Читать книгу Sophienlust - Die nächste Generation Staffel 2 – Familienroman - Ursula Hellwig - Страница 9
ОглавлениеEvelin lag traurig auf ihrem Bett. Gestern hatte sie Geburtstag gehabt und war vierzehn Jahre alt geworden. Und diese Tatsache war doch eigentlich ein Anlass, um mit der Familie und mit ihren Freunden zu feiern, lustig zu sein und viele Geschenke zu bekommen.
Sicher, ihre Schwester hatte ihr eine neue Jeanshose mit dazu passendem T-Shirt geschenkt, mehr aber auch nicht. Die Mama hatte sie nur in die Arme genommen und ihr einen Kuss auf die Wange gehaucht. Danach war sie wieder in ihr Schlafzimmer gegangen und hatte geweint, so wie sie es seit Tagen tat.
Ihre Freundinnen hatten nur angerufen. Nun ja, es traute sich niemand mehr hierher, seitdem Heiner Kaufmann, ihr über alles geliebter Vater, an den Folgen eines Autounfalles gestorben war. Sie vermisste ihn so sehr, genauso wie ihre Mutter und ihre große Schwester Ines ihn vermissten. Nie mehr, das wusste sie jetzt schon, würde sie wieder lachen und fröhlich sein können. Sie war doch Papas liebe kleine Püppi gewesen, die er viel lieber hatte als Ines. Na ja, die Schwester war ja auch schon ziemlich alt, schon 28, und außerdem recht streng, mit ihr und mit der Mutter auch. Das war nur schwer zu ertragen.
An diesem Nachmittag war Evelin jedoch allein und musste nicht das Gejammer der Mama ertragen und die völlig überflüssigen Anordnungen der Schwester ausführen. Die beiden waren zu einem Notar gefahren, weil der Vater dort sein Testament hinterlegt hatte. Es würde eine Weile dauern, bis sie wieder nach Hause kämen.
Sie hätte nun lernen, lesen oder ihr Zimmer aufräumen können, tat es jedoch nicht. Zum Lernen und Lesen hatte sie keine Lust, und das Aufräumen besorgte die Wirtschafterin, die dreimal in der Woche kam und für Ordnung und Sauberkeit in der komfortablen Sechszimmerwohnung sorgte, die einkaufte und für alles sorgte, was man so brauchte. Also blieb Evelin auf dem Bett liegen, dachte an ihren Vater und träumte davon, dass er plötzlich in ihr Zimmer kam und sie liebevoll in die Arme nahm, so wie er es oft getan hatte. Dabei schlief sie schließlich ein.
Als ihre Mutter und die Schwester gegen Abend zurückkamen, hörte sie sie nicht. Und das war auch gut so. Sie hätte das ganze Ausmaß der eingetretenen Katastrophe doch noch nicht verstanden.
Ines und ihrer Mutter fiel das ebenfalls sehr schwer.
Beide saßen inzwischen im Wohnzimmer und waren von den Eröffnungen des Notars noch immer geschockt.
Maria Kaufmann saß wie gebrochen in einem der modernen Designersessel und flüsterte in diesem Augenblick wieder den Satz, den ihre Älteste in den vergangenen Stunden schon oft gehört hatte: »Heiner hatte seit Jahren eine Geliebte.«
»Ja, hatte er, und einen achtjährigen Sohn hat er mit dieser Frau auch noch«, setzte Ines tonlos hinzu. »Und Geld ist so gut wie nicht mehr da. Das wenige, was noch vorhanden ist, muss durch fünf geteilt werden.«
»O Gott, o Gott! Wie konnte dein Vater uns so etwas nur antun? Wovon sollen wir nun leben?«
»Du bekommst eine Witwenrente, Mama, und ich habe meinen Beruf.«
»Witwenrente? Wie viel wird das sein?«
Ines, die das Einkommen des Vaters ungefähr kannte, rechnete überschläglich und nannte anschließend eine Summe, die Maria fassungslos machte.
»Mehr ist das nicht?«, murmelte sie entsetzt. »Davon können wir nicht einmal die Miete bezahlen.«
»Doch, das können wir, wir müssen aber sehr, sehr sparsam leben. Teure Kleidung und ebensolcher Urlaub sind fortan nicht mehr möglich. Ein Aufenthalt in einem Wellnesshotel ist auch nicht mehr drin, wir müssen uns einschränken. Und du musst froh sein, dass du diese Rente bekommst. Papas Zweitfrau kriegt nämlich gar nichts, nicht einmal mehr den Unterhalt für das Kind.«
»Das haben die auch nicht verdient.«
Ines seufzte leise. Ihre Mutter war mitunter doch sehr naiv. Sie hatte noch nie so recht begriffen, dass das Leben auch aus Arbeit und Verantwortung bestand. Sie hatte mit achtzehn den wesentlich älteren und schon damals ausgezeichnet verdienenden Beamten Heiner Kaufmann geheiratet, hatte ein Jahr später Tochter Ines und schließlich noch das Nesthäkchen Evelin bekommen. Größere Pflichten hatte sie nie gehabt und auch nicht haben wollen. Sie war immer nur die hübsche, zierliche Frau an der Seite von Heiner Kaufmann gewesen, den sie gelegentlich auf seinen Dienstreisen und bei kulturellen Veranstaltungen begleiten durfte. Wahrscheinlich immer dann, wenn eine Ehefrau erwünscht war. Dann zog sie mit ihrem Charme und in ihren eleganten Roben die entzückten Blicke vieler Männer auf sich.
Mit der Beschaffung teurer Garderobe und entsprechendem Zubehör für sich und ihre Töchter war Frau Maria völlig ausgelastet. Grund zur Klage hatte sie aber dennoch. Sie hatte zum Beispiel nie verstanden, warum ihre älteste Tochter unbedingt einen Beruf ergreifen wollte. Warum rackerte die sich so ab und vergeudete ihre schönsten Jahre in einem tristen Büro? Ines sollte sich lieber einen Mann suchen, einen reichen Mann natürlich. Dann hätte sie mehr vom Leben, könnte sich mehr pflegen oder pflegen lassen. Dann würde sie auch wesentlich besser aussehen. Sie war doch so hübsch wie Schneewittchen und würde in guter Markenkleidung noch viel attraktiver aussehen.
»Was die beiden verdient haben, geht uns nichts an, Mama«, sagte Ines jetzt. »Wir haben mit uns zu tun und müssen zusehen, wie wir mit unserer völlig veränderten Situation fertig werden.«
»Das hast du vorhin ja schon angedeutet, aber gefallen können mir deine Sparmaßnahmen nicht.«
»Mir auch nicht, aber es muss nun einmal sein. Was meinst du, wollen wir diese teure Wohnung aufgeben, in eine kleinere Stadt oder in eine ländliche Gegend ziehen und dort auch eine kleinere Wohnung mieten? Ich denke, drei Zimmer genügen …«
Weiter kam sie nicht, denn ihre Mutter schluchzte laut und empört: »Drei Zimmer in der Wallachei? Das kannst du doch nicht ernsthaft wollen.«
»Doch, ich glaube, es wäre die beste Lösung«, antwortete Ines nachdrücklich. »Auf dem Land sind die Wohnungen günstiger als hier in Berlin. Wir brauchen dann auch keine Putzfrau mehr.«
»Warum denn nicht?«
»Weil wir das allein können. Evelin kann auch schon helfen und muss nicht stundenlang mit ihrem Handy spielen. Und wenn wir das teure Auto verkaufen und mit meinem Kleinwagen zufrieden sind, dann hätten wir wieder eine kleine Rücklage für schlimme Zeiten. Man weiß ja nie, was noch kommt. Für dich wird sich bestimmt nicht viel ändern, aber Evelin muss umgeschult werden, und ich muss mir eine andere Stellung suchen.«
Maria Kaufmann hatte genug gehört. Sie war jetzt nach dem Tod ihres Mannes eine seit Jahren betrogene Frau, die nun mit einer schmalen Witwenrente auskommen musste, war eine Frau, die sich rein gar nichts mehr leisten konnte und überdies noch aufs Land ziehen sollte.
»Aber Kind, das kannst du mir doch nicht zumuten«, flüsterte sie mit dünner Stimme. »Und Evi auch nicht, und für dich wäre es auch nicht gut.«
»Warum nicht?«
»Wir werden dort versauern, unsere Freunde verlieren und in Billigläden einkaufen müssen. Das ertrage ich nicht. Habe ich denn nicht schon Kummer genug? Ich bin eine arme, betrogene Witwe, die nun auch noch auf dem Dorf dahinvegetieren soll. Du bist ja so gemein und verstehst mich einfach nicht.«
»Ich bin nicht gemein, sondern nur vernünftig«, gab Ines in scharfem Ton zurück. »Es muss dir doch inzwischen klar geworden sein, dass wir unseren bisherigen Lebensstandard beim besten Willen nicht beibehalten können. Schon die Miete allein wird den größten Teil unseres Einkommens verschlingen. Hinzu kommt das Schulgeld für Evelin und die ständigen festen Kosten.«
Über diese Ausgaben hatte Maria Kaufmann noch nie so recht nachgedacht. Ihr Mann hatte den gesamten Haushalt finanziert und ihr und den Töchtern immer ein großzügiges Taschengeld zugebilligt. Er hatte auch die Schulden bezahlt, die sie gelegentlich gemacht hatte. Ja, er hatte sich zumindest finanziell rührend um Frau und Töchter gekümmert.
Ines hatte ihn inzwischen jedoch im Verdacht, dass er sein schlechtes Gewissen damit beschwichtigen wollte. Sie verdächtigte ihn auch, den größten Teil seines Geldes seiner Zweitfrau und dem gemeinsamen Sohn hinterlassen zu haben. Einen Beweis hatte sie jedoch nicht. Wahrscheinlich hatte sich ihr Vater gedacht, dass Maria mit ihrer Witwenrente gut bedient sein würde. Von der würden sie und Evelin leben können. Und seine älteste Tochter hatte ja ihren Beruf und war überdies mit Marco Mehnert liiert, dem Sohn eines gut betuchten Wissenschaftlers.
An diesen jungen Mann, der wahrscheinlich eine steile Karriere vor sich hatte, dachte Maria jetzt auch und erwiderte: »Wenn das alles so ist, dann solltest du Marco heiraten.«
»Warum?«
»Dann hättest du mehr Geld zur Verfügung, könntest mich unterstützen, und ich brauche hier nicht wegzuziehen«, kam es entschieden zurück. »Dann kann alles so bleiben, wie es jetzt ist.«
»Wir werden darüber ein paar Tage nachdenken, Mama«, gab Ines vorerst nach. »Evelin werden wir noch nichts sagen. Sie vermisst Papa so sehr und sollte zunächst einmal zur Ruhe kommen, so wie wir beide auch.«
Dieser Meinung war Maria ebenfalls. Sie nickte nach kurzem Zögern zustimmend und verbrachte den Rest des Tages mit Jammern und Klagen.
Ihre Töchter hörten ihr geduldig zu. Die Mama hatte ja auch wirklich genug Grund, mit ihrem Schicksal zu hadern.
*
Ines hatte Marco Mehnert vor sechs Monaten im Tennisverein kennen gelernt. Er war ein umgänglicher und gut aussehender Mann von 34 Jahren und arbeitete in der Automobilbranche. Sie mochte ihn, konnte sich ein Zusammenleben mit ihm aber noch nicht so recht vorstellen. Sie besuchten sich nur in unregelmäßigen Abständen, hatten aber auch schon gemeinsam Urlaub gemacht.
An diesem Abend trafen sie sich in seiner Wohnung. Ines hoffte, bei ihm ein wenig Ablenkung und Trost zu finden, zumal sie zwei Tage zuvor die Urne ihres Vaters der See übergeben hatten, so wie es sein Wunsch gewesen war.
»Nun ist der ganze Stress wohl zu Ende«, sagte Marco gerade mitfühlend und strich ihr behutsam über die Hände. »Du solltest ein paar Tage Urlaub nehmen und ordentlich ausspannen. Wollen wir nach Griechenland fliegen oder in die Provence?«
»Würde ich schon gern, aber es geht vorläufig nicht«, antwortete sie betrübt.
»Warum denn nicht?«, fragte er verwundert. »Bekommst du keinen Urlaub?«
»Ich muss noch so einiges regeln und mir vor allem eine genaue Übersicht über alle Ausgaben verschaffen. Wir müssen ja jetzt mit viel weniger Geld auskommen als bisher. Meine Mitgliedschaft im Tennisverein werde ich auch kündigen. Die Wohnung werden wir ebenfalls nicht behalten können. Sie ist viel zu teuer.«
Marco ließ ihre Hände los, schaute sie irritiert an und meinte dann: »Ja, die Bezüge deines Vaters fallen nun fort, aber ich glaube nicht, dass ihr so einschneidende Maßnahmen ergreifen müsst. Ihr habt doch bestimmt genug geerbt.«
Das sollte ein Trost sein, klang aber lauernd und neugierig, was Ines nicht entging und stutzig machte.
»Geld war so gut wie nicht da«, erwiderte sie kühl. »Meine Mutter und Evi müssen nun mit der Witwenrente auskommen und ich mit meinem Gehalt. Daher ist eine große und teure Wohnung nicht mehr drin, großartige Reisen auch nicht.«
Die wohlmeinende Miene des jungen Mannes veränderte sich jäh. Entsetzt murmelte er: »Nun sag bloß, ihr seid jetzt zu armen Kirchenmäusen geworden.«
»Na, so schlimm nun gerade nicht. Wir werden nicht hungern, aber große Sprünge können wir auch nicht mehr machen. Mir macht das nicht so viel aus, aber Mama klagt den ganzen Tag. Sie ist an ihren bisherigen Lebensstandard gewöhnt. Sie kann mit dem Wort ›Sparen‹ überhaupt nichts anfangen, wird sich aber doch umstellen müssen. Es geht nicht anders.«
Marco Mehnert stand abrupt auf, ging zum Fenster und schaute hinaus.
Es gab dort nichts zu sehen, er wollte nur nicht, dass Ines seine Fassungslosigkeit bemerkte. Er war eben schon aus der Rolle gefallen. Insgeheim hatte er damit gerechnet, dass Heiner Kaufmann Frau und Töchtern große Summen hinterlassen hätte, und daher schon in Erwägung gezogen, Ines in absehbarer Zeit zu heiraten. Unter diesen armseligen Bedingungen konnte er das natürlich nicht mehr tun. Nur gut, dass er ihr noch keinen Antrag gemacht hatte.
»Ja, es wird nun sehr schwierig für euch drei«, erklärte er schließlich. »Da werdet ihr wohl doch aufs Land oder in irgendeine nahe Kleinstadt ziehen müssen.«
»Kann schon sein. Vielleicht ziehen wir auch ganz weg. Mal sehen, wo ich eine Stellung finde.«
Er wandte sich ihr wieder zu und entgegnete nüchtern: »Hm, na ja, vielleicht ist das unter diesen Umständen auch das Beste. Es gibt ja auch billige Gegenden, und eine Sekretärin kann überall arbeiten.«
»Dann können wir uns nicht mehr so oft sehen.«
»Ich besuche dich natürlich, wenn es sich einrichten lässt«, versprach er hastig, viel zu hastig, um glaubwürdig zu sein.
Ihr sagte diese Reaktion genug. Die plötzlich verarmte Ines Kaufmann passte offenbar nicht mehr in seine Lebensplanung. Anderenfalls hätte er ihr jetzt seine Hilfe und Unterstützung angeboten. Darüber fiel jedoch kein Wort. Der einzige Sohn von Professor Mehnert entschied sich spontan, die Beziehung zu Ines Kaufmann allmählich im Sande verlaufen zu lassen. Eine arme Frau oder Freundin konnte er nun einmal nicht gebrauchen. Und eine, die sich überdies noch um eine weinerliche Mutter und eine zickige Schwester kümmern musste, schon gar nicht. Hoffentlich begriff sie das recht bald.
Ines sah ihm an, was er dachte, sagte aber nichts mehr zu diesem Thema, sondern schaute auf ihre Armbanduhr, erhob sich und erklärte mit eiserner Beherrschung: »Es wird Zeit, dass ich gehe. Mama fühlt sich nicht gut. Ich möchte sie und Evelin nicht noch länger allein lassen.«
»Das kann ich verstehen. Das musst du jedoch allein tun. Ich eigne mich nicht zum Krankenpfleger und Seelentröster.« Marco bedachte sie mit falschem Lächeln, begleitete sie bis zur Wohnungstür und wünschte ihr für ihre Pläne alles Gute.
Nachdem Ines gegangen war, ließ er sich im Wohnzimmer in einen Sessel fallen und atmete tief auf. Das war gerade noch gut gegangen. Es tat ihm zwar ein bisschen leid, aber Ines ohne Erbschaft war nun einmal ein Ding der Unmöglichkeit. Damit konnte er nicht glücklich werden.
*
»Du bist ja schon wieder da«, stellte ihre Schwester erstaunt fest, als Ines schon eine halbe Stunde später wieder nach Hause kam. »War Marco nicht daheim?«
»Doch, er hatte nur keine Zeit für mich.«
»Verstehe ich nicht.«
»Ich auch nicht, aber es ist nun einmal so.« Ines ließ die Kleine im Flur stehen und ging zu ihrem Zimmer. Dort wischte sie sich die Tränen ab, die ihr ungewollt über die Wangen liefen.
In diesem Augenblick kam ihre Mutter herein. Die musterte sie besorgt und fragte mit zitternder Stimme: »Evi sagt, dass Marco keine Zeit für dich hatte. Habt ihr euch gestritten?«
»Nein, er will bloß keine arme Frau haben.«
»Du bist doch nicht arm, du verdienst doch was.«
»Aber nicht genug.«
Maria fehlten daraufhin erst einmal die Worte. Der sonst so nette und charmante junge Mann zeigte sich plötzlich von einer ganz anderen und hässlichen Seite. Er würde Ines nicht heiraten und würde sich also nicht finanziell einbringen, wie sie gehofft hatte. Mein Gott, wie sollte es nun bloß weitergehen?
Sie musste sich setzen.
Ines sagte dazu nur mit bitterem Spott: »Du scheinst sprachlos zu sein, Mama.«
»Nie – nie hätte ich so etwas – Schäbiges von ihm gedacht«, hauchte Maria. »Ich dachte, er liebt dich.«
»Ich glaube, er hat vor allem Papas Einkommen geliebt und ist nun mächtig enttäuscht, weil wir so gut wie nichts geerbt haben. Aber ich bin froh, dass ich jetzt seinen wahren Charakter erkennen durfte. Was soll ich mit einem Mann, der zuerst an sich selbst denkt und nicht zu mir hält?«
An Maria Kaufmann rauschten diese Worte vorbei. Sie vernahm kaum, was die Tochter sagte, sie verstand nur, dass sie künftig zu einem Leben in der tiefsten Provinz verdammt sein würde, ein Leben auf engstem Raum und ohne Haushaltshilfe. Ihre Freundinnen würden sie sicher auch bald nicht mehr kennen, weil eine arme Frau nicht zu ihnen passte. Das miese Verhalten von Marco Mehnert war der beste Beweis dafür. Sie würde ihre Garderobe von der Stange kaufen müssen, so wie ihre Töchter auch. Schmuck, gute Schuhe und ebensolche Kosmetik konnte sie wahrscheinlich ganz und gar vergessen. Was hatte sich Heiner nur gedacht? Wo war sein Geld nur geblieben?
Bei seiner Geliebten und deren Sohn. Wo denn sonst?
Diese Erkenntnis kam Frau Maria so plötzlich, dass ihr übel wurde. Sie verlor die Besinnung und fiel zu Boden.
»Mama, was ist mit dir?« schrie Ines, kniete neben ihr nieder und versuchte, sie wieder zu sich zu bringen.
Evelin, die ihren Schrei gehört hatte, stürzte ins Zimmer, erfasste, was passiert war, und rief schluchzend: »Mama, Mama, wach doch auf!«
»Bleib bei ihr, ich rufe den Rettungsdienst an.« Ines eilte zum Telefon, während ihre Schwester verzweifelt und hilflos neben der Mutter hockte.
»Sie kommen gleich her und werden ihr helfen. Komm, lege dich für eine Weile hin.« Ines führte die zitternde Kleine zur Couch, wo diese sich in eine Decke wickelte.
In diesem Moment öffnete die Mutter die Augen, sah verwirrt um sich und flüsterte kaum hörbar: »Was ist mit mir – geschehen?«
»Du bist ohnmächtig geworden«, antwortete ihre große Tochter. »Wie geht es dir? Tut dir etwas weh?«
»Ich – weiß es – nicht.«
»Kannst du aufstehen? Ich helfe dir auch.«
»Ja, bringe mich zu Bett, mein Kind.« Maria gab sich zwar Mühe, auf die Füße zu kommen, sackte aber gleich wieder in sich zusammen. Ihre Beine trugen sie nicht mehr.
Zum Glück kam nur wenige Minuten später der Rettungsdienst, der die Kranke nach kurzer Untersuchung mitnahm.
»Wohin bringen sie die Mama jetzt?«, fragte Evelin, nachdem Ines sich zu ihr gesetzt und sie tröstend in die Arme genommen hatte.
»In ein Krankenhaus. Dort wird man sie bald wieder gesund machen. Du wirst schon sehen.«
»Wie lange muss sie dort bleiben?«
Ines zuckte mit den Schultern und erwiderte dann mit belegter Stimme: »Ich weiß es nicht, Evi. Ich kann aber in zwei Stunden anrufen. Vielleicht erfahre ich dann schon etwas. Komm, wir suchen jetzt Sachen für die Mama zusammen, damit wir sie ihr morgen hinbringen können.«
»Muss ich dann mit ins Krankenhaus?«
»Ja, das wäre schon gut.«
»Ich möchte aber nicht, ich habe Angst.«
»Die Mama würde sich aber über deinen Besuch sehr freuen.«
»Das glaube ich nicht. Mama kann sich doch gar nicht mehr freuen. Sie hat mir erzählt, dass wir nun ganz arm sind und uns nichts mehr kaufen können. Müssen wir nun hungern?«
»Natürlich nicht«, versetzte Ines beruhigend. »Die Mama hat übertrieben. Wir müssen uns nur ein bisschen einschränken und uns eine andere Wohnung suchen.«
»Wo denn?«
»Das weiß ich noch nicht. Wenn wir von hier wegziehen wollen, brauche ich auch eine andere Stellung.«
»Und ich muss in eine andere Schule«, ergänzte Evelin entrüstet. »Da gehe ich aber nicht hin. Das sage ich dir jetzt schon.«
Ines seufzte leise und schwieg. Sie wusste, dass ihr noch schwere Kämpfe bevorstanden. Die Mutter und Evelin würden die Notwendigkeit eines Umzuges noch lange nicht einsehen, vielleicht auch nie.
Am nächsten Nachmittag besuchten sie die Mutter, Evelin war nach mehrmaliger Ermahnung doch mitgekommen.
Wie Ines erwartet hatte, hatte die Mama einen Schock erlitten und war auch körperlich in einer schlechten Verfassung. Sie würde viel Zeit und Zuspruch brauchen, um gesund zu werden.
Ihre Töchter benötigten ebenfalls Hilfe, bekamen aber keine. Die Verwandten hielten sich bedeckt und waren nach eigener Aussage gerade jetzt mit Arbeit überlastet oder selbst krank. Marco war mit seiner neuen Freundin nach Südafrika geflogen. Und das war gut so.
Ines brauchte diesen Heuchler und Egoisten nicht.
*
Mit Hilfe einer guten Bekannten aus dem Tennisverein, die aus Süddeutschland stammte, war es Ines vier Wochen später gelungen, einen Job im fernen Maibach bei einem Immobilienmakler zu bekommen. Sie hatte sich bei diesem vorgestellt, einem netten älteren Herrn mit Namen Rolf Deinhardt. Natürlich verdiente sie bei diesem nicht so viel wie in Berlin, würde aber durch eine wesentlich billigere Wohnung und weniger Spritkosten Geld sparen können. Natürlich kam noch der Umzug hinzu.
Ihre Mutter, die fast drei Wochen in der Klinik hatte zubringen müssen, war inzwischen nach Bad Wildenstein gefahren, um dort eine mehrwöchige Kur anzutreten. Von dem bevorstehenden Umzug wusste sie noch nichts und sollte vorerst auch nichts wissen. Ihre Gesundheit war noch nicht stabil genug.
Evelin hatte sie jedoch die Wahrheit gesagt. Ihre Schwester war immerhin 14 Jahre alt und hatte den Ernst des Lebens zu akzeptieren, damit sie nicht so verwöhnt und weltfremd wurde wie die Mutter.
Das Schwesterchen sah jedoch zurzeit noch gar nichts ein, es maulte, beschwerte sich über die Kürzung des Taschengeldes und wollte in den bevorstehenden Sommerferien mit einer Freundin nach Neapel fliegen. Dort, so meinte sie, müsse sie nicht dauernd an ihren verstorbenen Vater denken und hätte viel Spaß.
Diese Ansicht tat sie ihrer Schwester auch an diesem Abend kund und setzte außerdem noch vorwurfsvoll hinzu: »Alle meine Freundinnen fahren in den Ferien weg, nur ich soll hier herumsitzen.«
»Du bist noch lange nicht erwachsen und wirst daher nicht allein reisen«, erwiderte Ines. »Das sieht Mama auch so.«
»Dann soll ich dir wohl beim Umzug helfen?«
»Nein, das sollst du nicht, du sollst deine Ferien durchaus genießen können, aber nicht allein in Italien, sondern im Kinderheim Sophienlust, das liegt in der Nähe von Maibach, wo ich den neuen Job gefunden habe. Hier wirst du gut versorgt und beaufsichtigt. Nur so kann ich in Ruhe auf Wohnungssuche gehen. Ich habe dort schon angerufen und man hat mir versichert, während der Ferien einen Platz für dich zu haben.«
Mutters Jüngste war nach dieser Mitteilung so verblüfft, dass sie sekundenlang kein Wort hervorbrachte. Schließlich zischte sie aufgebracht: »Ich soll in ein doofes Kinderheim? Du tickst wohl nicht mehr richtig.«
»Ich habe die Verantwortung für dich, ticke also durchaus noch richtig«, gab Ines ärgerlich zurück. »Und ich bin wirklich sehr froh, dass ich diesen Platz für dich gefunden habe. Es wird dir bestimmt gefallen.«
»Wird es nicht«, hielt Evelin schnippisch dagegen. »Ein Kinderheim ist immer doof. Da muss man machen, was irgendwelche alten Tanten sagen.«
»Ganz so ist es durchaus nicht, es sollen viele Möglichkeiten da sein, um die Ferien möglichst schön und erlebnisreich zu gestalten.«
»Wahrscheinlich Lieder singen und Sack hüpfen«, ergänzte die Schwester aufmüpfig. »Und die Älteren müssen mit den Kleinen spielen, auf sie aufpassen und ihnen die Nasen putzen. So etwas mache ich nicht.«
»Nein, du machst mir nur das Leben schwer. Findest du das in Ordnung?«
»Mache ich doch gar nicht, ich will bloß nicht in dieses Kinderheim. Kann ich nicht hierbleiben? So klein bin ich doch nicht mehr.«
»Nein, du wirst über die Ferien in Sophienlust bleiben. Dabei bleibt es. Ich werde uns in Maibach eine Wohnung suchen und alles für den Umzug vorbereiten. Und du wirst vernünftig sein und keine Schwierigkeiten machen.«
Diese Aussage war so endgültig und unmissverständlich, dass Evelin kein Wort mehr zu sagen wagte. Gegen die große Schwester kam sie ja doch nicht an. So nickte sie nur widerwillig und rannte dann in ihr Zimmer, wo sie sich auf das Bett warf und verzweifelt schluchzte.
*
Denise von Schoenecker hatte Ines und ihre Schwester mit der ihr eigenen Freundlichkeit empfangen, hatte ihnen anschließend das Zimmer gezeigt, das Evelin zusammen mit einem anderen Mädchen vorübergehend bewohnen sollte. Es war ein schönes Zimmer mit hellen Möbeln, duftigen Gardinen und einer herrlichen Aussicht auf die Parkanlage.
Evelin gefiel es dennoch nicht. Es war ja nicht ihr Zuhause. Ihre Zimmergenossin, die ihr bald darauf vorgestellt wurde, gefiel ihr ebenfalls nicht. Die etwas rundliche Mareike war nun gar nicht ihr Fall. Doch es war wohl besser, das für sich zu behalten. Die Miene ihrer Schwester verhieß nämlich nichts Gutes.
»So, du kannst jetzt deine Sachen auspacken und einräumen«, ordnete Frau von Schoenecker an. »Mareike wird dir dabei helfen. Ich werde indessen mit deiner Schwester alles noch Notwendige besprechen.«
Danach entfernten sich die beiden Frauen. Evelin fühlte sich nun sehr allein und schaute traurig auf ihre beiden Koffer.
Ihre Mitbewohnerin nahm keine Notiz davon. Sie hatte bereits einen Schrank geöffnet und sagte aufmunternd: »Nun mach die Koffer schon auf und reich mir die Sachen zu. Ich bin etwas größer als du und komme auch an die oberen Fächer heran.«
Evelin gehorchte schweigend.
Mareike erwies sich bald als verträgliches, umgängliches und fleißiges Mädchen, das auch nur während der Sommerferien hierbleiben würde.
»Meine Eltern sind Tierfilmer und sind jetzt in Sibirien. Da gibt es Tiger, Wölfe, Bären und viele Pelztiere«, erklärte sie Evelin, worauf diese verständnisvoll entgegnete:
»Ich kann mir vorstellen, dass du nicht mit wolltest. Es muss doch sehr langweilig sein, stundenlang im Versteck zu liegen und darauf zu warten, dass ein Tiger vorbeikommt.«
»Mutti und Papa haben ein Zelt, tarnen sich und finden es gar nicht langweilig. Du hast aber sehr schöne Sachen.«
Mit dem letzten Satz ging Mareike zu einem anderen Thema über, was ihr Evelins endgültiges Wohlwollen einbrachte.
Ines hatte unterdessen mit der Verwalterin des Kinderheimes einen Rundgang durch das schlossartige Gebäude gemacht, hatte dabei einige Mitarbeiter kennengelernt und vor allem deren 18-jährigen Sohn Nick, einen attraktiven jungen Mann, der sehr nett lächeln konnte.
Danach hatte Denise sie in das Empfangszimmer mit wundervollen Biedermeiermöbeln gebeten, hatte Kaffee und Gebäck bringen lassen, sprach nun über die Feriengestaltung und sagte zum Schluss: »Machen Sie sich nur keine Sorgen um Ihr Schwesterchen, Frau Kaufmann. Die Kleine ist hier gut aufgehoben und wird sich sicher auch wohl fühlen.«
»Das hoffe ich sehr«, erwiderte Ines nach einem leisen Seufzer. »Mit Evelin ist es nämlich nicht immer so einfach. Sie ist von den Eltern sehr verwöhnt worden, ganz besonders von unserem Vater. Sie vermisst ihn sehr. Ich bin leider nur die unbeliebte große Schwester, die ab und zu ein Machtwort sprechen muss.«
»Und Ihre Mutter?«, fragte Denise unwillkürlich.
»Mama ist krank, hat mit sich selbst zu tun und ist vorläufig nicht in der Lage, Entscheidungen zu treffen. Sie ist derzeit zur Kur und muss so nach und nach lernen, mit unseren veränderten Lebensverhältnissen umzugehen.«
»Ja, das kenne ich auch. Es gibt nicht nur gute Zeiten. Aber machen Sie sich nur keine Sorgen. Ich habe Ihr offenbar etwas verwöhntes Schwesterchen Mareike Lutzen zugeordnet. Die ist sehr unkompliziert und scheint aus jeder Situation das Beste machen zu können. Ich denke, die beiden werden sich gut vertragen.«
Dein Wort in Gottes Ohr, dachte Ines, sagte aber nichts weiter, sondern verabschiedete sich bald darauf.
Denise von Schoenecker sah ihr freundlich, Evelin dagegen ziemlich böse nach.
*
Ines hatte ihre Mutter in Bad Wildenstein besucht und hatte erleichtert aufgeatmet. Die Mama sah viel frischer aus, hatte ein bisschen zugenommen und befand sich offenbar auf dem Wege der Besserung. Sie ließ sich pflegen, unternahm mit einigen anderen Frauen lange Spaziergänge, kam an Cafes, Eisdielen und Boutiquen nicht vorbei und hatte auch leider schon wieder viel zu viel Geld ausgegeben.
Da Vorhaltungen nichts nützten, hatte ihre große Tochter nur leise geseufzt und ihr dann von Evelin erzählt, die sich wider Erwarten gut in Sophienlust eingelebt hatte.
»Das freut mich sehr«, hatte Maria ein wenig geistesabwesend erwidert. Sophienlust interessierte sie nicht. Ihr genügte es, dass Evi während der Ferien dort gut untergebracht war. Sie hatte nur noch gefragt: »Wann willst du denn Urlaub machen?«
»Vorläufig noch nicht.« Ines hatte es bei dieser ausweichenden Antwort belassen. Zusammen mit dem Besuch in Sophienlust hatte sie einen Termin bei einem Makler gehabt und hatte inzwischen in Maibach eine annehmbare Wohnung gefunden – drei Zimmer mit geräumiger Küche und ebensolchem Bad. Der Mutter würde die Wohnung vermutlich nicht zusagen. Sie war ja viel zu klein – und weit weg von Berlin obendrein. Nun, damit musste sie sich abfinden.
Evelin hatte sich unterdessen an die größeren Mädchen angeschlossen, vor allem an Mareike, die große und kleine Tiere mochte und viel darüber zu erzählen wusste. Auch mit Pünktchen und Irmela kam Evelin aus und fand auch die jüngeren Kinder gar nicht so nervig, zumal letztere mit ihr auch nicht viel anzufangen wussten.
Alles war also im grünen Bereich, bis Mareike, Pünktchen und Evelin an diesem Vormittag zur Pferdekoppel gegangen waren, was Evi durchaus gefiel. Immerhin hatte sie Pferde noch nie aus der Nähe gesehen. Schöne Tiere waren das, manche sanftmütig und andere temperamentvoll.
»Ich war schon mal für eine Woche auf einem Reiterhof und habe dort auf einem richtigen Pferd gesessen, nicht bloß auf einem Pony«, meinte Mareike, während sie am Gatter standen und den Tieren zuschauten.
Pünktchen lächelte und erwiderte: »In einer Woche lernst du aber noch lange nicht richtig reiten.«
»Ach, aber du kannst es, wie?«, meine Mareike etwas verschnupft.
»Ja.« Pünktchens Antwort kam prompt.
Vielleicht hätte es jetzt eine kleine Kabbelei gegeben, aber dazu kamen die Mädchen nicht mehr, weil Pünktchen begeistert rief: »Schaut mal, da kommt Nick von Gut Schoeneich herüber. Er reitet Bento. Und Nick kann wirklich gut reiten.«
O ja, das konnte Dominik von Wellentin-Schoenecker, der junge Erbe von Sophienlust. Wie festgewachsen saß er auf einem prachtvollen schwarzen Hengst und galoppierte mit diesem über die Wiese. Sein dunkles Haar flatterte im Wind, und er lachte.
Pünktchen und Mareike lachten ebenfalls und riefen ihm Scherzworte zu. Evelin bekam jedoch keinen Ton heraus. Wie gebannt starrte sie zu ihm hin. Ja, so, genau so hatte sie sich den Prinzen in ihren Träumen vorgestellt, so schön und so kühn. Sie hatte Nick bisher immer nur wenig und auch nur von Weitem gesehen, hatte ihn noch gar nicht so recht wahrgenommen. Jetzt jedoch wünschte sie sich, ihn noch lange anschauen und bewundern zu dürfen.
Und dann ritt er auf die Mädchen zu. So, als hätten ihn Evelins geheime Wünsche erreicht, stoppte er das Pferd vor dem Gatter, sprang aus dem Sattel und trat zu ihnen heran.
»Na, Mädels«, sagte er auf seine gutmütige Art. »Ihr wollt wohl aufpassen, dass ich nicht vom Pferd falle.«
»Aber du doch nicht.« Pünktchen lachte ihn an, während Mareike kichernd erklärte: »Du bist einsame Spitze, und kannst dich bestimmt bei den olympischen Spielen anmelden.«
Evelin sagte nichts. Sie konnte es einfach nicht. Aber sie träumte in dieser Nacht von ihm. So einen faszinierenden Jungen hatte sie noch nie gesehen. Aber eigentlich war er schon ein Mann. Er würde sich für sie wahrscheinlich gar nicht interessieren, sie war doch erst vierzehn und damit viel zu jung für ihn. Oder vielleicht doch nicht?
*
Hinter Ines lagen arbeitsreiche Wochen. Nach Ablauf der Kündigungsfrist hatte sie ihre Stellung bei Rolf Deinhardt angetreten und war jetzt dabei – nach längerem Palaver mit der Mutter und endlich erfolgter Zustimmung – die neue Wohnung einzurichten und die überflüssigen Möbel zu verkaufen. Mithilfe einer recht billigen Spedition hatte sie den Umzug bewerkstelligt, zu tun war allerdings immer noch mehr als genug. Nur gut, dass die Mutter eine Kurverlängerung bekommen hatte und Evelin mit der Unterbringung in Sophienlust überraschenderweise doch zufrieden war.So verging der Feierabend immer sehr schnell, der Arbeitstag ebenfalls.
An diesem Nachmittag, kurz vor Dienstschluss, erlebte Ines jedoch eine Überraschung. Ein Mann, offenbar nur wenige Jahre älter als sie, schlank und hochgewachsen, kam ohne anzuklopfen in ihr Büro. Er grüßte lässig und hatte bereits die Klinke zum Chefzimmer in der Hand, als sie in sachlichem Ton sagte: »Herr Deinhardt ist nicht da. Haben Sie einen Termin bei ihm? Und wer sind Sie überhaupt?«
Der ungebetene Gast wandte sich ihr zu und verkündete dann mit einem spöttischen Lächeln: »Ach ja, Sie sind ja Frau Kaufmann, die neue Vorzimmerfee. Sie können mich ja noch gar nicht kennen. Nein, ich habe keinen Termin, ich bin Holger Deinhardt, der Neffe, und werde in Kürze dieses Immobilien-Kontor übernehmen. Onkel Rolf will sich allmählich zur Ruhe setzen und hat mich herbeordert, damit wir eine vernünftige Übergabe machen können. Wie lange sind Sie denn schon hier?«
»Seit dem ersten August.«
»Also erst ein paar Tage«, fasste er zusammen und betrat anschließend das Chefzimmer.
Ines konnte ja nun nichts mehr dagegen haben, es war sein zukünftiger Arbeitsplatz. Sie fragte sich nur, ob sie mit diesem selbstgefälligen Typen auf die Dauer auskommen würde. Sie musste es können, konnte ja schließlich nicht schon wieder kündigen …
Leise seufzend räumte sie ihren Schreibtisch auf, verabschiedete sich vom Juniorchef und setzte sich kurz darauf in ihren Kleinwagen. Sie fuhr jedoch nicht zu ihrer neuen Wohnung, sondern nach Sophienlust. Evelin sollte nicht das Gefühl bekommen, dass sie keine Familie mehr hätte.
Die Familie war der Kleinen anscheinend sehr egal. Evelin nahm die Schwester nur mürrisch zur Kenntnis, hatte nichts zu erzählen und meinte nur: »Ist ganz okay hier, du kannst dich ruhig wieder vom Acker machen.«
Denise von Schoenecker, Frau Rennert und die Köchin Magda versicherten Ines, dass die Schwester zwar ihre Eigenheiten habe, sie sich jedoch keine Sorgen machen müsste.
Ziemlich erleichtert fuhr die junge Frau nach Hause.
Evelin atmete auf. Natürlich hatte sie ihre große Schwester gern, aber die brauchte nun wirklich nicht alles zu wissen, die Mama ebenfalls nicht und Tante Isi, Mareike, Pünktchen und die anderen sowieso nicht. Die konnten nur alles verderben.
Was sie wollte, musste sie allein tun – noch an diesem Abend. Es war ja noch recht lange hell. Sie würde Nick beobachten können, wenn er auf der Pferdekoppel zu tun hatte. Und dann würde sie zu ihm hingehen und ihn bitten, sie auf ein Pferd zu setzen, auf ein ruhiges natürlich. Vielleicht würde er dann auch sagen, dass er ihr das Reiten beibringen würde. Dann könnte sie stundenlang bei ihm sein und das jeden Tag.
Und so schlich Evelin nach dem Abendessen ungesehen aus dem Haus, lief ebenso ungesehen durch den Park und kam nur wenige Minuten später bei den friedlich grasenden Pferden an. Nick war jedoch nirgends zu sehen. Sie wartete eine Weile, aber er kam nicht. Sollte sie zurückgehen, ohne ihm nahe gekommen zu sein?
Da fiel ihr ein, dass die anderen erzählt hatten, auf Gut Schoeneich sei vor Kurzem ein Fohlen zur Welt gekommen. Natürlich! Bei diesem würde Nick ganz sicher sein. Und da es bis zum Gut nicht weit war, eilte Evelin in diese Richtung, die Straße entlang, die die beiden Anwesen verband. Aber direkt dort gewesen war sie noch nie. Sie musste sich jetzt darauf verlassen, was sie von den anderen wusste. Wo der Pferdestall ganz genau war, hatte ihr jedoch niemand gesagt. Aber sie würde ihn schon finden. Vielleicht konnte sie auch jemanden fragen.
Der Gutshof, den sie nach einer Viertelstunde erreicht hatte, schien jedoch wie verwaist. Keine Menschenseele ging hier ihrer Arbeit nach, alles war still und in der Dämmerung irgendwie gespenstisch. Evelin ging dennoch tapfer weiter, wollte in verschiedene Ställe schauen, kam jedoch nicht hinein. Sämtliche Türen waren verschlossen. Und von Nick war immer noch nichts zu sehen.
Sie schaute auf ihre Armbanduhr, die ihr der Papa noch geschenkt hatte, und stellte erschrocken fest, dass es mittlerweile auf zwanzig Uhr zuging. Zu dieser Zeit sollte sie in Sophienlust sein, in ihrem Zimmer oder irgendwo zusammen mit den anderen. Und eigentlich wollte sie das auch. Vielleicht suchte man sie schon. Sie musste zurück, sofort und schnell!
Das Mädchen drehte sich abrupt um und lief zurück. An der einzigen Weggabelung ging sie jedoch fehl und schlug den Weg zum Dorf ein. Evelin bemerkte es nicht. Sie wurde erst unsicher, als sie an einer Baugrube vorbeikam, die mit einem rot-weißen Band umrandet war. War sie hier vorhin vorbeigekommen? Abgehetzt wie sie war, lehnte sie sich grübelnd an einer der Sicherungspfeiler, an denen das Band befestigt war. Der aber gab nach, Evelin verlor das Gleichgewicht. Mit einem lauten Schrei fiel sie in die Grube hinein.
Diese war zwar nicht sonderlich tief, aber durch den letzten Regen glitschig und nass geworden. Trotz großer Bemühungen kam Evelin allein nicht mehr hinaus. Sie begann zu weinen und rief verzweifelt um Hilfe. Doch nur ihr eigenes Echo schallte aus dem Wald zurück.
*
Else Rennert hatte gerade mit dem abendlichen Rundgang durch alle Räume begonnen, als Mareike auf sie zukam und aufgeregt hervorstieß: »Evelin ist nicht da.«
Die Heimleiterin blieb stehen und fragte: »Hast du sie denn schon gesucht?«
»Ja, überall, aber sie ist nirgendwo.«
»Hat sie irgendetwas gesagt?«
»Nein.« Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Sie hat nichts gesagt, auch zu den anderen nicht. Wir haben aber auch nicht sehr auf sie geachtet. Sie schaukelt ja oft allein im Park und denkt an ihren Papa. Wir dürfen sie dann nicht stören.«
»Na, komm, wir suchen sie jetzt gemeinsam. Sie kann ja nicht weit fort sein. Zum Abendessen war sie doch noch da.«
Die Heimleiterin hatte schnell einen Suchtrupp zusammengestellt, verzichtete aber darauf, Denise von Schoenecker und ihren Mann anzurufen. Beide waren heute Morgen zu einem Kurzurlaub aufgebrochen. Aber Nick war da, Nick, für den Evelin offensichtlich schwärmte. Vielleicht hatte der etwas von dem Mädchen gehört und gesehen.
Nick kam sofort von Gut Schoeneich herüber, wusste auch nichts, blieb aber ruhig und besonnen und ordnete an, die Hunde mitzunehmen. Vielleicht fanden sie eine Spur.
Anfangs sah es nicht so aus, denn Barri und Anglos fiel es anscheinend schwer, sich zu orientieren. Schließlich schlugen sie aber doch den Weg zu den Pferdekoppeln und anschließend den nach Schoeneich ein.
»Sie muss hier gewesen sein«, stellte Nick fest. »Ich frage mich bloß, was sie hier wollte.«
Else Rennert sagte nichts, Mareike krähte jedoch: »Wahrscheinlich wollte sie zu dir. Du bist doch ihr Idol.«
Nick verzog daraufhin das Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen.
Die Hunde liefen indessen weiter, schlugen an der Weggabelung aber die Richtung zum Dorf ein und verharrten schließlich laut bellend vor einer nur schwach beleuchteten Baugrube.
Nick war als erster bei ihnen und sah sofort, was passiert war.
»Evi«, murmelte er entsetzt und hielt dem Mädchen, das halb bewusstlos in der Grube kauerte, seine Hand hin. »Komm, ich ziehe dich heraus. Halte dich fest, so gut es geht.«
Aber so einfach war es dann doch nicht. Es bedurfte vereinter Anstrengungen, um das geschwächte und verängstigte Mädchen herausziehen zu können. Nach drei Versuchen gelang es schließlich. Evelin wurde in eine der mitgebrachten Decken gehüllt. Nick hetzte zurück und holte sein Auto, dann wurde Evi auf den Beifahrersitz gebettet.
»Was wolltest du eigentlich auf dem Gutshof und im Dorf?«, fragte Else Rennert mit einer gewissen Strenge, nachdem man in Sophienlust angekommen war und Evelin nach einem warmen Bad in ihrem Bett lag.
»Ich – ich – wollte«, stammelte das Mädchen schluchzend. »Ich wollte mir das – Fohlen ansehen, von dem die anderen – erzählt hatten. Aber es war niemand da, der es mir hätte zeigen können. Und dann – dann – hatte ich Angst so ganz allein und wollte nach Hause – und habe mich dann verirrt.«
»So etwas darf nicht noch einmal passieren. Du darfst auch nicht einfach so weglaufen, allein schon gar nicht. Du musst immer Bescheid sagen, damit wir wissen, wo du bist. Versprichst du mir das?«
»Ja, Tante Ma.« Evelin lächelte die Frau treuherzig an und schloss dann erschöpft die Augen. Es war ja alles noch mal gut gegangen. Nick hatte sie gefunden und befreit. Er hatte an sie gedacht, er liebte sie …
Während Evelin in romantische Träume versank, war der Retter in der Not wieder heimgefahren, hatte sich geduscht und andere Kleidung angezogen. Evelins Schwärmerei war Nick bisher kaum aufgefallen. Nur gut, dass die Ferien bald zu Ende waren und die Kleine von ihrer großen Schwester dann wieder abgeholt wurde. Dennoch würde er morgen mit ihr reden müssen. Er war jetzt der Chef und hatte weitreichende Pflichten übernommen. Und zu diesen gehörte es auch, Evelins Fehlverhalten zu besprechen. Morgen würde sie es sicher schon einsehen.
Nick seufzte leise und dachte daran, dass das Leben mitunter ziemlich kompliziert sein konnte.
*
Als Evelin am anderen Morgen erwachte, war es noch recht früh, gerade erst 5.30 Uhr. Mareike schlief jedenfalls noch. Und das war auch gut so. Sie hatte keine Lust, mit ihr über Nick und ihre große Liebe zu sprechen. Mareike verstand so etwas ohnehin nicht. Die anderen allerdings auch nicht. Wahrscheinlich hatte man inzwischen schon ihre Schwester angerufen und dieser geraten, das ungehorsame Kind schnellstens nach Hause zu holen.
Sie wollte aber nicht von Ines abgeholt werden! Sie wollte in Sophienlust bleiben und zwar für immer – nicht nur für einen Sommer. Nur so konnte sie ihrem Helden nahe sein.
Vor dem Frühstück, während des Frühstücks und auch noch danach wurde ihr gestriges Abenteuer von allen gehörig ausgewertet, die Fragen schienen kein Ende zu nehmen, und ganz besonders die Jungen wollten ganz genau wissen, wie sie sich in dieser ekligen Baugrube gefühlt hatte.
»Na, doof, es war kalt und nass«, hatte sie geantwortet. »Am besten wäre es, wenn ihr auch mal hineinfallt.«
Mittlerweile waren die unbequemen Fragesteller abgezogen, nur Heidi, Pünktchen und Mareike waren noch bei ihr und waren, genau wie sie, damit beschäftigt, Ketten aus bunten Glasperlen herzustellen. Diese sollten eine Erinnerung an die Ferien sein.
»Nick möchte mit dir sprechen.« Regine Nielsen war leise ins Zimmer gekommen und schaute Evelin ernst an.
»Ja, ich komme.« Das Mädchen stand sofort auf und folgte der Kinderschwester zum Biedermeierzimmer, wo der junge Chef am Schreibtisch saß.
»Danke, Schwester Regine«, sagte er ruhig. »Ich werde mit Evelin allein sprechen.«
Er will mit mir allein sprechen, jubilierte Evelin im Stillen, während Regine die Tür von außen schloss. Er will mit mir ganz allein sein und wird mich in die Arme nehmen! Es war doch richtig, dass ich gestern Abend abgehauen bin. Sonst hätte er mich immer noch nicht bemerkt …
Nick nahm sie nicht in die Arme. Er blieb am Schreibtisch sitzen und bedeutete Evelin durch eine entsprechende Handbewegung, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Und er sagte ziemlich barsch: »Ich nehme an, du weißt, was du gestern falsch gemacht hast.«
»Ja, ich hätte – nicht – fortlaufen dürfen, aber ich war so neugierig – auf das Fohlen. Ich dachte auch, dass jemand da ist, der es mir zeigt – du vielleicht. Und ich konnte doch nicht wissen, dass auf der Straße so ein tiefes Loch ist.« Ein ebenso bittender wie sehnsüchtiger Blick begleitete diese Erklärung, den Nick jedoch geflissentlich übersah. Aber er seufzte leise. Die Avancen eines kleinen Mädchens fehlten ihm gerade noch.
»Dann hast du nicht ordentlich gedacht, weder an dich selbst noch an uns, und an deine Schwester und deine Mutter schon gar nicht. Außerdem gibt es hier im Haus Regeln, an die man sich unbedingt zu halten hat. So etwas darf nicht noch einmal passieren. Und wenn doch, dann wirst du sofort nach Hause geschickt. Ist das klar, Evelin?«
»Ja, ich werde so etwas nicht mehr tun. Ehrlich«, antwortete Evelin mit dünner Stimme und klimperte mit den Wimpern.
»Gut, dann verlasse ich mich auf dein Versprechen, werde aber natürlich meine Mutter und deine Schwester über diesen Vorfall informieren. Sie müssen schließlich wissen, was mit dir passiert ist. Und wir werden in Zukunft noch mehr auf dich aufpassen.«
»Tut mir leid …« Evelin begann effektvoll zu schluchzen und warf ihm einen weiteren schmachtenden Blick zu.
Nick hatte genug. »Du kannst jetzt wieder zu den anderen gehen«, sagte er betont nüchtern.
Und als seine kleine Anbeterin widerstrebend das Zimmer verlassen hatte, murmelte er genervt vor sich hin: »Verdrehtes Ding. Hoffentlich war es das jetzt erst einmal.«
Danach rief er seine Mutter an, informierte sie über Evelin Kaufmanns Eskapade und verschwieg auch deren permanente Flirtversuche nicht.
Denise war bestürzt, lobte aber die Einsatzbereitschaft und die Umsicht ihres Ältesten und sagte zum Schluss: »Da musst du durch, mein Sohn, aber es ist ja nur noch eine Frage der Zeit, dann verlässt Evelin Sophienlust wieder. Geh ihr am besten aus dem Weg, habe aber immer ein Auge auf sie, damit so etwas nicht noch einmal passiert. Und kläre auch ihre Schwester auf.«
»Mache ich nachher gleich, grüß Papa und Henrik.«
Nick beendete das Gespräch und wählte anschließend die Nummer von Ines Kaufmann.
»Ihre Schwester ist gestern Abend ausgerissen und auf dem Heimweg in eine Baugrube gefallen«, berichtete er in sachlichem Ton. »Es ist ihr aber nichts weiter geschehen, da können Sie ganz beruhigt sein.«
Ines konnte sekundenlang nichts sagen. Schließlich stieß sie besorgt und entsetzt hervor: »Was hat sie sich nur dabei gedacht?«
»Sie wollte sich wohl das Fohlen anschauen, das vor ein paar Tagen auf Gut Schoeneich geboren worden ist, hat aber auf eigene Faust gehandelt. Ich habe inzwischen mit ihr geredet, und sie hat mir versprochen, in Zukunft vernünftig zu sein.«
»Dann muss ich sie nicht abholen?«
»Nein, Frau Kaufmann, aber letzten Endes müssen Sie und Ihre Mutter das entscheiden.«
»Ich werde mit meiner Mutter reden, aber ich denke, sie wird meiner Meinung sein, Evelin bis zum Ende der Ferien in Sophienlust zu lassen. Ich werde meine Schwester aber besuchen und ihr ins Gewissen reden.«
Na, hoffentlich nützt das etwas, ging es Nick durch den Kopf. Er hatte das unbestimmte Gefühl, als wenn der gestrige Vorfall noch nicht der letzte Streich gewesen war.
Er sollte recht behalten. Evelin war – seine Distanziertheit komplett ignorierend – offensichtlich davon überzeugt, dass er ihre Zuneigung erwiderte, und heftete sich, wann immer es möglich war, an seine Fersen. Himmelhochjauchzend und dann wieder zu Tode betrübt, ließ sie keine Gelegenheit ungenutzt, ihrem Schwarm möglichst nahe zu sein.
*
Pünktchen sah das Geschehen mit sehr gemischten Gefühlen. Einerseits beobachtete sie, dass Nick Evelin wirklich in keiner Weise entgegenkam, andererseits hatte sie das Gefühl, als würde er sich auch von ihr, Pünktchen, distanzieren. Warum hatte er plötzlich keine Zeit mehr, gemeinsam etwas mit ihr zu unternehmen? Wann hatten sie zuletzt die Pferde zusammen gestriegelt und dabei gelacht und gescherzt? War ihm Evelin wirklich gleichgültig? Die Kleine sah gut aus und hatte teure und schicke Kleidung, bei der sie, Pünktchen, keinesfalls mithalten konnte. Trafen sich die beiden vielleicht heimlich, und Nick tat nur in der Öffentlichkeit so, als wäre er an Evelin nicht interessiert?
Den anderen Kindern war natürlich ebenfalls schon aufgefallen, dass Evelin Kaufmann oft in Nicks Nähe war, viel zu oft. Das fand sogar Kim, der kleine Waisenjunge aus Vietnam.
»Vielleicht will er die Evelin heiraten«, meinte er, worauf Vicky lachend entgegnete: »Mit vierzehn darf man noch gar nicht heiraten, Und Nick will die auch gar nicht, er liebt nur Pünktchen. Er ist nur höflich.«
Mit dieser Aussage war der Junge zufrieden. Er lief zu seinen Spielkameraden und hatte Evelin bald wieder vergessen.
Nick wünschte sich auch, seine nervende Anbeterin vergessen zu können.
Aber noch waren Ferien, noch war sie hier in Sophienlust, und sie war an seiner Seite, sobald er auftauchte. Das belastete ihn mehr, als er es für möglich gehalten hatte. Und das war auch der Grund, weshalb er sich so oft nach Schoeneich zurückzog, worunter dann auch die Zusammenkünfte mit Pünktchen litten.
Denise riet ihm, die letzten Ferientage mit Anstand zu ertragen und sich den anderen Kindern mehr zuzuwenden. Vielleicht sah Evelin dann ein, dass sie bei ihm durchaus nicht die erste Geige spielte.
Der Rat war gut, die Umsetzung auch einfach, Erfolg stellte sich jedoch nicht ein. Evelin war nun noch viel mehr bestrebt, ihm ihre Liebe zu zeigen.
An diesem Nachmittag sah sie ihm zu, wie er mit den jüngeren Kindern einen sportlichen Wettbewerb veranstaltete.
»Darf ich auch mitmachen?«, erkundigte sie sich schließlich, als er sie so gar nicht beachtete.
»Nein, du bist schon zu groß«, antwortete er in ruhigem Tonfall. »Das wäre unfair den Kleinen gegenüber.«
»Na gut, aber zuschauen darf ich doch auch weiterhin.«
»Natürlich.« Nick bedachte sie mit einem farblosen Lächeln, das Evelin jedoch ganz anders auslegte. Ehe er ihr ausweichen konnte, fiel sie ihm um den Hals und küsste ihn auf beide Wangen.
»Lass das!« Er schob sie von sich, sagte aber nichts weiter.
Eigentlich hätte er sie jetzt wegschicken müssen, doch das bekam er nicht fertig, gutmütig wie er nun einmal war.
Evelin blieb also da und setzte sich auf eine Bank. Für einen Unbeteiligten schaute es so aus, als würde sie nur darauf warten, bis Nick wieder Zeit für sie hatte.
Pünktchen schien dies auch so, zumal sie, hinter einem Strauch stehend, mit angesehen hatte, wie Nick von Evelin geküsst worden war. Hatte ihm das vielleicht sogar gefallen? Schließlich war sie immer noch da. Wollten sie vielleicht nachher Händchen haltend durch den Park gehen und sich irgendwo küssen?
Eifersucht und Verzweiflung schlugen über Pünktchen zusammen. Ohne gesehen zu werden, verließ sie ihr Versteck und lief dann ziellos im Park umher, bis sie sich irgendwo ins Gras setzte und hemmungslos zu schluchzen begann. Hierher kam man nur selten, hier würde niemand ihre Tränen sehen.
Zum Abendessen, als alle am großen Tisch saßen, fiel Pünktchens Schweigsamkeit nicht sonderlich auf. Die anderen hatten genug zu erzählen. Es fiel auch nicht auf, dass sie bald zu Bett ging.
Nick hatte die Szene vorhin mit Evelin nicht vergessen, und ihm war klar geworden, dass sie in ihrer Zuneigung zu ihm nicht zu bremsen war.
»Schick Evelin Kaufmann nach Hause, Mama«, bat er seine Mutter, als er mit ihr nach dem Essen allein im Biedermeierzimmer saß. »Sie ist nicht mehr tragbar und will nicht begreifen, dass ich nicht ihr Märchenprinz sein will. Sie lauert mir förmlich auf, und heute ist sie mir um den Hals gefallen und hat mich geküsst. So geht das nicht weiter.«
»Nein, so geht das nicht«, bestätigte Denise nachdenklich. »Aber welchen Grund soll ich angeben?«
»Du sagst ganz einfach die Wahrheit«, meinte Nick verzweifelt.
»Und gebe damit zu, dass wir mit einem frühreifen Teenager nicht fertig werden«, vollendete Denise. »Das möchte ich nicht unbedingt. Ich könnte Frau Kaufmann nur bitten, die Schwester etwas eher zu abzuholen, weil wir ganz plötzlich den Platz brauchen. Evelin hat ja ein Zuhause und ist überdies kein Kleinkind mehr, wie sie uns hinreichend bewiesen hat.«
»Ja, das geht auch«, gab er gestresst nach. »Mach, was du willst, aber schick sie weg. Sie geht mir gewaltig auf die Nerven.«
Denise lachte leise und dachte daran, dass ihr großer Sohn auch lernen musste, mit den Gefühlen von Mädchen umzugehen.
So geschah es. Eine Woche vor Ferienende erschien Ines Kaufmann und holte ihre kleine Schwester ab.
Sehr zum Leidwesen von Evelin war Nick bei der Verabschiedung nicht zugegen. Er würde dringend auf Schoeneich gebraucht, hieß es. Widerwillig stieg sie zu Ines ins Auto. Man winkte pflichtschuldigst hinterher, doch alle atmeten auf. Man ließ den verwöhnten und aufdringlichen Fratz gern gehen. Und am glücklichsten war in diesem Moment Pünktchen.
*
»Hier sollen wir wohnen?« Evelin stieß diesen Satz laut und missbilligend hervor, nachdem sie von ihrer Schwester durch alle Räume der neuen Wohnung geführt worden war.
»Warum denn nicht?«, erwiderte Ines gelassen. »Du hast auch hier ein eigenes Zimmer.«
»Das ist aber so klein, und ein eigenes Bad habe ich auch nicht.«
»Du wirst damit zufrieden sein müssen, oder hast du Geld für eine größere Wohnung?«
»Nö, du hättest aber einen reichen Macker heiraten können. Mama hat das auch gesagt. Dann hätten wir jetzt nicht so dumm und armselig dagestanden.«
»Du redest, wie du es verstehst. Dabei hattest du in Sophienlust auch kein eigenes Zimmer und schienst durchaus zufrieden zu sein.«
Mit diesem Argument hatte Ines ihrer verwöhnten Schwester nur für wenige Sekunden den Wind aus den Segeln genommen, denn Evelin gab schnippisch zurück: »Da habe ich auch in einem Schloss gewohnt, und das hier ist bloß ein Mauseloch. Hier bleibe ich nicht. Such etwas anderes.«
»Ich glaube, du kommst allmählich in die Flegeljahre. Du kannst dich jetzt auf das nächste Schuljahr vorbereiten. Schreibe schon mal auf, was du brauchst, damit wir es morgen einkaufen können.«
»Ich denke nicht daran. Ich gehe auch nicht in diese dämliche Schule.«
»Diese – dämliche – Schule ist ein Gymnasium. Du wirst hingehen, oder willst du ohne Schulabschluss und damit ohne Beruf bleiben? Und du solltest auch daran denken, was Papa zu deinem Verhalten gesagt hätte.«
Darauf antwortete Evelin nicht, aber sie war nun doch bereit, ihren Schulbedarf aufzulisten. Ihr von der Schwester liebevoll eingerichtetes Zimmer erwähnte sie mit keiner Silbe mehr, der Schulbedarf wurde jedoch um diverse Markenkleidung und teure Schuhe ergänzt.
Ines schüttelte den Kopf, als sie den Zettel gelesen hatte, und erklärte: »Kleidung und Schuhe müssen noch warten. Schulsachen sind wichtiger. Aber du kannst gern die Mama fragen, ob sie dir Geld geben kann. Sie kommt übrigens übermorgen hierher zu uns.«
»Na, da wird sie ja was zu jammern haben. Ihr wird es hier garantiert auch nicht gefallen.«
Genauso war es denn auch.
Maria Kaufmann klagte über die enge Wohnung und über ihr schlimmes Schicksal. Auf den Gedanken, sich sinnvoll zu beschäftigen, kam sie jedoch nicht.
So vergingen einige Wochen, und der Herbst zog ins Land. Evelin besuchte nun doch das Gymnasium, lernte auch fleißig und hatte auch Anschluss bei einigen Klassenkameraden gefunden. Ja, sie konnte durchaus nett und umgänglich sein, wenn sie es wollte.
Mit dieser Entwicklung war Ines durchaus zufrieden. Evelin war ja noch ein halbes Kind, das man vielleicht doch noch in die richtigen Bahnen lenken konnte. Ob ihr das auch bei ihrer Mutter gelingen würde, bezweifelte sie jedoch.
Maria klagte und klagte, bis Ines sie eines Abends anschrie: »Nimm dich endlich zusammen, Mama! Du hast nur noch deine Witwenrente, das ist richtig. Aber von der kannst du doch sehr gut leben. Stell dir mal vor, du müsstest arbeiten gehen.«
»Dein Vater hat immer gesagt, ich muss das nicht.«
»Das stimmt ja auch, aber es geht auch nicht mehr so weiter wie vorher. Maibach ist nun einmal nicht Berlin, und unsre Mittel sind beschränkt.«
»Hier gefällt es mir nicht. Es ist so langweilig, hier kenne ich niemanden.«
»Nimm mir die Einkäufe ab, mache den Haushalt oder suche dir eine ehrenamtliche Tätigkeit.«
Maria starrte ihre Tochter daraufhin an, als käme diese von einem anderen Stern. Sie war zunächst sprachlos und stammelte schließlich: »Ich gehe doch einkaufen.«
»Ja, in Boutiquen, Parfümerien und Schuhläden. Ich meine aber im Supermarkt. Wir müssen auch leben.«
»Das kannst du viel besser. Und früher hatten wir für so etwas unsere Wirtschafterin. Außerdem weiß ich nicht, was ich einkaufen soll.«
»Dann musst du es lernen und zwar so schnell wie möglich. Dann wird dir auch nicht mehr so langweilig sein. Du kannst auch Evelin bei den Hausaufgaben unterstützen.«
»Die macht sie doch allein.« Maria Kaufmann winkte ab und schlug dann vor: »Ich würde gern zu Tante Josefine fahren. Sie hat mich eingeladen.«
»Tante Josefine hat ein Lokal mit Pension und wird wohl kaum Zeit haben, sich dauernd mit dir zu beschäftigen. Was willst du dort tun? Doch nicht etwa die Gäste bedienen?«
»Nein, das natürlich nicht. Ich könnte aber die Dekorationen machen, dafür hat die Tante ohnehin kein Händchen und Zeit sowieso nicht. Ich könnte mit ihrem Hund Gassi gehen und ab und zu ein paar alte Freundinnen treffen. Dort ist mir alles so vertraut, es ist beinahe wie zu Hause.«
Der Mutter gefiel es in Maibach nicht. Sie sehnte sich nach ihrem Berliner Umfeld zurück.
Ines seufzte leise, überlegte einige Sekunden und fragte dann: »Wie lange willst du denn bleiben?«
»Nun ja, einen Monat, vielleicht auch länger. Ich würde schon bald fahren wollen, weil im Ort das Erntedankfest gefeiert wird. Ich soll die Gaststube und den Vorplatz schmücken.«
»Nun ja, so schlecht ist die Idee nicht«, pflichtete Ines ihr bei. »Dekorieren und Sträuße binden kannst du gut. Ich frage mich nur, ob du mit dem Geld auskommen wirst, das ich dir für diese Zeit zur Verfügung stellen kann. Während der Kur konntest du es nicht.«
»Dieses Mal bestimmt«, versicherte ihr die Mutter eifrig. »Ich brauche dort ja kaum etwas.«
»Na, na, versprich bloß nicht zu viel. Also gut, meinetwegen kannst du die Tante besuchen. Ich fahre dich hin.«
Frau Maria lächelte daraufhin erfreut und packte bereits am nächsten Tag ihre Koffer.
*
Nick fühlte sich in diesen Wochen, als wäre er einer Gefahr entronnen. Evelin Kaufmann hatte Sophienlust verlassen und würde garantiert nicht wiederkommen. Damit war seine Welt wieder heil. Wenn da nicht die Sorge um Pünktchen gewesen wäre.
Sie hatte sich verändert, war nicht mehr das lustige in sich ruhende Mädchen, sondern nur noch still und in sich gekehrt. Sie lachte kaum noch und sie mied ihn. Warum eigentlich?
Er wusste es nicht und fragte schließlich seine Mutter: »Pünktchen gefällt mir nicht. Ist sie krank?«
Denise unterdrückte ein Lächeln und erwiderte: »Nein, sie ist nur in einem Alter, in dem sie beginnt, die Welt mit anderen Augen zu sehen. In einem Satz: Pünktchen wird erwachsen.«
»Und deshalb will sie mich nicht mehr sehen?«
»Das weiß ich nicht. Frag sie doch.«
»Hm, ja …« So direkt fragen mochte Nick selbstverständlich nicht, er suchte eher eine günstige Möglichkeit, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Diese ergab sich schließlich an einem Samstag, als man gleich nach dem Frühstück zu einem Erlebnispark fahren wollte.
»Ich möchte lieber hierbleiben«, erklärte Pünktchen und wandte sich demonstrativ ihren Schulbüchern zu.
Else Rennert, die die Kinder zusammen mit Nick und Regine Nielsen begleiten wollte, war einige Sekunden fassungslos und fragte dann: »Warum denn das? Du bist doch sonst immer gern mitgekommen.«
»Heute möchte ich aber nicht, habe auch noch viel zu lernen. Ich kann auch in der Küche helfen.«
»Zwingen wollen wir natürlich niemanden.« Die Heimleiterin fand ihre Gelassenheit wieder und rief die anderen Kinder zusammen, während Pünktchen an ihrem Schreibtisch sitzen blieb und in ihrem Erdkundebuch blätterte. Doch die Buchstaben, Zahlen und Bilder verschwammen vor ihren Augen. Wie gern wäre sie mitgefahren, aber nicht, wenn Nick dabei war. Seit der Sache mit Evelin war sie sich nicht mehr sicher, wie er zu ihr stand. Mochte er sie überhaupt noch? Und sie? Würde sie jetzt immer wieder zittern müssen, sobald ein neues Mädchen in Sophienlust aufgenommen wurde?
»Warum weinst du?« Nick, der Ungetreue, war leise ins Zimmer gekommen, stand nun neben ihr und blickte sie forschend an.
Sie wischte sich die Tränen ab und flüsterte: »Ach, bloß so.«
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter und entgegnete behutsam: »Sag doch nicht so etwas. Geht es dir nicht gut? Läuft es schlecht in der Schule? Du kannst mir doch alles erzählen, so wie früher.«
»Ich habe gute Zensuren und krank bin ich auch nicht.«
»Was ist es dann?«
»Nichts, gar nichts«, wehrte sie ab. »Du solltest jetzt gehen, die anderen werden bestimmt schon warten.«
»Ja, sie warten«, bestätigte er. »Sie warten auf dich. Komm doch mit. Ohne dich macht es doch keinen richtigen Spaß. Weißt du noch, wie gern wir beide immer Karussell gefahren sind und Zuckerwatte gegessen haben? Das könnten wir heute auch tun.«
Sie antwortete nicht, saß nur wie ein Häufchen Unglück da und wagte nicht, ihn anzusehen.
»Ich glaube, ich muss mir wirklich Sorgen um dich machen.« Nick zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dicht neben sie.
»Pünktchen, liebes Pünktchen – Angelina«, sagte er leise. »Komm doch mit. Ich würde mich sehr freuen.«
Sie schaute in seine Augen, sah sein Lächeln, spürte seine Hand, die ihr übers Haar strich und atmete tief auf. Vielleicht hatte er sie doch noch ein bisschen gern?
»Ja, ich komme mit«, erwiderte sie und ließ es dann zu, dass er sie in die Arme nahm und an sich drückte.
*
Ines und Evelin hatten die lange Fahrt auf sich genommen und die Mama nach Grünheide gebracht, wo die jung gebliebene Tante ihrer Mutter, Josefine, seit Jahrzehnten wohnte und mit viel Erfolg und Energie ihr Ausflugslokal führte.
»Ihr kommt gerade richtig.« Mit diesen Worten begrüßte sie die Ankömmlinge auf ihre resolute Art. »Gerade heute ist die Gaststube rappelvoll. Ihr könnt in der Küche helfen.«
So vereinnahmt und zur Arbeit ermuntert, verbrachten Maria und ihre Töchter das Wochenende. Ines und Evelin fuhren am Sonntagnachmittag wieder ab, Maria eilte in ihr Gästezimmer und verbrachte diesen Abend damit, eine gute alte Freundin anzurufen und sich anschließend von den Anstrengungen des Wochenendes zu erholen. Hoffentlich erwartete Josefine nicht, dass sie immer in der Küche aushalf!
So naiv war Josefine Kunze natürlich nicht. Seit Jahren Witwe und damit der ›erste Mann‹ im Haus wusste sie ganz genau, dass die verwöhnte Nichte von der Kochkunst keine Ahnung hatte. Im Grunde genommen hatte sie nur Ines ein wenig entlasten wollen, damit diese für eine Weile einen möglichst ruhigen Feierabend hatte. Maria Kaufmann wurde also ganz gewiss nicht überfordert.
Die Dekorationen zum Erntedankfest gelangen ihr ausgezeichnet, sie wurde vom Tantchen gelobt und durfte sich die nächsten Tage auf eigene Faust amüsieren. Nun war der Ortsteil Grünheide beileibe nicht der Kurfürstendamm, aber mit der S-Bahn war auch dieser zu erreichen, genauso wie einige sehr beliebte Einkaufszentren auch. Leider musste sich Maria sehr zurückhalten.
Heute hatte sie es vorgezogen, in Grünheide zu bleiben. Oder richtiger: Die Tante hatte ihr eine Leine, an welcher der Dackel Waldefried von Schlehendorn befestigt war, in die Hand gedrückt und angeordnet: »Geh mit Waldi Gassi. Er geht mir mit seinem Gewinsel schon auf den Wecker.«
Eigentlich hatte Maria keine Lust, den Kläffer auszuführen, aber sie musste sich für die liebevolle Aufnahme wohl erkenntlich zeigen. Daher nickte sie nur und spazierte kurze Zeit später mit Tantes vierbeinigem Liebling durch die nahe Parkanlage.
Waldi war noch jung, erst ein knappes Jahr alt, war sich aber doch schon bewusst, dass er irgendwann ein versierter Haus- und Hofhund werden musste. Und gut benehmen musste er sich natürlich auch. Letzteres war in der Praxis nicht immer durchführbar, in diesem Augenblick schon gar nicht. Das ganz in seiner Nähe herumhüpfende Eichhörnchen musste er haben! Mit großem Getöse verfolgte er die ›Beute‹ und entriss dabei seinem Vertretungsfrauchen die Leine, die Maria nur nachlässig in der Hand gehalten hatte.
»Waldi, komm sofort zurück!«, schrie Maria erschrocken und lief dem Hund nach. Er gehorchte ihr selbstverständlich nicht. Bald konnte sie ihn nicht mehr sehen, aber zumindest noch hören. So schnell sie konnte eilte sie in diese Richtung, übersah dabei eine Baumwurzel und fiel der Länge nach hin.
Auch das noch! Wie betäubt blieb sie einige Sekunden liegen, rappelte sich dann in eine sitzende Position auf – und schaute entgeistert auf einen Mann mittleren Alters in Sportkleidung, der plötzlich vor ihr stand.
»Oh, Gott sei Dank, Sie sind nicht ohnmächtig«, sagte der Unbekannte erleichtert. »Haben Sie sich was getan, junge Frau?«
»Ich – glaube – nicht.« Sie blickte hilflos zu ihm auf, worauf er ihr vorsichtig auf die Beine half.
»Vielen Dank«, murmelte sie, während sie ihn genauer betrachtete. Er tat das Gleiche und murmelte verblüfft: »Mariechen – Mariechen Sollhardt?«
Sie erkannte den ehemaligen Schulkameraden jetzt auch, griff nach seiner Hand und rief vor Freude strahlend: »Fredi Winter, es ist nicht zu fassen. Wo kommst du denn so plötzlich her?«
»Ich wohne in Grünheide und jogge hier ein bisschen, wie du siehst. Und was machst du hier?«
»Ich gehe mit dem Hund meiner Tante spazieren, aber der ist mir ausgebüxt. Ich weiß nur nicht, wie ich das Tante Josefine beibringen soll.«
»Wir werden den Hund schon finden. Wahrscheinlich ist es der, der hier irgendwo bellt. Wie heißt er denn?«
»Waldi.«
»Wahrscheinlich ein Dackel.«
»Ja, ein Dackel«, bestätigte sie und probierte, ob sie einigermaßen laufen konnte. An Alfred Winters Arm ging das recht flott. Sie mussten auch nicht weit gehen, denn Waldefried hatte unterdessen eingesehen, dass sich die Jagd nach einem Eichhörnchen nicht lohnte. Mit reuevollem Dackelblick kam er zurück und war nun wieder bestrebt, ein guter Hund zu sein.
Professor Alfred Winter tätschelte ihm kurz den Kopf und sagte wie nebenbei: »Er ist also der Hund deiner Tante. Wohnst du bei ihr?«
»Nein, ich bin hier nur zu Besuch, will mich nach dem Tod meines Mannes etwas ablenken.«
Er nickte nur und erwiderte nach kurzem Zögern: »Ich bin auch wieder allein. Meine Frau hat mich verlassen. Ein zerstreuter Professor war nun einmal nicht ihre Welt.«
»Aber du hast doch Kinder?«
»Leider nicht. Kinder waren auch nicht ihre Welt. Ich hätte aber gern welche gehabt.«
»Ich habe zwei Töchter«, erklärte Maria und schaute ihn prüfend von der Seite an. »Ines ist 28 und Evelin 14. Wir haben lange im Grunewald gelebt, wohnen jetzt aber in Maibach, ziemlich weit weg, in Süddeutschland.«
»Gefällt es dir dort?«
»Nein, aber es ging nun einmal nicht anders. Nach Heiners Tod hat sich unser Einkommen erheblich verringert. Da ist Berlin zu teuer.«
»Ja, so kann es gehen, aber Geld ist nicht alles. Immer allein zu sein, ist auch nicht schön.«
»Du wirst sicher wieder jemanden finden, hast dich ja sehr ordentlich gehalten«, meinte sie anerkennend.
»Du auch, man sieht dir deine Jahre nicht an, bist immer noch ein sehr hübsches Mädchen. Weißt du eigentlich, dass ich dich damals heimlich angebetet habe?«
»Tatsächlich?«, staunte sie. »Ich habe in dir immer nur einen Streber gesehen.«
»Na ja, der war ich ja auch. Von nichts kommt nichts.«
Während dieser Unterhaltung waren sie langsam zum Ort zurückgegangen.
Auf Waldi brauchten sie nicht besonders zu achten. Der adlige Dackel benahm sich manierlich. Er wusste offenbar, dass er sich für heute schon genug geleistet hatte.
Als sie vor Josefines Lokal, dem ›Kunzenhof‹, angekommen waren, fragte Alfred leise: »Sehen wir uns vielleicht wieder?«
Maria war nur mäßig überrascht und antwortete lächelnd: »Ja, gern. Ich glaube, wir haben uns viel zu erzählen. Und da ich noch ein paar Tage hier verbringen werde, können wir uns sehen, wann immer du Zeit hast.«
»Ich melde mich, weiß ja jetzt, wo ich dich finden kann.« Er hauchte ihr zum Abschied ein Küsschen auf die Wange und ging dann mit schnellen Schritten Richtung Ortsrand, wo er ein geräumiges Landhaus bewohnte.
Maria sah ihm versonnen nach und fühlte sich auf einmal richtig gut. Das Witwendasein war auch nicht zu verachten. Man hatte wieder neue Möglichkeiten …
Vor sich hin lächelnd ging sie mit Waldi ins Haus.
*
Ines hingegen fühlte sich nicht besonders gut. Und das lag an ihrem neuen Chef. Mit seinem Onkel zu arbeiten, war eine Freude gewesen, bei Holger Deinhardt hatte sie jedoch immer mehr das Gefühl, unter Hochspannung zu stehen. Er schaute sie mitunter so komisch an und machte sie damit nervös. Daheim war es allerdings auch nicht wesentlich anders.
In diesem Fall trug ihre Schwester die Schuld. Statt sich über die eben begonnenen Herbstferien zu freuen, war Evelin unzufrieden, mäkelte an diesem und jenem herum und wollte unbedingt neu eingekleidet werden.
»Du bekommst neue Stiefel und eine neue Jacke, mehr geht nicht«, hatte Ines mehr als einmal gesagt, worauf das Schwesterchen in Tränen ausgebrochen war.
Um die Kleine wenigstens ein bisschen aufzumuntern, hatte sie schließlich vorgeschlagen: »Wollen wir am Samstag zu Tante Josefine fahren? Sie und Mama werden sich bestimmt freuen, wenn wir sie überraschen. Vielleicht kannst du auch ein paar Tage dort bleiben und bist dann nicht so allein wie hier.«
Evelin war einverstanden gewesen, allerdings ziemlich lustlos.
»Na, Mädels, das ist aber schön, dass ihr euch bei mir sehen lasst«, rief Tante Josefine, kaum dass sie angekommen waren und geläutet hatten und umarmte die Großnichten. »Ihr habt sicher Hunger und Durst.«
»Ja, haben wir«, entgegnete Ines, während sie der Wirtin in die gemütliche Gaststube und zum Stammtisch folgten. »Mama ist wohl in ihrem Zimmer?«
»Nee, da ist sie nicht. Die ist mit ihrem Alfred unterwegs.«
»Alfred??«, fragten Ines und Evelin beinahe gleichzeitig.
»Er heißt Alfred Winter, ist Anfang Fünfzig und Professor an der Humboldt-Universität. Eure Mutter hat mir erzählt, dass sie ihn schon von der Schule her kennt.«
»Und den hat sie hier ganz zufällig getroffen?« Ines setzte sich zu Tante und Schwester und war unangenehm überrascht. Aber das sagte sie selbstverständlich nicht.
Evelin konnte den Mund jedoch nicht halten und zeterte: »Sie hat hier also irgendeinen Typen aufgegabelt und spielt wohl die lustige Witwe.«
»Er wohnt hier und scheint ein umgänglicher und ordentlicher Mann zu sein«, berichtigte Tante Josefine. »Auf mich macht er jedenfalls diesen Eindruck. Außerdem hat er einen guten Einfluss auf eure Mutter. Sie jammert nicht mehr so viel und hilft mir sogar bei der Arbeit. Doch nun sucht euch auf der Speisekarte etwas zum Essen und Trinken aus.«
»Machen wir, danke, Tante Josefine«, erwiderte Ines, die sehr nachdenklich geworden war.
Zur gleichen Zeit saßen Maria und Alfred in seinem Wohnzimmer und tranken Kaffee.
»Du könntest mich in Zukunft öfter besuchen, wenn du willst«, hatte er eben gesagt und sah sie treuherzig an. »Wir könnten auch gemeinsam Winterurlaub machen.«
»Ich kann doch Evelin nicht so lange allein lassen.«
»Die ist kein Kleinkind mehr und hat überdies ihre große Schwester. Du kannst sie aber auch mitbringen.«
»Ich kann mir denken, was du möchtest«, versetzte sie nach kurzer Bedenkzeit. »Ich soll es dir hier so recht gemütlich machen. Aber ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich bin hauswirtschaftlich eine Niete und kann auch nicht besonders gut kochen. Wir hatten immer eine Haushaltshilfe.«
»Ich habe auch eine«, erwiderte er lächelnd. »Sie wird dir gefallen. Du hättest also zunächst nur die Aufgabe, einen mitunter recht gestressten Professor auf andere Gedanken zu bringen.«
»Ich kann auch nicht besonders gut mit Geld umgehen«, gestand Maria nach einer Weile.
»Ja, du warst schon immer ein verwöhntes, aber außerordentlich hübsches Mädchen. Die Frage ist nur, ob du dich überhaupt wieder mit einem Mann einlassen willst. Du bist ja erst seit ein paar Monaten Witwe.«
»Warum nicht? Er hatte ja auch eine andere, seit Jahren schon, und hat mit dieser obendrein noch ein Kind.«
»Aha.« Alfred Winter lächelte unwillkürlich. Der hohe Regierungsbeamte war also auch nur ein ganz normaler Mann mit Fehlern und Schwächen gewesen.
In diesem Augenblick klingelte Marias Handy.
»Deine Mädchen sind da«, meldete Tante Josefine. »Es wäre doch wohl besser, wenn du heimkommst.«
»Ja, Tante, ich bin in Kürze da«, antwortete Maria wenig begeistert, schaute aber verdutzt auf, als der Professor hinzufügte: »Ich komme mit.«
»Meinst du, dass das richtig ist?«
»Ich denke schon, ich möchte nämlich gern deine Töchter kennen lernen. Und vielleicht möchten die auch wissen, mit wem die Mama ihre Freizeit verbringt.«
»Schon möglich.« Maria stand auf und verließ anschließend mit Alfred sein Haus, an das sie sich schon sehr gewöhnt hatte. Ganz wohl fühlte sie sich dabei nicht. Die Töchter würden sicher ziemlich sauer sein, dass sie nach so kurzer Zeit schon einen Anderen hatte. Aber der Mann, der so selbstverständlich neben ihr ging und sie anscheinend auch gern hatte, gab ihr Zuversicht und Kraft.
Und dann war alles viel einfacher, als sie es sich gedacht hatte. Ines war der Professor offenbar sympathisch, sie kamen jedenfalls schnell ins Gespräch. Evelin war noch ein bisschen zurückhaltend, aber sie hatte auch sehr an ihrem Vater gehangen. Man musste ihr Zeit lassen, und Zeit brauchten sie eigentlich alle.
So verlebte Alfred mit seinen »drei Frauen«, wie er sie nannte, einen vergnügten Nachmittag, lud sie am nächsten Tag zum Mittagessen ein und hätte durchaus nichts dagegen gehabt, wenn Marias jüngere Tochter die Herbstferien bei ihm und ihrer Mutter in Grünheide verbringen wollte.
Doch Evelin wies diesen Vorschlag entrüstet zurück.
»Was soll ich bei der Mama?«, zischte sie Ines heimlich zu. »Die will mich auch gar nicht bei sich haben, die hat ja jetzt ihren Alfred. Außerdem kenne ich hier niemanden.«
»Du wärst aber nicht allein, wie bei uns zu Hause«, gab ihre Schwester zu bedenken. »Ich muss arbeiten und manchmal sogar Überstunden machen.«
»Damit komme ich klar. Ich werde mich mit Milena, meiner Klassenkameradin, verabreden, ins Kino gehen oder zum Schwimmbad.«
Dabei blieb es. Maria versuchte auch nicht, ihre Jüngste umzustimmen.
Ihr war diese Lösung sehr recht, und sie verlängerte ihren Aufenthalt um weitere drei Wochen.
Josefine Kunze hatte nichts dagegen. Ihre Nichte weilte ohnehin fast nur bei ihrem Professor.
*
Evelin war nun während der nächsten Tage allein und fühlte sich auch so, viel mehr, als sie angenommen hatte. Die Mutter genoss ihren zweiten oder dritten Frühling in Grünheide, ihre Schwester ging arbeiten, und ihre neue Freundin Milena war mit den Eltern in Urlaub gefahren. In Sophienlust war es jetzt sicher nicht so langweilig. Dort war Nick, den sie schon schrecklich vermisste. Sie hatte gehofft, dass er sie anrufen würde, doch das war ein Trugschluss gewesen. Vielleicht dachte er gar nicht mehr an sie. Oder doch?
Ob Ines vielleicht mit ihr hinfuhr, gewissermaßen als Feriengestaltung?
Da die Schwester von allein nicht auf diesen klugen Gedanken kam, fragte sie schließlich: »Können wir nicht mal irgendwohin fahren?«
»Du wolltest doch mit Milena etwas unternehmen«, wehrte Ines ab.
»Die ist weggefahren.«
»Nun, dann musst du dich eben allein beschäftigen«, kam es ungerührt zurück. »Du hättest doch bei der Mama bleiben können.«
»Will ich aber nicht.« Evelin verließ das Wohnzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Ines seufzte leise. Es war doch immer dasselbe mit diesem verwöhnten Fratz. Alles musste nach Evelins Nase gehen. Das hatten Vater und Mutter ihr leider so beigebracht. Und ihr, Ines, hatten sie immer wieder zu verstehen gegeben, dass sie als große Schwester nachzugeben und Verständnis aufzubringen hätte. Wie lange eigentlich noch? Nein, jetzt war endgültig Schluss mit der Verhätschelung der Schwester! Die war inzwischen alt genug, um sich ihre freie Zeit selbst sinnvoll zu gestalten. Evelin konnte auch im Haushalt helfen. Sie brauchte nicht jeden Tag bis zehn Uhr zu schlafen und anschließend nutzlos herumzuhängen.
Deshalb fand Evelin am nächsten Vormittag einen Zettel vor, auf dem die Schwester ihr mitteilte, dass sie im nahe gelegenen Supermarkt Brot, Butter, Aufschnitt und Apfelsinen zu kaufen hätte. Ein Geldschein lag daneben. Außerdem müssten die Blumen gegossen und der Teppich gesaugt werden.
Der kleine Faulpelz fühlte sich diesen Anforderungen natürlich nicht gewachsen und beschloss, es bei den Einkäufen bewenden zu lassen. Essen wollte sie schließlich auch. Und Ines würde sicher gar nicht auffallen, dass sie sich die anderen Arbeiten gespart hatte.
Sie täuschte sich. Ihre Schwester bemerkte die Nachlässigkeit sofort und schimpfte: »Warum hast du nicht gemacht, was ich dir aufgeschrieben habe?«
»Habe ich doch, ich habe eingekauft.« Evelin wies auf den geflochtenen Korb, den sie auf die Arbeitsplatte in der Küche gestellt hatte.
»Staub gesaugt hast du aber nicht, du hast auch nicht die Blumen gegossen, und das schmutzige Geschirr von deiner Mittagsmahlzeit steht auch noch herum. Du solltest dich schämen.«
»Früher musste ich so etwas nicht machen«, kam es maulig zurück.
»Wann wirst du endlich begreifen, dass wir nicht mehr so wie früher leben können? Wir können uns keine Haushaltshilfe mehr leisten. Und dir kann es durchaus nicht schaden, wenn du Pflichten übernimmst. Du bist kein Kleinkind mehr.«
»Ja, ja, schon gut. Beim nächsten Mal mache ich alles, was du sagst.«
»Gut, dann wasche jetzt ab und mach anschließend Abendbrot für uns beide. Ich will mich für eine halbe Stunde hinlegen.«
»Warum denn das?« Evelin schaute die Schwester verwundert an und sagte dann noch: »Das machst du doch sonst nicht.«
»Ich habe schreckliche Kopfschmerzen und brauche für eine Weile meine Ruhe.«
»Dann darfst du nicht so lange arbeiten«, erwiderte Evelin patzig, bequemte sich aber nun doch, die Schwester zu unterstützen. Sie tat es, aber sie verstand nicht, warum sie helfen sollte. Ihr Papa hatte immer gesagt, es wäre nur wichtig, dass sie gut lernte und sich hübsch anziehen würde. Nur so würde sie ihm und allen anderen gefallen.
Ihrer Schwester gefiel sie offenbar nicht. Die mäkelte nur an ihr herum und hatte ihr in diesem Sommer jegliche neue Garderobe verweigert. Und nach Sophienlust wollte sie auch nicht mit ihr fahren.
Na, dann eben nicht! Dann fuhr sie allein! Noch waren ja Ferien…
*
Evelin hatte ihren Ausflug nach Wildmoos gut vorbereitet, hatte die Abfahrtzeiten des Linienbusses studiert, ihre Spardose geplündert und ein wenig Verpflegung in ihren Rucksack gepackt. Der Papa hatte schließlich immer gesagt, dass man im Leben auf alles gefasst sein und entsprechend vorsorgen musste.
Das Wetter war nicht besonders gut, aber auch nicht direkt schlecht. Also, Regenkleidung brauchte sie sich sicher nicht anzuziehen. Damit sah sie sowieso nur doof aus. Die fesche dunkelrote Übergangsjacke reichte vollkommen aus. Sie saß ja ohnehin die meiste Zeit im Bus.
So ausgerüstet stand sie später an der Bushaltestelle, stieg bald darauf ein und fand einen Fensterplatz. Ach, war das schön, so ohne schwesterliche Aufsicht durch die doch sehr hübsche Gegend gefahren zu werden. Und man konnte so herrlich von Nick träumen, der noch immer ihre große Liebe war.
In Wildmoos angekommen, stellte Evelin fest, dass sich das Wetter erheblich verschlechtert hatte. Ein scharfer und eisiger Wind wehte, und es begann heftig zu regnen. Hätte sie doch bloß ihren Regenmantel mit Kapuze mitgenommen! Nun vielleicht genügte es vorerst, wenn sie sich irgendwo unterstellte, bis der Regen nachließ, im Bushäuschen zum Beispiel.
Nach einer Viertelstunde wurde das Wetter tatsächlich etwas besser. Es nieselte nur noch, der Wind war aber immer noch scharf. Evelin marschierte nun aber doch in Richtung Sophienlust. Aber dieser Weg war länger, als sie ihn in Erinnerung hatte. Oder hatte sie schon wieder den falschen Weg gewählt?
Genauso war es dann auch. Sie erreichte das schlossartige Gebäude erst nach einem gehörigen Umweg, aber sie war immerhin da, wenn auch inzwischen nass bis auf die Haut. Sie fror erbärmlich! Und übel war ihr auch. Es regnete nämlich wieder und jetzt wesentlich stärker als zuvor. Hagelkörner mischten sich in den Regenguss und trafen ihr Gesicht, die Augen ganz besonders, sodass sie kaum etwas erkennen konnte. Mit letzter Kraft schleppte sie sich vorwärts, erreichte schließlich den Eingang, klingelte und wusste dann nicht, was sie sagen sollte, als das Hausmädchen öffnete. Sie konnte nur noch weinen.
»Mein Gott, die Evi.« Mehr brachte Lena, die zum Reinmachen regelmäßig nach Sophienlust kam, zunächst nicht heraus. Aber sie führte die zitternde Kleine zu Else Rennert und erklärte: »Ich weiß nicht, was sie hier will, sie scheint aber fix und fertig zu sein. Und klatschnass ist sie auch.«
»Das sehe ich«, antwortete die Heimleiterin energisch. »Komm Evelin, du musst dich sofort umziehen, solltest aber vorher ein Bad nehmen.«
»Ja, gern«, flüsterte das Mädchen und ließ sich dann sehr gern bemuttern.
Else Rennert gab sich viel Mühe mit dem verfrorenen Trotzkopf, brachte sie nach dem Bad zu Bett und sorgte für eine kleine Mahlzeit. Es nützte jedoch nicht viel. Evelin konnte kaum etwas essen, wurde immer apathischer und konnte Tante Ma nur mit Mühe gestehen, dass ihre Schwester keine Ahnung hätte, wo sie sich gerade befand. Danach schlief sie erschöpft ein.
Was nun? Else Rennert informierte zunächst Denise von Schoenecker. Die musste ja schließlich wissen, wer hier so überraschend aufgetaucht war.
»Das ist recht seltsam«, meinte diese nach dem Bericht ihrer langjährigen Mitarbeiterin. »Hat die Kleine nicht gesagt, weshalb sie eigentlich hergekommen ist?«
»Nein, sie hat nur geweint und war kaum ansprechbar. Deshalb habe ich sie zu Bett gebracht. Vielleicht weiß ihre Schwester, was vorgefallen ist.«
»Ja, schon möglich. Ich werde sie sofort anrufen.« Denise griff zu ihrem Telefonverzeichnis, das immer griffbereit auf dem Schreibtisch lag – und rief zuerst ihren ältesten Sohn an. Es war nicht gut, wenn Nick Evelins Weg kreuzte, gar nicht gut.
Pünktchen fand das auch. Sie hatte mitbekommen, dass Evelin Kaufmann hier wiederaufgetaucht war und anscheinend bleiben wollte…
*
Holger Deinhardt hatte seine Sekretärin an diesem Tag schon mehrmals besorgt gemustert. Sie wirkte fahrig und sah mitgenommen aus. Ob sie krank war?
Als Ines ihm jetzt mit zitternden Händen einige Schreiben zur Unterschrift vorlegte, schob er diese zur Seite und fragte gerade heraus: »Geht es Ihnen nicht gut, Frau Kaufmann?«
»Doch, ich habe nur Kopfschmerzen. Die vergehen sicher bald wieder, wenn ich eine Tablette nehme.«
Er nickte nur, war aber von der helfenden Wirkung eines Medikamentes nicht überzeugt.
Nur wenig später brachte er ihr die unterzeichneten Dokumente, damit sie diese für die Post fertig machen konnte, und meinte fürsorglich: »Wäre es nicht besser, wenn Sie zum Arzt gehen würden?«
»Ja, wenn es morgen immer noch so ist, dann gehe ich auch«, versetzte sie, sah ihn aber nicht an. Schließlich sollte er nicht merken, dass sie seine Nähe völlig verunsicherte.
In diesem Moment klingelte ihr Handy. Es war ihr peinlich, jetzt ein Privatgespräch führen zu müssen, sie meldete sich aber dennoch und konnte nach den Mitteilungen am anderen Ende der Leitung nur noch entsetzt flüstern: »Evelin ist bei Ihnen?«
»Ja, sie ist hier völlig durchnässt angekommen«, erklärte Denise von Schoenecker. »Wie konnte das passieren?«
»Evelin hat mir nichts gesagt, ich hätte es auch nicht erlaubt. Sie hat sich also heimlich auf den Weg gemacht, aber ich komme so schnell wie möglich und hole sie wieder ab.« Danach beendete sie das Gespräch.
»Was ist passiert?« Holger Deinhardt, der bei Ines stehen geblieben war, sah sie fragend an.
»Meine Schwester ist von zu Hause ausgerissen«, murmelte die junge Frau und zitterte am ganzen Körper. »Sie ist jetzt in dem Kinderheim, wo sie ihre Sommerferien verbracht hat, ist dort vollkommen durchnässt angekommen und zusammengebrochen. Bekomme ich frei, damit ich mich sofort auf den Weg machen kann?«
»Sie bekommen frei, aber fahren werden Sie nicht. Dazu sind Sie bei dieser Witterung und in Ihrer schlechten Verfassung gar nicht in der Lage. Ich werde Sie hinbringen.«
»Herr Deinhardt?!« Ines schaute ihn an, als würde sie nun gar nichts mehr verstehen.
»Na, nun kommen Sie schon. Es ist doch sowieso bald Büroschluss.«
Ines gab es auf, ihm ihre Bedenken erklären zu wollen. Im Grunde genommen war sie froh, dass er ihr helfen wollte. Er war also doch nicht der unnahbare und mitunter arrogante Chef.
Schweigend und sich insgeheim Vorwürfe machend, saß sie kurz darauf neben ihm in seiner schweren Limousine und fuhr in Richtung Wildmoos.
Er schwieg ebenfalls, fragte sich aber, warum Ines das Kind abholen musste. Hatte es keine Mutter?
Doch was wusste er schon von Ines Kaufmann? Sie war eine ausgezeichnete Mitarbeiterin, und er hätte sie auch gern näher kennen gelernt, wusste aber ihre permanente Zurückhaltung nicht zu deuten. Außerdem hatte so eine attraktive Frau bestimmt einen festen Freund.
»Wir sind bald da«, sagte sie und erklärte ihm den genauen Weg.
Im Heim wurden sie von Denise von Schoenecker und Else Rennert empfangen, die sie unverzüglich zu Evelin führten.
Die Kleine war inzwischen wach geworden, hatte Fieber und hustete. Ines sparte sich sämtliche Vorwürfe und sagte nur: »Du musst sofort zum Arzt. Und da deine Sachen inzwischen trocken sind, können wir gleich losfahren.«
Evelin antwortete nicht gleich. Sie schaute ihre Schwester flehend an und murmelte schließlich: »Kann ich nicht hierbleiben?«
»Nein, das geht nicht«, erwiderte Ines entschieden. »Erstens bist du krank, hast dich tüchtig erkältet, und zweitens hast du ein Zuhause.«
»Da bin ich doch immer allein.«
»Ja, zurzeit schon. Ich werde Mama nachher gleich anrufen, damit sie nach Hause kommt und sich um dich kümmert.«
Evelin war dennoch nicht einverstanden, wehrte sich gegen ihre Schwester, die ihr beim Anziehen helfen wollte, und schrie: »Ich will aber trotzdem nicht mitkommen. Es sind noch Ferien, und die will ich hier verbringen.«
Else Rennert und Denise von Schoenecker sahen sich bedeutungsvoll an, und beide dachten dasselbe, nämlich: Sie will zu Nick. Sie ist nur seinetwegen hergekommen. Und genau deshalb kann sie nicht bleiben. Das gibt nur Ärger.
In diesem Moment mischte sich Holger Deinhardt ein, der bisher schweigend das Geschen verfolgt hatte.
Er wandte sich an das Mädchen und meinte in beruhigendem Tonfall: »Du wirst zu Hause nicht allein sein. Ich gebe deiner Schwester frei, bis deine Mutter wieder daheim ist.«
Evelin hatte den Mann noch gar nicht so recht wahrgenommen. Ihn misstrauisch musternd, fragte sie: »Wer sind Sie denn?«
»Ich bin der Chef deiner Schwester und heiße Holger Deinhardt.«
»Und was wollen Sie hier?«
»Ich habe deine Schwester hierhergefahren, weil sie sich ebenfalls krank fühlt. Und darum wäre es gut, wenn du jetzt etwas Einsicht zeigen würdest. Dann könnte euch beiden bald geholfen werden.«
Diese Mahnung wirkte nun doch. Evelin zog sich widerwillig an und war dann auch bereit, ihrer Schwester zu folgen. Sie spürte selbst, dass sie ärztliche Hilfe brauchte. So hatte sie sich ihren Ausflug nach Sophienlust jedenfalls nicht gedacht, so nicht.
Ines bedankte sich bei Denise von Schoenecker und Else Rennert und ging dann mit Evelin zu Holger Deinhardts Wagen.
In Maibach angekommen, fuhr der sehr nachdenklich gewordene Immobilienmakler seine Sekretärin und deren Schwester bis zu ihrer Wohnung und begleitete sie, Evelins Rucksack tragend, bis zur Tür.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe, Herr Deinhardt«, sagte Ines dort ziemlich verlegen. »Ich weiß gar nicht, was ich heute ohne Sie gemacht hätte. In so einer Situation war ich noch nie.«
»Meine Hilfe war selbstverständlich. Ich könnte Sie jetzt auch zum Arzt fahren.«
Ines schaute auf ihre Armbanduhr.
Viel Zeit war tatsächlich nicht mehr. Und so antwortete sie nur: »Ja, dann machen wir es so.«
In den nun folgenden Stunden konnte sie ihrem scheinbar so kaltschnäuzigen Chef so einige Pluspunkte anrechnen. Er war mit ihnen zum Arzt gefahren, hatte geduldig gewartet, bis sie aufgerufen worden waren, und hatte die Medikamente aus der Apotheke geholt. Wie ein umsichtiger Familienvater war er gewesen. Wie sollte sie das bloß jemals wieder gutmachen?
Und ganz zum Schluss, als sie wieder bei ihr zu Hause angekommen waren, sagte er noch: »Ihr Auto steht noch bei mir auf dem Parkplatz. Soll ich es Ihnen bringen?«
»Ich kann es doch selbst holen.«
»Können Sie Ihre Schwester denn so lange allein lassen?«
Ines zuckte mit den Schultern und murmelte bedrückt: »Ich weiß es nicht.«
»Dann geben Sie mir den Autoschlüssel und haben ein bisschen Vertrauen. Ich will Ihnen nur helfen.«
Da konnte sie nur nicken, zumal Evelin laut zu husten begann und dann schwer atmend verkündete, dass ihr sehr übel wäre.
Pünktchen ging es zur gleichen Zeit auch nicht besonders gut.
Sie war blass, und das Abendessen schmeckte ihr nicht. Die anderen Kinder musterten sie mehr oder weniger besorgt, und Kim fragte schließlich: »Hast du Bauchschmerzen?«
»Nein, ich bin nur müde und werde heute früh schlafen gehen.«
Else Rennert, die zu ahnen begann, was das Mädchen bedrückte, lächelte ihr freundlich zu und empfahl: »Ja, leg dich nur hin. Morgen solltest du aber wieder frisch und munter sein. Wir brauchen dich beim Basteln. Nick wird übrigens auch dabei sein.«
»Evelin Kaufmann auch?«
»Aber nein, die wohnt doch nicht hier und wollte uns heute nur besuchen.«
»Ach so«, wisperte Pünktchen und nahm sich dann ein paar Weintrauben. Plötzlich hatte sie doch wieder Hunger.
*
Evelin hatte sich eine heftige Bronchitis zugezogen, hustete noch immer stark und fieberte. Ihre Mutter hatte sich einen Tag nach dem Anruf ihrer ältesten Tochter von Alfred Winter nach Maibach fahren lassen. Sie übernahm die Pflege ihres jüngsten Kindes zwar nicht gern, wollte sich vor ihrer neuen Liebe aber nicht blamieren. Schließlich war sie die Mutter, und es war ihre Pflicht, sich um die Kleine zu kümmern. Mit Ines’ Unterstützung schaffte sie das auch so einigermaßen. Dennoch blieb für sie die Frage offen, warum Evelin eigentlich allein und dazu noch heimlich nach Sophienlust gefahren war.
»Sie ist in Dominik von Wellentin-Schoenecker, den Leiter des Heimes, verliebt und wollte ihn unbedingt wiedersehen«, erklärte ihr Ines schließlich, als Evelin schon schlief. »Und deshalb befürchte ich, dass sie so eine Eskapade noch einmal machen wird.«
»Um Gottes willen, bloß das nicht!« Maria fing wieder einmal an zu jammern. »Wie kann sie sich verlieben? Sie ist doch noch ein Kind.«
»Sie ist vierzehn, Mama. Und Nick von Wellentin-Schoenecker ist ein hübscher und sehr netter junger Mann. Aber er wird sicher nicht der Einzige bleiben, in den sie sich verlieben wird.«
»Vielleicht sollte man sie in ein Internat geben, wo sie richtig beaufsichtigt wird.«
»Warum denn das? Ich habe auch kein Internat gebraucht.«
»Du warst auch als Kind schon sehr vernünftig. Um dich habe ich mir nie Gedanken machen müssen und dein Vater auch nicht.«
»Ich weiß, ich war immer euer Stiefkind.«
»Aber Ines!« Maria Kaufmann war fassungslos und brachte vorerst kein weiteres Wort heraus.
»Und doch ist es so. Papa hat nie verstanden, warum ich trotz Abitur keine große Karriere anstreben wollte, und dir wäre es lieber gewesen, wenn ich möglichst bald einen reichen Mann geheiratet und mich künftig nur für Klamotten, Schuhe, Kosmetik und Reisen interessiert hätte.«
»Na ja, es ist aber doch schön, wenn man nicht arbeiten muss.«
»Das ist Ansichtssache. Außerdem will ich nicht von einem Mann abhängig sein. Aber kommen wir auf Evelin zurück. Ich bin bisher davon ausgegangen, dass man sie schon stundenweise allein lassen kann. Aber so ist es leider noch nicht. Wir müssen sie mehr im Auge haben, vor allem du.«
»Wie soll ich denn das machen? Soll ich sie anbinden?«
»Nein, aber ihr immer wieder klarmachen, dass sie vernünftig sein und nach der Schule umgehend nach Hause kommen muss. Das ist nur ein Beispiel. Du bist ihre Mutter und hast die Verantwortung für sie. Sie kann nicht einfach machen, was sie will.«
Frau Maria hatte von Verantwortung noch nie viel gehalten, sie war auch nicht so erzogen worden, sie hatte es in ihrer Ehe auch nicht lernen müssen. Heiner Kaufmann war ihr zwar nicht treu gewesen, hatte ihr aber sozusagen immer alle Steine aus dem Weg geräumt oder räumen lassen.
»Kannst du ihr das nicht sagen, natürlich erst dann, wenn sie wieder richtig gesund ist?«
»Ich habe es schon mehrfach versucht«, erwiderte Ines ungehalten. »Jetzt bist du dran. Du hast auch mehr Zeit.«
Dieses Argument war nicht von der Hand zu weisen.
Maria nickte zustimmend und verschwieg, dass sie am liebsten sofort wieder zu ihrem Alfi nach Grünheide gefahren wäre.
*
Seitdem Holger Deinhardt gewissermaßen der Retter in der Not gewesen war, hatte sich Ines’ Verhältnis zu ihm gebessert. Sie stellte das immer wieder fest. Und manchmal schaute er sie an, als wenn er ihr etwas sagen wollte. Aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. Ernsthaft kennen lernen wollte er sie ganz bestimmt nicht. Sie war ja nur eine kleine Angestellte, die nicht zu seinem Leben und seinem Umfeld passte.
Vielleicht war er im Grunde genommen so wie Marco Mehnert, auf ein gutes Einkommen und ebensolche Verbindungen bedacht. Echte Gefühle kannte er wahrscheinlich gar nicht.
Umso erstaunter war sie, als er heute kurz vor Dienstschluss fragte: »Wie geht es denn Ihrer Schwester?«
»Schon recht gut. Sie kann nächste Woche wieder zur Schule gehen.«
»Und sonst wartet niemand auf Sie?«
Sie blickte überrascht zu ihm auf und erwiderte dann wahrheitsgemäß, aber auch irritiert: »Nein, warum?«
»Ich würde Sie gern für heute Abend zum Essen einladen? Na, was meinen Sie dazu?«
»Ich weiß nicht, ob das gut ist? Ich bin bei Ihnen angestellt.«
»Na, und?«
»Man wird darüber reden.«
Holger Deinhardt winkte ab und fragte dabei: »Haben Sie noch andere Gründe für Ihre Absage?«
»Ich habe doch gar nicht abgesagt, ich weiß bloß nicht, was ich von dieser Einladung halten soll.«
Er atmete insgeheim auf und entgegnete lächelnd: »Es soll nur ein netter Abend sein, dem hoffentlich noch weitere folgen werden.«
Sie zögerte immer noch und gestand ihm schließlich: »Ich habe eine Enttäuschung hinter mir.«
Er legte für einen Moment eine Hand auf ihre Schulter und sagte leise: »Ich auch.«
»Dann, ja dann, kann ich diesem Angebot nicht widerstehen.« Ines errötete ein wenig und ließ es dann zu, dass er ihr einen Kuss auf die Wange gab.
»Bis dann also, ich hole dich um 18 Uhr ab«, sagte er noch und verließ danach ihr Büro.
Ines sah ihm verblüfft nach. Er hatte sie geduzt, als wäre das ganz selbstverständlich. Hatte er gemerkt, dass sie ihn gern hatte? Sogar schon ziemlich lange?
Ziemlich verunsichert, wusste sie später nicht zu sagen, wie sie an diesem Freitagnachmittag nach Hause gekommen war. Rein mechanisch und mit den Gedanken bei Holger Deinhardt hatte sie ihren Kleinwagen durch den Feierabendverkehr gelenkt.
Am liebsten wäre sie noch zum Friseur gegangen, doch dazu war nun wirklich keine Zeit mehr. Sie konnte sich nur selbst noch so hübsch wie möglich machen und sich noch eine Stunde entspannen.
Ines’ Wunsch sollte jedoch unerfüllt bleiben, denn ihre Mutter empfing sie mit den Worten: »Es ist gut, dass du endlich da bist. Alfred kommt mich besuchen und muss jeden Moment da sein. Wir wollen eine Fahrt ins Blaue machen.«
»Ja, und?«
»Ich müsste mit Evi noch lernen, französische Vokabeln, aber jetzt bist du ja da. Du kannst das auch besser.«
»Ich will mich jetzt für ein Stündchen ausruhen und anschließend mit meinem Chef ausgehen. Es kann spät werden.«
»Aber das geht nicht«, zeterte Maria. »Was soll ich denn Alfi sagen? Er hat doch schon Zimmer bestellt.«
»Dann bestellt er sie eben wieder ab, oder ihr nehmt Evi mit. Ich spiele jedenfalls nicht schon wieder den Aufpasser.«
Maria sah das nicht ein und rief empört: »Du hättest mir sagen müssen, dass du eine Verabredung hast.«
»Du auch.«
»Und was machen wir nun?« Die überforderte Mutter sank in einen Sessel und war vorerst sprachlos.
Evelin erlöste sie. Sie hatte hinter der nur angelehnten Tür gestanden und das Gespräch mit angehört, trat jetzt zu Mutter und Schwester und schrie: »So ist das also! Ich bin euch beiden mal wieder im Wege, weil ihr zu euren dämlichen Kerlen wollt. Ihr gönnt euch was, und ich darf nichts, gar nichts. Am liebsten würdet ihr mich wohl in ein Kloster abschieben. Dann braucht ihr euch nicht mehr um mich zu kümmern.«
»Wir kümmern uns doch um dich, aber du … bist doch auch kein … Baby mehr«, stammelte Maria entsetzt. »Ich fahre doch nur für zwei Tage weg, und Ines wird bestimmt bald wiederkommen. Nicht wahr, Ines?«
»Ich habe gesagt, es kann spät werden, Mama.«
»Ja, dann weiß ich auch nicht weiter. Was bin ich nur für eine arme und geplagte Frau. Ich werde von meinen Töchtern nicht verstanden.«
»Und wie viel Verständnis bringst du uns entgegen?«
Der Witwe fehlten erneut die Worte. Und wieder wurde sie erlöst: Diesmal klingelte es an der Wohnungstür.
»Alfred ist da!« Die ›Geplagte‹ sprang wie elektrisiert auf, rannte zur Tür, riss diese auf und fiel Alfred Winter um den Hals.
Er ließ sich diese Attacke gutmütig gefallen und begrüßte gleich darauf die Töchter seiner Jugendliebe. Dabei entging ihm die schlechte Stimmung nicht.
»Ist was passiert?«, erkundigte er sich unverblümt.
»Nein, eigentlich nicht«, begann Maria stockend. »Es ist alles nur so kompliziert. Ines, sag doch mal etwas.«
»Wieso denn ich, es ist doch deine Sache. Außerdem habe ich jetzt keine Zeit mehr, will noch duschen und mir die Haare föhnen.«
Weg war sie. Maria lachte forciert und bat ihren Freund, sich zu setzen. Gleichzeitig wollte sie ihre jüngere Tochter aus dem Zimmer scheuchen. Doch die ließ sich nicht vertreiben, sondern erklärte aufmüpfig: »Damit du es nur weißt, Mama, ich bleibe nicht wer weiß wie lange allein. Du amüsierst dich mit Alfred, Ines mit ihrem Chef und ich soll hier ganz allein herumsitzen. Lass dir etwas einfallen.«
»Ja, nun ja, es ist alles ein bisschen verzwickt«, gab Maria laut seufzend zu. »Wir können erst morgen fahren, Alfred. Ich habe nicht gewusst, dass Ines gerade heute Abend ausgehen will. Und dann wäre Evelin lange allein.«
»Und das kann sie mit 14 Jahren nicht?«
»Noch nicht so richtig, weil …«
»…weil ich neulich ausgerissen bin«, vollendete Evelin ironisch, als ihre Mutter mal wieder nicht weiter wusste.
»So etwas macht man ja auch nicht«, meinte Alfred kühl. »Von einem Mädchen in deinem Alter kann man schon mehr Verstand erwarten. Mit diesem Verhalten machst du nur deiner Mutter und deiner Schwester das Leben schwer – und dir letzten Endes auch.«
»Das verstehe ich nicht«, gab Evelin schnippisch zurück. »Und außerdem haben Sie mir überhaupt nichts zu sagen. Sie sind ja bloß Mamas Macker.«
»Du solltest diesen Gassenjargon unbedingt ablegen. Damit kommst du im Leben nicht weit. Ich bin der Freund deiner Mutter, den sie seit vielen Jahren kennt. Und dieser Freund sagt dir jetzt, dass du viel mehr Freiheiten haben würdest, wenn du vernünftig und verlässlich wärst. Und da du das nicht bist und offenbar auch nicht sein willst, muss man leider so auf dich aufpassen, als würdest du noch in den Kindergarten gehen.«
Sie haben wohl einen Sprung in der Schüssel, wollte Evelin antworten, wagte es aber doch nicht. Der Mann hatte eine Ausstrahlung, der sie sich nicht entziehen konnte. Er wirkte beinahe auf sie wie ihr Vater. Der hatte auch immer so gesprochen, wenn sie irgendwelchen Unsinn gemacht hatte.
»Ja, Alfred, so ist es«, pflichtete ihm Maria bei. »Man kann Evi nicht allein lassen, aber vielleicht kann ich Ines doch überreden …«
»Du wirst das Mädel zu gar nichts überreden«, fiel er ihr in scharfem Tonfall ins Wort. »Soweit ich es mittlerweile beurteilen kann, hat sie die Verantwortung für Evelin und den Haushalt, obwohl sie berufstätig ist und du den ganzen Tag kaum etwas zu tun hast. Und nun soll sie auch noch darauf verzichten, mit einem Freund auszugehen. Findest du das in Ordnung?«
»Nicht so richtig, aber was soll ich denn machen?«, kam es kleinlaut und verzagt zurück. »Du hast doch schon die Zimmer bestellt.«
»Wir werden Evelin mitnehmen«, bestimmte Alfred nach kurzem Nachdenken. »Es wird sicher eine Möglichkeit geben, deine Tochter im gleichen Hotel unterzubringen. Du kannst deine Sachen schon packen«, wandte er sich an Evelin. »Und wenn du noch etwas lernen musst, dann pack das auch ein.«
Der Trotzkopf warf dem Professor zwar einen wütenden Blick zu, verzog sich dann aber wortlos.
»Ich glaube, ich bin Evi gegenüber immer zu nachsichtig«, klagte sich Maria jetzt an. »Ines sagt das auch.«
»Und damit hat sie recht«, erwiderte er und beendete damit die unerfreuliche Debatte.
Eine halbe Stunde später stiegen Maria und ihre Jüngste in die Luxuslimousine des Professors und fühlten sich bald so wie zu Heiner Kaufmanns Zeiten.
*
»Bist du etwa allein?«, fragte Holger Deinhardt überrascht, als Ines ihm die Tür geöffnet und ihn ins Wohnzimmer gebeten hatte.
»Ja, meine Damen machen mit Hausfreund Alfred einen Wochenendausflug.
»Wie schön«, freute er sich, während er ihr die einzelne rote Rose gab, die er mitgebracht hatte. »Und ich habe schon befürchtet, du musst schon wieder Kindermädchen spielen und die Hausaufgaben überprüfen.«
Ines lächelte gezwungen, stellte die Blume ins Wasser und antwortete: »Es wäre beinahe so gekommen. Mama verlangte nämlich, dass ich daheim bleiben sollte. Manchmal ist sie wie ein Kind. Wie ihr neuer Freund es mit ihr aushält, ist mir ein Rätsel.«
»Sie wird auch ihre guten Seiten haben. Doch das soll uns nicht interessieren. Oder doch?«
»Nein. Mama scheint schon wieder jemanden gefunden zu haben, der sie verwöhnen wird, so wie Papa es getan hat. Und vielleicht wird der liebe Alfred auch ein Vater für Evelin.« Sie lächelte ihm zu, aber dieses Lächeln wirkte melancholisch.
»Was hast du?«
»Nichts, ich bin bloß schon lange nicht mehr mit einem Mann ausgegangen. Mein letzter Partner hat mich übrigens verlassen, weil ich keine reiche Erbschaft gemacht habe, so wie er es angenommen hatte.«
»Und nun meinst du, ich bin auch so?«
»Nein, das meine ich nicht. Andererseits kenne ich dich nur als meinen Vorgesetzten. Ich weiß ja nicht, wie du sonst so bist …«
»Du wirst es erfahren, denn sich ständig verstellen kann niemand.« Er zog sie dicht zu sich heran und flüsterte ihr zu: »Ich bin ein Mann, der sich auf den ersten Blick in dich verliebt hat. Ich bin aber auch ein vorsichtiger Mann und möchte nicht nur eine hübsche Frau haben, sondern eine, die mich liebhat und versteht und nicht nur an sich selbst denkt.«
»So eine hattest du wohl schon?«, fragte Ines unwillkürlich.
»Ja, es ging ihr immer nur um ihr gutes Aussehen, und dazu brauchte sie viel Geld. Ich bin bestimmt nicht geizig, aber auch kein gutmütiges Schaf.«
Sie löste sich hastig von ihm und dachte dabei an ihre Mutter. Die dachte auch vor allem an sich. Sagen würde sie ihm das natürlich nicht. Dann nahm er wahrscheinlich gleich Reißaus.
Und deshalb erwiderte sie nur spröde: »Ich bin daran gewöhnt, für mich selbst zu sorgen. Und dabei soll es auch bleiben.«
»Das gefällt mir, und dein Kleid gefällt mir auch. Hellblau steht dir ganz ausgezeichnet. Mit dir kann ich richtig angeben.«
»Dann ist es ja gut.« Sie lächelte schon wieder und berührte mit den Fingerspitzen seine Wange.
»Ines …«, murmelte er verlangend und presste sie für einige Augenblicke fest an sich.
Sie fand es wunderschön in seinen Armen, wollte aber noch abwarten und schob ihn behutsam von sich. Dabei sagte sie: »Wir haben noch viel Zeit, Holger.«
»Ja, natürlich. Aber einen Kuss bekomme ich doch schon, oder nicht?«
»Doch, du bekommst einen.« Sie lächelte schelmisch und berührte anschließend seine Lippen flüchtig mit den ihren, griff dann nach ihrer Handtasche und nahm ihren Mantel vom Kleiderhaken. Er half ihr hinein und meinte dann noch: »Ich glaube, ich muss dir das Küssen noch beibringen.«
»Dagegen habe ich nichts, wenn es zum richtigen Zeitpunkt geschieht.«
»Habe verstanden. Ich werde geduldig sein. Und nun komm. Fahren wir zum Italiener in der Mühlenstraße – oder magst du keine Pasta?«
»Ich mag Pasta.« Sie nahm seine Hand und verließ dann mit ihm die Wohnung.
Der Abend wurde tatsächlich genauso schön, wie Holger Deinhardt ihn sich ausgemalt hatte. Mit Ines konnte er sich prächtig unterhalten, lachen und fröhlich sein. Und als er sie gegen 23 Uhr nach Hause brachte, bekam er selbstverständlich noch einen Kaffee – und die Aussicht auf ein weiteres außerdienstliches Treffen.
*
Professor Winter hätte sich auch gern getroffen und zwar mit seinen Damen zum Frühstück, das es in diesem kleinen, aber feinen Hotel seit 8 Uhr gab. Von Maria und Evelin war jedoch noch kein Zipfelchen zu sehen. Sie schienen Langschläfer zu sein. Dagegen hatte er im Prinzip nichts, wenn sie es sich denn leisten konnten.
Heute konnten sie es sich aber nicht leisten. Heute wartete er auf sie und hatte schon vor Hunger ein flaues Gefühl im Magen. Also nichts wie hin und die Damen aus ihren Träumen geholt. Wenn er hier schon alles finanzierte, dann wollte er auch Gesellschaft haben.
Nun, sie waren immerhin schon wach, nachdem er sich durch lautes Klopfen bemerkbar gemacht hatte.
»Wir sind gleich fertig«, versicherte ihm Maria und war dann auch nach zehn Minuten da, allerdings ohne Evelin.
»Wo ist denn deine Tochter?«, erkundigte er sich, während sie an einem Ecktisch Platz nahmen. »Will sie nichts essen?«
»Sie will noch schlafen. Macht ja nichts, oder doch?«
»Nein, sie ist eben ein außerordentlich verwöhnter Fratz«, versetzte Alfred unwillig und ging dann zum Frühstücksbüfett.
Evelin war indessen davon ausgegangen, dass die Mama sie mehrmals sanft wecken würde, so wie sonst auch. An diesem Morgen unterblieb diese ›Dienstleistung‹ jedoch. Mittlerweile ging es auf 10 Uhr zu, aber nichts tat sich. Die Mama war auch nicht zu hören, zu sehen auch nicht. Wahrscheinlich war sie noch im Bad und schminkte sich. Das konnte dauern, wie Evelin aus Erfahrung wusste. Da war es wohl am besten, sie schlief noch ein paar Minuten.
Das Mädchen machte also die Augen zu, und als es sie wieder öffnete, war Mittag schon vorbei und der Hunger demzufolge groß. Und die beiden ›Alten‹ waren immer noch nicht da! Man hatte sie mal wieder allein gelassen. Doch wozu hatte sie ein Handy? Damit würde sie die Mama umgehend zurückholen.
»Ich warte schon die ganze Zeit auf dich«, fauchte sie, nachdem die Mutter sich gemeldet hatte. »Gibt es heute kein Mittag?«
»Wir haben schon gegessen«, begann Maria, und Alfred fügte kühl hinzu:
»Und wer nicht aufstehen will, der bekommt eben nichts. So einfach ist das. Wir sind zum Kaffee wieder da. So lange wirst du es ja aushalten. Und lass dir ja nicht einfallen, wieder heimlich auszubüxen.«
Danach wurde das Gespräch unterbrochen. Evelin zog es nun doch vor, sich zu waschen und anzuziehen – und sich selbst zu bemitleiden. Bis jetzt hatte Letzteres immer zu einem gewissen Erfolg geführt.
Heute jedoch nicht. Zum einen musste sie noch eine gute Stunde warten, ehe Mutter und Alfred sich wieder sehen ließen, und zum anderen gingen die beiden auf ihre Vorwürfe überhaupt nicht ein.
Nun, immerhin bekam sie zur Kaffeestunde einen kleinen Imbiss und ein Glas Saft und wurde danach angewiesen, ihre französischen Vokabeln zu lernen.
»Mama, heute ist Samstag, da lerne ich doch nie.« Mit diesen Worten versuchte sie, um die Lernerei herumzukommen.
Entgegen ihren sonstigen Gewohnheiten blieb die Mutter aber unerbittlich und befahl ziemlich energisch: »Du solltest ja auch gestern schon lernen. Und da du es nicht getan hast, machst du es eben heute.«
»Was ist denn mit dir los?« Evelin war entsetzt, fing sich aber sofort wieder und setzte spöttisch hinzu: »Na ja, ich kann mir schon denken, dass der da dich aufgehetzt hat.«
Sie wies mit dem Finger anklagend auf Alfred, der dazu nur sagte: »Ich bin nicht ein Der da, sondern für dich immer noch Professor Winter. Und nun komm, Maria, gehen wir zu mir und lassen dein ungezogenes Kind noch ein Weilchen allein. Vielleicht kann es dann doch lernen.«
Maria gehorchte widerstrebend. Sie fand, dass Alfred doch gar zu streng mit ihrer Kleinen umging.
»Evi ist doch noch ein Kind«, gab sie ihm mit weinerlicher Stimme zu bedenken, als sie in seinem Hotelzimmer Platz genommen hatten. »Sie kann doch noch gar nicht wissen, was wirklich wichtig ist.«
»Deshalb soll sie es ja lernen«, antwortete er ungerührt. »Und je eher sie damit anfängt, umso besser.«
Da sagte sie nichts mehr, aber sie begriff, dass Alfred Winter anscheinend eiserne Grundsätze hatte, von denen er nicht abweichen würde. Entweder sie passte sich ihm an, oder sie suchte sich einen anderen. Aber wo fand sie den?
So schwieg sie und ging geschickt zu einem anderen Thema über. Das war ziemlich leicht, denn der gute Alfred war auch nur ein Mann, der ein bisschen gepflegt werden wollte.
Der Sonntag war dann viel weniger stressig. Evelin hatte widerwillig gelernt und beherrschte nun die Vokabeln, Maria war wieder guter Dinge, so auf ihre Art, und der Professor sagte sich, dass ein paar unmissverständliche Worte zur rechten Zeit durchaus ein kleines Wunder bewirken konnten. Die Frage war nur, wie lange es anhalten würde.
*
Maria hatte ihre Große in die Arme geschlossen, hatte sich anschließend von Ines bedienen lassen und erfreute sie zum Dank mit ihrem Wochenendbericht. Und ganz zum Schluss erklärte sie verärgert: »Stell dir mal vor, Alfred ist der Meinung, dass Evelin nicht richtig erzogen wurde. Also, ich finde das nicht. Sie ist doch eigentlich ein liebes Mädchen.«
»Manchmal ist sie das auch nicht«, warf Ines entschieden ein. »Sie ist nur erträglich, wenn sie ihren Willen bekommt. Und das weißt du auch.«
»Nun lass sie doch, man ist nur einmal jung.«
»Gerade weil sie das ist, muss sie lernen, vernünftig zu sein und Rücksicht auf andere zu nehmen.«
»Natürlich, Alfred sagt da ja auch.« Maria seufzte laut und fügte danach hinzu: »Dennoch bezweifle ich, dass er richtig mit ihr umgeht. Er hat doch keine Kinder und demzufolge auch keine Ahnung.«
»Alfred hat recht, Mama. Wir haben es alle mit Evi zu gut gemeint, und das war letzten Endes nicht gut für sie. Sie macht, was sie will. Und das müssen wir ihr schleunigst abgewöhnen.«
»Wie denn?«
»Wir müssen konsequenter sein, du vor allem. Du bist die Mutter.«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
»Du musst es versuchen.«
»Ja, ja«, erwiderte Maria mit einem weiteren Seufzer und ging dann übergangslos dazu über, Ines auszufragen.
»Wie war es denn nun mit deinem Chef?«, wollte sie neugierig wissen. »In welchem Lokal seid ihr gewesen? Wird er dich noch einmal einladen?«
»Wir waren in einem italienischen Restaurant und wollen uns auch privat wiedersehen. Mehr kann ich dir jetzt noch nicht sagen.«
»Nein, natürlich nicht.« Die Mutter blickte bekümmert vor sich hin.
In diesem Moment kam Evelin ins Zimmer und schaltete den Fernseher an. Nun war an eine weitere Unterhaltung nicht mehr zu denken.
Auch gut, dachte Ines und ging auf ihr Zimmer.
*
Ines hatte Holger an diesem ersten Adventssonntag zum Mittagessen eingeladen. Es wurde allmählich Zeit, dass er ihre Familie kennen lernte. Immerhin kannte sie seine Eltern inzwischen auch schon, seine Wohnung ebenfalls – und ihn auch.
Hoffentlich benimmt sich Evelin einigermaßen, dachte sie während der Vorbereitungen für das Mittagsmahl, und hoffentlich fängt Mama nicht gleich von Verlobung oder Hochzeit an.
Nein, so weit ging Frau Maria nicht, sie schien andere Sorgen zu haben. Ohne mitzuhelfen, saß sie neben Ines am Küchentisch und sagte plötzlich: »Wenn Alfred mich haben will, dann werde ich zu ihm nach Grünheide ziehen. Was meinst du dazu?«
»Warum nicht. Er hat doch wohl Platz genug.«
»Ja, hat er. Aber was wird dann aus Evelin?«
»Die nimmst du selbstverständlich mit.«
»Nein, das geht nicht. Soll sie schon wieder umgeschult werden?«
Ines musterte ihre Mutter einige Sekunden und fragte dann: »Was sagt denn Alfred dazu?«
»Ihm würde das nichts ausmachen, aber er ist immer so streng zu dem Kind. Das habe ich ja schon angedeutet. Und ich weiß auch nicht, ob Evi überhaupt mitkommen will. Kann sie nicht hier bei dir bleiben?«
»Das ist nicht dein Ernst?«
»Doch, ich halte das für eine sehr gute Lösung. Oder wir bringen sie wieder in diesem Kinderheim unter, in Sophienlust. Dort will sie ja sowieso hin. Vielleicht bringt man ihr dort auch bei, sich besser zu benehmen.«
»In Sophienlust werden nur Kinder aufgenommen, die ständig oder auch vorübergehend kein Zuhause haben. Evelin hat aber ein Zuhause, sie hat auch eine Mutter.«
»Ich werde mit ihr nicht fertig, sie ist so anstrengend, besonders jetzt, wo sie in der Pubertät ist. Du wirst den Herrn Deinhardt doch sicher heiraten. Dann könnt ihr die Kleine zu euch nehmen und …«
»Mama, ich fasse es nicht«, gab Ines verständnislos zurück. »Evelin ist dein Kind, nicht meines. Und ob Holger und ich mal heiraten werden, wissen wir nicht. Und selbst wenn, meinst du, er wäre begeistert, wenn ich meine Schwester mit in die Ehe bringe?«
»Du kannst ihn doch mal fragen?«
»Du Alfred auch, aber du denkst mal wieder nur an dich und deine Geruhsamkeit. Probleme willst du nicht haben.«
»Die will doch keiner haben. Aber ich merke schon, du willst mir nicht helfen.« Maria begann zu weinen, so wie sie es immer tat, wenn eine Sache nicht in ihrem Sinne verlief.
Ines reichte es jetzt. Sie ließ die Kartoffel, die sie gerade geschält hatte, in den Topf fallen, band sich die Schürze ab und rief: »Ich werde jetzt zu Holger fahren und ihn zum Essen in ein Lokal einladen. Hier ist es ja nicht zum Aushalten. Tschüß Mama, mich siehst du vor dem Abend nicht wieder.«
Ehe Maria auch nur ein Wort hervorbringen konnte, hatte Ines die Küche verlassen. Gleich darauf kam Evelin herein und fragte verwundert: »Was ist denn mit euch los? Ines rennt an mir vorbei, als würde sie von Hunden gehetzt, und du flennst mal wieder.«
»Das verstehst du noch nicht.«
»Warum nicht? Ich bin doch schon vierzehn.«
»Ich würde so gern wieder nach Berlin ziehen«, gab ihre Mutter nach einigem Zögern zu.
»Zu Alfred, nicht wahr?«
»Ja, er hat so ein schönes Haus, ich könnte ihn begleiten, wenn er seine Vorträge hält, und mich mit meinen Freundinnen treffen. Es wäre beinahe alles so wie früher.«
»Und ich bin dir dabei im Weg«, schlussfolgerte Evelin aufgeregt.
»Im Weg nicht«, schwächte Maria sofort ab. »Doch da wir viel reisen wollen, wird es tatsächlich schwierig. Wir können dich doch nicht mitnehmen. Du musst schließlich zur Schule.«
»Muss ich, aber wo soll ich denn bleiben?«
»Ich dachte – bei Ines.«
»Du hast sie wohl nicht mehr alle! Und die will mich auch gar nicht haben, die hat doch ihren Chef und wird vielleicht bald von ihm ein Kind bekommen. Meinst du, ich höre mir Tag für Tag Babygeschrei an? Also, lass dir etwas anderes einfallen, Mama.« Evelin stürmte hinaus, während ihre Mutter verzweifelt schluchzte.
*
Holger war gerade im Begriff, seine Wohnung zu verlassen, als die Tür geöffnet wurde und Ines hereinkam.
»Du?«, murmelte er verdutzt und besorgt zugleich. »Ist etwas geschehen? Ich sollte doch zu dir kommen.«
»Ja, aber das geht nicht mehr.« Sie ließ sich auf die Couch sinken und erklärte mit bebender Stimme: »Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten. Meine Mutter erwartet einfach zu viel von mir.«
Er setzte sich zu ihr, drückte sie kurz an sich und fragte behutsam: »Was erwartet sie denn?«
»Sie will zu ihrem Jugendfreund ziehen, aber Evelin nicht mitnehmen. Die soll bei mir bleiben.«
Holger hatte das verwöhnte und unselbständige Mädchen ja bereits kennen gelernt und die richtigen Schlussfolgerungen gezogen. Maria Kaufmann brauchte immer jemanden, der für sie sorgte und ihr die unangenehmen Angelegenheiten des Lebens abnahm. Ihre jüngere Tochter schien auch zu diesen ›unangenehmen Angelegenheiten‹ zu gehören. Die Verantwortung für die Halbwüchsige übernehmen wollte sie offenbar nicht.
»Deine Schwester soll also bei dir bleiben«, wiederholte er unwillig, nachdem er Orangensaft und Gläser geholt und sich wieder zu Ines gesetzt hatte. »Wie soll denn das gehen?«
»Es geht eben nicht, aber das will Mama nicht begreifen.«
»Und was sagt deine Schwester dazu?«
»Ich weiß es nicht, ich habe sie noch nicht gefragt.«
»Aber du würdest sie aufnehmen?«
»Nur, wenn mir absolut nichts anderes übrig bleibt. Denn eines ist klar: Mama kann sie nicht erziehen, aber eigentlich haben wir alle versagt, mein Vater auch. Der hat ihr nur beigebracht, dass sie fleißig lernen muss, aber mehr auch nicht. Er hat sie genauso verwöhnt wie Mama auch. Es war ja immer genug Geld da und Personal, das sich gekümmert hat. Als wir nach Papas Tod beinahe vor dem Nichts standen, habe ich versucht, mit ihnen billiger und genügsamer zu leben. Wir sind nach Maibach gezogen, aber meiner Mutter gefällt es hier überhaupt nicht.«
»Und deiner Schwester ebenfalls nicht«, ergänzte er spöttisch.
»Ganz so ist es nicht. Evelin hat in der Schule durchaus Freunde gefunden und war auch in Sophienlust recht glücklich.
»Hm, kann sie dort nicht bleiben? Wir könnten uns die Unterbringung dort durchaus leisten.«
»Nein, das geht auch nicht.« Ines schüttelte den Kopf. »Erstens sieht das so aus, als würden wir sie abschieben, und zweitens hat sie sich dort mit ihrer ausufernden Schwärmerei für Dominik von Wellentin-Schoenecker, den Besitzer des Heimes, sehr unbeliebt gemacht. Und letztendlich gibt es keinen triftigen Grund, ein Mädchen mit Familie in einem Heim unterzubringen.«
»Ja, das ist wahr«, räumte er betroffen ein. »Aber es muss doch eine Lösung für dieses Problem geben.«
Holger war ihr auch keine wirkliche Hilfe.
Sie hatte es schon geahnt. Ines atmete tief ein und aus und sagte dann mit mühsamer Beherrschung: »Ich habe dich heute zum Essen einladen wollen. Das ist mir leider nicht mehr möglich. Die Stimmung daheim ist einfach zu schlecht. Entschuldige bitte.«
»Schon gut«, winkte er ab. »Wir können auch in einem Lokal essen.«
Sie stand auf, schüttelte erneut den Kopf und erwiderte: »Mir ist der Appetit vergangen.« Danach ging sie zur Tür.
»Wo willst du denn hin?«
»Nach Hause.«
»Aber warum denn? Lass die beiden ruhig mal für ein paar Stunden allein, damit sie sich auf sich selbst besinnen können. Vielleicht kommen sie dann zu ganz neuen Erkenntnissen.«
Ines nickte nur, ging dann zur Garderobe und zog sich Schuhe und Jacke an, wirkte ruhig und gefasst. Aber blass war sie, sehr blass.
»Willst du nicht lieber hierbleiben?«, bat er und legte einen Arm um ihre Schultern.
»Nein.«
»Du meinst, ich will dir nicht helfen?«
»Ich möchte über diese Sache nicht mehr …«
… reden, konnte Ines nicht mehr sagen. Sie versuchte noch, sich an der Kommode festzuhalten, schaffte es aber nicht mehr und fiel bewusstlos zu Boden, noch ehe Holger sie auffangen konnte.
»Ines, mein Gott, Ines!«, rief er voller Angst und kniete neben ihr nieder. »Sag doch etwas. Ich rufe sofort den Rettungsdienst an.«
»Ist – nicht – nötig«, hauchte sie kaum verständlich. »Es geht schon wieder. Ich habe wohl nur zu schnell geatmet.«
»Ich rufe trotzdem einen Arzt.« Holger half ihr beim Aufstehen, führte sie zur Couch und deckte sie fürsorglich zu. Danach rief er den Rettungsdienst an.
»Du bist vollkommen überfordert«, stellte er danach fest und streichelte ihre Hände. »So geht das nicht weiter. Ich werde dir helfen, so gut ich kann.«
Sie antwortete nicht. Was hätte sie auch sagen sollen?
So schwiegen sie beide, bis der Rettungsdienst kam.
Ines hatte einen Schwächeanfall erlitten, wurde aber noch am gleichen Abend aus der Klinik entlassen. Die weitere Behandlung sollte der Hausarzt übernehmen.
»Du bleibst jetzt bei mir«, ordnete Holger an, nachdem er sie abgeholt und zu sich nach Hause gebracht hatte. »Bei dir daheim spielst du doch nur das Aschenputtel für Mutter und Schwester. Ich fahre nachher hin und hole dir deine Sachen. Und dann ruhst du dich in den nächsten Tagen aus.«
»Nein.«
»Doch.« Er setzte sich zu ihr auf das Bett und beteuerte noch einmal: »Ich werde dir helfen, weiß zwar noch nicht wie, aber ich lasse dich mit deinen Sorgen nicht allein, auch wenn das vorhin so aussah. Ich halte zu dir, will aber nicht, dass du dich völlig fertig machst. Deine Mutter und deine Schwester müssen lernen, weitgehend ohne dich zurechtzukommen. Oder nicht?«
»Doch, ich habe nur Angst, dass sie etwas Dummes machen.«
»Das werden sie nicht, sie verlassen sich allerdings sehr auf dich. Und das müssen wir ihnen abgewöhnen. Glaube mir, wir schaffen das, wir haben uns doch lieb.«
»Ach, Holger.« Sie schmiegte sich an ihn und wurde allmählich ruhiger.
Er bemerkte es, atmete auf und meinte in forschem Ton: »So, und nun sage mir, was du von zu Hause brauchst.«
»Nur Waschzeug, Unterwäsche, Hausschuhe und zwei Pullover. Meine Mutter wird dir etwas zusammensuchen.«
»In Ordnung, ich bin bald wieder da.«
Er küsste sie auf die Wange und verließ anschließend die Wohnung, während sie erschöpft die Augen schloss. Er war wohl doch nicht so wie Marco Mehnert.
Vielleicht konnte sie ihm vertrauen.
*
»Ines ist immer noch nicht zurück.« Maria hatte schon mehrmals auf die Uhr geschaut und war inzwischen ernsthaft in Sorge.
Evelin hatte diese Probleme nicht. Sie lachte und meinte unbekümmert: »Die ist doch bei ihrem Holger und wird wahrscheinlich gar nicht nach Hause kommen.«
»Dann könnte sie sich wenigstens melden.«
»Ja, könnte sie, macht sie aber nicht. Wann gibt es was zum Essen?«
Da es durch Ines’ Abwesenheit zu Mittag nur Kartoffeln und Quark gegeben hatte, knurrte den Damen der Magen.
»Ja, wir können schon anfangen«, bestimmte Maria. »Wer weiß, wann Ines kommt.«
In diesem Augenblick klingelte jemand an der Wohnungstür.
Evelin öffnete und starrte dann entgeistert auf Holger Deinhardt.
»Ines ist krank und wird die nächsten Tage bei mir bleiben«, teilte er Mutter und Tochter mit, nachdem er sie flüchtig begrüßt hatte. »Bitte seien Sie so freundlich, Frau Kaufmann, und machen für Ines eine Tasche mit den notwendigsten Sachen zurecht, Waschtasche, Unterwäsche und Oberbekleidung.«
Nach ein paar Schrecksekunden flüsterte Maria: »Ja, selbstverständlich. Was fehlt ihr denn?«
»Sie hatte einen Zusammenbruch«, versetzte er knapp.
»Aber warum das denn? Muss sie bei Ihnen so viel arbeiten?«
»Nein, nicht mehr als anderswo. Aber sie hat zwei kleine Kinder, die sie ständig betreuen und versorgen muss und die es ihr nicht leicht machen.«
»Zwei kleine – Kinder?«
»Ja«, entgegnete er sarkastisch. »Sie und Ihre Tochter, Frau Kaufmann.«
So hatte noch niemand mit ihr gesprochen, nicht einmal ihr Ehemann und Alfred schon gar nicht. Demzufolge war Maria mehr als empört. Was erlaubte dieser Kerl sich? Er stand da wie ein unbarmherziger Richter und trieb sie auf diese Weise auch noch zur Eile an. Musste sie sich das bieten lassen?
Nein, das musste sie nicht. Sie wandte sich ihrer spöttisch grinsenden Tochter zu und befahl: »Pack eine Tasche für deine Schwester! Du hast ja gehört, was gebraucht wird.«
»Warum ich? Mach du das doch«, kam es schnippisch zurück.
Maria warf ihrer Jüngsten einen warnenden Blick zu, bemühte sich nun aber doch um eine gewisse Höflichkeit und sagte zu Holger Deinhardt: »Nehmen Sie bitte Platz. Es wird eine Weile dauern, ehe ich fertig bin.«
Danach rauschte sie hinaus. Evelin blieb jedoch, hatte sich in einen Sessel gefläzt und fragte lässig: »Zieht Ines nun zu Ihnen?«
»Das ist ein guter Gedanke. Ich werde mit ihr darüber sprechen.«
Diese Antwort gefiel Evelin nicht, sie erwiderte anzüglich: »Sie sind wohl auch ein Kleinkind, so wie wir?«
»Nein, ich kann mich schon allein versorgen. Ich will ihr nur helfen, recht bald gesund zu werden.«
Dazu war nun nichts mehr zu sagen. Evelin bedachte den Besucher noch mit einem vernichtenden Blick und ließ ihn dann allein. Nach einer knappen Viertelstunde tauchte Maria wieder auf und stellte eine Reisetasche mittlerer Größe vor Holger hin.
»Ich denke, es ist alles drin, was sie braucht.« Das war der einzige Kommentar. Genesungswünsche für die Tochter gab es nicht.
Holger bedankte sich, nahm die Tasche und machte, dass er fortkam.
»Es ist gar nicht schön, dass Ines nun auch noch krank geworden ist«, klagte Maria später. »Wer wird denn nun einkaufen?«
»Na, du.«
»Ich habe kein Auto.«
»Nimm mein Fahrrad und fahr damit zum Supermarkt, ist gar nicht weit.«
Die gnädige Frau sollte sich auf ein simples Rad setzen? Nein, das ging nun gar nicht. Deshalb ordnete Maria an: »Du wirst einkaufen, gleich morgen nach der Schule.«
»Ich weiß doch gar nicht, was ich einkaufen soll«, wehrte sich Evelin, fand aber kein Gehör.
»Das sage ich dir noch.«
»Na gut, du wirst es mir ja schon bald wohl noch öfter sagen müssen. Ines will zu ihrem Kerl ziehen, das hat er jedenfalls eben verkündet.«
Maria versagte daraufhin die Sprache. Erst nach einer ganzen Weile gelang es ihr zu flüstern: »Das – kann sie uns doch nicht – antun.«
»Na klar kann sie das, ist ja schon lange alt genug für Mann und Kind.«
»Nun ja, sicher, aber sie wird uns fehlen.«
Zu diesem Satz äußerte sich Evelin nicht. Sie wusste nicht, ob die Schwester ihr fehlen würde. Die Mutter lenkte ihre Gedanken nun in eine andere Richtung, sie sagte nämlich: »Ich möchte – eigentlich – auch wegziehen – zu Alfred. Er hat es mir angeboten.«
»Und wo bleibe ich?«
»Du könntest mitkommen, wie gesagt. Alfred hat nichts dagegen. Ich weiß allerdings nicht, wie es gehen soll, wenn wir verreisen. Es wird schwierig.«
»Überhaupt nicht schwierig. Du besorgst mir einen Platz in Sophienlust. Dann bin ich nicht allein. Und du und Ines, ihr könntet mich ab und zu besuchen.«
»Ja, wenn du damit einverstanden bist.« Maria atmete erleichtert auf.
Am nächsten Vormittag rief sie ihre Älteste an und forderte: »Wenn du wieder gesund bist, musst du umgehend zu diesem Kinderheim fahren. Evelin will dort künftig wohnen. Also, ich finde das ganz prima. Dann ist sie unter Gleichaltrigen und wird es dort bestimmt gut haben.«
»Ich glaube nicht, dass man sie da aufnehmen wird«, entgegnete Ines nüchtern. »Aber es ist deine Sache, das zu klären, nicht meine. Ich bin nur die Schwester, die Mutter bist du.«
»Ich war doch noch nie in Sophienlust und kenne die Leute nicht.«
»Dann lernst du sie kennen.«
»Ines, Kind …«, bettelte Maria. »Du kannst mich jetzt doch nicht im Stich lassen. Wir müssen doch für Evi sorgen.«
»Ja, du musst das. Ich nicht. Du bekommst schließlich das Kindergeld und die Halbwaisenrente für sie und bist, wie schon gesagt, die Mutter.«
Nach dieser klaren Ansage unterbrach Maria das Gespräch. Es hatte ja doch keinen Zweck mehr, ihre ungefällige Älteste um Hilfe zu bitten. Aber wen dann?
So überlegte sie zwei Tage und kam schließlich zu dem Entschluss, selbst nach Sophienlust zu fahren.
Ines ging es indessen etwas besser, zumal Holger sich rührend um sie kümmerte. Es war so schön, sich nicht mehr wie ein Hamster im Laufrad zu fühlen …
*
Denise von Schoenecker sah dem Gespräch mit Maria Kaufmann mit gemischten Gefühlen entgegen. Die Frau hatte am Telefon nur gesagt, dass es um ihre Tochter Evelin ginge, die im letzten Sommer hier die Ferien verbracht hätte.
»Frau Kaufmann ist da«, meldete das Hausmädchen in diesem Augenblick.
»Danke, Lena.« Denise nickte der Angestellten freundlich zu und sah dann der Besucherin entgegen. Ja, so ungefähr hatte sie sich Maria Kaufmann vorgestellt, attraktiv, zierlich, elegant und ein bisschen von oben herab.
»Kommen Sie, Frau Kaufmann, setzen wir uns ins Biedermeierzimmer«, begann Denise in höflich freundlichem Tonfall. »Und dann können Sie mir erzählen, wie ich Ihnen helfen kann. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
»Danke, aber ich möchte nichts«, erwiderte Maria mit dünner Stimme. »Die Sorge um meine Kleine verdirbt mir den Appetit und lässt mich nicht mehr ruhig schlafen.«
»Ist Evelin krank?«
»Nein, Gott sei Dank nicht, sie hat nur Heimweh. Und das kann ich nur schwer ertragen.«
»Ja, ich weiß, sie hat ihren Vater verloren.«
»So ist es. Durch den Tod meines Mannes stehen wir vor Problemen, die wir noch nie hatten. Evelin braucht Ablenkung, die sie meiner Meinung nach hier in diesem wunderschönen Heim am besten finden würde. Sie hat ja schon den Sommer hier verbracht und schwärmt regelrecht davon. Und deshalb bitte ich Sie, meine Tochter hier aufzunehmen, bis sie in der Lage ist, allein zu leben.«
Denise hatte Mühe, ihren Ärger zu unterdrücken, antwortete aber sachlich: »Wir sind kein Internat. Wir nehmen nur Kinder auf, die keine Eltern mehr haben oder deren Angehörige vorübergehend verhindert sind, für ein Kind angemessen zu sorgen. Soweit ich es von ihrer älteren Tochter weiß, leben Sie in guten und geordneten Verhältnissen und brauchen unsere Unterstützung nicht.«
»Doch, ich brauche sie, sehr sogar. Meine älteste Tochter wohnt inzwischen schon mehr oder weniger bei ihrem zukünftigen Ehemann und kann sich nicht mehr um Evelin kümmern. Und ich …«
Maria pausierte einige Sekunden und erklärte dann mit gut gespielter Verlegenheit: »Ich habe nach dem schweren Schicksalsschlag meine große Jugendliebe wiedergetroffen und möchte in absehbarer Zeit zu ihm nach Grünheide bei Berlin ziehen.«
»Und Evelin will nicht mit?«
»Nein, sie versteht sich mit Alfred nicht besonders. Außerdem will ich ihn auf seinen Dienstreisen begleiten. Er ist Professor an der Humboldt-Universität Berlin und hält Vorträge im In- und Ausland. Evelin wäre dann sehr viel allein, und das kann ich nicht verantworten. Das sehen Sie doch sicher auch so.«
»Nein, Frau Kaufmann, das sehe ich nicht so. Wir können Evelin höchstens in den Ferien mal für zwei Wochen bei uns aufnehmen, aber nicht für ständig. Dazu besteht auch keine zwingende Notwendigkeit. Und wenn wir sie in den Ferien aufnehmen sollten, dann müsste sie ihre schon aufdringliche Schwärmerei für meinen ältesten Sohn endgültig abgelegt haben. Im letzten Sommer hat sie uns damit viel Unfrieden und Ärger geschaffen.«
»Und was soll ich denn nun mit ihr machen?«, schluchzte Maria. »Allein bleiben kann sie doch noch nicht.«
»Selbstverständlich nicht. Sie ist ja auch nicht allein. Sie hat eine Mutter und eine Schwester und, wenn ich es recht verstanden habe, auch bald einen Schwager und einen väterlichen Freund.«
»Sie möchte aber so gern hier bei Ihnen bleiben, Frau von Schoenecker. Nur deshalb ist sie neulich bei Wind und Wetter hierhergefahren und ist dann auch noch krank geworden.«
»Wenn Sie aufgepasst hätten, Frau Kaufmann, dann wäre das sicher nicht passiert. Ein Mädchen wie Evelin hat Aufsicht noch sehr nötig – leider. Darum kann ich Ihnen nur raten, Ihre Reisen einzuschränken, oder das Kind, wenn möglich, mitzunehmen. Das machen andere Eltern übrigens auch. Wie war es denn früher, als Ihr Mann noch lebte?«
»Im Urlaub haben wir die Kinder mitgenommen, wir hatten auch eine Haushälterin, die sich gekümmert hat, und später ist Evi bei Ines geblieben, wenn ich nicht da war. Doch nun ist alles so kompliziert geworden, Ines wird wahrscheinlich heiraten und …« Maria suchte nach weiteren Argumenten, fand jedoch keine.
Denise half ihr aus und ergänzte: »Sie möchte mit ihrem Mann wahrscheinlich auch allein sein.«
Ich mit Alfred auch, dachte Maria, sagte aber nichts dergleichen. Sie begriff, dass sie eine andere Lösung für Evelin finden musste. So gab sie nur noch ein paar nichtssagende Worte von sich, verabschiedete sich und hatte es so eilig, dass sie Nick von Wellentin-Schoenecker nicht bemerkte.
Der junge Mann hatte sie jedoch gesehen und fragte nur wenig später seine Mutter: »Wer war denn dieses hübsche Frauchen?«
»Die Mutter von Evelin.«
»Und was wollte die von dir?«
»Sie wollte das Mädchen für die nächsten Jahre hier unterbringen.«
»Darauf bist du doch hoffentlich nicht eingegangen?«, fragte er entsetzt.
»Wo denkst du hin?« Seine Mutter lachte ein bisschen und meinte dann noch: »Das kann ich dir und allen anderen nicht antun. Es gibt auch keinen Grund dafür, die Kleine hat ja eine Familie. Das Problem ist nur, weder Mutter noch Schwester wollen den verwöhnten Fratz haben.«
Nick seufzte. »Ich bin sonst nicht so, wie du weißt. Aber in diesem Fall sage ich: Das geht uns – Gott sei Dank – nichts an.« Er gab seiner Mutter einen Kuss auf die Wange und wandte sich dann wieder seinen Tagesaufgaben zu.
*
»Du hast ja deine Sachen gepackt.« Holger, der eben von der Arbeit gekommen war, schaute unangenehm überrascht auf die Reisetasche, die Ines bereits in den Korridor gestellt hatte.
»Ich bin wieder gesund und kann doch nicht immer hierbleiben«, antwortete sie, während sie in die Küche ging, um Kaffee zu kochen. Er legte daraufhin beide Arme um sie, drückte sie fest an sich und raunte ihr zu: »Warum nicht?«
»Ich kann doch Mama und Evelin nicht ständig allein lassen.«
»Aber mich kannst du allein lassen.«
»Wir sehen uns doch fast jeden Tag.« Sie löste sich von ihm und wollte Tassen aus dem Schrank nehmen. Dazu kam sie jedoch nicht, weil er sehr ernst erwiderte: »Ich möchte dich immer bei mir haben, möchte dein Ehemann sein und Kinder aufziehen. Du kannst ja mal darüber nachdenken.«
»Holger …« Mehr brachte Ines zunächst nicht heraus, ging aber zu ihm, umarmte ihn und sagte innig: »Ja, ich will dich heiraten. Aber eines sage ich dir gleich, du wirst es nicht immer leicht mit mir haben.«
Er atmete auf und erwiderte lächelnd: »Natürlich werden wir nicht immer einer Meinung sein, aber mit Liebe und gutem Willen werden wir, so denke ich, miteinander glücklich sein können. Und jetzt kannst du die Tasche wieder auspacken. Ja?«
»Ja.«
»Dann helfe ich dir.« Holger eilte zum Flur, beförderte die Tasche zum Schlafzimmer, nahm anschließend Ines bei der Hand und schloss die Tür hinter ihnen beiden. Einen Kaffee brauchten sie vorläufig nicht …
*
Evelin kam heute erst spät aus der Schule, denn der Zeichenzirkel war erst um 16 Uhr zu Ende. Ihre Mutter vermisste sie nicht. Die hatte sich im Wohnzimmer auf die Couch gelegt, überlegte angestrengt und fand sich selbst mal wieder sehr bemitleidenswert. Niemand verstand sie, nicht einmal die Frau von Schoenecker, die anfangs so einen patenten Eindruck gemacht hatte.
Ob sie Alfred anrief?
Nein, nicht heute, überlegte sie. Er mochte es nicht, wenn er im Dienst oder während seiner Reisen gestört wurde. Bei Heiner war es ähnlich gewesen. Ines musste helfen und zwar sofort! Maria griff zum Telefon, doch nur der Anrufbeantworter meldete sich.
Nun, dann musste sie eben warten. Dabei wurde sie sehr müde.
Als Evelin zwanzig Minuten später nach Hause kam, fand sie jedenfalls eine tief schlafende Mutter vor. Sie weckte sie nicht, sondern ging zu ihrem Zimmer, um dort eine Weile zu träumen, von Nick – und der Zeit in Sophienlust. Vielleicht würde sie bald wieder dort sein. Das war es doch viel besser als bei Mutter und Schwester!
Alfred Winter hatte unterdessen seine Dienstreise abkürzen können, hatte beschlossen einen Umweg zu machen und Maria und ihre Töchter zu besuchen. Dort wollte er auch übernachten.
Nach mehrmaligem Klingeln wurde ihm von Maria geöffnet, die ihm sofort um den Hals fiel und halb schluchzend erklärte, dass er gerade zur rechten Zeit gekommen wäre.
An ihre mitunter theatralischen Äußerungen gewöhnt, nickte er nur, stellte seinen Koffer im Korridor ab und fragte: »Wo sind denn deine Mädchen?«
»Ines ist bei ihrem Freund, Evelin muss aber gleich nach Hause kommen.«
»Bin schon längst da, hast du gar nicht mitgekriegt.« Das kam von ihrer Jüngsten, die neugierig aus ihrem Zimmer gekommen war.
»Dann kannst du schon mal den Tisch decken. Alfred wird Hunger und Durst haben.«
»Ich habe keine Zeit, muss lernen.« Evelin verdrückte sich wieder, was der Professor kommentarlos registrierte und Maria aufgebracht sagen ließ:
»Das Kind ist mal wieder so was von ungefällig. Doch das macht nichts. Was darf ich dir anbieten?«
»Ach, was Einfaches. Spiegeleier mit Bratkartoffeln und ein Bier, wenn du hast. Wir können aber auch in ein Lokal gehen.«
»Dann gehen wir in ein Lokal«, bestimmte Maria hastig. »Dort kann ich dir dann auch von meinem Problem erzählen.«
»Und deine Tochter? Soll die hierbleiben?«
»Ja, die langweilt sich mit uns doch nur und muss außerdem noch lernen. Das hast du ja gehört.« Maria lachte gekünstelt, zog sich schnell um und verließ bald darauf mit ihrem Alfred die Wohnung.
Ihm war es recht so. Wer weiß, wie lange seine Herzallerliebste für die Zubereitung der Bratkartoffeln gebraucht hätte.
Also bestellte er sich im Lokal eine gehörige Portion samt Spiegeleiern und genehmigte sich ein Exportbier.
Maria genügten ein Gemüsesalat und eine Weinschorle.
»So, nun sag mir, warum ich gerade richtig gekommen bin«, forderte er sie auf, nachdem er satt war. »Hast du mal wieder Sorgen mit Evelin?«
»Sorgen direkt nicht. Ich weiß bloß nicht, wo sie bleiben soll, wenn ich zu dir ziehe.«
»Na, bei uns. Wo denn sonst?«
»Sie wird dich stören. Sie ist manchmal so laut und bringt Freunde mit. Dann wird es noch lauter.«
Er winkte ab und meinte: »So schlimm wird es sicher nicht sein.«
»Na, ich weiß ja nicht. Mich hat sie jedenfalls schon oft beim Mittagsschlaf gestört. Doch das ist ja noch zu verkraften. Das Schlimmste ist jedoch, dass ich dich nicht auf deinen Reisen begleiten kann, wenn sie bei uns wohnt.«
»Nein, das geht dann nicht.«
»Ich möchte aber so gern.«
Er betrachtete sie missbilligend und erwiderte: »Weißt du, was du bist?«
»Nein …« Sie schaute ihn fragend an, und er antwortete: »Du bist eine noch sehr ansehnliche Frau in den besten Jahren, du bist aber auch sehr egoistisch und verwöhnt. Verantwortung willst du nicht übernehmen, auch für deine Kinder nicht. Und du erwartest, dass es immer jemanden gibt, der dir das Leben schön macht und dir immer genügend Geld gibt. Dir ist offenbar auch nicht bewusst, dass du deine ältere Tochter ausgenutzt hast.«
»Ausgenutzt hast?«, wiederholte sie entgeistert. »Wie denn?«
»So, wie ich es verstanden habe, hat Ines nach dem Tod deines Mannes alles übernehmen müssen, wofür ihr früher Personal hattet. Du hast keinen Finger gerührt, hast dich nicht einmal um Evelin gekümmert.«
»Ich war krank. Es war alles zu viel für mich. Heiner hat mich betrogen, schon jahrelang. Und geerbt haben wir auch nichts. Es war kaum noch Geld da.«
»Und deine Witwenrente«, entgegnete Alfred ungerührt. »Von dieser Witwenrente kannst du übrigens sehr gut leben, wenn du dir das Geld besser einteilst. Wie hast du es dir denn vorgestellt, wenn du bei mir lebst?«
Sie zuckte mit den Schultern und stieß dann kleinlaut hervor: »Na, so ähnlich wie bei – Heiner. Und Evelin wollte ich in einem Kinderheim unterbringen.«
Er trank einen großen Schluck von seinem Bier, seufzte leise und sagte dann mit gedämpfter Stimme: »Ich bin nicht so wie Heiner und habe auch keinen hohen Posten bei der Regierung. Ich bin Professor an einer Universität. Immerhin. Ich mag dich und würde dich gern bei mir sehen, aber nicht, wenn du nur die Primadonna auf dem Sofa spielen willst. Bei mir wird mitgearbeitet.«
»Du hast doch eine Haushälterin.«
»Die kommt, wie du weißt, nur zweimal in der Woche, und das genügt auch. Den Rest übernimmst du. Ich stelle dir ein Auto zur Verfügung, damit du mobil bist, und du bekommst ausreichend Wirtschaftsgeld. Für deine persönlichen Ausgaben muss deine Rente reichen. Was mir aber ganz und gar nicht gefällt, ist die Sache mit Evelin. Wie kannst du überhaupt in Erwägung ziehen, sie dauerhaft in einem Heim unterzubringen? Magst du dein Kind nicht?«
»Natürlich mag ich die Kleine, sie ist bloß so anstrengend, ist so ganz anders als Ines. Die war eigentlich schon immer sehr selbständig.«
»Und hat dich damit genauso verwöhnt wie dein Mann«, setzte Alfred ironisch hinzu. »Du willst nämlich immer nur die Prinzessin sein, um die sich alles dreht. Diesen Service wird es bei mir nicht geben. Du kannst mich gern auf meinen Reisen begleiten, aber nur, wenn Evelin Ferien hat und anderweitig gut untergebracht werden kann.«
Maria war nach diesen unmissverständlichen Ankündigungen vorerst nicht in der Lage, einen Satz zu sagen. Alfred nutzte diese Sprachlosigkeit, um neue Getränke zu bestellen.
»Nun trink erst mal etwas«, forderte er sie nachsichtig auf, als die Bedienung Bier und Wein gebracht hatte. »Ich weiß, dass meine Vorschläge Neuland für dich sind, aber ich denke, du wirst dich bald zurechtfinden und bei mir ein hoffentlich gutes Leben führen. Du wirst Evelin eine gute, umsichtige und trotzdem verständnisvolle Mutter sein. Bei dieser Aufgabe will ich dich gern unterstützen.«
Maria atmete erleichtert auf. Sie hatte schon befürchtet, dass er sich von ihr trennen wollte.
Sie trank einen großen Schluck von ihrer Schorle und erwiderte dann eifrig: »Ja, Alfred, so wollen wir es machen. Du kannst meinetwegen noch heute mit Evelin reden.«
»Ich?« Er lachte amüsiert auf. »Du wirst das tun. Du bist die Mutter.«
Daraufhin zwang sich Maria zu einem zustimmenden Lächeln und dachte, dass sie sich wohl mit den neuen Gegebenheiten abfinden musste.
*
Man war an diesem Abend bald zu Bett gegangen. Maria musste an ihre neuen Herausforderungen denken, Alfred war nach der langen Fahrt und dem reichhaltigen Abendessen sehr müde geworden – und Evelin war ohnehin in ihrem Zimmer geblieben.
Der nächste Tag war ein Samstag, an dem Maria wie immer mindestens bis 9 Uhr schlafen wollte, Alfred jedoch nicht.
»Steh bitte auf und koche uns Kaffee«, forderte er sie bereits kurz nach sieben Uhr auf. Er war schon angezogen und verkündete dann noch: »Ich werde jetzt frische Brötchen holen.«
»Ja, sofort.« Maria stand laut gähnend auf und schlich zum Bad. Als sie es eine halbe Stunde später verließ, war Alfred selbstverständlich schon wieder da und las inzwischen die Zeitung.
»Ich habe die Kaffeemaschine schon angestellt«, erklärte er ihr. »Damit es nicht noch länger dauert.«
Maria beeilte sich nun, den Tisch zu decken, und war gerade damit fertig, als ihre Jüngste in die Küche kam, im Schlafanzug, ungekämmt und ungewaschen. Einen Gruß hielt sie auch nicht für notwendig.
»Guten Morgen, liebe Evelin«, meinte der Professor mit gutmütigem Spott. »Es freut uns, dass du an unserem gemeinsamen Frühstück teilnehmen willst. Wenn du dich beeilst, kommst du durchaus noch zurecht.«
»Beeilst? Ich bin doch schon da.«
Maria erinnerte sich an ihre Mutterpflichten und erwiderte: »Du bist aber nicht angezogen. In diesem Aufzug erscheint man nicht bei Tisch.«
Das war so endgültig gesagt, dass Evelin es vorzog zu gehorchen.
»Alfred und ich haben beschlossen, dass wir schon das Weihnachtsfest in Grünheide verleben werden«, begann Maria bald nach dem Frühstück. Sie konnte die aufmunternden Blicke ihres Jugendfreundes nun wirklich nicht mehr übersehen.
»Na und?« Evelin starrte nur auf ihr Handy und tippte darauf herum. Ihre Mutter nahm es ihr weg, legte es auf eine Kommode und sagte: »Du kannst nachher weiterspielen. Jetzt müssen wir mit dir reden.«
»Über was denn?«
»Nach deinem Halbjahreszeugnis werden wir nach Grünheide ziehen, und du kannst dort zur Schule gehen.«
»Will ich aber nicht«, kam es prompt und schnippisch zurück.
»Ja, ich weiß, du willst nach Sophienlust. Dort wird man dich aber nicht aufnehmen, weil du eine Familie hast.«
»Ich bin Halbwaise.«
»Das genügt nicht, das muss auch nicht sein, da du bei uns ein schönes Zuhause haben wirst«, erklärte der Professor. »Zum Gymnasium kannst du mit dem Bus fahren, du bekommst ein geräumiges Zimmer und wirst sicher auch bald Freunde haben.«
»Ich will aber trotzdem nicht. Ihr könnt mich nicht zwingen.«
»Dann müssen wir die zuständige Behörde einschalten«, warnte Alfred Winter. »Soll die entscheiden, was aus einem so trotzigen und unbelehrbaren Mädchen werden soll.«
»Bitte sehr. Die schickt mich dann nach Sophienlust und alles ist gut«, höhnte Evelin.
»Ich habe mit Frau von Schoenecker gesprochen«, entgegnete ihre Mutter schärfer als gewohnt. »Man hat dort keinen Platz für dich, weil du erstens eine Familie hast und dich zweitens im letzten Sommer unmöglich benommen hast. Du hast Dominik von Wellentin-Schoenecker anscheinend auf Schritt mit deiner Schwärmerei verfolgt. Dergleichen duldet man dort nicht.«
Das hatte Evelin nicht erwartet, das nicht! Wie immer, wenn sie nicht weiterwusste, verließ sie auch jetzt laut schluchzend den Raum.
Maria wollte ihr nachlaufen, Alfred sagte jedoch: »Lass sie jetzt in Ruhe. Ruf lieber deine Große an und frage sie, ob wir heute Nachmittag vorbeikommen können. Sie muss ja schließlich auch wissen, was wir geplant haben.«
»Und Evelin?«
»Die nehmen wir mit.«
Maria nickte zustimmend und fuhr anschließend mit Alfred zum Einkaufen.
Evelin fühlte sich indessen ausgegrenzt und unverstanden, aber auch vernachlässigt. Niemand wollte sie haben, selbst die eigene Mutter nicht. Da konnte sie nur noch weinen und überhörte so, dass der Professor in ihr Zimmer kam und sich zu ihr auf das Bett setzte.
»Du hast keinen Grund zur Traurigkeit«, sagte er leise und behutsam. »Du hast deinen Vater verloren, das ist schlimm, aber nicht zu ändern. Denke daran, dass er sicher gewollt hätte, dass du ein fröhliches und fleißiges Mädchen bist. Und das kannst du auch in Grünheide sein, du kannst auch ›Onkel Alfred‹ oder nur ›Alfred‹ zu mir sagen, du kannst die Tante Josefine besuchen und mit Freunden unterwegs sein. Das geht natürlich nur, wenn du künftig vernünftig und zuverlässig bist.«
»Dann werde ich Nick nie wiedersehen«, schluchzte sie.
»Wahrscheinlich nicht, aber ich denke, es ist besser so. Du wirst irgendwann einen anderen Jungen kennen lernen, einen, der dich auch mag. Glaube es nur.«
»Sie meinen, Nick will mich gar nicht?«, fragte Evelin verstört.
»Kann schon sein. Sieh mal, ich habe mich damals auch damit abfinden müssen, dass deine Mutter nicht mich, sondern deinen Vater geheiratet hat. Aber die Welt ist nicht untergegangen. Es gibt auch noch andere Dinge, an denen man Spaß haben kann.«
Evelin antwortete nicht sofort. Sie sah den Freund ihrer Mutter nur verwundert an und stieß schließlich hervor: »Sie sind ja gar nicht so gemein, wie ich immer dachte.«
»Ich bin nicht gemein und habe auch Verständnis für dich, deine Mutter und deine Schwester. Und wenn jeder von uns Verständnis für den anderen hat, werden wir sicher bald eine große und glückliche Familie sein. Na, was meinst du dazu?«
Da sprang Evelin aus dem Bett, umarmte den Mann spontan und flüsterte ihm zu: »Ich sage jetzt Alfred zu dir – und will auch mit nach Grünheide.«
Das freut mich. So, nun wasche dir die Tränen ab, und dann gehen wir zur Mama und sagen ihr, dass wir uns ab jetzt gut verstehen.«
*
»Mama möchte uns heute Nachmittag besuchen, zusammen mit Evelin und Alfred. Du hast doch nichts dagegen?«
»Warum sollte ich?« Holger lächelte Ines zu und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Es ist mir sogar sehr recht. Dann können wir ihnen gleich sagen, dass wir heiraten wollen. Oder nicht?«
»Doch. Meine Mutter wird das gut finden und hoffentlich nicht auf den Gedanken kommen, dass ich ihr auch weiterhin den Haushalt führe oder Evelin zu mir nehme.«
Ihr zukünftiger Ehemann atmete insgeheim auf.
Gut gelaunt empfing er am frühen Nachmittag seine angehende Schwiegermutter und ihren Anhang, half Ines, den Tisch zu decken, und goss anschließend Sekt, beziehungsweise Orangensaft, in passende Gläser.
Danach legte er einen Arm um die Schultern seiner Braut und erklärte beinahe feierlich: »Wir wollen im Frühjahr heiraten.«
»Das ist ja eine Freudenbotschaft!« Maria umarmte zuerst die Tochter und dann den Bräutigam. Alfred beließ es bei einem festen Händedruck und herzlichen Glückwünschen. Evelin sagte nur: »Viel Glück.«
Im Anschluss trank man Kaffee, aß Marzipantorte und unterhielt sich angeregt, bis Evelin herausplatzte: »Wir werden schon bald zu Alfred ziehen. Vielleicht gefällt es mir dort besser als hier.«
Ines und Holger schauten sich im ersten Moment verwundert an, dann atmeten sie auf. Die Mutter hatte also wieder jemanden gefunden, der dauerhaft an ihr interessiert war und der sich allem Anschein auch mit Evelin anfreunden konnte.
Genauso war es denn auch. Maria bewältigte nun doch mit Hilfe der Wirtschafterin den Haushalt des Professors. Heiraten wollten sie aus naheliegenden Gründen nicht, es wäre ja auch schade um die schöne Witwenrente gewesen. Für Evelin wurde Alfred Winter bald zu einer Vaterfigur. Er sorgte für den nötigen Halt, den die Mutter ihr nicht geben konnte.
Sie fand neue Schulfreunde, die sie die Schwärmerei für Nick vergessen ließen, und als Ines und Holger im Mai des nächsten Jahres vor dem Traualtar standen, war aus dem verwöhnten Fratz schon ein recht vernünftiges Mädchen geworden.
Als eine Hochzeitskarte von Ines und Holger in Sophienlust eintraf, in der Ines in kurzen, herzlichen Worten die positive allgemeine Entwicklung schilderte, freuten sich alle – am meisten jedoch Nick und Pünktchen …