Читать книгу Flucht von Burg Ravensmoor - Ursula Isbel-Dotzler - Страница 6

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»Ich hab’s dir doch gesagt, Duncan sieht nichts ein!« Kim presste ihre geballte Faust gegen die Zähne und biss sich auf die Fingerknöchel.

»Ich dachte, er hätte was kapiert. Meine Mutter hat doch mit Engelszungen auf ihn eingeredet.«

»Das nützt nichts. Im Gegenteil, er schaltet erst recht auf stur, wenn ihm jemand eine Predigt hält.«

Ich streichelte Floras Nase, ihre weichen Nüstern. »Aber ihr Gelenk ist wieder verheilt, die Schwellung ist zurückgegangen. Kann’s nicht sein, dass er einfach nur ganz normal mit ihr ausreiten will?«

Ich redete Englisch mit Kim. Mein Vater war Engländer und hatte mit mir und meinen Brüdern immer Englisch gesprochen, als wir noch klein waren, sodass es unsere zweite Muttersprache war. Das machte jetzt nach dem Umzug manches leichter für uns.

»Ganz normal mit ihr ausreiten?« Kim schnaubte verächtlich »Du kennst Duncan nicht … «

Es stimmte, ich hatte Kims Bruder erst zweimal gesehen und beide Male hatte ich ihn ätzend gefunden. Er war hochnäsig und ekelhaft unhöflich, aber was am schlimmsten war, er ging brutal mit Flora um. Kim hatte mir erzählt, dass er die Stute rücksichtslos behandelte und sie durch die Gegend hetzte, bis sie völlig ausgepumpt war.

Ich hatte selbst erlebt, wie Flora sich vor Kims Bruder fürchtete. Von ihrem letzten Ausritt mit Duncan war Flora mit einer Gelenkentzündung zurückgekommen. Meine Mutter, die eine leidenschaftliche Pferdenärrin ist, hatte Duncan versucht klarzumachen, dass er anders mit Flora umgehen musste.

»Er sagt, Flora ist lange genug verzogen und geschont worden und jetzt müsste sie mal wieder was für ihren Unterhalt tun. Einer seiner ekelhaften Freunde ist zu Besuch gekommen. Der hat ein Motorrad. Und stell dir vor, Duncan wollte ein Wettrennen mit ihm veranstalten – er auf Flora und Keith auf seinem Motorrad! Da bin ich mit Flora abgehauen … «

Sie wandte das Gesicht ab. Ihre Schultern zuckten. Ich wusste, dass sie weinte. Vorsichtig strich ich ihr mit der Hand über den Rücken.

»Mann, wie kann einer bloß auf so eine abartige Idee kommen!«, murmelte ich.

»Flora wäre bestimmt gestürzt und hätte sich ein Bein gebrochen. Es wäre der Horror für sie gewesen. Du weißt ja, was für eine Panik sie vor Duncan hat, er muss sie jedes Mal gewaltsam dazu zwingen, sich von ihm reiten zu lassen. Und sie fürchtet das Geknatter von Motorrädern. Sicher wäre sie durchgegangen … Für Duncan wär’s eine Lektion, ich wäre froh, wenn er sich endlich seinen arroganten Hals brechen würde! Aber Flora –«

Schnell sagte ich: »Du kannst sie zu uns bringen. Mama ist bestimmt einverstanden. Bei uns ist sie sicher.«

Kim drehte sich wieder um. Ihr Gesicht war nass von Tränen. Sie schüttelte den Kopf. »Das dachte ich anfangs auch, aber es geht nicht. Duncan wird als Erstes bei euch auftauchen und nach ihr suchen. Er weiß doch jetzt, dass wir befreundet sind, und deine Mutter hat mit ihm gesprochen. Und ein Pferd kann man nicht so leicht verstecken.«

Sie hatte recht, das sah ich ein. Diesmal fragte ich nicht, ob sie ihre Eltern um Hilfe bitten konnte. Sie hatte mir schon einmal erzählt, dass ihr Vater es hasste, wenn sie ihn mit ihren Problemen belästigte. Ihre Mutter, der Flora eigentlich gehörte, vergötterte Duncan und fand alles gut und richtig, was er tat.

Kim schniefte in das Taschentuch, das ich ihr gab. Flora, die unsere Aufregung spürte, tänzelte unruhig hin und her, während Kringle mit hängendem Kopf döste.

»Ich hab an das verfallene Haus gedacht, das am Fuß des Hügels steht«, murmelte Kim. »Aber der Stall ist total baufällig und das Haus auch. Es wäre zu gefährlich für sie. Und Duncan ist nicht dumm. Wahrscheinlich käme er ziemlich schnell auf die Idee, dort nachzusehen.«

Einige Zeit brüteten und grübelten wir heftig. Kringle langweilte sich so, dass er versuchte an meinem Poloshirt zu kauen. Schließlich sagte Kim in finsterem Ton: »Vielleicht ist es am besten, ich haue richtig ab. Zusammen mit Flora natürlich.«

Ich erschrak. Mein erstes Gefühl war ziemlich selbstsüchtig: Ich fürchtete, Kim zu verlieren. Ohne sie wäre mir Cornwall wie ein öder, trübseliger Ort vorgekommen.

»Tu das bloß nicht!«, rief ich. »Das geht doch nicht, wohin willst du mit dem Pferd? Oder kennst du jemanden, bei dem ihr bleiben könnt?«

Sie schüttelte den Kopf. Jetzt sah sie noch unglücklicher aus als zuvor.

»Nein, keinen. Aber wir würden schon irgendwo ein verlassenes Haus finden. Nur … ich hab kein Geld. Und Flora braucht ihren Hafer und ihre Karotten. Jetzt kommt bald der Herbst, dann gibt es auch nicht mehr genug Gras … «

»Und du musst schließlich auch was essen! Aber warte mal, ich hab eine Idee: Hast du schon an Robin Hood gedacht?«

Kim wusste sofort, wen ich meinte. »Stevie? He, wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? Stevie Trelawny von Little Eden – ja, das ist es!«

Plötzlich waren ihre Augen wieder klar und ihr Mund entspannte sich. Lächelnd sahen wir uns an. »Meinst du, dein Bruder denkt nicht daran, in Little Eden nach Flora zu suchen?«

»Möglich wär’s, aber Stevie würde ihn nicht auf seinen Hof lassen. Eher würde er ihm mit der Flinte seines Vaters eine Ladung Schrot in den Hintern jagen.« Ihr Gesicht heiterte sich richtig auf. »Wir reiten sofort hin! Du kommst doch mit?«

»Aber es ist ziemlich weit.« Ich sah auf meine Uhr. »Und jetzt ist es schon fast vier. Meine Eltern drehen durch, wenn ich nicht rechtzeitig zum Abendessen zurück bin.«

»Blödsinn, von wegen weit! Über den Klippenpfad brauchen wir nicht mal eine Stunde. Ihr seid ja mit dem Auto von Ravensnest nach Little Eden gefahren. Das ist ein totaler Umweg, da man erst mal zur Landstraße fährt, die nach Polperro führt, und dann wieder zurück zur Küste.«

Ich traute Kims Einschätzung von Entfernungen nicht recht. Was sie eine kurze Strecke nannte, entpuppte sich meistens als langer, anstrengender Ritt, und Kringle hielt nichts von solchen Gewalttouren.

Während ich noch überlegte, wurde mir plötzlich klar, dass ich seit fast zwei Wochen auf eine Gelegenheit gewartet hatte, Stevie Trelawny, den ich in Gedanken Robin Hood nannte, wiederzusehen. Während der ersten Sturmnacht in Ravensnest war Kringle vor Panik ausgerissen und nach Little Eden gelaufen.

Stevie hatte ihn zurückgebracht. Daher kannte ich ihn. Der kleine Hof war eine Art privates Tierheim mit zwei Pferden, drei Hunden, jeder Menge Katzen, dem jungen Eichhörnchen Daisy, zwei Schafen und mehreren Möwen und Rabenkrähen. Inzwischen waren vielleicht schon wieder ein paar Tiere dazugekommen, die krank waren oder um die sich sonst keiner kümmern wollte.

Kim ritt mit Flora voraus, denn sie kannte den Weg. Als der Pfad steiler wurde, stiegen wir ab und führten die Pferde am Zügel.

Die Strecke hoch auf den Küstenfelsen mochte kürzer sein als der Weg über die Landstraße, aber das Gelände war viel schwieriger zu gehen oder zu reiten. Es war ein schmaler, gewundener und holpriger Pfad, mit Steinplatten und Geröllbrocken durchsetzt, die wie krumme Treppenstufen bergauf und bergab führten.

Stechginster und Heckenrosenzweige verhakten sich in unseren Kleidern und Haaren und in den Schweifen der Pferde. Ich dachte mehr als einmal, dass Kringle, der weniger trittsicher war als Flora und sich erst an das raue, holprige Gelände gewöhnen musste, ausgleiten und stürzen würde, doch er trottete tapfer dicht hinter der Stute her. Ohne sie wäre er wahrscheinlich einfach stehen geblieben und hätte sich geweigert weiterzugehen. Kringle war lieb und gutmütig, aber: »irgendwann in seiner Ahnenreihe muss mal ein Maulesel gewesen sein«, wie Mama immer sagte.

Trotz aller Anstrengung war es ein schöner Ritt. Tief unter uns umspülte das Meer die Klippen und Felsvorsprünge. Wir sahen Segelschiffe, die vor der Küste kreuzten, und den glitzernden Sand in den Buchten, die fast menschenleer waren. Der Wind trug uns den Geruch des Wassers und der Kräuter und Wildblumen zu, die zwischen den Felsen wuchsen. Überall zwitscherten und sangen Vögel und schwirrten vor uns aus den Hecken hoch.

Kim redete von Duncan. »Er wird vor Wut im Dreieck springen!«, sagte sie über die Schulter.

Bestimmt konnte ihr Bruder sehr unangenehm werden. Er war total arrogant und vertrug es sicher schlecht, wenn jemand seine Pläne durchkreuzte. Erst jetzt wurde mir klar, was Kim da vorhatte und was sie zu Hause auf Ravensmoor erwartete.

»Aber Flora gehört doch eigentlich deiner Mutter!«, wandte ich ein. »Du kriegst sicher höllische Probleme mit deiner Familie, wenn sie merken, dass Flora verschwunden ist. Sie werden dich zwingen, damit herauszurücken, wohin du sie gebracht hast.«

»Das schaffen sie nicht. Ich sag’s einfach nicht, da können sie machen, was sie wollen.«

Das war wohl Kims Art, sich gegen die Übermacht ihres Bruders und ihrer Mutter zu wehren – indem sie einfach hartnäckig schwieg oder sich weigerte, bestimmte Dinge zu tun. Vielleicht war das schon in ihrer Kindheit ihre einzige Waffe gewesen. Ich konnte mir gut vorstellen, wie sie dastand, die Lippen zusammenpresste und kein einziges Wort sagte, während Duncan sie anschrie und bedrohte und ihre Mutter sich über ihre Sturheit beklagte.

»Wenn er zuschlägt, nehme ich seine Reitpeitsche und schlage zurück!«, sagte Kim. »Das hab ich schon mal gemacht. Er hatte wochenlang einen dicken roten Striemen quer über dem Gesicht. Ich dachte, er bringt mich um.«

Erschrocken starrte ich auf ihren Hinterkopf vor mir. In unserer Familie fetzten wir uns auch gelegentlich und als Kind hatte ich mich ein paarmal mit Niko geprügelt, aber wir hatten einander nie ernsthaft verletzen wollen.

»Und wenn sie mich foltern, aus mir kriegen sie kein Sterbenswort heraus!«

Das klang dramatisch, aber ich lachte nicht. Ich begriff, wie ernst es Kim war, und verstand, dass sie Flora um jeden Preis schützen würde. Sie war bereit, alles für die Stute zu tun, was in ihrer Macht stand, weil sie das Liebste war, was sie hatte.

Flucht von Burg Ravensmoor

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