachend hatte er ihr gesagt, dass das Alter und ihr gutes Essen wohl der Hauptgrund für ihre Beschwerden wären.
Die Köchin hatte sich die Worte ihres Arztes zu Herzen genommen und angefangen, täglich Bewegungsübungen zu machen. Sie wollte ja noch lange für alle Bewohner in Sophienlust kochen und backen. Denn sie wusste, dass gutes und gesundes Essen sehr wichtig für die heranwachsenden Kinder war, und auch die Erwachsenen aßen mit viel Appetit die frisch und mit viel Liebe zubereiteten Mahlzeiten der leidenschaftlichen Köchin.
In die Stille hinein fing der Wasserkessel auf dem Herd
hörbar an zu pfeifen und holte Magda damit aus ihren Gedanken. Rasch beendete sie ihre Gymnastikübungen am offenen Fenster. Sie warf noch einen schnellen Blick in den Park und sah die beiden Hunde Anglos und Barri miteinander im Gras toben. Anglos war eine Dogge mit viel Kraft und Energie und Barri ein älterer und behäbigerer Bernhardiner. Trotzdem tollten sie jetzt beide mit wehenden Ohren, wie zwei junge Hunde, durch den Park. Magda lachte als sie es sah, dann wandte sie sich wieder dem kochenden Wasser auf dem Herd zu und goss eine erste Kanne Tee auf.
Als sie einige Minuten später wieder in den Garten schaute, sah sie, dass die beiden Hunde wie angewurzelt auf einem Fleck standen, die Ohren gespitzt, und gebannt in Richtung Waldrand schauten. Auch Magda blickte jetzt neugierig in diese Richtung und erwartete ein Reh oder ein anderes scheues Waldtier zu entdecken.
Aber es war kein Tier, das die Aufmerksamkeit der beiden Hunde geweckt hatte. Es war eine kleine weiße Gestalt, die scheinbar über dem Boden am Waldrand entlangschwebte. Die Köchin rieb sich mit ihren Händen erstaunt die Augen und schaute erneut in Richtung der hohen Bäume und sah, wie die Erscheinung in den Wald hineinhuschte und Sekunden später im Dickicht der Bäume verschwunden und nicht mehr zu sehen war. Die Hunde saßen nach wie vor wie versteinert im Garten und schauten unablässig in die Richtung der hohen und dichten Bäume.
»War das ein Geist? Ein echter Geist? Spukt es in Sophienlust? Oh, das ist so aufregend. Meinst du, das Gespenst kommt mich auch mal besuchen?«, ertönte ein kleines bekanntes Stimmchen aufgeregt neben Magda. Die schrak zusammen und stieß die Luft aus.
»Heidi! Wie kannst du mich so erschrecken«, raunzte sie die kleine Frühaufsteherin an, die unbemerkt zu ihr in die Küche getapst war. Doch sie meinte es nicht so, denn gleich darauf tätschelte sie liebevoll Heidis Blondschopf.
Heidi schmiegte sich an die Köchin. »Aber ein kleines bisschen habe ich auch Angst. Ob das Gespenst ein liebes Gespenst ist?«
Magda schüttelte den Kopf, entspannte sich und schaute zu dem kleinen Mädchen neben sich. Heidi war noch im Schlafanzug, der Haarschopf zerzaust, und in den klaren blauen Augen fanden sich noch Reste vom Sandmann.
Liebevoll fragte die Köchin: »Heidi, warum bist du so früh schon wach? Das ist ja ganz ungewohnt, wo du doch heute ausschlafen kannst?«
»Ich habe unter meinem Fenster Geräusche gehört und bin wach geworden. Als ich aus dem Fenster schaute, sah ich einen kleinen Geist durch den Park laufen«, antwortete das Mädchen ernst und schaute mit großen Augen erwartungsvoll zu Magda.
»Also, du hast auch was am Waldrand gesehen? Ich habe etwas schweben sehen und die Hunde wohl auch. Die saßen ganz still und haben ganz gespannt zum Wald geschaut«, sagte die ältere Frau und machte eine kleine Pause. »Das war aber sicher nur eine Nebelschwade oder so etwas. Du brauchst keine Angst zu haben. In Sophienlust gibt es keine Geister. Das wüsste ich, denn ich bin schon so lange hier.«
Magda schüttelte noch mal, ihre Worte bestärkend, den Kopf und legt ihre Hand beruhigend auf den Haarschopf des kleinen Mädchens. Heidi schaute zu ihr auf und erwiderte den Blick einige Sekunden, dann zuckte sie unbekümmert mit den Schultern und wandte sich zum Esstisch. So ganz hatte sie die Erklärung der Köchin nicht überzeugt, und außerdem war es viel spannender, wenn es einen Geist in Sophienlust gab. Sie nahm sich vor, später im großen Garten suchen zu gehen.
»So, jetzt genug mit dem Unfug und weiter im Tagesgeschäft«, sagte Magda betont munter und ging zum Kühlschrank. »Für dich gibt es jetzt erst einmal einen guten warmen Kakao. Der wird dich beruhigen und auf andere Gedanken bringen.«
Ihr Blick wanderte aber auch noch einmal zum Waldrand und dann zu den Hunden. Die beiden tollten schon wieder über die Wiese. Alles war wie immer, und ein neuer, schöner und ereignisreicher Tag in Sophienlust konnte beginnen.
*
»Elisabeth, Sissi, Sissikind, wo bist du denn?«, rief Karin Schneider leise durch den ersten Stock des kleinen Hauses und ging aufgeregt und schnellen Schrittes durch alle Zimmer. Leise öffnete sie die Zimmertür ihres ältesten Sohnes Moritz und spähte hinein. Der Vorhang vor dem Fenster war zugezogen und ließ nur einen kleinen Lichtschein durch. Es war nicht möglich, irgendetwas in dem Zimmer zu sehen. Karin schüttelte den dunklen Pagenkopf und stöhnte leise. Wo war nur das Kind? »Sissi?«, flüsterte sie ins Dunkle hinein. »Elisabeth, bist du hier?«
»Was willst du Mama? Es sind Sommerferien und ich kann ausschlafen, Sissi tut das wahrscheinlich auch«, kam eine schlaftrunkene Antwort aus dem hinteren Teil des Zimmers.
»Ich suche sie. Sie ist nicht in ihrem Bett, nicht in ihrem Zimmer und nicht im Haus. Ich kann das Kind nicht finden. Es ist noch früh, und ich mache mir große Sorgen«, antwortete Karin leise in Richtung ihres Sohnes. »Aber wenn sie nicht bei dir im Zimmer ist, muss ich weitersuchen. Mach dir keine Gedanken, ich werde sie schon finden. Schlaf weiter und genieße deinen ersten Ferientag.« Vorsichtig schloss die junge Frau die Tür und ging zur Treppe.
Sie hatte jetzt überall im ersten Stockwerk nach Elisabeth gesucht. Hier war sie jedenfalls ganz sicher nicht, deswegen wollte sie jetzt noch einmal sorgfältig im Erdgeschoss und Garten nach ihr schauen. Aber sie fand ihre kleine Nichte nicht im Haus, und auch draußen hatte sie kein Glück. Elisabeth war wie vom Erdboden verschluckt, und Karin begann sich ernsthaft Sorgen zu machen.
Erst der furchtbare Autounfall, dann die überstürzte Abreise ohne ihre Mutter von Gut Sommerfeld und dann noch der Verlust ihres Koffers während der Bahnfahrt hierher, den sie im Zug in all dem Wirrwarr vergessen hatten, mussten dem Kind in der letzten Zeit sehr zugesetzt haben.
Das kleine Mädchen war mit seiner Mutter im Auto unterwegs gewesen, als ein anderer Wagen ihnen die Vorfahrt nahm und es zum Unfall kam. Glücklicherweise hatte Elisabeth nur ein paar oberflächliche Schrammen, aber ihre Mutter erwischte es schlimm. Claudia Bernshausens gesamter Oberkörper war mit Schnittwunden und Prellungen überzogen und sie erlitt größere Verletzungen an beiden Beinen. Sie, Karin, war sofort nachdem sie von dem Unfall erfahren hatte, mit dem Zug zu ihrer Schwester nach Nordheim auf das Gut Sommerfeld gefahren, um für sie und das Kind da zu sein.
Die Gutsbesitzer waren Claudias Arbeitgeber, ein Diplomat und eine bekannte Opernsängerin. Beide hatten ein paar Tage vorher mit dem zehnjährigen Sohn eine lange Auslandsreise angetreten und konnten sich daher nicht um Claudia und ihre siebenjährige Tochter kümmern.
Für ihre Schwester konnte Karin nicht viel tun, sie war vorerst gut im nahe gelegenen Kreiskrankenhaus aufgehoben. Dort war sie sofort operiert worden. Im Anschluss an den Krankenhausaufenthalt war eine längere Rehabilitation geplant. Die Schwestern hatten besprochen, dass Elisabeth, genannt Sissi, mit ihrer Tante Karin nach Wildmoos fahren und so lange dort bleiben sollte, bis Claudia wieder vollständig hergestellt war und nach Hause konnte.
Das Krankenhaus lag in der Nähe von Gut Sommerfeld, daran war nichts zu ändern. Aber die längere Rehamaßnahme konnte in einer Klinik in Maibach durchgeführt werden, und das war in unmittelbarer Nähe zu Karins Wohnort. So könnten Mutter und Tochter so viel Zeit wie möglich zusammen verbringen, und auch für Karin würde es einfacher sein, sich um ihre Schwester zu kümmern.
Das Klingeln des Telefons holte Karin aus ihren Gedanken, und schnell nahm sie den Hörer ans Ohr. »Ja, Schneider?«, meldete sie sich, weil sie nicht aufs Display geschaut hatte. »Oh, Robert, guten Morgen! Das ist gut, dass du anrufst. Ich kann Sissi nicht finden. Sie ist wie vom Erdboden verschluckt, ich mache mir Sorgen«, berichtete Karin. »Hast du heute Morgen in ihr Zimmer geschaut, bevor du gegangen bist?«
«Guten Morgen, meine liebe Frau. Es ist schön, deine Stimme zu hören«, sagte ihr Mann am anderen Ende der Leitung und machte dann eine kleine Pause, bevor er weitersprach: »Nein, ich habe nicht nach ihr geschaut. Es war ja auch erst vier Uhr. Da schlafen die Kinder noch, und ab heute sind Ferien. Ich hatte keinen Grund, nach ihnen zu schauen. Aber jetzt mach dir keine Sorgen. Dem Kind wird schon nichts passiert sein, sie hat sich sicher versteckt und du hast sie noch nicht gefunden. Sie kennt sich ja gut bei uns und in der Umgebung aus. Die Jungs und Sissi haben ja schon immer viel Verstecken gespielt. Auch draußen im Garten und in der nahen Umgebung. Spätestens wenn sie Hunger bekommt, taucht Sissi wieder wohlbehalten bei dir auf.«
Robert redete ruhig und sachlich und hoffte damit, seiner Frau die Angst zu nehmen. Er kannte seine kleine Nichte seit ihrer Geburt und wusste, dass sie ein kluges und vernünftiges Persönlichen war. Niemals würde sie einfach so von zu Hause weglaufen.
Das kleine Mädchen war etwas ganz Besonderes in ihrer aller Leben. Er und Karin hatten drei Söhne. Es waren zweifelsohne freundliche und aufgeschlossene Jungs. Aber eben auch richtige Jungs: Sie kletterten mit Vorliebe auf hohe Bäume, bauten Staudämme im eiskalten Bach hinter dem Haus und schlichen auch schon mal in der dunklen Nacht über den Friedhof und erzählten sich dabei gegenseitig Gruselgeschichten.
Robert musste lachen, als er an sie dachte. Zimperlich waren sie nicht, auch nicht der jüngste. Aber alle drei trugen ihr Herz auf dem rechten Fleck. Und in dem Moment, als die kleine Cousine Elisabeth geboren wurde, schworen sie sich untereinander, immer und ewig auf Sissi aufzupassen. Und dem kamen sie auch vorbildlich nach.
»Was meinst du? Wo könnte sie sein? Hast du eine Idee?«, fragte Karin und holte ihn mit ihrer Frage aus seinen Gedanken zurück.
»Was ist mit den Jungs? Wissen die nichts? Die drei wissen doch sonst immer ganz genau, wo ihr Prinzesschen ist«, antwortete er und konzentrierte sich jetzt ganz auf das Gespräch mit seiner Frau. Er konnte die Unruhe in ihrer Stimme hören, und er bedauerte, jetzt nicht an ihrer Seite sein zu können.
Unter der Woche verdiente er sein Geld als Lastwagenfahrer. Er arbeitete für eine große Spedition und hatte einen sicheren Job. Das Gehalt war gut, und am Wochenende war er zu Hause. Aber in der Woche musste er oft weit weg von zu Hause in seinem LKW übernachten. Dann konnte er nicht bei seiner Frau und den Kindern sein, und Karin trug ganz alleine die Verantwortung für alle. Diese Situation machte Robert oft traurig.
»Gut, dann vertraue ich jetzt darauf, dass sie spätestens nach Hause kommt, wenn sie Hunger hat. Sie kennt sich hier in der Gegend ja gut aus und hat sich sicher nicht verlaufen. Vielleicht ist sie ja auch gar nicht aus dem Haus gegangen und ist noch hier irgendwo ganz in der Nähe«, meinte Karin etwas ruhiger.
»Ja, ich glaube auch, dass du dir keine Sorgen machen musst. Elisabeth kennt sich aus, und sie ist ja kein ganz kleines Kind mehr. Für ihr Alter ist sie ja auch schon sehr vernünftig. Sicher taucht sie gleich aus irgendeiner Ecke auf und ist ganz erstaunt darüber, dass du dir Sorgen machst«, antwortete Robert und legte dabei seine ganze Zuversicht in die Stimme. »Du sagst mir aber gleich Bescheid, wenn sie wieder da ist?«, fügte er noch an. Karin bejahte den Wunsch, und dann legten sie auf.
Robert startete den Motor seines LKWs und fuhr wieder vom Rastplatz auf die Autobahn. Er hatte jetzt noch drei Stunden Fahrt vor sich, dann hatte er den ersten Kunden erreicht. Viele weitere Stunden lagen noch vor ihm. Erst am Freitagmorgen würde er wieder zu Hause sein.
Karin ging hinüber in ihre kleine Wäscherei, die direkt neben dem Wohnhaus lag. So konnte sie immer schnell nach dem Rechten und vor allem nach den drei Jungs schauen, wenn die Zeit es zuließ. Sie war seit einigen Jahren selbständig und hatte sich einen festen Kundenstamm aufgebaut. Das Geschäft lief gut, und zusammen mit dem Verdienst von Robert konnte sich die Familie ab und zu auch ein Extra leisten.
Karin befüllte die Waschmaschine mit der ersten Ladung und ihre Gedanken kreisten um die bevorstehenden Sommerferien. In den letzten Jahren waren sie, Robert und die Jungs stets für drei Wochen auf das Gut Sommerfeld gefahren. Dort waren sie auch von den Besitzern herzlich willkommen gewesen. Die Familie Ortega hatte ihnen sogar das Gästehaus zur Verfügung gestellt, damit alle genug Platz hatten. Daniel, der Sohn der Ortegas, freute sich über den Besuch von Moritz, Christian und Lukas, und zusammen verbrachten sie aufregende und spannende Ferientage.
Karin, Robert und Claudia genossen es, viel Zeit miteinander zu verbringen, und immer mit dabei war Sissi. Jeder liebte das kleine Mädchen mit den langen roten Locken, dem hellen Teint und der zarten Gestalt.
Karin riss sich aus ihren Gedanken und befüllte schnell die letzte Maschine mit Wäsche und wandte sich zum Bügeltisch. Dabei schaute sie wieder aus dem Fenster, um nach dem Mädchen Ausschau zu halten – und plötzlich sah sie Sissi den Weg entlang auf das Haus zukommen.
Schnell ging sie zur Tür, trat auf die Straße und lief ihr entgegen. »Sissi, Kind, Liebes! Wo warst du? Ich habe mir Sorgen gemacht. Warum bist du so früh und ganz alleine aus dem Haus? Hast du schlecht geträumt, oder hat dir etwas Angst gemacht?« fragte Karin besorgt und nahm das Kind vorsichtig in die Arme.
»Bist du hingefallen? Dein Knie ist aufgeschlagen. Und was ist mit deinen Schuhen? Bist du barfuß aus dem Haus? Ach, mein liebes kleines Mädchen, jetzt gehen wir schnell ins Haus und du trinkst erst einmal einen warmen Kakao. Dann wird es dir gleich besser gehen.«
Karin nahm das Kind auf den Arm und ging Richtung Haus. Jetzt war Sissis Gesicht ganz nahe an dem ihren, und Karin drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich habe dich sehr lieb, mein kleiner Schatz, und du musst mir versprechen, dass du nächstes Mal Bescheid sagst, wenn du aus dem Haus gehst.
Sissi schmiegte sich an Karin, und mit ihrer kleinen Hand strich sie ihr über die kurzen braunen Haare. Dann lächelte sie ganz leicht und nickte mit ihrem Köpfchen. Sagen konnte das Kind nichts. Seit dem Autounfall vor wenigen Tagen sprach sie nicht mehr. Der Schock hatte ihr die Sprache verschlagen.
*
Wieder hatte die Kirchturmglocke sieben Uhr geschlagen, als Magda am nächsten Morgen in die große Küche trat. Wie am Tag zuvor ging sie zu den beiden großen Fenstern und öffnete sie weit. Auch heute strömte durch einen kleinen Wind frische Morgenluft in die Küche, und Magda nahm einige tiefe Atemzüge.
Bevor sie aber heute ihre morgendlichen Bewegungsübungen machte, setzte sie Teewasser auf und stellte den Backofen an. Am Vorabend hatte sie Hefeteig angesetzt, und heute Morgen sollte es zum Frühstück frisch gebackene weiche Brötchen geben. Alle Bewohner von Sophienlust liebten es, wenn der Duft durch das ganze Haus zog und das nahende Frühstück ankündigte.
Magda schob das letzte Blech in den Ofen, ging zum Fenster und begann ihre täglichen Übungen. Und jedes Mal wenn sie wieder gerade stand, schaute sie in den weitläufigen Park. Irgendetwas war heute anders, aber sie konnte nicht auf Anhieb sagen, was es war, und überlegte bei jeder Kniebeuge erneut. Und dann wusste sie es:
Die Hunde fehlten, und das war wirklich ungewöhnlich. Anglos und Barri waren immer die Ersten, die im Haus wach waren und sofort hinaus wollten. Sobald jedoch im Haus ein Licht anging oder ein Bewohner zu hören war, kehrten die Hunde sofort zurück und setzten sich pflichtbewusst vor die Freitreppe.
Und jetzt war von den Hunden nichts zu hören und nichts zu sehen! Magda war neugierig geworden und verließ Küche. Raschen Schrittes durchquerte sie die Halle und schaute aus den bodentiefen Fenstern neben der Eingangstür auf die unmittelbar davor liegende Freitreppe. Sie erwartete, nichts Außergewöhnliches zu sehen, und war daher umso überraschter über das Bild, das sich ihr bot. Sie stieß einen kleinen überraschten Laut aus und legte sich schnell die Hand auf den Mund.
Sie wollte das kleine Mädchen, das auf der obersten Stufe der Treppe saß, nicht erschrecken. Die Köchin atmete tief durch und schaute nun genauer auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte: Da saß ein Mädchen mit langen roten Locken und einem feinen hellen Gesicht mit vielen kleinen Sommersprossen. Es trug ein hübsches weißes, ärmelloses Kleidchen mit einer großen Schleife am Rücken. So wie Magda es sehen konnte, hatte das Kind keine Schuhe an.
Auf ihrem Schoß lagen zwei der kleinen Katzenjungen, die im Frühjahr im Gartenschuppen geboren worden waren. Jetzt im Sommer schlief die Katzenmutter mit ihren fünf Jungen oft auf der kleinen Terrasse bei der Treppe.
Und dann sah Magda, dass auch die anderen drei kleinen Katzen neben und vor dem Mädchen waren und sich an ihren Beinen rieben und sie mit ihren Köpfchen anstießen, um Aufmerksamkeit zu bekommen.
Die beiden Hunde aber saßen starr und steif am Ende der Treppe und bewachten ehrfürchtig das ganze Schauspiel. Magda musste lachen und war gleichzeitig sehr gerührt über das, was sie sah.
Leise ging sie zurück in die Küche und bereitete eine Tasse Kakao zu. Sie nahm ein ofenfrisches warmes Brötchen, bestrich es mit Butter und legte es auf einen Teller. Dann stellte sie alles auf ein kleines Tablett und ging zurück zur Haustür. Leise öffnete sie eine der Flügeltüren und trat vorsichtig heraus.
Die Hunde spitzen die Ohren und schauten aufmerksam zu Magda und beobachteten genau, was sie tat. Das Mädchen bemerkte nichts und streichelte und kuschelte unablässig mit den Katzenkindern, und auf ihrem kleinen Gesichtchen lag ein glückliches Lächeln.
Vorsichtig wollte Magda das Tablett neben das Kind auf die Treppe stellen, und dazu musste sie sich tief bücken. Erfreut bemerkte sie, dass die morgendlichen Übungen sich lohnten, denn sie kam gut hinunter und ohne Probleme wieder hoch.
Jetzt hatte das Kind die ältere Frau entdeckt und erschrak ein bisschen, fing sich aber schnell wieder, und auf ihrem Gesicht erschien ein winziges Lächeln.
»Guten Morgen, Prinzessin, und herzlich willkommen in Sophienlust«, sagte Magda leise und lächelte freundlich. »Vielleicht magst du einen Kakao trinken, du hast sicher schon eine weite Reise hinter dir und bist ein wenig durstig?« Sie hoffte, das Kind würde sagen, woher es käme. Aber sie bekam keine Antwort, nur ein weiteres winziges Lächeln.
Das Mädchen nahm den Becher mit Kakao, trank einen großen Schluck und stellte ihn wieder vorsichtig auf das Tablett. Das Brötchen rührte sie vorerst nicht an.
»Kein Geist, eine Prinzessin. Ich wusste es! Also hatte ich gestern Morgen doch richtig gesehen«, erklang ein Kinderstimmchen von der Flügeltür. Magda und das Kind drehten sich gleichzeitig um und schauten zur Tür. Dort stand Heidi, wieder im Pyjama, barfuß und mit zerzausten Haaren. Dann kam sie Schritt für Schritt langsam und ganz leise näher. Sie legte den Finger auf den Mund und zischte: »Pscht«.
Magda lächelte und sah fragend von Kind zu Kind.
»Ich will niemanden erschrecken. Wenn es nun doch nur ein Prinzessinnen-Geist ist und sich erschrickt, verschwindet sie vielleicht wieder«, flüsterte Heidi erklärend und setzte sich neben das Mädchen auf die Treppe.
Dann hob sie ihre rechte Hand und strich ganz vorsichtig über das rot gelockte Haar und das freundliche Gesicht ihrer unbekannten Sitznachbarin. Diese blieb ganz still und machte keinen Mucks.
»Nein«, sagte Heidi dann bestimmt und schüttelte ihren Kopf. »Kein Geist. Alles echt. Eine echte Prinzessin. Eine Prinzessin in Sophienlust. Das passt gut. Das gefällt mir.«
»Guten Morgen, was macht ihr denn schon so früh hier draußen? Und wer ist das kleine Mädchen?«, fragte eine weitere Stimme von hinten. In der Flügeltür stand Pünktchen, auch im Schlafanzug, mit zerzausten Haaren und barfuß. Sie trat einen Schritt nach vorne und schaute neugierig auf den Teller mit dem Butterbrötchen. »Sind die Brötchen schon fertig? Kann ich auch eins haben? Die sind warm am allerbesten. Da mag ich sie am meisten.«
»Guten Morgen, Pünktchen. Warum bist du denn schon so früh wach?«, fragte Magda während sie Richtung Küche ging. »Ich mache noch ein paar Butterbrötchen. Ihr könnt ja so lange hier draußen sitzen und euch kennenlernen. Heidi und ich wissen auch nicht, wer das kleine Mädchen ist. Aber vielleicht bekommst du ja etwas aus ihr heraus«, sagte sie noch und verschwand in der Küche.
»Wer bist du und wo kommst du her?«, fragte Pünktchen freundlich das kleine Mädchen, während sie sich ebenfalls neben sie auf die Treppe setzte. Aber das Kind antwortete nicht, ganz so, als ob sie Pünktchens Frage nicht gehört hätte. Dann leerte sie ihre Tasse Kakao und nahm mit der linken Hand das Butterbrötchen vom Teller, mit der rechten Hand setzte sie die kleine weiße Katze, die bei ihr auf dem Schoß lag, vorsichtig auf den Boden und stand auf. Stufe für Stufe ging sie langsam die Treppe hinunter.
Unten angekommen drehte sie sich noch einmal um, lächelte und winkte Heidi und Pünktchen mit der freien Hand zu und lief dann Richtung Eingangstor. Sekunden später verschwand sie auf dem dahinterliegenden Weg.
Die beiden Hunde Anglos und Barri sowie Heidi und Pünktchen schauten dem Kind sprachlos hinterher.
»Und? Wisst ihr, wie sie heißt?«, fragte Magda, die ein großes Tablett, beladen mit frischen Butterbrötchen und einer Kanne Kakao auf die Treppe hinaustrug. Die beiden schüttelten die Köpfe und schauten zur ihr, die jetzt hinter ihnen stand.
»Nein, sie hat nicht geredet und ist dann auf einmal gegangen. Schade, sie scheint nett zu sein. Sie lächelt sehr freundlich und war ganz lieb mit den Katzen«, erzählte Pünktchen während sie aufstand und Magda mit dem Tablett half.
»Dürfen wir hier jetzt auf der Treppe frühstücken? Das wäre super!«
»Ja, so war das ja jetzt nicht gemeint, aber wenn wir jetzt schon alle hier draußen sind, können wir auch bleiben und den Morgen auf der Treppe genießen.
*
Der Wecker hatte lange und unbeachtet geklingelt, bevor er sich von alleine abstellte. Die Sonne stand schon hoch, und es war acht Uhr vorbei, als Karin aufwachte. Sie drehte sich auf die Seite, um einen Blick auf die Uhr zu erhaschen. Als sie die Zeit las, schloss sie noch einmal die Augen und drehte sich auf die andere Seite. Ein paar Minuten noch, dachte sie, es ist so gemütlich im Bett.
Plötzlich riss sie die Augen auf, setzte sich kerzengerade auf und angelte den Wecker vom Nachtisch. Dieser zeigte jetzt 8.35 Uhr an. Karin schüttelte den Kopf, dann den Wecker und schaute aus dem Fenster. Es musste stimmen, was die Uhr anzeigte. Die Sonne stand in voller Pracht am Himmel, und von der Straße her hörte sie die Menschen sprechen und Autos fahren.
Sie hatte verschlafen, und das war ihr in den letzten Jahren nicht oft passiert! Hastig stand sie auf und zog sich ihren leichten Morgenmantel über ihr Nachthemd. Mit ein paar Schritten war sie über den Flur gelaufen und öffnete die Tür zum Wäschezimmer. Hier hatte Sissi ihr kleines eigenes Reich gefunden, solange sie bei ihnen war. Karin hatte das helle Zimmer so gut es ging leer geräumt und es mit ein paar Handgriffen und ein wenig Dekoration in einen gemütlichen Ort verwandelt.
Sissi fühlte sich in dem Zimmer wohl und schlief auch gerne darin. Sie brauchte nicht viel Platz, da sie tagsüber immer draußen mit den Jungs unterwegs, bei Karin in der Wäscherei oder mit allen Bewohnern in der gemütlichen Küche war.
Die Tür zu Sissis Zimmer stand einen Spaltbreit offen, und Karin sah mit einem Blick, dass das Kind wieder nicht im Bett lag und auch nicht mehr im Zimmer war. Schnell ging sie die Treppe herunter und schaute in der Küche nach ihrer kleinen Nichte. Aber da war das Kind auch nicht. »Sissi, Sissi. Schätzchen, wo bist du?«, rief Karin leise durch das Erdgeschoss und ging mit zügigen Schritten durch das Wohnzimmer und zur Terrassentür und atmete im gleichen Augenblick erleichtert auf. »Da bist du ja, mein kleiner Schatz!«, stellte sie fest und trat auf die Terrasse.
Sissi hatte es sich in der Hollywoodschaukel bequem gemacht und sah zufrieden aus. Sie hatte ihre Puppe und ein paar ausrangierte Stofftiere von den Jungs um sich versammelt und machte Kunststücke mit ihnen. Als sie Karin hörte, unterbrach sie ihr Spiel und schaute ihre Tante glücklich lächelnd an.
»Ach, da bin ich froh, dass ich dich gefunden habe. Ich dachte schon, du bist wieder draußen alleine unterwegs«, sagte sie und nahm Sissi in die Arme. Die Kleine schmiegte sich an sie, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und lächelte liebevoll.
»Mein kleiner Engel, leider habe ich verschlafen und bin jetzt ganz spät dran. Die ersten Kunden kommen gleich, und ich bin noch nicht mal angezogen. Daher kann ich dir jetzt kein Frühstück machen, erst etwas später. Aber wenn du Hunger hast oder durstig bist, dann hole dir etwas aus der Küche. Du kennst dich ja aus. Und später habe ich dann Zeit für dich, und wir können zusammen etwas spielen«, erklärte Karin dem Kind und schaute es liebevoll an.
Sissi nickte lächelnd und wandte sich wieder ihrer Puppe zu.
»Die Jungs sind sicher auch bald wach und kommen in den Garten. Dann bist du nicht mehr alleine und ihr könnt alle zusammen etwas spielen«, rief Karin noch und war dann schon wieder im Haus verschwunden.
Tatsächlich tauchte wenig später der neunjährige Lukas im Garten auf und setzte sich zu Sissi in die Hollywoodschaukel.
»Wo ist Mama? Warum hat sie kein Frühstück gemacht? Hast du schon etwas bekommen? Ich habe auch Hunger. Großen Hunger. Sehr großen Hunger«, stellte der Junge fest und rieb sich den Bauch. Dann grinste er frech und griff nach einem der Stofftiere neben sich, und bevor Sissi es ihm wieder wegnehmen konnte, hatte Lukas sich das eine Bein vom Hasen in seinen Mund gestopft und tat so, als ob er es zum Frühstück verspeisen wollte.
Sissi riss die Augen auf und war sehr erschrocken über das, was sie sah. Ihr Cousin wollte den Stoffhasen essen! Das kleine Mädchen schüttelte panisch den Kopf und versuchte, Lukas das Tier aus dem Mund zu ziehen. Doch der Junge hielt es mit den Zähnen fest und freute sich über die vergeblichen Stofftierrettungsversuche seiner kleinen Cousine. Und einen Augenblick später war es dann geschehen: Sissi hielt das eine Teil vom Hasen mit einem Bein in der Hand und das andere Bein hing schlaff aus Lukas Mund heraus. Als er dann den Kiefer ein wenig öffnete, fiel das Bein lautlos auf seinen Schoß.
Beide Kinder waren zuerst erstaunt, aber dann fing der Junge an zu lachen. Er lachte laut, so laut, dass es durch den ganzen Garten schallte und seine Brüder Christian und Moritz neugierig aus ihren Zimmerfenstern in den Garten schauten.
Schnell hob Lukas das Hasenbein auf und stopfte es wieder in seinen Mund und tat so, als ob er damit kämpfte. Dabei schüttelte er wild den Kopf hin und her und lachte mit zusammengebissenen Zähnen immer weiter. Seine Brüder verstanden nicht ganz, was Lukas machte, lachten aber von den Fenstern aus mit.
Nur Sissi war den Tränen nahe. Vorsichtig nahm sie ihren Teil vom Stoffhasen in den Arm, krabbelte dann von der Hollywoodschaukel und huschte schnell ins Haus. Lukas folgte ihr und rief nach seiner Mutter:
»Mama, wann gibt es Frühstück? Ich habe so einen Hunger. Ich musste schon Hasenbeine essen, damit ich nicht verhungere.«
Doch Karin antwortete nicht. Sie war noch in der Wäscherei, eine kaputte Waschmaschine machte ihr zu schaffen. Und dann stand Sissi auf einmal neben ihr. Das kleine Mädchen hielt ihr wortlos, mit Tränen in den Augen den Stoffhasen mit nur einem Bein hin.
»Was ist Sissi? Ich komme gleich und mache Frühstück. Ich muss mich nur noch um die Waschmaschine kümmern. Sie ist wohl kaputt. Sie lässt sich nicht mehr öffnen, und das ist ganz schlecht, weil die Kundin heute noch ihre Wäsche braucht. Das ist jetzt alles ein bisschen viel auf einmal«, sagte Karin mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck.
Dann sah sie den Hasen, den Sissi ihr entgegenstreckte. »Was ist mit dem Hasen? Der hat mal Christian gehört. Du kannst ihn aber sicher gerne haben, wenn du möchtest. Chrissi hat gesagt, dass er zu alt für Stofftiere ist und kein Interesse mehr daran hat.«
Sissi hielt den Hasen immer noch anklagend empor und schüttelte ihn direkt vor ihrer Nase.
»Ach, Schätzchen. Es wäre einfacher, wenn du sagen würdest, was du möchtest. Ich wünsche dir so sehr, dass du deine Stimme wiederfindest. Dann wäre dein Aufenthalt bei uns auch für dich viel leichter«, sagte Karin und kniete sich neben das Kind. Sie nahm Sissi in den Arm und ihr den Hasen aus der Hand.
»Ah, jetzt sehe ich, was los ist. Das arme Tier hat nur noch ein Bein. Wie ist denn das passiert?« Karin schüttelte noch einmal den Kopf und stand wieder auf. »Komm, wir machen Frühstück. Dann können wir die Jungs fragen, ob sie wissen, was mit dem Hasen passiert ist. Und wenn sich das andere Bein anfindet, operieren wir deinen Hasen und machen ihn wieder heil. Mit ein paar Nähstichen sollte das zu schaffen sein.«
Sissi nickte versöhnt und ging langsam hinter Karin in die Küche.
*
Am nächsten Morgen war Magda noch zeitiger auf als sonst. Sie wollte unbedingt wissen, aus welcher Richtung das kleine Mädchen kam und ob es auch heute wieder in Sophienlust auftauchen würde.
Die Köchin ging daher als Erstes durch die Halle und öffnete beide Flügeltüren der Haustür und ließ sie offen stehen. Sie trat hinaus und schaute in alle Richtungen. Aber sie sah kein Mädchen weit und breit, nur die Hunde tollten schon wieder über den Rasen, und die Katzenfamilie saß auf der Treppe.
Magda ging in die Küche, setzte Wasser auf und begann ihre Übungen. Sie war ein wenig neugierig und machte daher schneller als sonst ihre Kniebeugen. Jedes Mal, wenn sie wieder stand, schaute sie schnell aus dem Fenster, um nach dem Kind Ausschau zu halten.
Plötzlich hielt sie inne, drehte den Kopf zur Seite und lauschte. Sie hatte Musik gehört. Zuerst dachte sie, dass irgendwo ein Radio lief, aber diese wunderschöne Musik war kein Radio, da war sich Magda schnell sicher. Es spielte jemand ein fröhliches Musikstück auf dem Klavier.
Mit leisen, schnellen Schritten ging sie durch die Halle zum Musikzimmer, dessen Tür ein wenig geöffnet war, und lugte vorsichtig hinein. Das kleine Mädchen saß auf der Bank vor dem dunkel glänzenden Klavier und ließ seine kleinen Finger schnell über die Tasten fliegen!
Eine wunderbare Melodie erfüllte das ganze Haus, und fasziniert schaute die Köchin zu dem Kind, sah, dass die Kleine wieder barfuß war und ein schneeweißes Kätzchen auf dem Schoß hatte. Sie sah aber noch etwas anderes: Auf dem Gesicht des Kindes lag ein Ausdruck wahrer Glückseligkeit, der Magda unwillkürlich die Tränen in die Augen trieb.
Die ältere Frau war so gerührt wie schon lange nicht mehr. Daher merkte sie zuerst auch gar nicht, dass sie nicht mehr alleine in der Tür stand. Fast alle Bewohner von Sophienlust hatten sich, geweckt von der Musik, eingefunden und erlebten dieses außergewöhnliche Schauspiel. Und keiner machte einen Mucks.
Selbst die Kleinen standen wie angewurzelt und lauschten minutenlang den wunderbaren Klängen. Das Kind spielte virtuos und machte auch nicht den kleinsten Fehler. Man konnte hören und an ihrer Haltung sehen, dass sie keine Anfängerin war.
Der kleine Körper bewegte sich harmonisch mit der Musik, und die Finger huschten sicher und ohne Zögern über die vielen Tasten. Ihre roten Locken hüpften auf ihrem zarten Rücken bei jeder Bewegung leicht auf und ab, und ihre kleinen nackten Füße wippten sanft im Takt. Das kleine Kätzchen lag ganz ruhig und zusammengerollt auf dem Schoß und hatte die Augen geschlossen. Auch ihm schienen die Harmonien zu gefallen.
Und dann konnte man das Ende vom Stück erahnen. Nach dem letzten Anschlag ruhten noch sekundenlang die beiden kleinen Hände auf den Tasten, bevor sie das Kätzchen vom Schoß nahm und von der Bank aufstand. Sie setzte das Tier behutsam auf den Boden, ging leichtfüßig aus dem Zimmer und durch die Halle zur Eingangstür. Dabei lag immer noch das glückselige Lächeln auf ihrem Gesicht.
Ihre heimlichen Zuschauer vor der Tür hatte sie nicht bemerkt. Magda hatte rechtzeitig alle sanft hinter die Tür geschoben.
»Na, wer war denn dieses reizende kleine Wesen?«, fragte Nick nach einigen Momenten laut und unerwartet in die schweigsame Runde. Auch der junge Besitzer von Sophienlust war von der Musik geweckt worden und neugierig in die Halle gekommen.
Magda schaute zu Heidi und Pünktchen, und alle beide zuckten gleichzeitig mit den Schultern, schüttelten die Köpfe und warfen einen ratlosen Blick auf Nick. Der lachte, als er die Reaktion sah. »Oh, das sah aber jetzt wie einstudiert aus.« Und dann wandte er sich an die anderen: »Wisst ihr etwas?«
»Wer ist das Mädchen?«
»Ob das eine Prinzessin ist?«
»Die kann aber gut spielen. Darf ich auch Klavier lernen?«
»Ich kenne sie gar nicht. Ob sie hier in der Gegend wohnt?«
Alle schwatzten plötzlich aufgeregt durcheinander, und es wurde richtig laut in der Halle. Das kleine Kätzchen, welches immer noch auf dem Boden im Musikzimmer gesessen und sich geputzt hatte, rannte erschrocken durch die Halle nach draußen zu seiner Mutter und den Geschwistern auf die Freitreppe.
Das Durcheinander war groß, und Magda und Nick hatten einiges zu tun, wieder Ruhe ins Haus zu bringen. Die Köchin rief dann hörbar in die Menge: »In zehn Minuten ist das Frühstück fertig. Es sind noch weiche Brötchen da. Wer also welche haben will, sollte sich schnell anziehen und in den Frühstücksraum kommen.«
Das ließen sich die Kinder nicht zweimal sagen. Jeder liebte Magdas selbst gebackene weiche Brötchen, und kurze Zeit später waren alle auf ihren Zimmern verschwunden.
»Uff, das war eine gute Idee. Jetzt ist hier wieder Ruhe für die nächsten paar Minuten eingekehrt«, bemerkte Nick und folgte Magda in die Küche. Er wollte jetzt schnell helfen, das Frühstück zuzubereiten, denn auch er hatte Hunger bekommen.
»Also nein, ich kenne das Kind auch nicht«, begann Magda ungefragt. »Gestern Morgen saß sie auf einmal auf der Freitreppe und spielte mit den Kätzchen. Ich habe ihr einen Kakao gemacht und ein Brötchen mit Butter gegeben. Aber ich habe nicht mit ihr gesprochen. Dann kamen Heidi und Pünktchen dazu. Die beiden haben sich neben die Kleine gesetzt und versucht, mit ihr zu reden. Aber sie hat nicht gesprochen, sondern nur freundlich gelächelt. Kurze Zeit später ist sie aufgestanden und im Wald verschwunden.«
Während Magda Nick das erzählte, was sie wusste, hatte sie alles für das Frühstück zusammengesucht und auf zwei große Tabletts gestellt. Jetzt nahm sie das eine und wies den jungen Mann mit dem Kopf an, das andere zu nehmen. Zusammen gingen sie in das Esszimmer und deckten routiniert den Tisch.
»Das klingt ja spannend. Ein kleines Mädchen aus dem Nichts. Na ja, sie wird irgendwo hingehören. Aber ein Kind aus der unmittelbaren Nachbarschaft ist es nicht. Die kennen wir ja alle«, bemerkte Nick und angelte sich ein Brötchen. »Aber ich werde mich mal umhören und auf alle Fälle mit meiner Mutter sprechen. Es scheint so, als ob das Kind, da, wo es jetzt ist, keine Möglichkeit hat, Klavier zu spielen. Und wer so spielen kann, hat sicher viel Talent und sollte Zugang zu einem Instrument haben.«
Nick hatte das Brötchen verspeist und machte sich jetzt auf den Weg in sein Büro. Er wollte danach zu Wolfgang Rennert, dem Musiklehrer, gehen und mit ihm die Lage besprechen. Vielleicht kannte er das begabte Kind oder hatte zumindest von ihm gehört.
Und dann würde er mit seiner Mutter reden. Denise von Schoenecker gehörte zu den wichtigsten Menschen in seinem Leben, und auch jetzt, da er mit seiner Volljährigkeit Sophienlust alleine führte, war sie seine erste Ansprechpartnerin. Er konnte sich immer auf seine Mutter verlassen und besprach gern alle Angelegenheiten rund um das Kinderheim zuerst mit ihr. Ihre große Kenntnis und Erfahrung gab ihm die Sicherheit und Zuversicht, für alle Probleme eine gute Lösung zu finden.
*
Nach dem Frühstück ging Nick in den neu gebauten Nebentrakt vom Herrenhaus. Hier wohnte der Musiklehrer Wolfgang Rennert mit seiner Frau Carola und den Zwillingen, Andreas und Alexandra.
Die Familie saß noch beim Frühstück am Küchentisch, als Nick in die Küche trat. Wolfgang hatte ihm die Tür geöffnet und ihn hereingebeten. »Guten Morgen, Wolfgang, guten Morgen, Carola. Entschuldigt den frühen Besuch. Aber es gibt etwas, dass ich gerne mit dir, Wolfgang, besprechen möchte. Vielleicht kannst du auch helfen, ein wenig Licht in einen mysteriösen Besuch eines reizenden kleinen Mädchens in Sophienlust zu bringen.«
»Oh, das klingt spannend. Guten Morgen, lieber Nick. Du bist zu jeder Uhrzeit herzlich willkommen bei uns. Das weißt du doch. Und besonders, wenn wir vielleicht helfen können, ein Mysterium zu lösen«, erwiderte Carola lachend, stand vom Tisch auf und holte eine frische Tasse aus dem Hängeschrank.
»Du trinkst doch sicher eine Tasse Tee mit uns?«, fragte sie und wartete gar nicht erst auf eine Antwort, sondern füllte Nicks Tasse mit duftendem Tee.
Wolfgang bot Nick einen Platz am Tisch an, und der junge Mann setzte sich auf die gemütliche Bank. Er zog die Tasse mit dem frischen Tee zu sich und nippte einmal.
»Eine gute Tasse Tee ist doch immer wieder ein Genuss«, sagte er lächelnd und wurde dann ernst. »Also, heute Morgen um sechs Uhr dreißig hat ein kleines Mädchen auf unserem Klavier gespielt. Sie hat ein schwieriges Stück ganz ohne Fehler und aus dem Gedächtnis gespielt. Sie hat so schön gespielt, dass innerhalb von Minuten alle Kinder an der Tür zum Musikzimmer standen und ehrfürchtig der Musik gelauscht haben.«
Nick musste lachen, als er an die Situation am frühen Morgen dachte. »Das war ein sehr ungewohntes Bild. Alle Kinder im Türrahmen gedrängt und mucksmäuschenstill. Das kennt man von der Rasselbande doch sonst gar nicht.« Der junge Mann nahm noch einen Schluck Tee und schaute zu Wolfgang und Carola, die ihn gespannt anschauten und auf die Fortsetzung der Geschichte warteten und auch mucksmäuschenstill waren.
»Euch scheint die Geschichte ebenfalls zu faszinieren«, stellte Nick lächelnd fest und stellte die Tasse ab.
»Ja, das hört sich wahrlich spannend an«, sagte die junge Frau. »Aber wie geht es weiter? Wer ist die Kleine? Erzähle bitte schnell den Fortgang der Geschichte!«
»Ja, das würde mich auch brennend interessieren«, sagte Wolfgang und nickte. »Ein Kind, das ein schweres Stück ohne Noten und Fehler spielen kann, muss ein großes Talent haben. Du siehst Nick, mich hast du auch neugierig gemacht. Also, was ist dann passiert?«
»Als die Kleine mit dem Spiel fertig war, ließ sie einige Sekunden ihre Finger auf den Tasten ruhen, so als ob sie die letzten Schwingungen der Musik noch aufnehmen wollte. Dann stand sie auf und huschte mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht aus dem Musikzimmer und aus dem Haus. Wir waren alle so gebannt, dass keiner auf die Idee kam, die Kleine etwas zu fragen oder ihr hinterherzueilen. So plötzlich wie sie kam, war sie auch wieder fort. Aber ihr Spiel hat uns alle in den Bann gezogen.«
Nick zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Keiner der Anwesenden kannte das Mädchen. Magda und Heidi hatten sie nur einmal kurz gesehen. Es scheint so, als hätte die Kleine momentan keinen Zugang zu einem Instrument. Sonst hätte sie sich sicher nicht mit so viel Freude an unser Klavier gesetzt.«
»Ja«, antwortete Wolfgang und bestätigte Nicks Worte. »Sophienlust ist ein wunderschönes, schlossähnliches Gebäude mit einem großen Garten, und zu guter Letzt sind da die vielen Tiere. Ein kleines Mädchen müsste sich doch erst einmal für die Hunde und Katzen interessieren, es sei denn, sie hat eine große und ungestillte Sehnsucht nach ihrem Lieblingsinstrument. Und als sie das sah, war ihr die Umgebung mit den anderen reizvollen Angeboten nicht wichtig. Also, ich bin ganz deiner Meinung. Da wo das Kind jetzt ist, hat es keinen Zugang zu einem Klavier, auf dem es spielen kann. Das scheint der Kleinen aber wichtig zu sein und sie mit Freude zu erfüllen.«
Wolfgang wurde nachdenklich und erklärte dann: »Aber nein, ich kenne kein kleines Mädchen hier in der Umgebung, das außergewöhnlich gut Klavier spielt. Sie muss ein Feriengast sein.«
»Ja, das haben wir auch schon gedacht«, antwortete Nick. »Aber wer so schön spielt und Sehnsucht nach Musik hat, der sollte doch die Gelegenheit bekommen, das Klavier in Sophienlust zu nutzen. Da stimmt ihr mir doch zu?«
»Wir haben noch gar nicht über das Aussehen des Mädchens gesprochen. Was kannst du uns darüber sagen? Vielleicht hilft uns das weiter«, meinte Carola und schaute fragend erst zu Wolfgang und dann zu Nick.
»Eine kleine zarte Gestalt mit langen roten, lockigen Haaren. Sie war etwa so alt wie Heidi, sieben oder acht Jahre. Sie trug ein feines weißes Kleidchen mit Schleife am Rücken und sie war barfuß. Seltsam, das fällt mir erst jetzt auf. Das Kind hatte wirklich keine Schuhe an. Es ist zwar Sommer und warm draußen, aber so ganz ohne Schuhe würde man doch nicht das Haus verlassen«, sagte Nick nachdenklich.
»Nein, das sagt mir nichts. Rote Haare und dann noch Locken sind ja schon ein auffälliges Kennzeichen. Dieses kleine Mädchen kenne ich nicht, aber ich freue mich darauf, sie kennenzulernen. Sie scheint ein ganz besonderes Kind zu sein«, warf Carola ein und stand auf, um noch Tee nachzuschenken.
»Nein danke, für mich nicht mehr«, sagte Nick schnell. »Ich mache mich jetzt auf den Weg zu meiner Mutter. Ich werde sie informieren und um Rat bitten. Und ihr haltet die Ohren und Augen offen?«, bat er und lächelte. »Ich denke und hoffe, wir werden bald einen neuen kleinen Gast in Sophienlust haben.«
*
Karin hatte für die Jungen und Sissi Pfannkuchen zum Mittagessen gebacken. Die vier Kinder hatten mit großem Appetit gegessen und keinen Krümel übrig gelassen. Jetzt waren sie satt und zufrieden in den Garten gegangen, um Fußball zu spielen. Lautstark hatten sie das Haus verlassen, und wenig später konnte Karin die Kinder im Garten lachen hören. Auch der Hase war wieder mit von der Partie. Lukas hatte ihr gebeichtet, was passiert war, und ihr mit unbehaglichem Grinsen das Hasenbein ausgehändigt. Mit Sissi im Schlepp war Karin ins Nähzimmer gegangen und hatte den Schaden wieder behoben. Sissi war sehr glücklich gewesen, den kompletten Hasen wieder in ihre Arme schließen zu können.
Mit diesen Gedanken stand Karin am Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. Die Jungen hatten Sissi mit ins Spiel eingebunden, und so liefen alle über die grüne Wiese.
So ist es gut, dachte Karin. Sie sah Freude in Sissis Gesicht, das kleine Mädchen hatte ganz rote Bäckchen von der Bewegung.
Das Telefon klingelte und Karin sah an der Nummer, dass ihre Schwester Claudia anrief. »Wie geht es dir, meine Liebe? Kümmern sich die Ärzte gut um dich? Gibt es schon etwas Neues zur weiteren Behandlung?«
»Na, das sind aber viele Fragen auf einmal«, antwortete Claudia Bernshausen und lachte in den Hörer. »Ja, alles ist in Ordnung. Die Operationen sind ja gut verlaufen, und in knapp zwei Wochen kann ich schon zur Rehamaßnahme nach Maibach. Darauf freue ich mich sehr. Ich vermisse Sissi ganz schrecklich. Wie geht es meinem lieben Kind? Es tut so gut zu wissen, dass sie bei euch ist. Ihr alle liebt sie ja wie euer eigenes, und sie ist so gerne bei euch.«
»Im Moment spielen die vier Kinder Fußball im Garten. Sie hatten Pfannkuchen zum Mittagessen, die Sonne scheint und es sind Sommerferien. Also, alles in Ordnung«, erzählte Karin und setzte sich auf das große Sofa. Sie rückte ein Kissen im Rücken zurecht und erlaubte sich auch, die Beine hochzulegen. Nur ganz kurz ausruhen, dachte sie und wechselte den Telefonhörer in die andere Hand.
»Hat sie schon etwas gesagt? Irgendwas gesprochen? Nur ein Wort? Oder es probiert?«, fragte Claudia ihre Schwester bang.
»Nein. Kein Wort«, musste Karin zugeben und schüttelte traurig den Kopf. »Leider hat sie noch nichts gesagt. Auch mit den Jungs spricht sie nicht. Sie schaut einen immer nur an. Aber ich habe auch nicht das Gefühl, dass sie sprechen möchte. Es sieht nicht so aus, als ob sie probiert, etwas zu sagen. Ich weiß es nicht, Claudia. Aber der Arzt hat ja gesagt, dass es Zeit braucht. Sissi wird ihre Stimme wiederfinden. Es ist nur eine Frage der Zeit. Geben wir ihr diese und vertrauen darauf, dass alles gut wird. Sie macht aber einen zufriedenen Eindruck, spielt mit den Jungs oder mit ihren Stofftieren. Sie isst mit Appetit und hat rote Bäckchen. Ich denke, wir sollten uns keine Sorgen machen.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht. Ich sollte Geduld haben und vertrauen. Es ist ja schon wie ein Wunder, dass ihr beim Unfall nicht mehr passiert ist als ein paar kleine Schrammen. Nur der Schock sitzt wohl noch tief. Auch ich bin noch nicht ganz über den Unfall hinweg. Manchmal wache ich nachts auf und erlebe ihn noch einmal. Das ist sehr unangenehm, und ehrlich gesagt habe ich auch ein bisschen Angst, mich wieder hinter das Steuer zu setzen. Aber sobald ich gesund bin und wir wieder auf Gut Sommerfeld sind, werde ich fahren müssen. Da führt kein Weg dran vorbei.«
»Lass auch du dir Zeit, meine Liebe«, riet Karin. »Alles wird gut, daran glaube ich fest. Aber was ich dich noch fragen wollte: Brauchst du etwas? Sollen wir dir etwas schicken? Kümmert sich jemand um dich? Ich mache mir ein wenig Sorgen, weil du ganz alleine und einsam bist.« Karin machte es sich noch ein wenig bequemer auf dem Sofa, wechselte den Hörer wieder zum anderen Ohr und hörte Claudia kichern.
»Ach, Karin, es ist wie ein kleines Wunder. Ich habe einen sehr netten Besucher, der mich täglich besucht. Er bringt mir alles, was ich brauche, und noch mehr Sachen, die ich nicht brauche. Mein Nachttisch ist schon total vollgestopft. Aber das macht nichts. Es ist so schön, wenn ein Mensch da ist, der dich fragt, wie es dir geht, und sich um dich kümmert. Ich hatte ganz vergessen, wie gut es tut, nicht alleine zu sein.«
»Jetzt bin ich aber überrascht. Du hast mir gar nicht erzählt, dass du einen Verehrer hast. So etwas Wichtiges verschweigst du mir? Dann will ich aber jetzt alles wissen. Ich habe Zeit. Es ist Mittagspause, und die Kinder spielen im Garten. Also, meine Liebe, ich höre und bin sehr gespannt«, sagte Karin neugierig und rückte noch ein wenig tiefer ins Sofa. Auch Claudia machte es sich in ihrem Krankenhausbett noch ein bisschen bequemer und begann ihrer Schwester zu erzählen.
»Also, es ist kein unbekannter Mann, der jetzt so nett zu mir ist. Jemanden neu kennenzulernen, dazu habe ich ja auch fast keine Gelegenheit. Ich bin ja sehr eingespannt mit Sissi, meiner Arbeit und den alltäglichen Dingen. Ich bin froh, dass mein Leben einigermaßen ruhig verläuft und ich auch ein bisschen zur Ruhe kommen konnte.«
Claudia machte eine kleine Pause. »Du erinnerst dich doch bestimmt an den Klavierlehrer von Daniel Ortega, dem Sohn meines Chefs. Er heißt Martin Kreuzhof. Da Daniel musikalisch sehr begabt ist, was er ja sicher von seiner Mutter hat, wurde viel Wert auf seine Ausbildung in dieser Richtung gelegt. Herr Kreuzhof kam dreimal die Woche zum Unterrichten nach Gut Sommerfeld, und dadurch haben wir uns lose kennengelernt. Martin, also Herr Kreuzhof, stellte ziemlich schnell fest, dass auch Sissi musikalisch sehr begabt ist und Freude daran haben würde, das Klavierspiel zu erlernen. Die Ortegas beschlossen, dass sie regelmäßig Unterricht bekommen und auch Gelegenheit zum Üben haben sollte. Großzügigerweise übernahmen sie auch die Kosten für den Unterricht.«
Karin hörte, wie ihre Schwester stöhnte und offenbar ihren Oberkörper in eine andere Position brachte. »Das viele Liegen im Bett ist anstrengend. Es fehlt mir die Bewegung. Mir schlafen die Beine immer ein, und das ist sehr unangenehm«, entschuldigte sie sich.
»Oh, das tut mir leid«, sagte Karin. »Hoffentlich kannst du bald aufstehen. Wirst du denn noch den Gips haben, wenn du in die Reha kommst?«
»Nein, der Gips kommt nächste Woche ab. Er war jetzt nur zur ersten Stabilisierung nach der Operation. Aber darüber wollte ich doch gar nicht reden. Ich wollte dir doch von Martin erzählen«, meinte Claudia. »Also, das mit dem Klavierunterricht weißt du ja. Den bekommt Sissi jetzt schon seit einem Jahr. Sie geht dazu immer ganz selbständig ins Haupthaus zu den Ortegas, denn da steht ja das Klavier, und dahin kommt ja auch der Klavierlehrer. Ich habe also nicht so viel damit zu tun. – Vor ein paar Monaten nun wurde der zehnte Geburtstag von Daniel groß gefeiert. Sissi und ich waren natürlich auch eingeladen und eben auch Martin Kreuzhof. Da haben wir uns dann näher kennengelernt. Er ist ein sehr netter und ein sehr attraktiver Mann«, schwärmte Claudia und kicherte leise. »Mir hat er gleich gut gefallen, und als wir uns länger unterhielten, habe ich gemerkt, dass er auch total sympathisch ist. Sein Umgangston war so freundlich und einfühlsam, und ich habe mich in seiner Gesellschaft sehr wohl gefühlt. Die Geburtstagsfeier verging wie im Flug, und Martin hat mich und Sissi noch den kurzen Weg zu unserer Wohnung begleitet und ist dann gegangen.«
»Oh, von dieser netten Begegnung hattest du mir gar nichts erzählt«, unterbrach Karin ihre Schwester am Telefon.
»Ja, ich weiß«, sagte Claudia entschuldigend. »Aber da war ja gar nichts Erzählenswertes. In den letzten Monaten hat er Sissi manchmal nach dem Unterricht noch zu unserer Wohnung begleitet, und wir haben uns dann immer kurz unterhalten.«
»Und hast du ihn mal auf einen Kaffee zu dir eingeladen?«, fragte Karin neugierig.
»Nein, das habe ich nicht. Das habe ich mich nicht getraut«, erklärte Claudia. »Er hat aber auch nicht gefragt. Und ich dachte sowieso, dass so ein begabter, netter und attraktiver Mann sicher vergeben ist.«
»Und was ist dann passiert? Erzähl schon, das ist alles so aufregend«, fragte Karin ungeduldig.
»Als Martin von unserem Autounfall hörte, der sich sehr schnell in unserem kleinen Städtchen herumgesprochen hatte, stand er schon wenige Stunden danach an meinem Krankenbett.«
»Oh, wie romantisch«, schwärmte Karin.
»Ja, das war eine Überraschung. Ich war ganz perplex und wusste gar nicht, was ich sagen sollte. Außerdem kam ich gerade aus dem OP und habe sicher ganz furchtbar ausgesehen. Er war so lieb und fürsorglich und hat sich um alles gekümmert. Mit den Ärzten gesprochen und sich mit der Polizei und der Versicherung des Unfallverursachers auseinandergesetzt. Das war alles wie ein Wunder, und ich war so dankbar. Ich hätte keine Kraft dafür gehabt. Du hattest einige Stunden vorher Sissi geholt, und ich wusste, bei dir ist sie gut aufgehoben. Aber als mir dann bewusst wurde, dass niemand da war, der in dieser Situation mir ein bisschen unter die Arme griff, wurde ich sehr traurig. Durch Martin ist alles anders geworden. Er kommt jeden Tag mehrmals und liest mir alle Wünsche von den Augen ab und hilft mir mit allem. Wir unterhalten uns viel, und ich fühle mich sehr geborgen bei ihm. Es ist so, als ob wir uns schon ganz lange kennen und uns sehr vertraut sind.«
»Ich freue mich so für dich. Ich habe mir auch Sorgen gemacht, dass du gar keine Hilfe hast, während du im Krankenhaus bist«, sagte Karin erleichtert.
»Brauchst du nicht mehr«, sagte Claudia. »Du, da kommt der Arzt. Ich muss jetzt auflegen. Gib Sissi einen dicken Kuss von mir, und wir telefonieren dann morgen wieder.«
»Gut, mache ich. Pass schön auf dich auf und bis morgen.« Karin hatte aufgelegt und blieb noch ein paar Minuten auf dem Sofa liegen und genoss die Ruhe. Die Kinder spielten fröhlich draußen, Claudia ging es gut und die Mittagspause war noch nicht ganz zu Ende. Sie wollte nur kurz die Augen schließen – und war wenige Augenblicke später eingeschlafen.
*
Sissi hatte mit den Jungen Fußball gespielt, einen schönen Blumenstrauß für Karin gepflückt und auf der Hollywoodschaukel ihrer Lieblingspuppe Lisa die langen Haare zu Zöpfen geflochten. Der wieder zweibeinige Hase war natürlich auch dabei. Dann ging sie ins Haus, um Karin den Blumenstrauß zu bringen, und hoffte, dass die Tante ein wenig Zeit für sie hätte. Aber Karin telefonierte, und Sissi wollte sie nicht stören.
So ging sie durch den Garten hinaus auf den breiten Fußweg, der in der einen Richtung direkt nach Sophienlust führte.
Christian rief ihr hinterher und fragte, wo sie hin wolle. Sissi zuckte mit den Schultern und zeigte mit ihren Fingern, dass sie spazieren gehen würde. Christian verstand und rief: »Aber nicht so weit weg vom Haus. Bitte bleib in der näheren Umgebung.«
Sissi nickte, lachte und hüpfte den Weg entlang. Eine Viertelstunde später hatte sie den Park von Sophienlust erreicht und stand bald vor der großen Freitreppe, die ins Haus führte. Sissi raffte ihr Kleidchen, machte eine kleine Verbeugung und nahm elegant Stufe für Stufe der Treppe nach oben. Auf dem letzten Absatz drehte sie sich um und schaute auf den Weg zurück, den sie gekommen war.
Wenn sie sich bemühte, konnte sie von hier sogar ihr Haus sehen, der rote Schornstein leuchtete in der Sonne. Sie winkte mit der rechten Hand in die Luft, drehte sich um und hüpfte die letzte Stufe hinauf. Dann ging sie schnellen Schrittes durch die weit geöffnete Eingangstür in die Halle.
Dem Mädchen gefiel dieses Haus sehr, es erinnerte sie an Gut Sommerfeld, ihr Zuhause. Auch hier gingen viele Zimmer direkt von der Halle ab. Was hinter den einzelnen Türen lag, wusste sie nicht, aber das Musikzimmer hatte sie am Morgen auf Anhieb gefunden. Es lag hinter der gleichen Tür wie auf Gut Sommerfeld.
Sissi schaute sich in der Halle um, sah aber niemanden. Sie hörte Kinderlachen und Stimmengemurmel, konnte aber nicht herausfinden, woher es kam.
Eine unbändige Lust, wieder Klavier zu spielen, ließ sie ins Musikzimmer gehen. Leise öffnete sie die Tür und lugte vorsichtig hinein. In dem Zimmer hielt sich niemand auf, nur die Musikinstrumente und das große schwarze Klavier standen einladend an ihrem Platz. Sissi ging hinüber, setzte sich auf die Bank davor und legte ihre kleinen schlanken Finger auf die Tasten. Dieses Gefühl liebte sie, diese erste Berührung vor dem Spiel. Es war immer wie ein neues Kennenlernen, und ganz vorsichtig strichen ihre Fingerspitzen die Tasten entlang. Die schwarzen und weißen Tasten hatten immer dieselbe Temperatur. Sie waren nie kalt oder warm. Selbst wenn es draußen ganz heiß oder im Winter sehr kalt war, die Tasten fühlten sich immer glatt und samtig an und luden ein, sie zu bespielen.
Dann spielte das Mädchen fehlerlos ein kurzes fröhliches Stück. Irgendwann merkte Sissi, dass sie nicht mehr alleine im Raum war. Das nette blonde Mädchen, das sie schon einmal gesehen hatte, war zu ihr herangekommen und strahlte sie an. Sissi hatte ihren Kopf zu dem Mädchen gedreht, lächelte schüchtern zurück und unterbrach dann ihr Spiel.
»Ich bin die Heidi, und ich wohne hier. Wer bist du und wo kommst du her?«
Sissi legte ihren Zeigefinger auf die Lippen, schüttelte den Kopf und zuckte mit ihren Schultern.
»Du willst nicht reden?«, fragte Heidi. »Warum willst du nicht mit mir reden? Oder darfst du nicht reden?«, plapperte sie fröhlich.
Erschrocken blickte Sissi zu dem Kind, schüttelte schnell den Kopf und tippte erneut mehrmals an ihren Mund.
»Jetzt habe ich es verstanden. Du kannst nicht reden?«, stellte Heidi erstaunt fest und wartete gar nicht erst auf die Reaktion ihres Gegenübers. »Kannst du schreiben? Deinen Namen schreiben?«
Das Mädchen nickte und lächelte sanft.
»Oh, was für eine gute Idee!« Heidi sprang auf und klatschte in die Hände. »Komm schnell, wir gehen in mein Zimmer, dann kannst du deinen Namen schreiben«, rief sie, griff nach Sissis Arm und zog sie von der Bank. Diese hatte sich schnell von Heidis Euphorie anstecken lassen, und beide hüpften durch die Halle in Richtung Treppe.
Dort begegneten sie Pünktchen, die auf dem Weg in die Küche war. »Ach, sieh mal! Das kleine Mädchen mit den roten Locken und dem schönen Klavierspiel. Wer bist du?«
Heidi rief schnell, während sie mit Sissi im Schlepptau die Treppe hinauflief: «Sie kann nicht sprechen, sie kann nur schreiben. Sie schreibt mir ihren Namen auf. Dann wissen wir, wer sie ist. Und das war ganz allein meine Idee. Ich habe sie gefragt, ob sie schreiben kann. Das war doch eine gute Idee, oder?«
»Ja, das war eine wirklich hervorragende Idee. Dann viel Spaß euch beiden«, rief Pünktchen den beiden Mädchen hinterher, die schon den ersten Stock erreicht hatten.
Heidi öffnete die Tür zu ihrem Zimmer und bat mit einer Verbeugung Sissi herein. Die dankte nickend, betrat das Zimmer und schaute sich um. Heidis Zimmer, welches sie momentan alleine bewohnte, war ein richtiges Mädchenzimmer mit vielen Plüschtieren und Spielsachen. Es hingen selbstgemalte Bilder an den Wänden und auch einige große Tierposter. Heidis Bett war mit bunter Bettwäsche bezogen, und am Schrank hing ein schönes luftiges Sommerkleidchen auf einem Bügel. Mitten im Zimmer lagen achtlos fallen gelassene Kleidungsstücke, sowie ihre Reithose und Reitstiefel.
»Oh, die habe ich vergessen wegzuräumen«, erklärte Heidi kichernd und schob die Sachen schnell mit den Füßen unter ihr Bett. Dann lachte sie verschmitzt und lief zum Tisch hinüber. »Hier ist ein Stift und hier ist ein Stück Papier«, rief sie und hielt Sissi beides hin. »Jetzt kannst du deinen Namen schreiben. Ich bin schon so gespannt. Du bist sicher eine Prinzessin.«
Das andere Mädchen lachte verlegen und schüttelte den Kopf. Sie nahm das Papier und den Stift und setzte sich auf den weißen Stuhl vor dem Schreibtisch. Schnell trat Heidi neben sie und schob ihre Schulsachen zur Seite, damit das Mädchen genügend Platz zum Schreiben hatte. Wieder lachte Heidi fröhlich und erklärte wenig überzeugend: «Morgen räume ich auf. Versprochen.«
Sissi legte vorsichtig das weiße Papier auf den Schreibtisch und schrieb Buchstabe für Buchstabe mit dem roten Filzstift ihren Namen darauf. Heidi beugte sich von der Seite darüber und las laut: »E-lisa-beth. Ah, du heißt Elisabeth. Das ist ein schöner Name. Ein Prinzessinnenname.«
Sissi schüttelte wieder den Kopf und schrieb in großen Buchstaben dahinter: SISSI. Heidi schaute neugierig und las auch den Namen laut vor. »Du wirst Sissi genannt. Das ist auch ein schöner Name.« Sie verbeugte sich vor dem Mädchen und sagte feierlich: »Willkommen in Sophienlust, Sissi. Ich bin Heidi, und ich wohne hier mit vielen anderen Kindern. Und mit Nick, mit Magda, Schwester Regine und mit Tante Isi. Mit uns leben hier viele Tiere und ab und zu auch Gastkinder. Willst du auch hier wohnen? Du könntest bei mir im Zimmer schlafen. Das eine Bett ist frei.«
Das Kind hatte die ganze Zeit aufmerksam zugehört und gelächelt. Jetzt schaute sie Heidi aber mit großen Augen fragend an und zeigte mit ihrem Zeigefinger auf sich und Heidi. Diese nickte heftig, dass die Haare nur so flogen, hüpfte auf und ab und klatschte in die Hände:
»Oh, das wäre so schön. Du und ich hier in Sophienlust. Ich würde dir alles zeigen, und wir hätten so viel Spaß.«
Sissi war jetzt doch ein bisschen eingeschüchtert, denn Heidi war ein richtiger kleiner Wirbelwind. Sie verstand auch nicht so richtig, was sie eigentlich von ihr wollte. Klar, Heidi hatte sie aufgefordert, hier in diesem Zimmer zu wohnen. Aber sie, Sissi, hatte doch ein Zuhause, sie brauchte kein weiteres. Außerdem wusste sie doch gar nicht, wem dieses Haus gehörte und wer hier noch wohnte. Sie hatte bisher ja nur die nette ältere Frau gesehen, die sie mit Kakao und Brötchen versorgt hatte, und das andere größere Mädchen, das auch so nett zu ihr gewesen war.
»Das wäre so toll, wenn du hier wohnen würdest, Sissi. Dann könntest du auch immer Klavier spielen, wenn du Lust hast, und du kannst es mir beibringen. Ich wollte schon immer Klavier spielen können«, plapperte Heidi, stellte sich vor Sissi und spielte mit ihren Händen in der Luft Klavier.
Sissi musste lachen und tat es Heidi gleich. Die Mädchen hatten viel Spaß und tollten durch das Zimmer. Abrupt blieb Sissi dann aber vor einer größeren Fotografie stehen, die in einem schönen goldenen Rahmen an der Wand hing. Darauf abgebildet war eine Mutter mit Kind. Sissi tippte auf die Frau und schaute Heidi fragend an.
»Das ist meine liebe Mama und ich, als ich ganz klein war. Ich kann mich aber nicht viel erinnern. Als sie starb, war ich noch sehr klein. Und dann kam ich nach Sophienlust. Hier ist es schön und alle sind nett zueinander. Wir sind eine große Familie, hier im Haus der glücklichen Kinder.«
Während Heidi freudig erzählte, wurden Sissis Augen immer größer, und auf ihrem kleinen Gesichtchen lag plötzlich ein Ausdruck von Angst. Heidi sah das, ging auf Sissi zu und nahm sie in den Arm. »Du brauchst keine Angst zu haben. Hier im Kinderheim ist es super. Tante Isi und Nick und all die anderen kümmern sich gut um uns. Es ist nicht schlimm, ein Waisenkind zu sein.« Behutsam streichelte Heidi dann über Sissis lange rote Locken. »Oh, du hast so schöne Haare. Ob du mir welche abgeben kannst?«, fragte sie dann lachend und zog sanft an einer Strähne.
Sissi war aber ganz von Sinnen und ihre Gedanken überschlugen sich. Das hier war ein Kinderheim für elternlose Kinder. Hatte Heidi ihr angeboten, in ihrem Zimmer zu wohnen, weil sie jetzt keine Mama mehr hatte? Sie hatte seit einiger Zeit nichts mehr von ihrer Mutter gehört, und jetzt wurde ihr bewusst, dass sie sie sehr vermisste. Sie wusste nicht, wo ihre Mutter gerade war und wie es ihr ging. Vielleicht war sie tot und sie, Sissi, jetzt ganz alleine auf der Welt? Ihre Gedanken überschlugen sich, und panisch rannte das kleine Mädchen aus dem Zimmer, die Treppe hinunter und aus dem Haus hinaus. Sie wollte so schnell wie möglich zu ihrer Tante Karin und ihrer Mutter!
Auf der Freitreppe traf sie Pünktchen, die verwundert dem kleinen Mädchen hinterherschaute.
Einen Augenblick später kam auch Heidi die Treppe hinuntergesaust. Sie rief immerzu nach dem Mädchen: »Sissi, Sissi! So bleib doch stehen. Sissi, Sissi!« Pünktchen hielt sie am Arm fest und fragte verwundert:
»Was hat das denn zu bedeuten? Warum läuft sie so schnell fort?”
»Ich weiß nicht. Sie ist auf einmal weggelaufen«, rief Heidi aufgeregt.
Pünktchen hörte die Angst in ihrer Stimme und beschloss, sofort zu handeln. »Gut, ich laufe ihr hinterher, und du bleibst hier!«, sagte sie bestimmt und war im nächsten Moment schon auf der untersten Stufe. Mit langen Schritten lief sie flink hinter dem flüchtenden Kind her. Der Weg vor ihnen verlief gerade, und so konnte sie das Kind gut im Auge behalten und beobachtete, dass Sissi einen knappen Kilometer weiter in einem Garten auf der rechten Straßenseite verschwand.
Pünktchen lief etwas langsamer. Als sie den Garten erreichte und einen Blick hineinwarf, musste sie unwillkürlich lachen. In einem Teil des großen Gartens waren eng nebeneinander unzählige Wäscheschnüre an hohen Pfosten aufgespannt, an denen lustig weiße und bunte Bettwäsche im Wind flatterte. Wäsche, die Karin hier für ihre Kunden trocknete, die den Duft des Sommers im Stoff wohl zu schätzen wussten.
Aber auch ein paar Gespenster hatten sich in diesem Garten offenbar breitgemacht und jagten sich gegenseitig mit schaurigem und furchteinflößendem Geheul: Karins drei Söhne hatten sich je ein frisch gewaschenes Laken von den Leinen stibitzt und übergeworfen. So verkleidet, verfolgten sie sich gegenseitig über das große Grundstück, den Rasen und durch die Büsche.
Pünktchen grinste und schüttelte dann lachend den Kopf. Wenn das kleine Mädchen hier wohnte, dann hatte sie sicher viel Spaß mit den drei Jungen. Sie selbst kannte alle drei aus der Schule und durch gemeinsame Freunde. Sie wusste um die Familienverhältnisse der Schneiders. Die Jungen waren nette und freundliche Schulkameraden, aber eben auch für jeden Streich zu haben.
Erleichtert lief Pünktchen den Weg zurück nach Sophienlust.
*
Sissi war in Tränen aufgelöst in das Haus gelaufen. Sie suchte sofort nach Karin, um Trost bei ihr zu finden. Diese hatte ihren kleinen Mittagsschlaf gerade beendet und war auf dem Weg in die Wäscherei, als ihre Nichte ihr völlig aufgelöst entgegenlief und sich in ihre Arme stürzte.
Karin hielt das weinende Mädchen dicht an sich gedrückt, streichelte ihr über das Haar und sagte immer wieder: »Alles gut, mein kleiner Schatz. Ich bin ja hier. Du brauchst keine Angst zu haben, es passiert dir nichts.«
Ganz langsam beruhigte sich das Kind in ihren Armen, und Karin entspannte sich ein wenig. Behutsam versuchte sie herauszufinden, warum Sissi so aufgewühlt war. Aber das Kind konnte ja nicht reden und sich erklären. Nun befreite sich das Mädchen aus der Umarmung und ging zu einem Sideboard. Dort ergriff sie ein gerahmtes Foto, welches sie zusammen mit ihrer Mutter zeigte, und hielt es Karin hin.
Mit ihren kleinen Fingern tippte sie auf ihre Mutter, schaute ihre Tante mit zusammengezogenen Augenbrauen fragend an, und gleichzeitig füllten sich ihre Augen wieder mit Tränen.
Jetzt verstand Karin, was dem Kind fehlte. Sie nahm Sissi auf den Schoß und strich ihr zärtlich über das Gesicht. »Du machst dir Sorgen um deine Mami und du hast große Sehnsucht nach ihr. Das kann ich verstehen, mein kleiner Schatz. Ich habe vorhin mit deiner Mutter telefoniert, und es geht ihr gut. Die Beine schmerzen ihr, aber sie ist wohlauf und freut sich darauf, bald in unserer Nähe zu sein. Ich soll dich grüßen und dir einen dicken Kuss geben. Ich habe ihr versprochen, gut auf ihren kleinen Sonnenschein aufzupassen. Und auch sie vermisst dich sehr und hat große Sehnsucht nach dir.«
Sissi hatte aufmerksam zugehört, und Karin konnte merken, wie sich der kleine Körper auf ihrem Schoß ein wenig entspannte. Doch dann rollten doch wieder einige Tränen über das Kindergesicht, und Karin wusste, dass sie nur mit Erzählungen und Grüßen die Sehnsucht von Tochter und Mutter nacheinander nicht stillen konnte.
Ihr Mutterherz schlug heftig und sie hatte großes Mitleid, und ohne zu überlegen sagte sie zu Sissi: »Deine Mami hat auch Sehnsucht nach dir, und ich weiß, wie ihr euch fühlt, und das tut mir sehr leid. Du hast auch nichts Frisches zum Anziehen, da dein Koffer ja immer noch nicht gefunden wurde. Außerdem müsste mal jemand nach euren Blumen in der Wohnung schauen. Ich schlage daher vor, dass du und ich zu deiner Mami fahren und sie besuchen, sobald der Onkel Robert wieder da ist. Dann können wir gleich in eurer Wohnung nach dem Rechten schauen und dir noch ein paar Sachen einpacken. Wenn wir das Auto nehmen, brauchen wir nur etwa zwei Stunden zu euch, besuchen deine Mami, bleiben dann über Nacht und fahren erst am nächsten Tag wieder zurück. Oh, das ist eine schöne Vorstellung.«
Karin freute sich sehr über ihre gute Idee, die sie zwar noch nicht mit ihrem Mann besprochen hatte, aber von der sie wusste, dass sie gut war. Sissi brauchte dringend ein Wiedersehen mit ihrer Mutter.
Das kleine Mädchen strahlte ihre Tante freudig an und nickte heftig. Dann umarmten sie sich und drückten sich aneinander.
Wenige Minuten später war Sissi getröstet wieder in den Garten gegangen, und Karin stand erleichtert am großen Wohnzimmerfenster und schaute hinaus. Im Kopf war sie schon bei der Planung für die kommenden Tage. Sie müsste mit Robert reden und alles besprechen, am besten jetzt gleich. Sie nahm das Telefon in die Hand und wählte seine Nummer in der Hoffnung, er würde Zeit haben, mit ihr zu sprechen.
»Hallo mein Schatz, wie läuft es bei euch?«, fragte ihr Mann nur Sekunden später.
»Hallo, Robert, soll ich dir erzählen, was gerade in unserem Garten vor sich geht? Es ist ein bisschen unglaublich, und manchmal frage ich mich, ob wir bei der Erziehung der Jungen etwas falsch gemacht haben?«
Karin machte bewusst eine kleine Pause und wartete darauf, dass ihr Mann mehr Informationen über die Geschehnisse im Garten haben wollte. Aber sie hörte Robert am anderen Ende der Leitung nur lachen und sagen: »Nein, nein. Wir haben nichts falsch gemacht. Keine Sorge, alles in Ordnung. Es sind wunderbare Kinder mit eben kindlichen und manchmal unüberlegten Ideen. Was haben sie jetzt wieder ausgefressen?«
»Gut, wenn du meinst, dass wir alles richtig gemacht haben, beschreibe ich dir jetzt, was ich sehe, und dann überlegen wir gemeinsam noch einmal. Also, in unserem Garten halten sich drei Gespenster auf. Sie haben so circa die Größen von Moritz, Christian und Lukas. Sie machen gruselige Geräusche und verfolgen sich gegenseitig im wilden Tempo quer durch den ganzen Garten. In der Bettwäsche meiner Kunden …«
Karin machte eine kleine Pause. »Oh, jetzt ist das eine Gespenst über sein Gewand gestolpert und hat sich im Fallen am Rosenbusch festgehalten. Hm, das tut sicher sehr weh. Da heult es auch schon.«
Karin schüttelte ungläubig den Kopf und wartete auf das nächste Unglück. »Jetzt ist das kleinste Gespenst gegen die Schaukel gelaufen und hat sich den Kopf gestoßen. Aber es rennt schon weiter. Und ja, es sind die frisch gewaschenen Bettlaken der Familie von Lehn, die sie von den Leinen genommen haben, um sich als Gespenster zu verkleiden. Jetzt frage ich mich daher ernsthaft, was machen wir die nächsten sechs Wochen mit den Jungs und ihrem Bewegungsdrang? Sechs Wochen von morgens bis abends hier im Haus, das wird für alle anstrengend werden. Sie werden das Haus auseinandernehmen. Und zwischendrin das kleine, zarte Mädchen. Die Jungs brauchen frische Luft, Unterhaltung und eine große Portion Bewegung«, analysierte Karin schnell und sachlich.
Hektisch sprach sie weiter: »Außerdem hat heute Morgen die große Waschmaschine ihren Geist aufgegeben, und Frau Wildermann braucht schnellstmöglich all ihre Wäsche, da sie in Urlaub fahren. Obendrauf kommt noch, dass Sissi unglücklich ist und ganz schreckliche Sehnsucht nach ihrer Mutter hat. Zum Anziehen hat das Kind auch nichts. Wir müssen etwas kaufen oder es von Gut Sommerfeld holen.«
Karin drehte sich vom Fenster weg und ging durch das Wohnzimmer in den Flur. »Du siehst, mein lieber Mann. Es gibt einiges zu tun in diesem Haus, und du bist nicht da, um zu helfen. Ich bin ganz allein auf mich gestellt. Das ist viel Verantwortung mit Haus, Geschäft und vier temperamentvollen Kindern!«
»Ach, das habe ich nicht gewusst, dass diese Woche so anstrengend für dich ist. Und das ist gar nicht schön mit Sissi. Ich kann das Kind gut verstehen. Herausgerissen aus ihrer gewohnten Umgebung, dazu der Schock vom Autounfall und dann die Mutter weit weg im Krankenhaus. Wenn sie doch wenigstens mit uns sprechen könnte, wäre sicher alles einfacher für sie und für uns.«
Robert hatte seinen LKW auf einem Rastplatz angehalten, damit er sich auf das Gespräch mit seiner Frau konzentrieren konnte. Jetzt stieg er aus, um sich ein paar Augenblicke die Beine zu vertreten.
Es war ein milder und schöner Sommernachmittag. Die Sonne lachte am Himmel, die Vögel zwitscherten fröhlich und die Natur war in voller Pracht. An einem Tisch saß eine Familie mit drei Kindern und einem Hund. Auf dem Tisch hatten sie einen Picknickkorb ausgepackt, und fröhlich schwatzend und lachend machten sie ihre Rast. Robert beobachtete die Familie, und wieder wurde ihm bewusst, dass er weit weg von zu Hause war. Karin und die Kinder waren alleine – und er war auch alleine.
Nachdenklich sagte er zu Karin, die immer noch in der Leitung war: »Das ist keine schöne Situation. Nicht für dich, für die Kinder und auch nicht für mich. Ich mache mir Sorgen um euch, und es ist kein gutes Gefühl, euch so alleine zu wissen. Es bedrückt mich, und ich habe ein schlechtes Gewissen dir gegenüber. Du bist so eine fleißige, tapfere Frau und Mutter. Du kannst sehr stolz auf dich sein, und ich würde viel dafür geben, dich jetzt in den Arm nehmen zu können und zu küssen. Ich habe schreckliche Sehnsucht nach euch.«
»Ich habe auch Sehnsucht nach dir. Es ist so schön, wenn wir zusammen sind. Aber die Situation ist im Moment eben nicht zu ändern. Wir haben zusammen entschieden, als du die Arbeit bei der Spedition annehmen sollst. Jammern hilft uns jetzt nicht. Wir müssen die Familie zusammenhalten und uns organisieren. Wenn du wieder da bist, werde ich mit Sissi nach Nordheim auf das Gut Sommerfeld fahren und dann Claudia im Krankenhaus besuchen. Das Kind braucht Kontakt zu seiner Mutter. Sie können ja nicht am Telefon miteinander sprechen, sie müssen sich sehen und spüren, das ist jetzt wichtig. Für beide. Wir werden dann auch dort übernachten und Sissis Sachen packen. Es ist unsinnig, jetzt Sommerkleider für das Kind zu kaufen. Sie hat ja ausreichend, und nächstes Jahr passt ihr nichts mehr. Am nächsten Morgen würden wir noch mal Claudia besuchen und fahren dann wieder nach Hause. Du kümmerst dich um die Jungs. Ist das in Ordnung für dich?«
»Ja, das hört sich gut an. Es ist wichtig für Sissi, Claudia und auch für dich. Du willst doch auch sehen, dass es deiner Schwester gut geht. Natürlich passe ich auf die Jungs auf. Wir werden richtige Männertage machen«, antwortete Robert und lachte ein bisschen. Er freute sich auf seine Jungs. Er liebte seine Familie sehr. »Wir beide werden dann zwar nicht viel voneinander haben. Aber so ist das eben. Ab übernächste Woche habe ich ja Urlaub. Da werden wir alles nachholen«, sagte Robert zuversichtlich.
»Gut, dann machen wir es so, wie besprochen. Ach, mein lieber Schatz. Ich freue mich auf dich und auf unsere gemeinsame Zeit. Jetzt muss ich mich aber sputen. Die Mittagspause ist schon lange vorbei, und ich habe viel Arbeit.«
»Ich liebe dich«, sagte Robert.
»Ich liebe dich auch, mein guter Mann«, antwortete Karin liebevoll und legte dann auf.
*
Unterdessen war Pünktchen zurück nach Sophienlust gegangen. Sie freute sich und war auch ein bisschen stolz auf ihre Idee, das Kind nach Hause zu verfolgen. Danach war ihr eingefallen, dass Andrea von Lehn einmal erzählt hatte, sie ließe ihre Wäsche in einer kleinen Wäscherei in Wildmoos waschen, die vor einiger Zeit dort eröffnet hätte. Deshalb rief Pünktchen jetzt in Bachenau bei Andrea an und erfuhr von Denises temperamentvoller Stieftochter so einiges über Karin Schneider, über Claudia Bernshausen – und auch über das Schicksal des kleinen Mädchens, denn die beiden Frauen hatten ausgiebig geplaudert, als Andrea die Wäsche in Wildmoos vorbeigebracht hatte.
Pünktchen wollte zuerst Nick über die Neuigkeiten informieren. Ihm fühlte sie sich am stärksten von allen verbunden. Trotz ihres jungen Alters wusste und fühlte sie ganz tief in ihrem Herzen, dass sie füreinander bestimmt waren, ihr Leben gemeinsam zu verbringen. Aus den anfänglich zarten Gefühlen die beide füreinander hegten, war im letzten Jahr ein tiefes Vertrauen erwachsen.
Als Pünktchen durch das Eingangstor auf das Herrenhaus zuging, wurde sie schon von Heidi an der Freitreppe erwartet. Die Kleine saß auf der obersten Stufe und spielte mit den Kätzchen. Eines der Katzenkinder war besonders forsch und versuchte immer wieder, auf Heidis Schultern zu krabbeln, um mit ihren langen Haaren zu spielen. Heute war die blonde Haarpracht offen, und wenn Heidi den Kopf drehte, bewegten sich die langen Haare auf Schultern und Rücken. Das schwarze Kätzchen machte Jagd auf die einzelnen Strähnen und biss hinein, wenn es eine mit der Pfote fangen konnte.
Das Mädchen lachte laut auf und drehte seinen Kopf dann ganz schnell von rechts nach links, sodass die Haare nur so um ihren Kopf flogen. Auch das kleine Kätzchen drehte seinen Kopf schnell von rechts nach links und verfolgte so die blonde Beute.
»Weißt du jetzt, wer das Mädchen ist?«, rief Heidi, ihr Spiel unterbrechend, Pünktchen entgegen.
»Ja, ich weiß, wer sie ist. Andrea hat es mir am Telefon erzählt. Das ist eine ganz spannende Geschichte. Ich wollte Nick jetzt berichten, was ich herausgefunden habe. Willst du mitkommen? Dann brauche ich nicht alles zweimal zu erzählen«, fragte Pünktchen während sie die Treppe hinauflief.
»Oh, ich liebe spannende Geschichten. Ist sie eine Prinzessin? Oder eine Fee?«, fragte Heidi gespannt. Dann setzte sie behutsam die Kätzchen zu Boden und stand auf.
Die beiden Mädchen liefen ins Haus und direkt zum Biedermeierzimmer, in dem Nick seine tägliche Büroarbeit für das Kinderheim erledigte. Pünktchen verlangsamte ihren Schritt, zupfte ihr hübsches Sommerkleid zurecht und fuhr sich mit den Fingern durch das Haar, damit es ordentlich aussah. Sie holte tief Luft und klopfte dann an die Tür.
»Ja, bitte. Die Tür ist offen, immer hereinspaziert«, ertönte es aus dem Zimmer.
Die Mädchen öffneten die Tür mit einem Schwung und traten dann nacheinander ein. In einem gemütlichen Sessel saß Denise von Schoenecker und lachte die Hereinkommenden freundlich an. »Guten Tag, ihr beiden. Ich hoffe es geht euch gut und ihr genießt die ersten Sommerferientage. Freut ihr euch schon auf das Sommerfest?«, fragte sie freundlich.
»Oh, die Sommerferien sind super. Das ist ganz sicher. Und auf das Sommerfest freue ich mich besonders, weil ich ein Kunststück auf dem Pony aufführen wollte. Jetzt will ich aber lieber etwas auf dem Klavier spielen«, plapperte Heidi und spielte mit ihren Händen Luftklavier.
Pünktchen, Nick und Denise schauten verwundert zu dem kleinen Mädchen und schüttelten den Kopf.
»Du kannst Klavier spielen? Wann hast du denn das gelernt?«, fragte Nick. Heidi schüttelte heftig den Kopf.
»Nein, nein. Ich kann noch nicht spielen. Sissi will es mir beibringen, wenn sie das nächste Mal zu Besuch kommt. Dann kann ich es bis zum Sommerfest«, erklärte sie ernsthaft und schaute von einem zum anderen.
»Sissi? Den Namen habe ich noch nicht gehört. Wer ist denn das?«, fragte Denise und blickte neugierig zu ihrem Sohn und den beiden Mädchen.
»Ja, das möchte ich auch gerne wissen! Wer ist Sissi?«, fragte Nick.
»Das ist das kleine Mädchen mit den roten Haaren. Das Kind, das so schön Klavier gespielt hat«, klärte Pünktchen Nick und seine Mutter auf. »Sie war heute Mittag wieder hier und hat mit Heidi in ihrem Zimmer gespielt. Irgendetwas scheint sie dann aber erschreckt zu haben, und sie ist wie ein Sausewind aus dem Haus gelaufen.«
»Sie war wieder da? Das hatte ich gar nicht mitbekommen. Das ist das Mädchen, von dem ich dir noch berichten wollte«, sagte Nick zu seiner Mutter. »Sie muss ein großes Talent haben, und wir sollten ihr unbedingt die Möglichkeit geben, unser Klavier zu nutzen. Und natürlich auch um Heidi das Klavierspielen an einem Nachmittag beizubringen.« Nick grinste verschmitzt, als er das sagte. Pünktchen und Denise von Schoenecker schmunzelten ebenfalls über den kleinen Witz.
»Damit ich allen Gästen beim Sommerfest ein schönes Lied vorspielen kann«, rief das kleine Mädchen freudig aus und klatschte in die Hände. Sie hatte Nicks kleinen Schabernack nicht verstanden.
»Aber jetzt wollen wir doch Pünktchen erzählen lassen. Sie scheint ja doch noch weitere Informationen zu haben«, bemerkte Denise von Schoenecker und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Kleines Mädchen mit roten Haaren und Klavierspiel sagt mir etwas. Aber leider komme ich nicht darauf. Na ja, vielleicht fällt es mir gleich wieder ein, wenn Pünktchen mehr erzählt.«
Heidi setzte sich zu Denise auf den Rand des gemütlichen Sessels, und Nick, der hinter dem Schreibtisch saß, drehte seinen Bürostuhl so, dass er Pünktchen gut sehen und hören konnte. Dann schaute er sie direkt an und warf ihr einen liebevollen Blick zu.
Pünktchen hatte seit jeher einen besonderen Platz in seinem Herzen, und wenn er sah, dass sie, so wie jetzt, auch Verantwortung für die Kinder in Sophienlust übernahm, machte ihn das sehr glücklich.
»So, dann sind wir jetzt sehr gespannt, was du in Erfahrung bringen konntest«, sagte er und gab damit allen im Raum das Zeichen, still zu sein.
Pünktchen blieb mitten im Raum stehen, räusperte sich und warf Nick einen zärtlichen Blick zu. »Danke, Nick. Also, wie gesagt, bin ich dem Kind, also Sissi, hinterhergelaufen. Das war dann aber kein weiter Weg. Sie ist auf das Grundstück der Schneiders gelaufen und dort im Haus verschwunden. Die beiden großen Jungs kenne ich vom Schulhof, sie sind auch auf dem Gymnasium in Maibach. Die Mutter hat die kleine Wäscherei, die neben dem Haus liegt, und der Vater arbeitet bei einer Spedition als Fahrer. Der ist wohl nicht so oft zu Hause. Aber sicher haben sie keine Tochter, das weiß ich genau. Und daher denke ich, das Kind ist wohl nur als Gast dort.« Pünktchen machte eine kleine Pause und schaute zu den anderen im Raum.
»Ja, die Wäscherei kenne ich und habe mir schon überlegt, ob es sich lohnen würde, die Wäsche von Sophienlust auch dort reinigen zu lassen. Bislang machen wir das ja hier selbst. Andrea erzählte mir von dieser Möglichkeit, sie ist ganz begeistert. Sie sagte, im Sommer würde die Wäsche immer wunderbar nach Sonne und Wind duften. Da legt man sich dann doppelt gerne hinein.«
»Ja, genau! Andrea kennt die Familie gut. Und von ihr weiß ich, dass Sissi die Nichte der Schneiders ist und zurzeit bei ihnen wohnt. Eigentlich heißt sie Elisabeth. Sie ist sieben Jahre alt und wohl ein kleiner Sonnenschein – bei all den Jungs«, ergänzte Pünktchen lachend während sie sich auf das Sofa setzte und elegant die Beine übereinanderschlug.
Sie wirkte in diesem Moment sehr erwachsen, und Denise freute sich darüber. Ja, so wurden aus ‚ihren’ Kindern langsam junge Leute auf dem Weg ins Leben. Und sie sah noch etwas anderes: Den liebevollen und stolzen Blick, mit dem Nick das junge Mädchen anschaute. Mit ganzem Herzen wünschte sie den beiden jungen Menschen eine glückliche und gemeinsame Zukunft.
Pünktchen fuhr fort: »Der Grund, warum Sissi zurzeit bei den Schneiders wohnt, ist folgender: Sissi und ihre Mutter, Claudia Bernshausen, die Schwester von Karin Schneider, hatten einen Autounfall. Die beiden wohnen in Nordheim bei Frankfurt auf einem Gutshof. Claudia Bernshausen ist ausgebildete Erzieherin und kümmert sich schon seit Jahren als private Kinderfrau um den Sohn der Gutsbesitzer. Auch Sissi lebt auf dem Gut und wird dort wie eine Tochter behandelt. Deshalb kommt sie auch in den Genuss der sehr guten musikalischen Ausbildung, die der Sohn Daniel erhält. Daniels Mutter ist eine bekannte Opernsängerin und viel auf Konzertreisen im In- und Ausland. Sie ist es auch, die Sissi immer besondere Kleider aus aller Herren Ländern mitbringt. Daher ist das Kind immer in außergewöhnlichen Kleidchen unterwegs.«
»Puh, das wäre nichts für mich«, sagte Heidi plötzlich und schüttelte den Kopf. »Da könnte ich ja gar nicht reiten und laufen und auf Bäume klettern!« Das Kind war inzwischen auf den Schoß von Denise von Schoenecker gerutscht, und diese streichelte ihr zärtlich den Rücken.
»Nein, das wäre nichts für dich«, erwiderte Nick schnell, »aber wenn du beim Sommerfest ein Klavierkonzert spielen willst, kannst du das nicht in Reithosen machen. Ein schönes Kleid würde dir sicher auch stehen.«
Heidi zuckte erschrocken zusammen und sagte schnell: »Dann eben doch eine Reitvorführung mit den Ponys. Wenn man so schick sein muss für das Klavierspielen, will ich das nicht mehr.«
»Oh, jetzt hatte ich mich schon so auf das Klavierspiel von dir gefreut!«, rief Denise.
Heidi schüttelte den Kopf und sagte ernst: »Vielleicht beim nächsten Fest.« Jetzt mussten alle im Raum lachen.
»Es gab da also diesen Autounfall«, fuhr Pünktchen fort. »Sissi ist nichts weiter passiert. Nur der Schock hat ihr die Sprache verschlagen. Deshalb redet sie momentan nicht. Die Ärzte sagen aber, das sei nur eine Frage der Zeit und man sollte sich keine Sorgen machen. Die Mutter hat es schlimmer erwischt. Sie hat viele Prellungen am Körper und schlimme Verletzungen an beiden Beinen.«
»O mein Gott, die Arme. Das ist sicher sehr schmerzhaft«, entfuhr es Denise, und man konnte das Mitleid in ihrer Stimme hören.
»Ja, die arme Frau«, bestätigte Nick von seinem Stuhl aus. »Gut, das dem Kind nichts passiert ist. Wenigstens ein Trost in dem ganzen Unglück.«
»Karin Schneider ist auch sofort nach Nordheim gefahren, um nach ihrer Schwester zu schauen und Sissi zu holen. Die konnte ja nicht alleine auf Gut Sommerfeld bleiben. Zumal die Gutsbesitzer auf eine längere Auslandsreise gefahren sind. Der Schwester geht es wohl gut, sie ist operiert worden. Und Sissi ist jetzt für die nächsten Wochen in Wildmoos. Ihre Mutter soll nach dem Krankenhausaufenthalt zu einer Kur nach Maibach, in die Klinik am Park«, erklärte Pünktchen ernst.
»Ah, sie bekommt eine Rehamaßnahme. Das wird im Anschluss an einen Krankenhausaufenthalt gemacht, wenn Patienten eine größere Operation oder eine schwere Krankheit hatten. Die können sich in einer Kurklinik erholen und wieder zu Kräften kommen«, erklärte Denise. »Die Klinik in Maibach hat einen ausgezeichneten Ruf in der Nachbehandlung von verschiedenen Verletzungen. Da wird Claudia Bernshausen sicher gut aufgehoben sein. Und Sissi kann sie dort ganz einfach besuchen.«
Nick stand auf und ging zu Pünktchen, legte ihr seine Hand auf den Unterarm. »Das hast du sehr gut gemacht. Diese Informationen helfen uns weiter, und wir wissen jetzt, wer das mysteriöse Kind ist.«
Dann wandte er sich zu Heidi und sagte: »aber leider keine Fee und auch keine richtige Prinzessin. Würdest du dich trotzdem ein bisschen um Sissi kümmern, wenn wir ihr anbieten, hier in Sophienlust zu sein?«
Das Mädchen krabbelte umständlich von Denises Schoß, ging zu Nick, strahlte ihn an und sagte forsch: »Aber wenn Sissi wirklich herkommt, wohnt sie bei mir im Zimmer!« Und wieder lachten die Erwachsenen. Heidi war eben auch ein sehr großzügiges Mädchen.
»Gut, ich werde sie fragen, ob sie hier mit dir in deinem Zimmer wohnen möchte«, antwortete Nick und beschloss, Karin Schneider das Angebot zu machen.
Heidi hüpfte durch das Zimmer, klatschte in die Hände und sang dabei: »Eine Prinzessin wird kommen, eine Prinzessin wird kommen und bei mir wohnen … lalalala ….« Dann lief sie aus dem Zimmer, drehte sich um und rief: »Ich sage schon einmal den anderen Bescheid. Und auch Magda, die muss jetzt mehr kochen!«
Denise lachte herzlich und sagte: »Dieses Kind ist ein wahrer Sonnenschein. Ich bin sehr froh, dass Heidi hier so glücklich ist und dieses Glück gern mit anderen Kindern teilen möchte. Das ist ein schönes Kompliment für Sophienlust, und das macht mich sehr glücklich.«
Sie stand aus dem Sessel auf, ging zum Fenster und schaute ihren Sohn an. »Was sind jetzt deine Pläne, Nick?«
Der junge Mann erhob sich ebenfalls und ging im Zimmer auf und ab, dabei schaute er abwechselnd zu seiner Mutter und Pünktchen. »Ich werde jetzt zu Wolfgang Rennert gehen und ihm die neue Sachlage schildern. Er wird sicher zustimmen, dass wir Sissi die Möglichkeit geben sollten, hier in Sophienlust zu sein und Klavier zu spielen. Ich werde ihn fragen, ob er sie unterrichten kann. Das wäre sicher gut für das Kind. Man soll ja immer in Übung bleiben.«
Denise von Schoenecker und Pünktchen nickten zustimmend. »Ich werde morgen Vormittag zu Frau Schneider gehen und ihr und Sissi das besprochene Angebot machen. Und dann warten wir ab, was die Familie sagt. Ich würde mich freuen, wenn das so klappt. Das kleine Mädchen hat jetzt ein bisschen Freude verdient, nach so vielen Schicksalsschlägen.«
»Ich hätte da noch eine weitere Idee«, fuhr Denise einen Moment später fort, »willst du nicht den Schneider-Jungen anbieten, an unserem Sommerlager teilzunehmen? Das wäre doch sicher etwas für die drei. Den heimischen Wald und die Natur mit dem Revierförster erkunden, Holz sammeln, abends am Lagerfeuer sitzen, Stockbrot machen und in Zelten übernachten. Darauf freuen sich unsere Jungs doch auch schon so lange, und drei mehr macht nicht viel mehr Arbeit.«
»Oh, natürlich. Vielen Dank für diese gute Idee!«, rief Nick und lachte freudig. »Du bist eine wunderbare Mutter und Ratgeberin. Immer denkst du an alle und alles! Ich hoffe, ich werde später Sophienlust so klug und weise wie du leiten können.« Er ging, umarmte seine Mutter und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.
»Oh, nicht so stürmisch, mein Sohn!«, rief Denise. Dann nahm sie Nicks Hände in die ihren und sagte: »Ich bin sicher, dass du Sophienlust ganz hervorragend leiten wirst. Dein Herz ist auf dem rechten Fleck. Das ist das Wichtigste! So, und jetzt geh zu Wolfgang Rennert und besprich dich mit ihm. Ich bin schon sehr gespannt und freue mich auf die neuen Gäste!«
*
Am nächsten Morgen war Karin zeitig in ihrer Wäscherei. Sie wollte heute nur vormittags arbeiten. Nachmittags wollte sie mit den Kindern einen Ausflug machen und Eis essen gehen. Gerade hatte die junge Frau ein Bündel Wäsche der Familie von Lehn ordentlich zusammengelegt und verpackt. Das Paket war jetzt abholbereit, und Karin legte es in das Wäscheregal an der Wand.
Die Bettlaken, welche die Jungs zum Verkleiden genommen hatten, hatte sie natürlich noch mal waschen müssen. Sie lachte, als sie daran dachte, und machte eine kleine Pause, während sie sich in ihrem kleinen Laden umschaute. Ein warmes Gefühl machte sich in ihr breit. Ihr Mann Robert hatte die Ladeneinrichtung selber gebaut. Darauf war er auch sehr stolz. Er war ein guter Handwerker und hatte sich sehr viel Mühe gegeben.
Der große Tresen und die Regale waren aus robustem Kirschbaumholz und mehrfach lackiert, damit sie widerstandsfähig waren. Die schöne warme Holzfarbe gab dem kleinen Laden einen freundlichen Charakter, und Karin hatte ihn in den letzten Jahren mit einigen von ihren Kunden liebevoll angefertigten Handarbeiten geschmückt. Neben ihrer Kasse lag das hübsche blaue Nadelkissen von Frau Meier, und an der Eingangstür baumelte die fein bestickte Litze mit dem schönen Spruch: 'Glück ist das einzige, was sich verdoppelt, wenn man es teilt'. Besonders an dem liebevoll aufgearbeiteten Regenschirmständer aus poliertem Metall und dunkler Holzeinfassung hing ihr Herz. Der alte Herr Wirtz hatte ihr den geschenkt, als sie ihre Wäscherei vor einigen Jahren eröffnete. »Das ist eine Sache, die man immer brauchen kann. Er stand in der Bäckerei meiner Eltern. Alle hier im Dorf kennen diesen Ständer, denn gewiss jeder Schirm einer jeden Familie war hier schon drin«, hatte der ältere Mann damals gemurmelt, als er ihn ihr überreichte.
Karin war glücklich und stolz, so ein traditionsreiches Erbstück für ihren Laden zu bekommen. Inzwischen lief ihr kleines Geschäft gut, sie hatte viele Stammkunden und die Arbeit machte ihr Freude. Die junge Frau hatte ein glückliches Lächeln im Gesicht, als die Ladentür geöffnet wurde und sie die hereinkommenden Kunden begrüßte. »Guten Tag, meine Herren. Was kann ich für Sie tun?«
»Guten Tag, Frau Schneider. Mein Name ist Dominik von Schoenecker, und das ist Herr Rennert. Wir kommen vom Kinderheim Sophienlust und möchten mit Ihnen gern wegen Ihrer Nichte Elisabeth sprechen«.
»Ist etwas mit Sissi? Hat sie was angestellt? Nein, das glaube ich nicht. Sie ist so ein liebes Kind«, sagte Karin schnell und schaute die beiden Männer an. »Aber ich kenne Sie beide. Ihre Schwester, Frau von Lehn, ist meine Kundin, und Sie Herr Rennert, sind Lehrer am Gymnasium Maibach. Sie unterrichten meinen Sohn Moritz.«
»Ja, das ist richtig«, antwortete Wolfgang Rennert. »Ich unterrichte Moritz in Musik und Kunst. Er ist ein guter und fleißiger Junge. Wir, die Kollegen und ich, haben viel Freude an dem Jungen.«
»Oh, das höre ich gern. Und es stimmt ja auch, Moritz ist ein guter Sohn und ein toller Bruder«, sagte Karin. »Aber Sie sind ja wegen Elisabeth da. Wollen wir ins Haus gehen, da lässt es sich doch besser reden als hier im Laden?« Sie wies mit der Hand in den Flur zum Wohnhaus und ließ den beiden Männern den Vortritt.
Kurze Zeit später saßen sie in dem gemütlichen Wohnzimmer und Nick ergriff das Wort. »Also, Frau Schneider, wir sind hier, weil wir Elisabeth ein Angebot machen wollen. Vorausgesetzt natürlich, Sie sind einverstanden. Wir haben uns folgendes überlegt: Elisabeth ist ja zurzeit bei Ihnen und wird wohl auch noch einige Wochen hier bleiben. Und da das Kind so gern Klavier spielt, wollten wir anbieten, dass sie bei uns in Sophienlust das Klavier nutzen kann, sooft sie will. Herr Rennert würde ihr auch gern für die Zeit Unterricht geben, wenn Elisabeth das möchte. Aber natürlich ist sie auch nur so bei uns willkommen. Sie hat sich wohl auch schon mit unserer Heidi angefreundet.« Als Nick fertig gesprochen hatte, schaute er aufmerksam zu Frau Schneider.
»Jetzt bin ich ein wenig überrascht. Ich finde ihr Angebot ja sehr nett. Aber woher kennen Sie Elisabeth, und woher wissen Sie, dass sie Klavier spielt?«, fragte sie erstaunt.
»Ach, ja. Entschuldigung. Also, eigentlich kenne ich Elisabeth gar nicht. Ich selbst habe sie nur einmal gesehen. Das war gestern ganz früh am Morgen. Da saß sie auf einmal bei uns in Sophienlust am Klavier und hat ganz wunderbar gespielt.«
»Am frühen Morgen bei Ihnen in Sophienlust? Jetzt bin ich wirklich überrascht. Was macht das Kind am frühen Morgen in einem fremden Haus? O Gott, ich habe nicht aufgepasst!«, rief Karin erschrocken aus.
»Sie ist mehrmals morgens bei uns gewesen«, erzählte Nick weiter, «und gestern auch noch mal in der Mittagszeit. Sie hat wieder Klavier gespielt und dann mit Heidi das Haus angeschaut. Irgendetwas muss sie aber erschreckt haben, denn sie ist danach schnell aus dem Haus gelaufen.«
Karin stand auf und ging ruhelos durch das Wohnzimmer. »Ja, das ist richtig. Sissi kam gestern ganz aufgeregt ins Haus. Ich habe gedacht, dass sie Sehnsucht nach ihrer Mutter hat, und ihr angeboten, in den nächsten Tagen nach Nordheim zu fahren und ihre Mutter zu besuchen. Wir müssen auch Kleidung holen. Ich habe ihren Koffer auf der Bahnfahrt hierher verloren, und er ist bis jetzt noch nicht gefunden worden. Glücklicherweise hatte sie noch ein paar Sachen vom letzten Besuch hier. Ach, das ist alles eine verfahrene Situation. Mein Mann kommt aber erst morgen nach Hause. Er fährt für die Spedition Reimann in Maibach und ist immer mehrere Tage unterwegs. Und ich weiß auch noch nicht, was wir jetzt mit den Jungs machen. Sechs Wochen Sommerferien stehen vor der Tür. In den anderen Jahren sind wir immer drei Wochen zu meiner Schwester nach Gut Sommerfeld gefahren. Das war immer ereignisreich für alle Kinder, und sie konnten sich so richtig austoben. Ach, wenn ich jetzt darüber spreche, merke ich erst, wie viel in diesem Sommer doch anders ist. Und was mich ein bisschen beunruhigt ist, dass ich noch keinen Plan habe, wie ich alles unter einen Hut bekomme«, sprudelte es aus Karin heraus, und plötzlich hatte sie Tränen in den Augen.
Wolfgang Rennert bemerkte die Verzweiflung der jungen Frau. Er stand auf, ging zu ihr und legte seine Hand auf ihre Schulter. Dann sagte er mit fester Stimme: »Frau Schneider, das sind wirklich viele Ereignisse zur gleichen Zeit. Aber es gibt immer eine Lösung für alles. Verzweifeln Sie nicht. Wir werden Ihnen helfen. Sissi kann jeden Tag zu uns kommen und Klavier spielen. Ich will ihr gerne Unterricht geben. Sie kann mit Heidi und den anderen Kindern spielen. Wenn sie möchte, kann sie sogar dort schlafen. Wir haben auch verschiedene Tiere und viel Platz zum Spielen und Toben. Bei uns ist immer etwas los. Bald haben wir unser Sommerfest, bis dahin muss noch viel vorbereitet werden, und wenn Sissi möchte, kann sie dabei helfen. Vielleicht lenkt sie das ein bisschen von dem Autounfall mit ihrer Mutter ab und sie findet ihre Sprache wieder.«
»Woher wissen Sie das mit dem Unfall?«, fragte Karin erstaunt, nachdem sie sich wieder ein wenig gesammelt hatte.
Jetzt stand auch Nick auf und ging im Wohnzimmer auf und ab. »Pünktchen, also Angelina, ein Mädchen, welches auch in Sophienlust wohnt, ist Sissi gestern gefolgt, als sie so überstürzt weggelaufen ist. Pünktchen hat dann mit Andrea von Lehn, der Besitzerin des Tierheims Waldi & Co., telefoniert, weil sie wusste, dass sie regelmäßig ihre Wäsche bei Ihnen waschen lässt, und sie gefragt, ob sie wüsste, wer das niedliche Kind mit den roten Locken ist. Meine Schwester Andrea hat ihr dann alles erzählt. Daher kennen wir einen Teil der Geschichte. Ich hoffe, das war in Ordnung, dass meine Schwester Auskunft gegeben hat?«, sagte Nick und schaute Karin fragend an.
»Ach, Andrea. Ja, sie ist schon seit Jahren eine meiner liebsten Kundinnen. Sie ist ein ganz wunderbarer Mensch, und sie hat einen sehr netten Ehemann. Und einen ganz reizenden Sohn, Peterle. Und sie kennt Sissi natürlich auch schon. Immer wenn meine Schwester mit Sissi hier zu Besuch war, ist sie zusammen mit den Jungs in der Umgebung unterwegs gewesen. Natürlich auch in Bachenau im Tierheim bei Andrea und Hans Joachim. Die Umgebung ist ihr ja nicht fremd, und sie fühlt sich auch immer wohl hier.« Karin seufzte. »Es ist völlig in Ordnung, dass Andrea über unsere Situation erzählt hat. Es ist ja kein Geheimnis. Aber ich merke erst jetzt, da ich darüber spreche, dass es doch eine größere Belastung ist, als ich gedacht hatte. Ein wenig Hilfe und Freude für Sissi wäre wunderbar. Ich werde später mit dem Kind reden und ihr das nette Angebot vorschlagen.«
Nick stand am großen Fenster und schaute in den Garten. Plötzlich begann er laut zu lachen. Wolfgang Rennert und Karin schauten erstaunt zu ihm und traten auch zum Fenster. Dann lachten sie alle drei: Die Schneider-Jungs jagten sich gegenseitig durch den Garten. Dabei krabbelten sie auf allen vieren hintereinander her. Ziel dieses wilden Spiels war es, einen Fuß des anderen zu erwischen und sich daran festzuhalten. Die Jungs lachten laut und hatten viel Spaß.
»Sehen Sie, was ich meine. Drei wilde Jungs, ein zartes Mädchen und sechs Wochen Sommerferien im Garten.«
»Für die Jungs hatte ja meine Mutter noch eine wunderbare Idee«, fiel es Nick ein: »Ab übernächster Woche beginnt bei uns das Sommerlager für unsere Kinder, die während der Sommerferien in Sophienlust bleiben. Tagsüber wollen wir Ausflüge machen und die Gegend erkunden. Der Revierförster wird viel mit den Kindern im Wald unterwegs sein. Sie beobachten Tiere und lernen alles über die Pflanzen und Bäume, die es im Wald gibt. Er wird ihnen zeigen welche Beeren und Pilze man essen kann. Abends wollen wir am Lagerfeuer Stockbrot grillen. Wir werden zwei große Zelte im Park aufbauen. Dort übernachten die Kinder. Natürlich versorgt unsere Köchin Magda alle mit ihrem guten Essen. Aber mehr in Picknickform als am Mittagstisch. Wir wollen auch nach Maibach ins Schwimmbad und an einem Abend in ein Open-Air-Kino. Die Kinder sind so den ganzen Tag beschäftigt und haben sicher viel Spaß.«
»Oh, das klingt aufregend. Das wäre fantastisch für die Jungs. Aber wir wollen Ihnen ja nicht zu sehr zur Last fallen. Die Kinder können ja dann zu Hause schlafen«, schlug Karin vor.
»Nein, nein«, sagte Wolfgang Rennert schnell. »Die Jungs fallen nicht zu Last. Und natürlich sollen sie in den Zelten schlafen. Das macht ja erst das 'Lagerleben' aus. Und es gibt noch ein zusätzliches Zusammengehörigkeitsgefühl. Sie werden sehen, Frau Schneider, alles wird gut werden.«
»Gut. Vielen Dank für Ihre freundlichen Angebote. Wollen Sie die Jungs einladen? Ich rede später ganz in Ruhe mit Sissi. Oh, das wäre so schön, wenn das alles klappen würde.« Karin strahlte über das ganze Gesicht, und vor Freude klatschte sie in die Hände. Jetzt hatte sie neue Zuversicht gefasst. Sie war in diesem Augenblick nicht alleine mit den Sorgen. Es gab Menschen um sie herum, die ihr und ihrer Familie halfen. Das war ein schönes Gefühl.
*
Robert Schneider fuhr die letzten Kilometer auf der Autobahn, bevor seine Ausfahrt kam und er für dieses Mal seine Tour fast beendet hatte. Jetzt musste er nur noch zur Spedition fahren, wenn nötig abladen helfen und wieder neu aufladen. Der LKW sollte gleich weiterfahren, und der Fahrer dafür wartete schon auf dem Speditionsgelände.
Robert war dankbar für seinen Job. Er hatte es nach seinem Arbeitsunfall und dem darauffolgenden Konkurs seiner kleinen Schreinerfirma nicht leicht gehabt, eine neue Arbeit zu finden. Die neue Stelle und der gute Verdienst hatten ihm frischen Mut gegeben. Karin verdiente mit ihrer Wäscherei immer dazu, aber dieses Geld reichte nicht für eine fünfköpfige Familie. Es gab einige Monate, in denen die Familie am Monatsende kaum genug Geld gehabt hatte, um Essen zu kaufen.
Aber er hatte eine wunderbare Frau, die ihn in den schlimmen Zeiten immer wieder tröstete und Mut zusprach. Robert liebte Karin über alles, und er war jeden Tag dankbar dafür, dass er sie und die Jungen hatte. Seine kleine Familie war sein Leben und machte ihn unendlich glücklich.
Nun hatte er das Gelände der Spedition erreicht und fuhr den Lastwagen zum Abladen auf den vorgegebenen Platz. Er packte seine Sachen aus der Fahrerkabine in seine Tasche und öffnete die Tür. Dann stieg er aus, ein großer muskulöser Mann, schloss die Fahrertür und ging über den Hof zum Büro. Er winkte den beiden Kollegen, die jetzt seine Fracht ausluden, um den LKW dann wieder neu zu beladen. Sehr schön: Sie waren zu zweit, da brauchte er selbst nicht noch mit anzupacken.
Rasch hatte er das Bürogebäude erreicht und nahm die fünf Stufen der Treppe mit zwei großen Schritten. Dann stand er im Gang, von dem aus rechts und links die Türen in die einzelnen Büros abgingen. Robert ging auch jetzt zügig an den Türen vorbei und blieb dann vor der letzten stehen. Er klopfte und öffnete die Tür, ohne auf eine Antwort zu warten.
»Hallo, Stefan. Ich bin jetzt wieder da. Es hat alles gut geklappt. Sogar der Verkehr war erträglich. An der Grenze habe ich allerdings fast doppelt so lange gewartet wie sonst. Da merkt man, dass Sommerferien sind und viele Menschen in die Nachbarländer verreisen«, erklärte Robert seinem Chef Stefan Reimann, der hinter seinem großen Schreibtisch saß und seinen Angestellten freundlich anlachte.
»Das hört sich gut an, und fantastisch, dass du so pünktlich wieder hier bist. Dann kann die nächste Ladung heute Abend noch raus. Das schafft ein bisschen Erleichterung in unserem Terminplan.« Wieder lächelte Stefan freundlich. Dann stand er auf und ging um seinen Schreibtisch herum, bis er neben Robert stand. Er legte seine Hand auf die Schulter des Mitarbeiters und machte ein ernstes Gesicht. »Da gibt es allerdings noch etwas, um das ich dich bitten muss. Der Fahrer für die Wochenendfahrt mit dem Kühllaster nach Belgien ist ausgefallen. Ich habe keinen Ersatz. Ich würde ja selber fahren, aber meine Tochter heiratet am Samstag, und da möchte ich dabei sein. Zumal ich sie auch zum Altar führe«, erklärte Stefan und schaute erwartungsvoll zu Robert.
»Ach, ist die Hochzeit dieses Wochenende? Ich dachte, bis dahin wäre noch viel Zeit. Aber da sieht man mal, wie schnell die Zeit vergeht.«
»Ja, wir sind schon mitten im Sommer. Die Ferien haben ja auch schon begonnen. Also, folgendes Angebot von mir: Wenn du dieses Wochenende die Fahrt übernehmen kannst, bekommst du dafür eine Woche länger Urlaub. Die Tage kannst du dann nehmen, wie du möchtest. Das ist doch ein unschlagbares Angebot, das du unmöglich ablehnen kannst«, sagte Stefan und schaute hoffnungsvoll zu Robert.
Der überlegte, schüttelte mit dem Kopf und antwortete: »Das hört sich verlockend an. Ich müsste es aber mit Karin besprechen. Allerdings sehe ich kaum eine Alternative. Ich werde die Tour wohl fahren. Ich würde mir schlecht vorkommen, wenn ich dir absagen würde. Du hast so viel für mich und meine Familie getan. Ich freue mich, selbst wenn es jetzt zeitlich nicht so gut passt, dir etwas zurückzugeben.«
Stefan war gerührt und legte wieder seine Hand freundschaftlich auf Roberts Schulter. »Danke, ich weiß das zu schätzen. Du bist einer meiner besten Männer, und ich arbeite sehr gern mit dir zusammen. Ich kann mich immer auf dich verlassen, das ist sehr viel wert in der heutigen Zeit.«
»Gut, das freut mich zu hören«, sagte Robert und nahm dann seinen ganzen Mut zusammen: »Da wäre doch noch was. Wenn es möglich ist und eine Stelle frei wird, würde ich gern auf eine regionale Tour oder ins Büro wechseln. Karin ist viel alleine, und die Jungs werden immer größer und auch wilder. Es wäre besser, wenn ich mehr zu Hause wäre. Ich weiß, dass jetzt nichts frei ist. Aber es wäre schön, wenn du es im Hinterkopf hast und an mich denkst, wenn sich die Gelegenheit ergibt.«
»Klar, das mache ich. Daran hatte ich sogar auch schon gedacht. Ich weiß ja, dass du die Jungs und jetzt sogar noch ein bezauberndes kleines Mädchen dazu bekommen hast. Sobald die Möglichkeit besteht, kannst du wechseln. So, aber jetzt ab nach Hause zu deiner Familie.«
Die beiden Männer reichten sich die Hände zum Abschied und Stefan setzte sich erleichtert wieder hinter seinen Schreibtisch. Robert verließ das Büro und ging auf direktem Weg zum Parkplatz, wo sein eigner PKW stand. Er musste sich jetzt mit Karin besprechen. Erfreut würde sie wegen der Fahrt am Samstag nicht sein, aber vielleicht könnte sie sein Versetzungsantrag und eine Woche extra Urlaub ein bisschen trösten. Eventuell würde sogar einer seiner Jungs am Wochenende mit nach Belgien kommen wollen. Dann müsste er nicht alleine die lange Strecke fahren.
Mit einem guten Gefühl trat er den kurzen Heimweg an. Karin erwartete ihn schon freudig und fiel ihm gleich um den Hals, als er in die Wäscherei trat.
»Ach, mein Schatz. Es ist so schön, dass du wieder da bist! Ohne dich sind wir immer nur eine halbe Familie. Jetzt haben wir ja wenigstens ein wenig Zeit miteinander, bevor wir uns wieder trennen müssen. Darauf freue ich mich sehr. Wir müssen auch ein paar wichtige Dinge besprechen«, sprudelte sie heraus. Dabei lachte sie übermütig, küsste ihren Mann auf den Mund und schmiegte sich an ihn.
»So, so«, sagte er, erwiderte ihren Kuss und strich ihr zärtlich mit seiner rechten Hand über die Haare. »Du hast mich also vermisst? Ich habe euch auch vermisst. Aber jetzt bin ich ja wieder zu Hause und wir können Zeit miteinander verbringen.«
Karin und Robert blieben noch eine paar Augenblicke eng umschlungen stehen und genossen die körperliche Nähe und Wärme des anderen.
Da öffnete sich die Tür zu Wäscherei und ein Mann trat ein. »Familie Schneider? Sind sie Frau Schneider? Ich habe hier einen Koffer, der im Zug vergessen wurde. Er wurde in München aus dem Zug geholt und ist heute Morgen in Maibach an der Station angekommen. Ist das Ihr vermisster Koffer?«
»Oh, wie schön! Sissis Koffer!«, rief Karin laut, als sie das Gepäckstück erkannte, und klatschte freudig in die Hände. »Das ist aber nett, dass Sie den Koffer bis zu uns bringen. Da bin ich sehr dankbar.« Sie nahm den Koffer entgegen und wirbelte ihn einmal um sich herum. »Ich bringe ihn gleich zu Sissi. Die wird sich freuen!«
Robert schüttelte lächelnd den Kopf, als er seiner Frau nachsah, die wie ein Sausewind in die Wohnung gelaufen war. Dann nahm er seine Geldbörse und gab dem Mann ein Trinkgeld. Dieser freute sich sehr, wünschte noch einen schönen Tag und verließ die Wäscherei.
Robert folgte seiner Frau in den anderen Teil des kleinen gemütlichen Hauses. Er freute sich darauf, mit seinen Kindern Zeit zu verbringen. Es waren Sommerferien, alle waren zu Hause und gut gelaunt.
Ein wenig Sorgen machte er sich um Sissi. Sie redete immer noch nicht, hatte Karin erzählt. Wie sehr hätte er es dem Kind gegönnt, in den kommenden Tagen zu der Mutter zu fahren, aber das ging jetzt nicht mehr. Er hatte seinem Chef versprochen, die Wochenendtour zu übernehmen, und das bedeutete, dass Karin zu Hause sein musste, um auf die Jungs aufzupassen. Diese Tatsache würde er jetzt noch mit seiner Frau klären müssen. Er war sich sicher, dass sie Verständnis hatte, aber wie würde Sissi reagieren? Darüber machte er sich viele Gedanken. Das arme Kind hatte in der letzten Zeit so viel ertragen müssen, und jetzt würde er ihr noch die Freude nehmen, die Mutter endlich wiederzusehen. Robert hatte ein schlechtes Gewissen, und damit trat er in den Garten, wo sich der Rest seiner Familie aufhielt.
Sissi saß mit Karin in der Hollywoodschaukel. Zwischen ihnen stand der geöffnete Koffer, der mit großem Interesse ausgepackt wurde. Jedes Teil wurde einzeln in die Hand genommen und von beiden ausführlich begutachtet und gelobt. Karin war entzückt von den Kleidern, die das Kind besaß, und mit der flachen Hand fuhr sie vorsichtig über die schönen Stoffe. Sissi machte ihr das nach, und dann nickten beide zufrieden und lächelten sich an.
Jetzt hatten die Jungen ihren Vater entdeckt und stürmten auf ihn zu. Alle drei gleichzeitig, und jeder wollte der Erste sein, was unweigerlich zu einem Gerangel auf der Wiese führte wobei zwei der drei Hitzköpfe der Länge nach in das weiche Gras fielen. Der Kleinste und damit Flinkste schaffte es zuerst zu seinem Vater. Der hatte beide Arme weit geöffnet und fing seinen Jüngsten auf. »Erster. Ich bin Erster. Ich habe gewonnen!«, rief Lukas laut, als er von seinem Vater aufgefangen wurde.
»Ja, das stimmt. Du hast gewonnen. Diesmal warst du schneller und geschickter als deine Brüder«, erwiderte Robert lachend und wirbelte seinen jüngsten Sohn einmal um sich herum. Dann umarmten auch die anderen beiden ihren Vater. Robert drückte seine drei Jungs an sich.
»Ich freue mich, euch zu sehen. Ich habe euch vermisst. Wie geht es euch?« Sofort schwatzten alle drei gleichzeitig mit wilden Gesten los. Robert verstand nur die Wortfetzen: »Sommerlager«, »Abenteuer« und »Lagerfeuer«. Erstaunt und neugierig schaute er die Kinder an und schlug vor, dass sie später ausgiebig reden könnten, jetzt wollte er schnell auch Sissi begrüßen.
Die beiden großen Jungs ließen von ihm ab und liefen im Galopp zu der Hollywoodschaukel. Nur der Jüngste blieb bei seinem Vater, der den Arm um ihn gelegt hatte. Zusammen gingen sie die paar Meter zur Mutter und dem kleinen Mädchen.
Als Sissi sah, dass Robert auf sie zukam, stand sie von der Hollywoodschaukel auf und kam ihm in kleinen Schritten entgegen. Wie immer wirkte sie zart wie ein Feenkind, und als er sie erreicht und in den Arm genommen hatte, schmiegte sie sich zärtlich an ihn.
Ja, auch Sissi freute sich, dass ihr Onkel Robert jetzt zu Hause war. Sie mochte ihn sehr gern, und da sie keinen Vater hatte, war er den letzten Jahren so etwas wie ihr Ersatzpapa geworden, dem sie vertraute.
Jetzt musste Robert seiner Familie sagen, dass er am Wochenende die Belgientour für seinen Chef übernommen hatte. Es war ihm bewusst, dass wahrscheinlich nur seine Frau Verständnis dafür hatte, die Kinder würden es nicht verstehen, da sie noch nicht wussten, was Verantwortung war, und wie wichtig es war, einen guten Job zu haben.
Er setzte sich vor der Hollywoodschaukel auf den Rasen, atmete einmal tief durch und sagte dann mit rauer Stimme: »Es tut mir sehr leid, aber ich werde am Wochenende nicht bei Euch zu Hause sein können. Ich muss eine Fahrt nach Belgien machen. Die Tochter meines Chefs heiratet, und der andere Fahrer ist ausgefallen. Da bleibe nur noch ich, der die Frischware fahren kann. Ich weiß, dass ihr andere Pläne hattet, und es ist nicht schön, dass ich die jetzt durchkreuzen muss. Ich kann nur auf euer Verständnis hoffen.« Robert war froh, dass es jetzt heraus war, und er schaute mit einem bedrückten Gesichtsausdruck in die Gesichter der anderen.
Keiner sagte etwas, und für einen Moment war es ganz still. Karin beugte sich nach vorn und strich ihrem Mann sanft über die Wange. »Alles gut, mein Schatz. Das ist ja nicht deine Schuld. Wir werden das Wochenende eben anders planen«, sagte sie und lächelte. »Wir haben doch schon ganz andere Sachen zusammen gemeistert. Da ist so ein verschobenes Wochenende nicht wirklich schlimm.«
»Kann ich mit dir nach Belgien fahren?«, fragte Christian, »du hattest es mal angeboten, dass wir mal mitfahren können, wenn wir wollen. Und ich würde jetzt wollen!«
»In Ordnung«, rief Moritz dazwischen, »dann fahre ich doch mit Kai und seinen Eltern in ihr Sommerhaus am See. Die hatten mich letzte Woche eingeladen!«
»Ich bleibe zu Hause und bastle das Modellbauschiff fertig, damit ich es auf dem See fahren lassen kann«, erklärte Lukas wichtig.
»Welches Schiff?«, fragte Christian neugierig.
»Mein Weihnachtsgeschenk. Die weiße Jacht mit Fernbedienung«, erklärte Lukas seinem Bruder.
»Und du, Sissi?«, fragte Robert vorsichtig, »bist du sehr traurig, dass du wahrscheinlich nicht zu deiner Mutter fahren kannst?«
Das kleine Mädchen nahm Roberts Gesicht in ihre Hände und schaute ihm in die Augen. Dann schüttelte sie den Kopf und lächelte leicht. Sie strich mit der rechten Hand über seine Wange und gab ihm einen Kuss auf die Stirn.
Robert hatte Tränen in den Augen. Er war gerührt über die Großzügigkeit und das Verständnis des kleinen Mädchens. Er liebte sie wie seine eigene Tochter und nahm Sissi ihn den Arm, drückte sie leicht und gab ihr einen Kuss auf die roten Locken.
Wenige Minuten später waren die Kinder in verschiedene Richtungen verschwunden und Robert saß neben seiner Frau auf der Hollywoodschaukel. Er hielt sie im Arm und sagte aus tiefstem Herzen: »Ihr seid das Beste, was es in meinem Leben gibt. Ich liebe euch – und ganz besonders dich – so sehr!«
»Wir lieben dich auch«, erwiderte Karin und lachte glücklich. «Wegen des Wochenendes brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Sissi und ich hätten sowieso nicht nach Nordheim fahren können. Claudia hat eine weitere kleine Operation, die aber nicht im Krankenhaus, sondern in einer Spezialklinik gemacht wird. Von dort kommt sie erst am nächsten Montag zurück. Und nur für die Kleidung den weiten Weg zu fahren, hätte sich nicht gelohnt. Daher haben Sissi und ich beschlossen, nicht zu fahren. Wir haben aber andere gute Nachrichten, von denen du noch nichts weißt.«
*
Am Nachmittag machte sich dann die ganze Familie auf, um Sophienlust zu besuchen. Die drei Jungen liefen voraus, und auf den letzten Metern vor dem Eingangstor begannen sie plötzlich zu rennen und sich gegenseitig zu überholen. Jeder wollte der Erste sein. Diesmal schaffte es Christian und freute sich lautstark über seinen Sieg.
Karin schüttelte den Kopf und sagte: »Diese Jungs!«
Diesmal ganz offiziell ging Sissi durch das Eingangstor. Sie war ein bisschen eingeschüchtert und umklammerte mit ihren beiden Händen Karins rechte Hand. So schritten alle auf das Hauptgebäude zu.
Heidi stand ganz oben auf der Freitreppe. Sie hatte die Besucher schon gesehen und winkte mit beiden Händen. Dann lief sie schnell die Treppe hinunter und der Familie entgegen.
Sissi löste ihre Hände von Karins Hand und lief ebenfalls winkend auf Heidi zu. Als die beiden Mädchen sich erreicht hatten, umarmten sie sich und lachten freudig.
»Na, das sieht aus, als ob die beiden sich schon lange kennen. Wer ist das Mädchen?«, fragte Robert Karin.
»Ich kenne sie auch nicht. Aber das muss Heidi sein. Nick von Schoenecker hat von ihr erzählt. Sie war sehr nett zu Sissi und hat ihr gleich ihre Freundschaft angeboten. Und so, wie es aussieht, ist sie ein kleiner Wirbelwind. Und das ist genau das, was Sissi braucht. Eine fröhliche Freundin, die sie auf andere Gedanken bringt. Vielleicht findet sie dann auch ihre Stimme wieder. Im Spiel mit einer Freundin, ohne Zwang und Beobachtung. Ich würde es ihr so sehr wünschen«, sagte Karin nachdenklich.
Auch andere Sophienlustbewohner hatten die Gäste bemerkt und winkten ihnen vom Park aus entgegen. Die meisten waren Schulkameraden von Christian, Moritz und Lukas. Innerhalb von ein paar Minuten waren die drei Schneider-Jungen mit den anderen Kindern im großen Park verschwunden.
»Na, das ging ja schnell«, bemerkte Robert. »Erst das Mädchen, jetzt die Jungs. Wir werden später alleine nach Hause gehen und alle Kinder hier in Sophienlust lassen«, lachte er.
Dann hatten Karin und er das Haupthaus erreicht und gingen die Stufen der breiten Freitreppe zum Eingang hinauf. Oben angekommen, drehte sich Robert um und schaute zum Weg, den sie gekommen waren. »Man kann den Schornstein von unserem Haus sehen. Es ist wirklich nicht weit zu uns nach Hause. Und es ist merkwürdig, dass ich in all den Jahren erst ein- oder zweimal hier in Sophienlust gewesen bin«, sagte er nachdenklich. »Es ist sehr schön hier, und ich kann verstehen, warum die Bewohner hier so gerne leben.«
Dann traten sie beide ins Haupthaus ein, und Nick von Schoenecker empfing sie freundlich.
»Guten Tag Herr und Frau Schneider. Ich freue mich, dass Sie uns in Sophienlust besuchen. Gern würde ich Ihnen erst das Haus und Außengelände zeigen. Meine Mutter würde Sie danach gern auf eine Tasse Kaffee und ein Stück selbst gebackenen Kuchen einladen. Dann können wir alles Weitere besprechen. In Sophienlust findet nächstes Wochenende das Sommerfest statt, und es wäre schön, wenn wir mit Ihren Jungen und Sissi noch ein wenig Hilfe zur Vorbereitung und Durchführung hätten. So wie zurzeit die Pläne der Kinder sind, soll es ein buntes Programm geben, in dem von allem etwas geboten wird.«
»Oh, das klingt spannend! Daran hätten die Kinder sicher Freude. Vor allem die Jungs. Die sind so gerne draußen in der Natur unterwegs«, sagte Karin mit freudiger Stimme.
»Ja, und die beiden Großen sind handwerklich begabt. Sie helfen mir immer, wenn etwas im Haus zu reparieren oder neu zu bauen ist. Das Baumhaus in unserem Garten haben sie selbst entworfen und gebaut. Ich habe nur mit Tipps und Material geholfen«, erzählte Robert, und man konnte den Stolz in seiner Stimme hören.
Am späten Nachmittag und nachdem alles besprochen war, gingen Robert und Karin den kurzen Weg zu ihrem Haus zurück. Alleine, so wie Robert es vorausgesagt hatte. Die vier Kinder wollten noch bis zum Abendessen bleiben. Und so blieb es auch an den folgenden Tagen. Die Kinder verbrachten viel Zeit in Sophienlust.
*
Und dann kam endlich der Tag des von allen lang ersehnten Sommerfestes. Der Himmel strahlte in seinem schönsten Blau, und die Sonne lachte dazu in voller Pracht. Es war ein herrlicher Tag und die Vorfreude bei allen Teilnehmern war groß.
Die Kinder hatten sich wochenlang vorher schon damit beschäftigt, was sie an diesem Tag den Gästen vorführen wollten. Dann hatten sie viele Stunden geübt, geprobt und ausprobiert. Die meisten der Sophienlustkinder hatten ein Hobby, und es wäre ein Leichtes gewesen, in diesem Bereich etwas vorzuführen. Aber das war ihnen nicht genug. Sie wollten mit etwas anderem glänzen als dem, was sie schon gut konnten.
Und so war das Programm bunt gemischt und den Besuchern würde bestimmt nicht langweilig werden. Es gab magische Zauberkünstler, waghalsige Artistiknummern, mutige Tierzähmungen und wilde Tanzeinlagen.
Carola Rennert hatte sich bereit erklärt, die Einladungen zu gestalten. Sie war eine sehr talentierte junge Frau mit vielen künstlerischen Ideen, und so wurde selbst das Programmheft zu einer Attraktion. Die Kinder hatten Plakate in Wildmoos, Bachenau und der näheren Umgebung aufgehängt und in den umliegenden Geschäften Einladungen ausgelegt.
Der Tag des Festes war genau geplant, und jeder hatte seine Aufgabe. Denise von Schoenecker war zuversichtlich, dass es eine gelungene Veranstaltung werden würde. Nick war sich nicht so sicher, denn es war das erste Mal, dass er die Verantwortung trug und nicht seine Mutter. Er war aber sehr stolz, als er sah, wie die Kinder sich ins Zeug gelegt hatten. Aber auch die Erwachsenen hatten sich in vielen extra Stunden viel Mühe gegeben, damit es auf Sophienlust hübsch und einladend aussah.
Die älteren Mädchen hatte eine große Blumengirlande über das schmiedeeiserne Eingangstor gehängt und die Seiten mit flatternden roten Bändern geschmückt. Der Weg zum Haus war rechts und links mit bunten Fackeln abgesteckt, die in der Dämmerung angezündet werden sollten. Auf der großen Freitreppe standen frisch gepflückte Wiesenblumen in großen Vasen und hießen die Besucher willkommen. Im Haus strahlte und duftete es um die Wette. Die großen Fenster in den Räumen waren sauber geputzt und die Dielen im Flur frisch gebohnert.
Dazu duftete es nach frisch gebackenen Leckereien und köstlichen Hefebrötchen. Auch Else Rennert, die Heimleiterin, hatte vier von ihren berühmten Apfelkuchen gebacken, auf die sich alle schon freuten. Magda hatte sich eine frische Schürze umgebunden und lief aufgeregt durchs Haus, um noch die allerletzten Staubflocken zu entfernen. Alles sollte perfekt sein, wenn die Gäste zum Sommerfest kamen.
Zum Programm gehörte auch ein fröhliches Stück am Klavier, gespielt von Sissi. Heidi hatte sich freundschaftlich dazu bereit erklärt, ihre neue Freundin mit einer Tanzeinlage dabei zu unterstützen. Da die beiden das einstudierte Stück zu verschiedenen Zeiten aufführen wollten, damit jeder Gast die Möglichkeit hatte, es zu hören und sehen, hatten die beiden einen genauen Zeitplan gemacht. Den studierten sie jetzt immer wieder, und Nick konnte merken, dass die beiden jungen Damen schon jetzt ziemlich aufgedreht waren.
Da Heidi auch ein Kunststück auf dem Pony vorführen wollte, und Sissi versprochen hatte, das Tier dann zu führen, mussten die Kinder mehrmals die Kleidung wechseln. Denn die feinen weißen Kleidchen, die sie für den musikalischen Auftritt trugen, konnten sie nicht bei der Ponynummer tragen.
Nick lachte, als die beiden ihm ihren ausgeklügelten Plan zeigten. Ob sie denn auch Zeit hätten, etwas zu essen oder die anderen Angebote des Festes wahrzunehmen, hatte er gefragt. Die beiden Mädchen bejahten eifrig, und Heidi sagte zu Nick: »Du musst dir keine Sorgen machen. Wir haben genau geplant und alles probiert. Das wird toll werden, und die Gäste werden begeistert sein.« Nick lachte und wünschte den beiden viel Glück.
Er freute sich, die Kinder so glücklich zu sehen, und die beiden Mädchen hatten offensichtlich so viel Spaß miteinander. Es war so gut für Sissi, hier in Sophienlust zu sein. Ihre Augen strahlten, und sie lachte die ganze Zeit vergnügt. Magda meinte, sie würde essen wie ein Scheunendrescher und es wäre unglaublich, wie viel in so einen kleinen Magen hineinpassen würde. Nur das mit dem Sprechen wollte noch immer nicht so recht klappen. Es kam immer noch kein einziges gesprochenes Wort aus Sissi heraus. Aber Nick war sich sicher, dass das nur eine Frage der Zeit sein würde.
Und dann schlug die nahe Kirchturmuhr von Wildmoos zehn Uhr und das Sommerfest war offiziell eröffnet. Pünktchen hatte mit einigen Kindern ein fröhliches Sommerlied einstudiert, und jetzt standen sie fein aufgereiht am Eingangstor und begrüßten die ersten Besucher damit.
Nick war immer noch auf der Freitreppe und beobachtete das Geschehen um sich herum. Stolz blickte er zu Pünktchen und freute sich darüber, dass sie so gut mit den Kindern umgehen konnte. Sie war zu einer großen Hilfe bei der Bewältigung der täglichen kleinen und großen Herausforderungen geworden. Die Kinder vertrauten ihr und hatten sie gern. Heute trug sie ein ärmelloses leichtes Sommerkleid und hübsche bunte Sandalen. Ihr blondes Haar glänzte in der Sonne und ihre blauen Augen strahlten freundlich. Nick wurde es warm ums Herz. Pünktchen und er – sie verstanden sich blind und waren ein unschlagbares Team, wie er fand.
Denise von Schoenecker hatte sich eine kurze dunkle Hose und ein hellblaues T-Shirt angezogen, dazu dunkelblaue Turnschuhe. Ihr Mann Alexander hatte sie, bevor sie Gut Schoeneich verließ, um nach Sophienlust hinüberzugehen, festgehalten und in den Arm genommen. »Du siehst zum Anbeißen aus«, hatte er ihr ins Ohr geflüstert.
Denise lachte und wand sich aus seinem Arm. »Das müssen wir jetzt verschieben, mein Schatz. Jetzt kümmere ich mich erst um das Fest, aber heute Abend bin ich für dich da. Versprochen! So, und jetzt muss ich los, und wenn du später Zeit hast, kannst du gerne beim Grillen helfen. Damit uns die Besucher nicht verhungern.«
Alexander von Schoenecker stellte sich gerade hin und schlug die Hacken zusammen. »Jawohl! Immer zu Diensten, gnä' Frau! Ich werde mich pünktlich beim Grill einfinden und für Verpflegung der hungrigen Meute sorgen«, sagte er im zackigen Ton, und dabei hielt er seine flache rechte Hand an die Stirn wie zum militärischen Gruß.
Denise lachte und eilte dann schnell aus dem Haus. Sie freute sich auf das Fest, denn sie hatte gerne Gäste und liebte es, wenn auf Sophienlust viel Leben war.
Zur Mittagszeit hatten sich viele Besucher auf dem Hof eingefunden. Es waren viele bekannte und auch etliche unbekannte Gesichter dabei. Viele kamen mit Kindern, da ausreichend Mitmachmöglichkeiten angeboten wurden. Das Ponyreiten hatte großen Zulauf gefunden, aber auch das Aquarellmalen mit Carola Rennert war gut besucht.
Der Förster baute mit einigen Jungen eine große Feuerstelle mit Grillmöglichkeit auf. Dort sollten später die Würstchen und das Stockbrot gegrillt werden. Zugleich sollte der Grillplatz auch für das anstehende Sommerlager genutzt werden.
Die großen und kleinen Jungen schleppten fleißig kleine Baumstämme und Ziegelsteine aus dem Schuppen heran und bauten mit Eifer eine große und vor allem sichere Feuerstelle. Das war dem Förster besonders wichtig.
Nick ging stolz über das Gelände und blieb bei jeder Station stehen und sprach mit den Gästen. Und die waren erstaunt darüber, dass ein so junger Mann das Kinderheim Sophienlust leitete. Er erhielt viel Lob für das gelungene Sommerfest und freute sich sehr darüber.
Glücklich lächelnd ging er Richtung Haus. Er wollte nach seiner Mutter schauen, die mit Magda zusammen den Kuchenstand betreute, der neben der Freitreppe aufgebaut war. »Hallo, Magda, hallo, Mama«, begrüßte er sie. »Hier wurde aber auch schon kräftig zugeschlagen. Da ist ja sicher schon die Hälfte aller guten Kuchen weg«, stellte er erstaunt fest.
»Keine Sorge, mein Junge. Wir haben noch ausreichend Nachschub in der Küche!«, antwortete seine Mutter lachend. »Magda hat von allem vorsichtshalber die doppelte Menge vorbereitet. Es soll ja niemand hungrig von hier fortgehen!«
»Außer vielleicht unsere beiden jungen Damen. Ich glaube, die haben sich mit ihrem Zeitplan fürs Klavierspielen, Tanzen und dem Kunststück auf dem Pony übernommen«, bemerkte Magda trocken und zeigte mit einem Kuchenheber, den sie gerade in der Hand hielt, auf die oberste Stufe der Freitreppe.
Da standen die beiden Mädchen und gestikulierten wild. Heidi redete hektisch, und Sissi wedelte aufgeregt mit einem Stück Papier. Nick sah das und lachte laut. »Ja, der Zeitplan der beiden ist wohl durcheinandergeraten. Wie gut, dass das hier ein Fest ist und keine Mathematikarbeit in der Schule, wo sie keine Möglichkeiten zur kurzfristigen Terminverschiebung hätten.«
Dann hielt Sissi ganz plötzlich inne. Wie gebannt schaute das kleine Mädchen zum Tor. Heidi bemerkte es und folgte dem Blick ihrer Freundin. Auch Magda, Denise von Schoenecker und Nick drehten ihre Köpfe Richtung Eingangstor und sahen einige weitere Besucher, die langsam den Weg zum Herrenhaus heraufkamen.
Es war die Familie Schneider mit ihren drei Jungen. Daneben lief ein großer Mann, der einen Rollstuhl mit einer Frau vor sich herschob. Nick ahnte sofort, dass es Sissis Mutter sein musste. »Es ist ihre Mutter. Claudia Bernshausen«, sagte er und wies mit der Hand auf Sissi.
Das Kind stand oben auf der Treppe, strahlte über das ganze Gesicht und winkte mit beiden Händen. Dann sauste sie so schnell sie konnte die Stufen hinunter. Und dann rief sie laut:
»Mama, Mama! Hier bin ich. Hier, hier!« Sie lachte laut auf, und alle um sie herum konnten die Freude und das Glück sehen.
»Mein Schatz, mein lieber kleiner Schatz!«, rief Claudia Bernshausen laut und winkte mit beiden Armen ihrem Kind entgegen.
Sissi lief so schnell ihre kleinen Füße sie tragen konnten den Weg entlang, und endlich hatte sie ihre Mutter erreicht und stürmte in ihre Arme. »Mama, Mama, es ist so schön dich zu sehen. Ich habe dich so vermisst. Und es ist so schön hier. Alle sind lieb und ich habe eine Freundin gefunden. Ich spiele jeden Tag Klavier und habe Unterricht. Es ist so schön, dass du da bist! Ich muss dir alles zeigen. Ach, Mama, ich habe dich so vermisst«, sprudelte es aus dem kleinen Mädchen heraus, und sie hielt ihre Mutter umarmt und schmiegte sich an sie, so gut es mit dem Rollstuhl ging.
»Ich habe dich auch so sehr vermisst, mein lieber Spatz. Es ist so schön, dich wiederzuhaben. Jetzt wird wieder alles gut. Ich freue mich darauf, Sophienlust zu sehen. Karin und die Jungs haben so viel darüber erzählt. Und …«, Claudia schob ihr Kind ein kleines Stückchen von sich und strich ihr zärtlich mit dem Handrücken über die rosige Wange, »du redest! Mein kleiner Schatz, du hast deine Stimme wiedergefunden! Das ist so schön, dass ich weinen könnte, und ich freue mich sehr für dich und mich und all die anderen.«
»Ja, das stimmt. Sie ist wieder da. Meine Stimme ist wieder da. Lalalala …! Hört ihr mich? Oh, das ist schön«, rief Sissi, klatschte in die Hände und hüpfte von einem Bein auf das andere. Alle Anwesenden lachten und freuten sich mit dem Kind. Es wurde aufgeregt durcheinandergeschwatzt.
Nick trat zu der Gruppe, beugte sich zu Claudia und hielt ihr seine Hand zur Begrüßung hin. »Hallo Frau Bernshausen, herzlich willkommen in Sophienlust. Ich bin Nick und freue mich sehr, Sie kennenzulernen. Die junge Frau im Rollstuhl ergriff die ausgestreckte Hand und hielt sie einen kurzen Augenblick in ihren Händen.
»Guten Tag, Herr von Wellentin-Schoenecker. Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen. Ich habe schon so viel von Ihnen gehört und bin Ihnen unendlich dankbar für alles, was sie unserer Familie ermöglicht haben. Es ist schön zu wissen, dass es so gute Menschen wie Sie und Ihre Mutter gibt.«
Nick errötete ein bisschen und lächelte. »Sagen Sie bitte Nick zu mir. Und es war mir eine Freude, den Kindern eine Möglichkeit für die Sommerferien zu bieten. Und Sissi haben wir alle von der ersten Sekunde an tief in unser Herz geschlossen. Sie ist ein wunderbares Mädchen, und wir alle hier haben sie sehr gern.«
Auch Heidi war inzwischen zu der Gruppe gekommen und hatte sich neben Sissi gestellt. »Das ist also deine Mama. Die sieht sehr lieb aus«, stellte sie fest und drehte den Kopf zu dem Mann, der hinter dem Rollstuhl stand. «Und das ist dein Papa? Ist der auch nett zu dir?«, fragte sie forsch.
»Oh nein, das ist nicht mein Papa. Das ist mein Klavierlehrer Martin«, erklärte Sissi und schaute den ihr vertrauten Mann lächelnd an. Dann ging sie zu ihm und schlang ihre Arme um seine Hüften. »Das ist der beste Klavierlehrer, den es gibt, und außerdem ist er mein Freund. Ein sehr guter Freund. Ich mag ihn sehr gerne.«
Martin Kreuzhof war ganz gerührt von Sissis freundlichen Worten und streichelte sanft über ihre roten Locken. »Ich mag dich auch sehr gern, meine liebe kleine, wunderbare Elisabeth. Und ich freue mich, dich so munter und wohlauf zu sehen. Das macht mich sehr glücklich.«
»Aber warum bist du hier, mit Mama?«, fragte Sissi dann und schaute ihn mit großen Augen fragend an.
Claudia ergriff Martins freie Hand, drückte sie und wollte gerade etwas sagen, als Heidi ihr zuvorkam und laut rief: »Das ist gut! Jetzt ist er dein Klavierlehrer, aber er kann ja auch immer noch dein Papa werden!«
Jetzt mussten alle Anwesenden lachen, und die leichte Anspannung, die geherrscht hatte, war wie weggeblasen.
»So, und jetzt genießen wir alle das Fest und machen uns einen schönen gemeinsamen Tag!«, sagte Claudia laut. »Ich freue mich, Sophienlust kennenzulernen und zu sehen, was die Jungs und Sissi hier so glücklich macht!«
Alle begaben sich fröhlich schwatzend auf den Weg zum Haupthaus.
*
Auch das zweiwöchige Sommerlager wurde zu einem großen Erfolg. Die Kinder und die Erwachsenen waren vom ersten bis zum letzten Tag ein gutes Team. Nick hatte sich gut auf das bevorstehende Lagerabenteuer vorbereitet und mit dem Revierförster einen genauen Arbeits- und Ablaufplan erstellt, den sie am Beginn mit allen Teilnehmern besprochen hatten. Die beiden hatten den Kindern erklärt, dass es für den reibungslosen Ablauf des Camps sehr wichtig wäre, dass sich jeder an die Regeln hielte und seine Aufgaben ordnungsgemäß erledigte. Und das hatte hervorragend geklappt. So waren auch die Kinder untereinander sehr hilfsbereit und freundlich.
Am ersten Tag hatten alle gemeinsam die beiden großen Zelte aufgebaut und eingerichtet. Es wurde im Schlafsack auf einer Luftmatratze geschlafen, und darauf freuten sich die Kinder, war das doch ein wichtiger Teil eines richtigen Abenteuers.
Die drei Schneider-Jungen waren von Anfang bis Ende mit viel Eifer dabei. Sie verstanden sich großartig mit den anderen Kindern, die sie fast alle aus der Schule kannten. Die ganze Gruppe lernte viel über den Wald und das Leben in und mit der Natur. Zusammen suchten sie nach Beeren, Pilzen und anderem Essbaren. Am Abend wurden am Lagerfeuer Würstchen gegrillt. Magda hatte hier das Kommando übernommen und sich dazu einfache, aber leckere Gerichte ausgedacht. Die Kinder halfen immer gerne beim Zubereiten der schmackhaften Beilagen und gesunden Salate. Zwischendurch gab es reichlich Obst und immer etwas Selbstgebackenes. Magda liebte es, die Kinder mit gutem Essen zu verwöhnen, und allen schmeckte es jeden Tag köstlich und keine Wünsche bleiben unerfüllt.
Erfreulicherweise gab es keine unvorhergesehenen Zwischenfälle oder gefährliche Situationen. Am letzten Tag waren alle stolz und vereinbarten, dass es vielleicht im nächsten Jahr wieder ein Sommerlager geben sollte.
Sissi verbrachten den Großteil ihrer Sommerferien mit Heidi in Sophienlust. Die beiden Mädchen waren sehr gute Freundinnen geworden. Sissi spielte jeden Tag Klavier, und wenn Wolfgang Rennert Zeit hatte, gab er ihr Unterricht. So konnten die beiden schließlich auch Heidi locken, sich an dem Instrument auszuprobieren. Und tatsächlich konnte Heidi am Ende der Ferien ein bekanntes, kurzes Kinderlied spielen. Wenn aber die anderen Sophienlustbewohner nach den weiteren Lernfortschritten fragten, gab Heidi fröhlich zu, dass niemand damit rechnen sollte, dass sie eine berühmte Klavierspielerin werden würde. Aber das wäre ja auch kein Problem, da sie ja sowieso viel lieber eine berühmte Ponyreiterin werden wollte.
Es war für alle Beteiligten erfreulich zu sehen, dass die beiden Mädchen viel Spaß hatten und viel Verständnis füreinander aufbrachten. Heidi hatte Sissi das Versprechen abgerungen, reiten zu lernen. Sissi hatte ein wenig Furcht vor den großen Tieren, aber mit viel Geduld und gutem Zureden gelang es Heidi dann doch, ihre Freundin auf den Rücken ihres Lieblingsponys zu bekommen. Und auch hier geschah dann ein kleines Wunder: Am Ende der Ferien hatte Sissi keine Angst mehr, und die beiden Mädchen konnten sogar in Begleitung von Nick oder Pünktchen zusammen ausreiten. Sie machten kleine Touren auf den Wald- und Wanderwegen rund um Wildmoos und Bachenau. Überhaupt verbrachten die Mädchen sehr viel Zeit mit den Tieren in Sophienlust und im Tierheim Waldi & Co.
Da es daheim auf Gut Sommerfeld so gut wie keine Tiere gab, war auch der intensive Kontakt mit den verschiedenen Vierbeinern für Sissi ein ganz besonderes Erlebnis. Die Katzenfamilie hatte es dem Kind besonders angetan. Sie liebte die kleinen, weichen und verschmusten Tiere. Und ganz besonders das weiße Kätzchen, das die Kinder Schneewittchen getauft hatten.
An den Wochenenden fuhr Sissi meistens zu ihrer Mutter in die Reha-Klinik. Martin Kreuzhof, der sich nach wie vor intensiv um Claudia Bernshausen kümmerte, holte das Kind bei seiner Tante in Wildmoos ab. Oft blieb Sissi über Nacht bei Ihrer Mutter in der Klinik. Die Stationsschwester ließ dann ein Gästebett in das Krankenzimmer stellen, denn sie hatte Mitleid und Verständnis für die beiden.
Martin wohnte in einem nahe gelegenen Hotel. So verbrachten die drei viel Zeit miteinander und lernten sich kennen. Jeder hielt sie für eine ganz normale Familie. Martin war sehr nett und aufmerksam mit Claudia, und genauso verhielt er sich auch gegenüber Sissi.
Es dauerte nicht lange und die Kleine hatte alle Scheu gegenüber ihrem Klavierlehrer verloren und er war nur noch der sehr gute Freund Martin. Wenn sie spazieren gingen, nahmen Sissi und Martin sich an der einen Hand, und mit der anderen Hand schoben sie zusammen den Rollstuhl von Claudia. Es war eine schöne Zeit, in der sich alle drei sehr geborgen fühlten.
Durch die professionelle Behandlung, die gute körperliche Verfassung und den absoluten Willen zur baldigen Genesung machte Claudia jeden Tag Fortschritte. Die Ärzte waren sehr zufrieden mit ihr und den sichtbaren Erfolgen.
Immer wenn Karin ihre Schwester besuchte, war sie erstaunt darüber, wie ausgeglichen und gut gelaunt Claudia trotz der schwierigen Situation war. Die Freude über ihr glückliches Kind, ihre gute Genesung und die zärtliche Fürsorge von Martin machten sie zu einer rundum zufriedenen Frau, und das konnte jeder sehen. Karin freute sich mit und für ihre Schwester.
Auch für Karin waren es schöne Sommerwochen. Die Kinder waren beschäftigt und einige ihrer Kunden in Urlaub. Robert hatte auch Urlaub genommen, und so konnte das Ehepaar eine Zeit der ungewohnten Zweisamkeit in vollen Zügen genießen.
*
Die Sommerferien vergingen für die Kinder und Erwachsenen wie im Flug. Jetzt waren es nur noch ein paar Tage und die Schule würde wieder beginnen. Die Kinder freuten sich darauf, ihre Freunde wiederzusehen und über ihre Erlebnisse zu berichten. Es würde neue Klassengemeinschaften geben, und sicher gab es neue Klassenkameraden und Lehrer.
Auch Pünktchen war sehr gespannt. In ihre Klasse sollte eine Austauschschülerin aus Frankreich kommen. Sie war sehr gespannt und hoffte, dass sie nett war und sie vielleicht mit ihrer Hilfe ihr Französisch verbessern konnte. Die Sprache machte ihr große Freude, doch hier in Sophienlust war die Möglichkeit begrenzt, die Kenntnisse zu vertiefen.
Die kleine Heidi freute sich auf die Schule und ihre Freundinnen. Dieses Schuljahr sollte ihre Klasse zum ersten Mal auf Klassenfahrt gehen, und darauf waren natürlich alle gespannt. Eine Woche weg von zu Hause war ein großes Abenteuer.
Und Sissi, die in den letzten Tagen auf eigenen Wunsch in Sophienlust geschlafen hatte, freute sich auf ihre Heimkehr nach Gut Sommerfeld. Sie hatte in den vergangenen Wochen nicht viel an ihr eigentliches Zuhause gedacht, da sie sich in Sophienlust so glücklich gefühlt und jeden Tag genossen hatte.
Heute sollte sie Abschied von allen Bewohnern und Tieren nehmen.
Sie war schon sehr früh aufgewacht, leise aufgestanden und nach unten in die Küche geschlichen. Sie wusste, dass Magda extra für ihren Abschied weiche Hefebrötchen backen wollte. Und sie wollte viele backen, damit Sissi eine große Tüte mit nach Gut Sommerfeld nehmen konnte.
Magda machte ihre Übungen am Fenster, als das Kind in die Küche kam. »Guten Morgen, Magda. Heute fahre ich nach Hause.« Diese Worte sollten glücklich und freudig klingen, aber Sissi war auf dem Weg zur Küche bewusst geworden, dass es das letzte Mal war. Dass sie das letzte Mal in die große gemütliche Küche ging, um Magda zu besuchen oder ihr beim Kochen und Backen zu helfen. Nur noch ein paar Stunden, dann würde ihre Mutter und Martin kommen und sie abholen, um nach Hause zu fahren.
Plötzlich hatte Sissi Tränen in den Augen und stürzte auf die Köchin zu. »Ach, Magda, ich will nicht weg. Weg von dir, von Heidi und den anderen. Von den Katzen, den Hunden und den anderen Tieren.« Sissi schluchzte, als sie Magda erreichte, und drückte sich an sie.
»Guten Morgen, mein kleiner Schatz. Hast du gut geschlafen und etwas Schönes geträumt? Ich habe ein ganzes Blech mit weichen Hefebrötchen für dich gebacken. Kannst du den guten Duft riechen? Er zieht wieder durch das ganze Haus. Einfach wunderbar!« Magda beugte sich zu Sissi und hob mit ihrer rechten Hand Sissis Kinn an, damit sie sich in die Augen sehen konnten. »Du brauchst nicht traurig zu sein. Du hast eine sehr schöne Zeit in Sophienlust gehabt, und jetzt kannst du ganz beruhigt nach Hause fahren. Deine Mutter fährt mit, und du kannst heute Nacht endlich wieder in deinem eigenen Bett schlafen, mit deinen Stofftieren in deiner gewohnten Umgebung, in deinem Zuhause, und das wird sehr schön. Glaub mir, mein Kind. Es gibt nur ein Zuhause, und deines ist auf Gut Sommerfeld. Da gehörst du hin«, erklärte Magda und strich liebevoll über Sissis roten Haarschopf.
Dann seufzte auch sie. »Und ja, ich werde dich auch vermissen. Du bist ein wahrer kleiner Schatz, und dein wunderbares Klavierspiel hat mich jeden Tag sehr glücklich gemacht. Du musst mir versprechen immer zu spielen und nie damit aufzuhören. Dein Spiel macht Menschen glücklich, und das ist eine besondere Gabe, die du dir erhalten solltest.«
Dann stand auch Heidi in der Küche und schaute neugierig zu Magda und Sissi. »Was macht ihr denn schon so früh? Habt ihr ein Geheimnis? Darf ich auch dabei sein? Ich liebe Geheimnisse. Ich verrate auch keinem etwas!«, sagte sie und legte ihren rechten Zeigefinger auf den Mund. »Psssst. Kein Wort zu niemanden«, flüsterte sie.
Magda lachte. »Guten Morgen, meine liebe Heidi. Hast du gut geschlafen? Keine Sorge. Hier gibt es keine Geheimnisse, die du verpassen könntest. Sissi war nur schon früh wach, weil sie heute nach Hause fährt. Und ich habe frische Hefebrötchen für alle gebacken. Kannst du sie riechen?«
»Ach, schade«, maulte Heidi ein bisschen enttäuscht, »wo ich doch Geheimnisse liebe! Egal. Komm mit, Sissi, wir gehen in den Park und spielen Gespenst und Prinzessin. Du bist das Gespenst und ich die Prinzessin. Du musst mich fangen und ins Gespensterverlies bringen.« Heidi zog Sissi am Nachthemd und wollte, dass sie mit ihr kam.
»Oh, aber erst zieht ihr euch etwas Richtiges an. Nicht im Nachthemd und nicht barfuß in den Garten. Es ist zwar warm, aber Nachtwäsche gehört ins Bett und nicht ins Freie. Außerdem sind schon Wespen unterwegs, und wenn ihr auf eine tretet, ist das sehr schmerzhaft. Also, anziehen und Zähne putzen! Dann könnt ihr rausgehen. Und in einer halben Stunde ist das Frühstück fertig. Dann kommt bitte wieder herein. Sissi muss noch fertig packen, sie wird um zehn Uhr abgeholt«, mahnte Magda und schaute die Mädchen mit hochgezogenen Augenbrauen an.
Die beiden Kinder nickten brav, lachten dann und liefen schnell die Treppe in den ersten Stock hinauf, um sich anzukleiden. Magda sah den beiden nach, schüttelte den Kopf und überlegte, wie sie am besten die Hefebrötchen verpacken sollte, damit diese heil in Gut Sommerfeld ankamen.
Wenig später hörte sie die beiden Mädchen durch den Park laufen und lachen. Ein schneller Blick aus dem Fenster verriet ihr, dass die Kinder Shorts und Schuhe trugen. Magda nickte zufrieden.
Um Punkt zehn Uhr fuhren Claudia Bernshausen und Martin Kreuzhof im Auto die Auffahrt nach Sophienlust hinauf und hielten unweit der Freitreppe. Martin sprang schnell aus dem Auto, um seiner Beifahrerin die Tür zu öffnen und ihr beim Aussteigen behilflich zu sein. Claudia stieg langsam und ein wenig umständlich aus und stützte sich dann auf Krücken. Langsam und Schritt für Schritt bewegte sie sich auf die Treppe zu, aber immerhin benötigte sie keinen Rollstuhl mehr.
Sissi und Heidi hatten das Auto gehört und rannten um die Wette aus dem Haus und die Freitreppe hinunter.
»So, so. Nicht so stürmisch, junge Damen«, mahnte Martin Kreuzhof und stützte Claudia Bernshausen mit seinem rechten Arm, damit sie bei dem erwarteten Ansturm nicht aus dem Gleichgewicht kam.
»Mama, Mama! Du kannst ja schon alleine laufen!«, rief Sissi aufgeregt, hüpfte um ihre Mutter herum und klatschte in die Hände.
»Ja, das geht schon ganz gut. Noch ein bisschen langsam und unsicher. Aber es wird jeden Tag besser. Bald bin ich wieder ganz die Alte und wir können zusammen um die Wette laufen«, antwortete Claudia fröhlich und schwang zur Bestätigung eine der Krücken leicht in die Luft. Jetzt lachten alle.
Nun kamen auch Karin, Robert und die drei Jungen den kurzen Weg von ihrem Haus hergeeilt. Sissi winkte mit beiden Armen und lief ihnen entgegen.
»Kommt ihr auch zum Verabschieden? Wir fahren jetzt nach Hause. Nach Gut Sommerfeld. Oh, ich freue mich schon so«, rief Sissi, die ihren Kummer von vorhin überwunden hatte, und klatschte vor Freude in die Hände.
»So, du freust dich?«, fragte Heidi erstaunt, »du fährst jetzt weg von Sophienlust, von mir und Magda. Und überhaupt vom Klavier, den Hefebrötchen und, und …«, Heidi machte eine Pause und drehte sich suchend um, »… von den Katzen. Du fährst weg von dem süßen Schneewittchen und freust dich?« Ungläubig schaute sie ihre Freundin an und schüttelte den Kopf.
Sissi lachte und umarmte ihre Freundin. »Ein bisschen traurig bin ich schon, euch zu verlassen. Aber ich freue mich jetzt sooo auf mein Zuhause und mein Zimmer und meine Mama. Die hatte ich ja so wenig in der letzten Zeit.« Sissi schaute Heidi ernst an und erklärte dann: »Außerdem habe ich Nick und Tante Isi gefragt, ob ich in den nächsten großen Ferien wiederkommen darf …«
Heidi unterbrach ihre Freundin und fragte schnell: »Und darfst du?«
»Natürlich!«, rief Sissi freudig. »Und es gibt auch eine Überraschung für dich!«
»Für mich?«
»Ja, für dich. Also, wenn du willst.«
»Wenn ich will? Ich will sicher! Jetzt sag schon, was ist es?«
»Du kannst in den nächsten Ferien zu mir nach Gut Sommerfeld kommen. Ich kann dir mein Zuhause zeigen.«
Heidi war ganz aufgeregt und fragte: »Ich darf dich besuchen? Ganz alleine? Oh, das wird toll.« Heidi nahm Sissis Hände und dann hüpften beide im Kreis und lachten. »Gut Sommerfeld, ich komme! Ich komme dich und Sissi und ihre Mama besuchen. Und darauf freue ich mich sehr, sehr, sehr!«, sang das Kind dazu.
Inzwischen hatten sich auch die anderen Bewohner von Sophienlust an der Treppe eingefunden. Jeder wollte sich von Sissi verabschieden. Sie war die letzten Wochen ein gern gesehenes Mitglied der großen Sophienlustfamilie geworden.
»So, jetzt habe ich aber auch noch eine Überraschung für dich, mein liebes Kind. Du hast die letzten Wochen alles so tapfer überstanden. Ich bin so stolz auf dich, und daher möchte ich dir eine wirklich große Freude machen«, sagte Claudia zu ihrer Tochter und legte eine der Krücken aus der Hand und gab Martin ein Zeichen. Der holte eine Tiertransportbox aus dem Auto, und Claudia erklärte ihrem erstaunten Kind: »Du darfst dein geliebtes kleines weißes Kätzchen mit nach Gut Sommerfeld nehmen. Sie soll deine neue Wegbegleiterin werden.«
Sissi schaute ihre Mutter mit großen Augen verwundert an und fragte ungläubig: »Ich darf Schneewittchen mitnehmen? Mit nach Gut Sommerfeld? Sie soll ganz alleine mir gehören?« Das Kind schmiegte sich erneut an die Mutter, und dann plötzlich kullerten die Tränen. Viele große Tränen liefen dem Kind über die Wangen, sie schluchzte hörbar und drückte ihr kleines Gesicht an den Körper ihrer Mutter.
»So, so, mein kleiner Schatz«, sagte Claudia ruhig und strich ihrer Tochter mit der freien Hand zärtlich über den roten Schopf. »Jetzt ist doch alles ein bisschen viel für dich.«
»Ich … ich … ich freue … mich – so …«, schluchzte Sissi unter Tränen, aber mit einem lachenden Mund.
Pünktchen hatte sich unterdessen die Transportbox von Martin geholt und das kleine Kätzchen Schneewittchen unproblematisch hineingesetzt. Jetzt kam sie mit Box und Katze zum Auto und stellte sie auf die Rückbank. »Also, die Katze wäre klar zur Abreise und freut sich auf ihr neues Zuhause«, erklärte sie den Anwesenden.
Und nun begann die persönliche Verabschiedung. Jeder wollte jedem noch einmal die Hand geben oder ihn umarmen, und mit vielen guten Wünschen setzten sich Claudia, Martin und Sissi schließlich ins Auto und fuhren langsam den gepflasterten Weg entlang auf das Tor zu. Die übrigen Bewohner und Besucher zerstreuten sich langsam in alle Richtungen. Auch Karin, Robert und die Jungen verließen Sophienlust nicht ohne sich noch einmal persönlich bei Nick, Denise, Magda und all den anderen herzlich bedankt zu haben.
Auf dem Weg ins Haus besprachen Nick und seine Mutter die zurückliegenden Sommerferien ausführlich. Beide waren zufrieden mit dem Verlauf der letzten Wochen.
»Ich muss dir ein großes Kompliment machen, mein lieber Sohn«, sagte Denise und hakte sich freundschaftlich bei Nick unter. »Es ist alles fantastisch gelaufen. Alle geplanten Veranstaltungen und Unternehmungen haben geklappt. Das Sommerfest war sehr schön und wird den Besuchern sicher noch lange in guter Erinnerung bleiben. Das Sommerlager war toll organisiert und auf alle Fälle ein voller Erfolg für alle Teilnehmenden. Du kannst stolz auf dich, deine Mitarbeiter und auf alle Bewohner sein. Das habt ihr wirklich toll hinbekommen!«
»Danke, Mama. Es bedeutet mir sehr viel, dass du zufrieden mit meiner Arbeit bist. Aber du hast ja alle tatkräftig unterstützt, und darum sollst du auch ein großes Lob haben«, erwiderte Nick und drückte seiner Mutter einen Kuss auf die Wange.
*
Einige Monate später gab es erfreuliche Neuigkeiten von Sissi und Claudia Bernshausen. Der Briefträger brachte einen dicken Briefumschlag nach Sophienlust. Adressiert war er an Nick und seine Mutter Denise, an Magda und natürlich an Heidi.
Zusammen saßen alle in Nicks Büro und öffneten gespannt den Umschlag. Als Erstes kam eine Klappkarte aus geprägtem Büttenpapier zum Vorschein. Darin steckte eine hochwertige Fotografie. Darauf zu sehen waren Claudia, in einem wunderschönen, langen weißen Hochzeitskleid mit besticktem Schleier und einem Brautstrauß aus weißen Blumen. Neben ihr stand Martin in einem schicken und perfekt sitzenden schwarzen Anzug. Beide sahen sehr glücklich aus. Vor ihnen stand Sissi in einem knielangen Kleid aus Spitze, das wunderbar zu ihren roten Locken passte. Am unteren Rand des Bildes war das Datum des freudigen Ereignisses mit goldenen Buchstaben eingestanzt.
Heidi war ganz aufgeregt, als sie das Bild in den Händen hielt. »Jetzt hat sie einen Papa! Einen richtigen Papa! Ganz für sich alleine. Das ist so schön!«, rief sie lachend aus.
»Da steht noch etwas auf der Rückseite des Bildes«, sagte Pünktchen, nahm Heidi die Fotografie aus den Händen und drehte es so, dass sie den Text sehen konnte.
»Martin hat Mama gefragt, ob sie ihn heiraten will. Sie hat Ja gesagt! Mich hat er gefragt, ob ich seine Tochter werden möchte und er mich adoptieren darf. Ich habe auch Ja gesagt!«, las Pünktchen vor.
»Oh, das freut mich aber für Sissi, ihre Mutter und Martin«, bemerkte Denise von Schoenecker, und an Heidi gewandt bemerkte sie lachend: »Jetzt ist Martin wirklich Sissis Papa geworden. So, wie du es beim Sommerfest vorhergesagt hast! Du bist wirklich ein kluges Mädchen.« Liebevoll streichelte Denise über Heidis kleines Gesicht. »Und sehr großzügig. Ein wahrer Schatz eben!«
»Das finde ich auch«, bestätigte Nick mit einem Lächeln.
»Ich freue mich auch für Sissi. Sie ist ein so nettes und liebes Kind.« Magda hatte Tränen in den Augen, die sie sich heimlich wegwischen wollte, aber es waren zu viele, und ein paar davon liefen jetzt ihre Wangen hinunter. Magda schluchzte einmal hörbar und atmete dann tief ein. »So, jetzt genug mit der Gefühlsduselei. Steht da noch was geschrieben?«
»Nein, nicht auf dem Foto. Aber warte, ich schaue im Umschlag nach. Da ist ja wohl noch mehr drin, so dick, wie der ist«, antwortete Pünktchen und holte als nächstes ein Geschenk heraus.
»Da steht 'für Magda' drauf«, erklärte sie und reichte das hübsch eingepackte Präsent an die Köchin weiter.
Magda war gerührt, öffnete mit flinken Händen das Band um das Geschenk und nahm dann vorsichtig das goldglitzernde Papier ab. Zum Vorschein kamen eine CD und eine handbemalte und beschriebene Karte.
»Lies vor, lies vor!«, rief Heidi und stellte sich neugierig neben Magda und schaute auf die Grußkarte. Magda nahm die Karte und begann zu lesen:
»So, da steht: 'Liebe Magda, du mochtest meine Musik immer so gern. Ich wohne jetzt bei Martin in seinem großen Haus, und er hat auch ein Musikzimmer, so wie in Sophienlust. Ich kann sooft ich will Klavier spielen. Das macht mich sehr glücklich. Ich habe auch schon ein Konzert in der Musikschule gegeben. Martin hat es aufgezeichnet und diese CD für dich gemacht. Jetzt kannst du immer mein Klavierspiel hören, wenn du es willst! P.S. Mama hat mir geholfen, diese vielen Zeilen zu schreiben.«
Nachdem Magda fertig vorgelesen hatte, schnaufte sie einmal hörbar und holte tief Luft. Aber sie konnte die Tränen der Rührung nicht ein weiteres Mal unterdrücken, und so ließ sie ihnen freien Lauf.
»Ab jetzt werden wir immer Klaviermusik hören müssen. Den ganzen Tag und die ganze Nacht«, bemerkte Heidi trocken, verdrehte die Augen und steckte sich theatralisch die Finger in die Ohren.
Nick und Denise von Schoenecker mussten über die Bemerkung zwar grinsen, ermahnten Heidi aber trotzdem mit einem strengen Blick, nicht so frech zu sein.
Heidi zuckte entschuldigend mit den Schultern und fragte dann Pünktchen, ob auch für sie etwas in dem Umschlag wäre. Tatsächlich fischte das Mädchen ein weiteres kleines Päckchen heraus, auf dem 'Heidi' stand. Auch das Kind packte gleich aus und freute sich über lustige Bilder von der Katze Schneewittchen, einer liebevoll gestalteten Karte mit herzlichen Grüßen von Sissi und mehrere Bögen Pferdesticker. Heidi freute sich über ihr Geschenk und verließ fröhlich hüpfend das Büro, um in den Stall zu gehen und den Ponys und den anderen Kindern die Sticker zu zeigen und mit ihnen zu teilen.
Alle waren sich einig, dass das sehr gute Nachrichten von Sissi, ihrer Mutter und Martin waren.
Auch bei der Familie Schneider gab es erfreuliche Neuigkeiten. Im Spätsommer konnte Robert eine Vollzeitstelle im Innendienst der Spedition Reimann übernehmen. Die betreffende Mitarbeiterin, die Tochter des Besitzers Stefan Reimann, war schwanger mit Zwillingen. Sie wollte auch nach der Geburt der Kinder die nächsten Jahre nicht in die väterliche Firma zurückkehren. Sie wollte ganz für ihre Familie da sein.
Für Robert und Karin war das ein großes Glück, auf das sie lange gewartet hatten.
Das Weihnachtsfest feierten die beiden Familien
Schneider und Kreuzhof-Bernshausen zusammen im Haus der Schneiders in Wildmoos. Das hatte Sissi sich so gewünscht. Sie wollte unbedingt Heidi besuchen und für Magda und die anderen ein Klavierkonzert in Sophienlust geben.