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Sozialpädagogik
ОглавлениеDie Sozialpädagogik hat einen bildungstheoretischen Ursprung, der in den Beginn der europäischen Moderne zurückgeht. Damals hat sich die Idee eines eigenständigen, freien, bildsamen Individuums etabliert, eines Individuums also, das sich selbst bilden und entwickeln kann. Indem die traditionelle Ständeordnung an Bedeutung verlor, entstand nicht nur die Möglichkeit individueller Entwicklung, zugleich wurden Menschen auch aus diesen ständischen Bindungen freigesetzt. Als Reaktion darauf entstanden pädagogische Gemeinschaftsbegriffe, um das Individuum wiederum an soziale Sphären zurück zu binden. Genau dies ist das Thema der Sozialpädagogik: Sie befasst sich mit dem Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft und fragt nach Möglichkeiten und praktischer Gestaltbarkeit der Vermittlung zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Mensch und Gesellschaft. Wie können Menschen sich entwickeln und bilden, ihr Leben eigenständig gestalten und sich selbst verwirklichen, autonom handeln – und zugleich in ein soziales Gefüge eingebettet, in eine Gemeinschaft integriert sein und an gesellschaftlichen Errungenschaften teilhaben? Historisch gesehen wurde Gemeinschaft als pädagogische Aufgabe immer dann virulent, wenn das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als problematisch wahrgenommen wurde – denn die Gemeinschaft ist das entscheidende Medium sozialer Integration. Das sozialpädagogische Nachdenken über das Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft erfolgte stets im Sinne einer Anwaltschaft für das freie, selbsttätige Subjekt (vgl. Reyer 2002:27 f.; Hochuli Freund 2005:174 f.).
Eine weitere Wurzel der Sozialpädagogik liegt in den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der industriellen Revolution, welche im 19. Jahrhundert zur Verarmung und Verelendung breiter Bevölkerungskreise geführt hat. Mit den Anstalten zunächst für arme, verwaiste und gefährdete Kinder und – in der zweiten Jahrhunderthälfte auch für verwahrloste Jugendliche – entstand jenes Praxisfeld, das später Heimerziehung genannt wurde (vgl. Hochuli Freund 1999). Die Anstalten verstanden ihren Auftrag als Erziehung von Kopf, Herz und Hand (gemäß Pestalozzi), als Rettung im religiösen Sinne sowie als Rettung aus verkommenen gefährdenden Verhältnissen, und schließlich – und dies war in der Realität wohl am bedeutsamsten – als Disziplinierung mit dem Ziel gesellschaftlicher Anpassung. Sozialpädagogik kann also auch verstanden werden als gesellschaftliche und pädagogische Antwort auf die sozialen Probleme des 19. Jahrhunderts, als Versuch, diesen mit Mitteln der Erziehung zu begegnen (vgl. Hochuli Freund 2005a:174 f.).
Die Praxisfelder der Sozialpädagogik sind im Verlaufe des 20. Jahrhunderts vielfältiger und breiter geworden. Sozialpädagogik als Kinder- und Jugendhilfe befasst sich mit den Entwicklungsproblemen von jungen Menschen beim Hineinwachsen in das gesellschaftliche Umfeld und mit angemessenen Unterstützungsangeboten zur Bewältigung dieser Schwierigkeiten. Darüber hinaus beansprucht die Sozialpädagogik zunehmend Zuständigkeit für den ganzen Lebenslauf, indem sie sich auf ein erweitertes Sozialisationskonzept als Metakonzept bezieht, das Bildung als lebenslange Aufgabe ansieht; Chassé/von Wensierski (2004a:8) bezeichnen dieses Phänomen als ›Sozialpädagogisierung der Lebensphasen‹. Entsprechend vielfältig sind heute die sog. sozialpädagogischen Praxisfelder. Böhnisch bezeichnet die Sozialpädagogik einerseits als erziehungswissenschaftliche Disziplin und gleichzeitig als Theorie besonderer Praxisinstitutionen, insbesondere der Jugendhilfe. Als Disziplin beschäftige sie sich »mit jenen sozialstrukturell und institutionell bedingten Konflikten zwischen subjektiven Antrieben und Vermögen der Kinder und Jugendlichen und gesellschaftlichen Anforderungen, wie sie in Familie, Schule, Arbeitswelt und Gemeinwesen vermittelt sind. Sie versucht, diese Konflikte aufzuklären, ihre Folgeprobleme zu prognostizieren und in diesem Kontext die Grundlagen für erzieherische Hilfen zu entwickeln« (Böhnisch 1979:22 zit. in Hamburger 2003:14).