Читать книгу Das Haus der Stimmen - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 6

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Vielleicht entwickelt man den Sinn für das Schöne ja erst mit dem Erwachsenwerden. Ich hatte die Insel nicht als einen besonders reizvollen Ort in Erinnerung. Das, was mich beeindruckte, war das Meer gewesen, die Spiele am Strand, ein Mädchen in meinem Alter, mit dem ich viel Zeit verbrachte; die Früchte der wilden Mirabellenbäumchen in den Hecken und der Geschmack von Tante Jules Kranzkuchen.

Jetzt war ich alt genug, um die Schönheit dieser kleinen fünenschen Insel wahrzunehmen. Wir fuhren auf einer schmalen Landstraße zwischen Weizenfeldern und der Küste, mit Blick auf sanft geschwungene Buchten und zerklüftete Steilhänge, vorbei an Bilderbuchhäusern aus Fachwerk, deren dicke Reetdächer wie die Bärenfellmützen der englischen Palastwache aussahen. Heckenrosen blühten am Straßenrand. Unterwegs kam zum ersten Mal an diesem Tag die Sonne zwischen Wolkengebirgen hervor.

Ich kurbelte mein Fenster herunter. Es roch nach Weizenfeldern, nach Meer und Wind; und ein unsagbarer Frieden erfüllte die prickelnde Luft, so, als wären wir an einen Ort gekommen, den mehr als nur ein paar Seemeilen vom Rest der Welt trennten – eine Welt, in der alles seinen eigenen Rhythmus hatte und seinen ureigensten Gesetzen folgte.

„Schau, da ist ein Schild!”, sagte meine Mutter. „Røndal – das war doch die Ortschaft, in der wir links abbiegen sollten, nicht? Jedenfalls hab ich den Mann am Hafen so verstanden. Er sprach ja ein derartiges Kauderwelsch … “

Es war keine Ortschaft, nur eine Ansammlung von sieben oder acht Häusern und Höfen, die inmitten blühender Gärten die Straße säumten, und einige hatten Namen. Eines davon, ein Backsteinhaus mit Vortreppe und hohen Fenstern, hieß Peders Minde.

„Jules und Jettes altes Häuschen war in der Nähe des Fährhafens; das hätte ich vielleicht wieder gefunden”, sagte Mama. „Jetzt nach links! Ja, das müsste stimmen, wir sollten an den Windmühlen vorbei, hat er gesagt, und da sind sie.”

Ein halbes Dutzend Pferde grasten auf den Klippen. Ihre Mähnen und Schweife wehten im Wind. Ein Brauner hob den Kopf und sah zu uns herüber, als wir vorüberfuhren.

Mein Herz schlug rascher. Und plötzlich, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt, war alles verändert. Unversehens war diese Reise nicht länger eine Pflichtübung, etwas, das erledigt und möglichst rasch abgehakt werden musste, sondern ein Geschenk des Schicksals, ein unverhofftes Stück Freiheit und Abenteuer.

Die Landstraße führte in Schlangenlinien immer dichter an der Küste entlang, sodass ich von meinem Platz hinter dem Steuer tief unter mir das Meer glitzern sah, mit Segelschiffen und dem Fährboot, das inzwischen wieder abgelegt hatte und zum Festland zurückkehrte. Es war kaum Verkehr auf der Straße; nur ein Lieferwagen begegnete uns, ein Traktor und eine Gruppe Radfahrer.

„Dein Vater hat immer gesagt, diese Insel ist eine Welt für sich. Er hatte sogar mal die Idee, wir könnten uns hier eine von den kleinen alten Fischerkaten kaufen und als Ferienhaus nutzen. Leider ist daraus nichts geworden.”

Mein Vater war ein Meister im Pläneschmieden. „War da nicht eben ein Schild?”, fragte ich. „Hast du gelesen, was darauf stand?”

Meine Mutter, offenbar in trübe Erinnerungen versunken, schüttelte den Kopf.

Ich legte den Rückwärtsgang ein. Dunkær, stand auf dem Schild. „Dann müssen wir jetzt geradeaus weiter.”

„Nein”, behauptete Mama. „Wieder nach links!”

Später fanden wir heraus, dass beide Wege nach Dunkær führten, auch wenn einer davon ein Umweg war. Wir fuhren den Umweg, der an drei seltsamen Gebilden aus Steinblöcken und einer Kuhweide vorbei im Zickzackkurs der Küstenlinie folgte; und auf dem höchsten Punkt, auf einer Art Plattform über dem Meer, umgeben von Bäumen, die unter dem ständigen Anprall des Windes in Schräglage gewachsen waren, standen zwei Häuser.

Das erste Haus war fast an den Straßenrand gebaut. Es war sehr klein, mit struppigem Strohdach und winzigen, gewölbten Fensterscheiben, in denen sich das Licht brach. Das zweite Haus, auf dem höchsten Punkt der Klippen errichtet, war von mächtigen Rotbuchen umgeben. Das ockerfarbene Dach leuchtete aus den Baumwipfeln.

Es stand am Ende einer Lindenallee, ein großes Haus, nicht mehr als zwei Stockwerke hoch, aber breit angelegt, mit einem Quergiebel in der Mitte und zwei Seitenflügeln. Der mittlere Teil des Hauses mit der Vortreppe und dem Eingang war ein Stück vorgesetzt. Über der Treppe befand sich ein halbmondförmiges Fenster.

„Das muss es sein!”, sagte meine Mutter und deutete auf das putzige kleine Haus am Straßenrand. „Obwohl mich das wundert. Jule hat immer geschrieben, sie wären in ein großes Haus gezogen, mit einem riesigen Grundstück und eigenem Strand. Es heißt Runestengaard.”

Ich fuhr an den Straßenrand. Als wir ausstiegen, öffnete sich ein Fenster des Knusperhäuschens. Eine Frau mit grauem Haar und dicker Brille streckte den Kopf heraus wie die Hexe bei Hänsel und Gretel. Es fehlte nur noch die Katze auf ihrer Schulter. Sie hätte nicht besser in dieses Haus passen können. Trotzdem war sie nicht Tante Jule.

Es dauerte eine Weile, bis wir uns verständigten und herausfanden, dass die grauhaarige Dame Frau Andersen war, die Absenderin des Briefes, der uns zu dieser Reise veranlasst hatte.

Hocherfreut kam sie an die Gartenpforte, um uns in altmodischem, gebrochenem Deutsch von dem verwirrten Geisteszustand Tante Jules zu erzählen, davon, dass sie angeblich Gespenster sah und Stimmen hörte und nachts ums Haus wanderte, nur mit einem Nachthemd bekleidet.

„Wie lange geht das schon so?”, fragte meine Mutter.

„Ein paar Monater. Mag sein, schon länger. Wir haben nicht so vielen Kontakt, wissen Sie. Julen Timmerman lebt sehr hintergezogen.”

Sie lebte oben in dem großen Haus unter den Rotbuchen. Wir bedankten uns bei Frau Andersen, stiegen wieder in den Wagen und fuhren zwischen vom Wind gekrümmten Linden bis zur Vortreppe, die mit altem Laub und Zweigen bedeckt war.

Es war genug Platz für ein halbes Dutzend Autos zu beiden Seiten der Treppe, die eine verwitterte Eleganz ausstrahlte. Steinsäulen mit Blumenschalen, in denen Moos wuchs, flankierten die unterste Stufe. Über der Eingangstür hing an einer rostigen Stange eine zerrissene Fahne, die leicht im Wind wehte.

Es gab eine Klingel, aber sie schien nicht zu funktionieren, denn nichts rührte sich, so fest und lange wir auch darauf drückten. Meine Mutter versuchte es mit der Klinke. Die Tür war verschlossen.

„Lass uns mal hinters Haus gehen”, sagte ich.

Als wir um die Hausecke bogen, begegnete uns ein Huhn. Es kam zwischen alten Gartenmöbeln daher spaziert, einer Badewanne voller Wasser und einem Schrotthaufen, bestehend aus einem Rasenmäher, einem eisernen Ofen ohne Türen und jeder Menge verrostetem Kram. Es betrachtete uns gelassen, dann begann es dicht vor unseren Füßen im Laub zu scharren.

„Heiliger Himmel, das ist ja die reinste Altwarenhandlung!”, murmelte meine Mutter.

Der Garten hinterm Haus war eine Wildnis von Brombeersträuchern und Brennnesselfeldern, zwischen denen sich ein paar Rosenstöcke und Taglilien behauptet hatten. Und unter einem Baum, in dem eine zerschlissene Hängematte baumelte, stand ein feuerrotes Pferd mit hängendem Kopf und döste.

Mama sah mich an. „Das darf doch nicht wahr sein! Sie hat ein Pferd! “

„Sie und Jette hatten doch immer jede Menge Tiere, erinnerst du dich nicht?”

Als der Fuchs unsere Stimmen hörte, wurde er munter, hob den Kopf und kam eifrig auf uns zu. Sicher hoffte er auf einen Leckerbissen. Meine Mutter wich ein paar Schritte zurück, doch ich sah es ihm an den Augen an, wie gutmütig er war. Ich streichelte seine Stirn und seinen Hals, und er prustete leise und freundlich, senkte dann die Nase und schnupperte an den Taschen meines Anoraks.

„Wenn ich gewusst hätte, dass du hier bist, hätte ich dir was mitgebracht”, sagte ich. „Bist du ganz allein? Wo ist Jule?”

Mama deutete zum Haus.

Jetzt sah ich, dass ein Flügel der breiten Terrassentür offen stand; ein Vorhang flappte nach draußen.

Wir gingen auf die Terrasse, gefolgt von dem Rotfuchs, der offenbar für jede Abwechslung dankbar war. Auf dem Pflaster standen mehrere Eimer voll mit einer gelblichen Masse, ein Topf mit festgetrockneter Farbe, jede Menge Stühle, ein Korbsessel, dessen Sitzfläche durchgebrochen war, ein umgekipptes Regal, über dem nasse Kleidungsstücke hingen, ein riesiger alter Koffer, beklebt mit bunten Etiketten, und ein aufgeplatztes Sofa, aus dem Rosshaar hervorquoll.

„Heiliger Himmel!”, sagte meine Mutter wieder.

Ich musste lachen. „Nicht jeder kann so ordentlich sein wie du, Mama.”

„Ordentlich? Das ist doch die reinste Müllhalde! Ich möchte nicht wissen, wie es drinnen aussieht.”

Sie schob den Vorhang beiseite und streckte den Kopf durch die Tür. „Jule!”, rief sie. „Tante Jule! Bist du da? Ich bin’s, Edith aus Deutschland! Können wir reinkommen?”

Als keine Antwort kam, betraten wir das Haus. Das Wohnzimmer sah besser aus als die Terrasse, aber es muffelte schrecklich. Während wir dastanden und nicht recht wussten, was wir tun sollten, raschelte es irgendwo zwischen den ausladenden Sesseln mit den fleckigen Samtbezügen.

Mama fasste mich am Arm; da kam eine rote Katze unter dem Tisch hervor, sah uns wie ein verwunschener Prinz aus unergründlichen Augen an, schnurrte und rieb sich am Sesselbein. Eine zweite Katze, schwarz, mit weißem Brustfleck und weißen Pfoten, robbte unter dem Sofa hervor.

Mama stieß ein Geräusch aus, das wie ein Stöhnen klang. „Wer soll sich um all die Tiere kümmern? Das wird ja immer schlimmer! Ich weiß wirklich nicht … “

Ich kniete mich hin, um die Katzen zu locken. Dabei fiel mein Blick auf die Wohnzimmertür. Sie war bei unserem Eintritt geschlossen oder zumindest angelehnt gewesen, jetzt aber stand sie offen. Ich sah eine kleine, dünne Gestalt im Dämmerlicht auf der Schwelle stehen, die sich sehr aufrecht hielt und uns mit ihren Vogelaugen beobachtete.

Vermutlich hatte sie Mamas Bemerkung mitangehört, sonst hätte sie uns wohl kaum auf Deutsch angesprochen. „Was suchen Sie hier?”, fragte sie.

Meine Mutter zuckte heftig zusammen.

Die rote Katze kam und rieb ihren Kopf an meinem Knie, als wären wir alte Freunde.

Mama brach in einen Wortschwall aus. „Tante Jule, entschuldige … Ich bin’s doch, Edith! Und das ist Sofie – erkennst du sie wieder? Sie war ja noch ein Kind, als wir letztes Mal hier waren! Tut mir Leid, dass wir uns nicht angemeldet haben, es kam alles so plötzlich … Hoffentlich kommen wir nicht ungelegen?” Dann ging ihr die Luft aus.

„Ach, ja?”, sagte die alte Dame. „Da kann ja jeder kommen! Können Sie sich ausweisen?”

Ich bemerkte das Funkeln in ihren Augen, während meine Mutter immer nervöser wurde. „Natürlich … meine Handtasche ist draußen im Wagen. Aber erkennst du mich nicht, Tante Jule?”

Sie hatte sich sehr verändert. Nicht nur ihre Augen, ihr ganzes Gesicht erinnerte an einen Vogel, die hohlen Wangen, die spitz hervortretende Nase, die tiefen Augenhöhlen und der Flaum von gelblich-weißem Haar, das wirr in alle Richtungen stand, als hätte sie versucht sich eine Punk-Frisur zu machen. Sie tat ein paar Schritte in unsere Richtung und sagte in verändertem Ton: „Natürlich kenne ich dich, Edith Terlinden.”

Terlinden war der Mädchenname meiner Mutter. Kein Mensch hatte sie in meiner Gegenwart je so genannt. „Mein Gedächtnis funktioniert noch recht gut – meistens jedenfalls-, und auch meine Augen sind noch ganz in Ordnung. Du bist dicker geworden. Und das ist Sofie?”

Ich richtete mich auf.

Die rote Katze begann sich auf meinen Füßen zu wälzen.

Wir sahen uns an.

Tante Jules Blick war wie der eines Kindes, klar und offen.

Als Sechsjährige hatte ich sie kaum richtig wahrgenommen. Sie war einfach nur eine alte Verwandte gewesen, die gut Kuchen backen konnte und nicht an uns Kindern herumnörgelte, sondern uns so sein ließ, wie wir waren. Jetzt aber spürte ich plötzlich, dass ich sie mochte und dass sie mir so seltsam vertraut war, als bestünde eine geheime Wesensverwandtschaft zwischen uns. „Hallo, Tante Jule”, sagte ich.

Sie ergriff meine Hand. Mamas ausgestreckte Rechte übersah sie. Ihre Finger waren kühl und glatt und unglaublich leicht; ich fürchtete, ich könnte ihr die Knochen brechen, wenn ich zu fest zudrückte.

„Pulcinella mag dich”, sagte sie. „Sie ist eine gute Menschenkennerin.”

Ihr Blick war prüfend. „Wie hübsch du geworden bist! Du siehst meiner Schwester Anna ähnlich, deiner Großmutter. Sie war immer die hübscheste von uns allen und hatte jede Menge Verehrer, obwohl sie weder kochen noch einen Haushalt führen konnte.”

Mama lachte. Es klang nervös. „Kochen hat sie ihr Leben lang nicht richtig gelernt. Aber sie hatte Charme. Sie konnte jeden um den Finger wickeln, wenn sie nur wollte.”

Etwas rappelte an der Terrassentür. Als wir hinsahen, schob das Pferd seinen Kopf ins Wohnzimmer. Der Vorhang war wie ein Brautschleier um seinen Kopf drapiert.

„Huckleberry hat Hunger.” Tante Jule schnalzte mit der Zunge. „Ich gebe ihm etwas geschroteten Mais und ein paar Äpfel.” Sie sah uns freundlich an. „Schön, dass ihr hier wart! Adieu dann, kommt mich mal wieder besuchen.” Damit ging sie zur Terrassentür, drängte den Fuchs zurück, wobei ein ziemliches Durcheinander mit der Gardine entstand, und verschwand ins Freie.

Wir blieben verdutzt zurück.

„Und was machen wir jetzt?”, fragte Mama.

Das Haus der Stimmen

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