Читать книгу Das Haus der Stimmen - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 5
2
ОглавлениеDie Fahrt war wie eine zweite, ins Endlose verlängerte Fahrprüfung; nur dass statt des Fahrlehrers und eines Prüfers meine Mutter mit schreckgeweiteten Augen neben mir saß. Bei jedem Überholmanöver klammerte sie sich am Griff der Beifahrertür fest, wobei sie die Luft hörbar einsog.
Wir übernachteten in einer Pension, in der das Bettzeug nach Rauch und Fußschweiß roch. Im Schlaf fuhr ich weiter, über Pisten, die durch eine Wüstenlandschaft ins Unendliche führten. Früh am Morgen weckte mich das Rauschen der nahen Autobahn. Ich fühlte mich wie gerädert.
„Noch einmal vierhundert Kilometer, fast so weit wie gestern!”, seufzte meine Mutter. „Und die ganze Strecke in acht Tagen wieder zurück.”
Der krönende Abschluss dieser Gewalttour war die Überfahrt mit dem Fährschiff oder vielmehr der Auftakt dazu. In einer Schlange von Fahrzeugen musste ich den Wagen über die Laderampe steuern und fast millimetergenau zwischen der Wand des Schiffsleibs und einem grünen Volvo einparken.
Meine Mutter stieß spitze Schreie aus. „Vorsicht! Nicht so nahe! Nein, um Himmels willen, pass auf den Außenspiegel auf!” Zwischen den Lastautos und Personenwagen stand ein Matrose gelassen wie ein Fels in der Brandung und wies mich mit winkenden Bewegungen und freundlichem Lächeln ein.
Schweißgebadet schleppte ich mich an Deck und ließ mir den Seewind um die Nase wehen. Schon verschwand die Küste hinter rauchfarbenen Dunstschwaden. Das Meer war schiefergrau unter den tief hängenden Wolken.
Meine Mutter kam mit einem Becher Kaffee. „Hier, trink das!”, sagte sie. „Das war ziemlich stressig für eine Anfängerin.”
„Ja; besonders, wenn einem jemand ständig wie verrückt ins Ohr kreischt. Das baut unheimlich auf.”
Je weiter wir aufs offene Meer kamen, desto rauer wurde der Wind. Wir setzten uns in den verräucherten Aufenthaltsraum, in dem es Bier, Zigaretten, Erbsensuppe und Kaffee zu kaufen gab. Neben ein paar deutschen Touristen waren vor allem Dänen an Bord. Der Klang ihrer Sprache weckte Erinnerungen in mir.
Wir waren vor dreizehn Jahren schon einmal in den Sommerferien auf der Füneninsel gewesen, um Tante Jule zu besuchen, damals noch vollzählig – meine Eltern, Sylvie, meine Schwester, und ich, gerade sechs Jahre alt.
„Was für eine schreckliche Sprache!”, sagte Mama, den Blick auf die schiefergraue Wasserfläche hinter den staubigen Scheiben gerichtet. „Sie rollen die Worte, als hätten sie heiße Kartoffeln im Mund.”
Ich sah Tante Jule vor mir, klein, zierlich und ständig in Bewegung, mit verblassenden blonden Haaren und flinken dunklen Augen. Und ihre Freundin Jette, untersetzt und ein wenig vierschrötig, wie Vater das nannte. Ich erinnerte mich an ihre tiefe, volltönende Stimme und die hellen Augen. Jette hatte Pfeife geraucht – Pfeife! Für uns Kinder war das ein Quell ständiger Verwunderung gewesen, es hatte uns fasziniert. Inzwischen wusste ich, dass das Rauchen von Pfeife oder Zigarillos bei dänischen Frauen eine lange Tradition hat und nicht weiter ungewöhnlich ist.
Ich dachte an die Blicke, die meine Eltern getauscht hatten, wenn Tante Jule und ihre Freundin Jette Hand in Hand vom Strand kamen, wenn sie abends gemeinsam in der Schlafstube verschwanden, die über dem Wohnzimmer lag, oder sich spontan umarmten und küssten, wenn sie etwas besonders stark bewegte.
Sonderbar hatte ich nur die Reaktion meiner Eltern gefunden, denn ich begriff mit der Einfühlungsgabe eines Kindes, dass da etwas anders war, als es ihrer Meinung nach sein sollte.
„Seit wann lebt Tante Jule allein?”, fragte ich.
Mama überlegte. „Wart mal, wie lange ist es her, seit Jette gestorben ist? Zwei Jahre, würde ich sagen.”
„Und ihr Mann? Tante Jule war doch mal verheiratet, nicht? Lebt er noch auf der Insel?”
„Wohl kaum. Die beiden hatten nach der Scheidung keinen Kontakt mehr, er war furchtbar gekränkt und böse, weil sie ihn verlassen hatte, noch dazu … “ Sie verstummte.
„Noch dazu wegen einer Frau”, vervollständigte ich. „Du kannst es ruhig aussprechen, was ist schon dabei? Sie waren glücklich miteinander. Das ist alles, was zählt.”